Editorial | Nummer 383 - Mai 2006

Freiheit für Víctor Polay

Der Traum vom bewaffneten Kampf ist aus in Lateinamerika. Fast überall, wo er aufgenommen wurde, endete er in einem blutigen und grausamen Bürgerkrieg. Um eine Revolution wie auf Kuba zu verhindern, rüsteten die USA nationale Armeen auf und finanzierten auf direktem oder indirektem Wege Söldnerbanden oder sogar Todesschwadronen und Paramilitärs. Nur in Peru schaufelte sich die Revolution ihr eigenes Grab. Bewaffnete Einheiten des maoistischen Sendero Luminoso, zu deutsch Leuchtender Pfad, griffen dort auch ZivilistInnen an, die nichts von dem propagierten Volkskrieg wissen wollten, und massakrierten ganze Dorfgemeinschaften. Dem Bericht der peruanischen Wahrheitskommission zufolge ist der Leuchtende Pfad für über die Hälfte der 70.000 Toten des Bürgerkriegs der zwischen 1980 und 1992 verantwortlich.

Zu Beginn der 80er Jahre wurde noch geträumt. In Lateinamerika wie in Europa. Die sandinistische Revolution hatte 1979 den Diktator Anastasio Somoza weggefegt, und die westdeutsche Tageszeitung TAZ organisierte eine millionenschwere Spendenkampagne mit dem Aufruf „Waffen für El Salvador“, um die FMLN in ihrem revolutionären Kampf zu unterstützen. In Guatemala organisierte die URNG den Aufstand gegen ein menschenverachtendes Regime, und in Kolumbien konkurrierten mit der M-19, den FARC, der ELN und der EPL gleich vier Guerrillaorganisationen miteinander. Auch in Peru entstand neben dem Sendero Luminoso mit der MRTA (Movimiento Revolucionario Túpac Amaru) noch eine zweite revolutionäre Bewegung. Die MRTA sah sich in der Tradition der guevaristischen Guerrilla und distanzierte sich von den Terroraktionen des Leuchtenden Pfads.

Heute ist der ehemalige Comandante Daniel Ortega in Nicaragua bereits zum vierten Mal Präsidentschaftskandidat. Die FMLN in El Salvador ist inzwischen eine legale Partei, die bei den Parlamentswahlen im März nur knapp die Mehrheit verfehlte. Der ehemalige Militante der M-19 Antonio Navarro Wolf ist Senator, und Pepe Mujica, Gründungsmitglied der uruguayischen Tupamaros, sitzt sogar als Landwirtschaftsminister im Kabinett. Nur Víctor Polay, der Gründer der MRTA, sitzt seit 15 Jahren woanders, nämlich im Gefängnis. Polay wurde unter dem Fujimori-Regime gefoltert und mehrfach mit dem Tode bedroht. Ende März wurde er in einer Revisionsverhandlung sogar zu insgesamt 32 Jahren Haft verurteilt. Die anderen Führungskader der MRTA erhielten ähnlich hohe Strafen.

In Peru wird mit zweierlei Maß gemessen. Es ist nachzuvollziehen, wenn die lebenslangen Freiheitsstrafen für Abímael Guzmán, den Gründer des Sendero Luminoso, und die Führungskader seiner Organisation, demnächst in einem Berufungsprozess bestätigt werden. Unter anderem soll Guzmán nach dem Mord an einem seiner Männer im April 1983 persönlich angeordnet haben, das Andendorf Lucanamarca mit 80 Menschen auszulöschen. Auf der anderen Seite bleiben die Verbrechen der peruanischen Armee im Bürgerkrieg bis heute ungesühnt. Laut Bericht der Wahrheitskommission verletzten die Armee und die Polizei systematisch die Menschenrechte. Sie sind für Massenvergewaltigungen, Verschleppung, Folter und die Tötung von etwa 20.000 ZivilistInnen verantwortlich. Selbst an den Händen der beiden momentanen Präsidentschaftskandidaten Ollanta Humala und Alan García klebt vermutlich aus dieser Zeit noch Blut.

Im Gegensatz zu den unzähligen Mördern in Armeeuniform haben Víctor Polay und seine GenossInnen aus der MRTA für ihre Ideale und eine gerechtere Gesellschaft gekämpft. Wie Daniel Ortega, Antonio Navarro Wolf, Pepe Mujica oder auch Che Guevara. So bescheinigt die Wahrheitskommission der MRTA, dass sie im Gegensatz zum Leuchtenden Pfad in der Tradition anderer lateinamerikanischer Guerrillagruppen steht. Denn die MRTA trug Uniformen, um die Zivilbevölkerung zu schützen, war offen für Friedensverhandlungen und griff möglichst keine unbewaffneten ZivilistInnen an. Im Übrigen hat sich Víctor Polay bei den Opfern von MRTA-Aktionen entschuldigt. Es ist an der Zeit, dass sich die Gefängnistore in Peru für Víctor Polay und alle anderen Ex-Militanten der MRTA endlich öffnen. Ihre Plätze im Gefängnis sollten die Kriegsverbrecher aus Armee und Polizei einnehmen.

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