Editorial | Nummer 459/460 - Sept./Okt. 2012

// Straße in die Vergangenheit

„Diese Straße hat eine transzendentale Bedeutung!“ Die Zukunft Boliviens hinge davon ab, sie zu bauen, schreibt der Regierungsangestellte weiter. Nur gute Kommunikationswege gewährleisteten die Kontrolle des Staates über die peripheren Regionen des Landes. Die Trennung zwischen Hochland und Tiefland könne überwunden werden. „Dieser Weg wird eine echte Verbindung der beiden Teile Boliviens herstellen und einen unschätzbare Wert für die wirtschaftliche Entwicklung haben.“

Nein, hier wird nicht eine aktuellen Äußerung eines bolivianischen Beamten zur umstrittenen Straße durch das Indigene Territorium und Naturschutzgebiet Isiboro Securé (TIPNIS) zitiert. Der Text ist über 80 Jahre alt. Es handelt sich um das Schreiben des ehemaligen Regierungsabgeordneten für den Chaco, Julio A. Gutiérrez, an den Verteidigungsminister Boliviens vom 12. Mai 1931. Die geforderte Straße sollte nicht durch das TIPNIS führen, sondern die Stadt Tarija mit Villa Montes im Chaco verbinden. Die Begründungen von damals sind aber fast identisch mit den Argumenten, die heute vorgebracht werden, um den Straßenbau zu legitimieren.

Am 10. September 2012 endete die Volksbefragung über die umstrittene Überlandstraße durch das TIPNIS. Zu Redaktionsschluss war das Ergebnis noch nicht bekannt, aber den Umfragen zufolge gibt es eine Mehrheit für das Regierungsprojekt. Verlief das Plebiszit wirklich fair, wie die Regierung beteuert? Oder beschaffte sich die Regierung die Mehrheit nur über Wahlgeschenke und die Behinderung der Gegner_innen des Projekts, wie Kritiker_innen glauben und die deshalb die Abstimmung boykottierten? Diese Fragen sind schwer zu beantworten. Zu undurchsichtig ist die Lage, zu polarisiert die Stimmung im Land. Doch die aktuelle hitzige Debatte um die Straße TIPNIS verschleiert, dass hinter dem Konflikt ein Problem steht, das Bolivien schon lange beschäftigt.

Am Vortag des 10. September 1932 flammten die Kämpfe um das Fort Boquerón auf. Damit begann der Chaco-Krieg zwischen Bolivien und Paraguay. Bis 1935 kämpften die beiden verarmten Länder um den Besitz des Chaco Boreals, einer kargen Halbwüste im Zentrum Südamerikas. Unmittelbar vor dem Krieg versuchte Bolivien, Straßen in das umstrittene Gebiet zu bauen. Sie sollten die „Kolonisierung“ des Chaco ermöglichen und es dem Zugriff Paraguays entziehen. Der Bau von Transportwegen sollte die staatliche Souveränität in den isolierten Grenzregionen des bolivianischen Tieflandes dauerhaft sichern. Zu oft hatte Bolivien Territorien an die Nachbarländer verloren, weil keine Straßen ins Kampfgebiet führten. So auch im Chaco-Krieg. Bolivien musste den größten Teil des Chacos an Paraguay abtreten, das den logistischen Vorteil auf seiner Seite hatte.

Diese und andere historischen Erfahrungen erklären, warum Boliviens Zentralregierung so erpicht darauf ist, die Straße durch das TIPNIS zu bauen. Die Pläne für das Projekt lagen schon seit über hundert Jahren in den Schubladen. Dies zeigt aber auch, wie wenig sich die Entwicklungsstrategien der Morales-Regierung von früheren unterscheiden. Noch immer gilt kapitalistische Inwertsetzung als Grundvoraussetzung für die Souveränität über ein Territorium. Allein die Ablehnung dieser Logik wird es Bolivien ermöglichen, auf Großprojekte wie den Straßenbau durch das TIPNIS zu verzichten. Dafür ist auch ein Umdenken der Nachbarländer gefordert. Nur wenn auch auf internationaler Ebene nicht-kapitalistische Wirtschaftsweisen und Naturräume respektiert werden, kann das TIPNIS so gelassen werden wie es ist, ohne dass Bolivien befürchten muss, Grenzland zu verlieren.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren