Editorial | Nummer 480 - Juni 2014

Straflosigkeit als Staatsräson

„Als Kongress wollen wir sagen, dass wir die Vergangenheit vergessen, anfangen zu arbeiten und nach Harmonie, Frieden und Versöhnung suchen sollten.“ So begründete der Präsident des guatemaltekischen Kongresses die Resolution, welche die juristische Anerkennung eines Völkermords im Land während des bewaffneten Konflikts bis 1996 für undurchführbar erklärt. Mit deutlicher Mehrheit war sie am 13. Mai 2014 verabschiedet worden. Für die Opfer der Diktatur ist das blanker Hohn, für aktuelle soziale Kämpfe eine Drohung: die Straflosigkeit der Mächtigen ist in Guatemala Teil der offiziellen Politik.

Dabei hatte noch vor einem Jahr der Prozess gegen Ex-Diktator Efraín Ríos Montt Hoffnung gemacht. Die Verurteilung zu 80 Jahren Haft wegen Völkermords und Verbrechen gegen die Menschheit wurde als Meilenstein auf dem Weg zur Versöhnung und der Suche nach Gerechtigkeit in Guatemala gewertet. Doch eine unabhängige Justiz in einem von Landkonflikten und umstrittenen Megaprojekten geprägten Land scheint dem Establishment aus Politiker_innen, Militärs und Wirtschaftseliten ein Dorn im Auge. Seit dem hist­orischen Urteil konnte die Welt mit ansehen, wie der Justizapparat auf beispiellose Weise wider den Interessen der Mächtigen Guatemalas untergeordnet wurde.

Der erste Schlag kam nur zehn Tage nach dem Urteil, als das guatemaltekische Verfassungsgericht wegen angeblicher Verfahrensfehler den Prozess annullierte und forderte, die Beweisführung neu aufzurollen (siehe LN 468). Es folgten Anschuldigungen gegen die verantwortliche Richterin Yassmín Barrios, die nun Anfang April für ein Jahr von der Anwaltskammer suspendiert wurde. Der Grund: Sie habe sich am ersten Verhandlungstag respektlos gegenüber dem Verteidiger Ríos Montts verhalten. Das Urteil gegen die Richterin sieht zudem eine öffentliche Abmahnung in der auflagenstärksten Tageszeitung sowie jeweils zwei Radio- und Fernsehsendern Guatemalas vor. Während die Diskussion um eine Amnestie für Ríos Montt wieder aufflammt, wird die Richterin, die ihn verurteilte, medial an den Pranger gestellt. An Yassmín Barrios wurde so ein Exempel statuiert, das katastrophale Auswirkungen auf die Unabhängigkeit von Richter_innen in politisch brisanten Prozessen hat.

Die Neubesetzung der Generalstaatsanwaltschaft vergangen Mai weist die gleichen Muster auf. Denn eigentlich hätte Claudia Paz y Paz, die den Prozess gegen Ríos Montt entscheidend mit angetrieben hatte, noch bis Dezember im Amt bleiben sollen. Doch das Verfassungsgericht entschied im Februar, dass Paz y Paz nur die Vertreterin ihres früher aus dem Amt geschiedenen Vorgängers sei und kein Anrecht auf eine eigene Amtszeit von vier Jahren habe. Dem Ankläger im Fall werden Verbindungen zur ultrarechten Stiftung gegen den Terrorismus nachgesagt. Das Urteil stieß international auf Ablehnung und Paz y Paz bewarb sich erneut auf das Amt. Doch mit Thelma Aldana übernimmt nun eine Vertraute des Präsidenten Otto Pérez Molina den Posten.

Und jetzt noch die Negierung des Völkermords durch den Kongress. Nur ein Jahr nach dem Urteil ist die Hoffnung auf einen Aufbruch Guatemalas zu einer kritischen Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit und einer unabhängigen Justiz im Keim erstickt worden. Auch in Zukunft ist der Straflosigkeit in Guatemala Tür und Tor geöffnet, solange die Interessen bestimmter Eliten betroffen sind. Die Leichtigkeit, mit der der Justizapparat innerhalb nur eines Jahres demontiert wurde, zeigt deutlich: Harmonie, Frieden und Versöhnung bleiben auch in Zukunft ein Privileg der Mächtigen Guatemalas.
Und falls der Fall Ríos Montt Anfang nächsten Jahres überhaupt wie vorgesehen wieder aufgenommen werden sollte, dürfte er ein bitterer Abklatsch eines ehemals großartigen Projektes werden.

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