Editorial | Nummer 411/412 - Sept./Okt. 2008

Neugründungen am Scheideweg

So sieht ein Traumergebnis aus: Mit 67 Prozent Zustimmung bei 83 Prozent Wahlbeteiligung erteilten die bolivianischen WählerInnen Präsident Evo Morales am 10. August den klaren Auftrag, die begonnene demokratische Neugründung Boliviens weiterzuführen. Das sehen die bei den Amtsenthebungsreferenden gleichzeitig relegitimierten Präfekten des Tieflandes und ihre AnhängerInnen hingegen völlig anders. Morales regiere autoritär, sei ein Diktator und zu allem Überfluss auch einer der ungebildeten „Indios“, die dabei seien, das Land von ihrem Hochplateau aus in den wirtschaftlichen und kulturellen Abgrund zu stoßen. Es ist mehr oder weniger dieselbe Geschichte, wie sie die Opposition in Ecuador und Venezuela erzählt.

In allen drei Ländern stehen die begonnenen Projekte zur Neugründung des Staatswesens in diesem Jahr vor einem Scheideweg. Alle drei Regierungen müssen noch oder mussten sich dieses Jahr bereits wichtigen Wahlen und Referenden stellen. Und ohne Zweifel würde das Scheitern des Prozesses in einem Land enorme Auswirkungen auf die anderen Länder haben.

Bei allem Gerede über einen Linksruck in Südamerika steht zumindest fest, dass es diese drei Länder sind, in denen am deutlichsten der Versuch unternommen wird, mit dem alten politischen und wirtschaftlichen System zu brechen. Die Hintergründe sind von Land zu Land unterschiedlich, die ungefähre Richtung bleibt dieselbe: Die vom politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben zuvor ausgeschlossene Bevölkerungsmehrheit soll in die politischen Entscheidungen eingebunden und ihre wirtschaftliche Diskriminierung abgemildert werden. Kurz: Es geht um nicht weniger als eine Demokratisierung der wichtigsten Lebensbereiche. Dies läuft natürlich weder widerspruchsfrei ab, noch lässt es sich von heute auf morgen umsetzen. Mehr als um „Revolutionen“ handelt es sich um revolutionäre Prozesse, deren Zukunft derzeit verhandelt wird. Im Unterschied zu manch einer früheren Revolution kommt die Macht dabei nicht aus den Gewehrläufen. Sie entspringt vielmehr direkt den Wahlurnen. In allen drei Ländern unterstützen breite Mehrheiten die jeweiligen Regierungen, was sich nicht nur in punktuellen Wahlerfolgen manifestiert.

Aber es gibt in allen drei Ländern bedeutende Minderheiten, die die angestoßenen Transformationsprozesse mit fast allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen. Und es stehen viele Mittel zur Verfügung. An Geld, Einfluss und Medienmacht mangelt es der rechten Opposition in keinem der drei Länder. Die traditionellen Eliten bekämpfen selbst kleinste Fortschritte bei der Demokratisierung und sie schrecken dabei vor Gewalt nicht zurück. Das erfordert einen kühlen Kopf. Andererseits beruht die Legitimität der linken Transformationsprozesse gerade darauf, dass mit ihnen die kapitalistische Elitendemokratie radikal demokratisiert werden soll. Die Konfrontation mit den alten MachthaberInnen ist also unausweichlich.

Eins bleibt jedoch klar: Die von den linken Regierungen in Südamerika umgesetzten Veränderungen sind in einer Weise demokratisch legitimiert, wie es in der Region kaum ein politisches Projekt zuvor für sich in Anspruch hatte nehmen können. Die Strategien der Opposition bestehen hingegen oft genug nur darin, die Veränderungen nicht anzuerkennen und die Regierung zu Überreaktionen zu provozieren. Das Motto könnte lauten, dass wenn man nur lange genug gezielt das Gerücht von der Diktatur erzählt, sich diese Prophezeiung schon irgendwann selbst erfüllen wird. Bis jetzt geht das ins Leere. Die politischen Grundrechte werden überall garantiert. Allein, wie man diese friedlich ausübt, muss die Opposition in Bolivien, Venezuela und Ecuador noch lernen.

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