Editorial | Nummer 477 - März 2014

// Umkämpfte Körper

Die stundenlange Gruppenvergewaltigung einer Studentin hat in der Öffentlichkeit für große Empörung gesorgt. Fernsehstationen im ganzen Land zeigten immer wieder die Festnahmen von zwei Tatverdächtigen. Die Studentin und ihr 23-jähriger Freund waren nachts im Stadtzentrum in einem Kleinbus überfallen worden: Nachdem sie eingestiegen waren, vertrieben zwei Männer die anderen Passagiere, schlugen den jungen Mann mit einer Eisenstange und banden das Paar fest. Abwechselnd vergewaltigten sie die Frau, während ihr Freund zusehen musste. Auch der Fahrer des Busses beteiligte sich.

Wer jetzt an Delhi denkt, liegt falsch. Diese Gruppenvergewaltigung fand in Rio de Janeiro statt. Dass sie ihren Weg in viele brasilianische und internationale Medien fand, hing sicher damit zusammen, dass es sich um eine US-amerikanische Studentin und ihren französischen Freund handelte – und dass dieser Fall sehr an die Tat in Delhi erinnerte. Seitdem im Dezember 2012 die Inderin Jyoti Singh Pandey Opfer einer Gruppenvergewaltigung wurde und zwei Wochen später an schwersten inneren Verletzungen starb, wird über Vergewaltigungen in Indien international berichtet. Die häufige Berichterstattung hat das Thema in Indien selbst erstmals in die öffentliche Diskussion gebracht. Dabei wird nicht nur die Gewalt thematisiert, sondern auch der fehlende Respekt für Frauen, der sich auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens ausdrückt – zum Beispiel in einer erschreckend geringen Quote an weiblichen Neugeborenen. In den letzten 14 Monaten haben sich viele Inderinnen und Inder öffentlich für die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen eingesetzt. Deutlich vernehmbar sind aber auch die Stimmen, männliche wie weibliche, die den Opfern die Verantwortung für die Vergewaltigung zuweisen – und auch für alle ihre Folgen. Doch ist dies ein indisches Phänomen?

Bereits vor zwanzig Jahren, auf der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo 1994, wurden erstmals „sexuelle und reproduktive Rechte“ definiert, und zwar als „Zustand vollständigen seelischen, körperlichen und sozialen Wohlbefindens im Hinblick auf Sexualität und Fortpflanzung“. Anders als in Deutschland, wo diese Rechte vor allem als Zugang zu Gesundheitsversorgung und Verhütungsmitteln verstanden werden, sind für viele Organisationen der Frauenbewegung in Lateinamerika die sexuellen und reproduktiven Rechte Ausgangspunkt ihrer Forderungen an staatliche Politik. Wie zum Beispiel in Ecuador, wo Frauenrechtlerinnen Ende 2013 erreichten, dass ihre Vorschläge zu Gesetzesänderungen im Parlament debattiert wurden, darunter die Legalisierung von Abtreibungen im Fall einer Vergewaltigung. Eine überfällige Reform, die Präsident Rafael Correa, der sich selbst als „Linker, Humanist und Katholik“ bezeichnet, unter Androhung von Veto und Rücktritt verhinderte. Oder in Mexiko, wo sich engagierte Frauen im Komitee zur Freilassung von Yakiri Rubí Rubío dafür einsetzen, dass das Opfer einer Vergewaltigung von Staatsanwaltschaft und Richter nicht zur Täterin gemacht wird.

In Deutschland erleben wir in diesen Wochen, wie Gesundheitsminister Hermann Gröhe Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation oder der renommierten Beratungsorganisation pro familia ignoriert: Die „Pille danach“, die nach einem sogenannten „ungeschützten Geschlechtsverkehr“ – also auch nach einer Vergewaltigung – eine Schwangerschaft verhindert, darf nach dem Willen des CDUlers weiterhin nicht ohne Rezept abgegeben werden. Reiner Zufall, dass nach Meinung aller Expert_innen das Medikament das „Recht auf sexuelle Selbstbestimmung von Frauen“ stärken würde?

Auch am 8. März 2014, am Internationalen Frauentag 20 Jahre nach der Konferenz von Kairo, ist das Recht auf Wohlbefinden, sexuelle Selbstbestimmung und Gesundheit für die meisten Frauen nicht verwirklicht. Daher gibt es für die weltweiten Frauenbewegungen keinen Grund zu schweigen. Und sie verschaffen sich Gehör – so wie unsere Beispiele aus Mexiko, Chile und Ecuador in diesem Heft zeigen.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren