Editorial | Nummer 287 - Mai 1998

Wenn die Ausnahme die Regel ist…

Tote und Verletzte gab es in den vergangenen Wochen in der bolivianischen Provinz Chapare, wo auf tausenden von Hektarn Kokablätter wachsen. Die Regierung unter Präsident Hugo Banzer hat 2.000 Polizisten und Soldaten gegen Kokabauern und deren Familien eingesetzt. Der frühere Diktator, so scheint es auf den ersten Blick, zeigt sein wahres Gesicht, auf Kosten der bolivianischen Demokratie, nach deren Regeln er 1997 demokratisch erneut ins Amt gewählt wurde.
Es ist allerdings zu bezweifeln, ob irgendjemand im Chapare einen Gedanken an die zwanzig Jahre zurückliegende Vergangenheit des Hugo Banzer verschwendet. Seit Jahren sind die Probleme ebenso die gleichen wie die „Lösungsversuche“ von Seiten der diversen demokratisch gewählten Regierungen.
Auch unter Banzers Vorgänger Gonzalo Sánchez de Lozada, international respektiert wegen seines ambitionierten Reformprogramms, lebten die Kokabauern des Chapare mit einem ständigen Hin und Her zwischen Zuckerbrot und Peitsche. Gestern Verhandlungen, heute ein Militäreinsatz, der eine Spur von Diebstahl und Mißhandlungen bis hin zu Todesopfern in den betroffenen Dörfern hinterläßt, und morgen kündigt der Präsident vielleicht wieder einen Gesprächstermin mit der Cocalero-Gewerkschaft an: Im Chapare lebt man mit der Erfahrung, sich auf nichts verlassen zu können.
Die meisten Bauern haben keine Alternative zum Kokaanbau. Das weiß auch die Regierung in La Paz. Die muß auf die US-Botschaft Rücksicht nehmen, die ein vehementes Einschreiten gegen den Drogenhandel fordert und dabei die Keule der descertificación schwingt, einer Art politischen Mißtrauensvotums mit drastischen finanziellen Folgen für den betroffenen Staat.
Die US-Seite versteht unter dem Kampf gegen den Drogenhandel das Ausreißen von Kokafeldern. Mehrere tausend Hektar müssen es pro Jahr sein. Zwar ist längst bekannt, daß trotz allen Ausreißens die Gesamtanbaufläche nicht abnimmt – man kann schließlich auch neue Felder anlegen – aber was soll’s. Mit spektakulären Bildern von zerstörten Kokapflanzungen hat die US-Regierung zuhause eine gute Presse in Sachen Drogenbekämpfung sicher.
Die staatliche Gewalt im Chapare ist kein „Problem Banzer“ und auch nicht nur ein Problem der Abhängigkeit von den USA. Was fehlt, ist eine demokratische politische Kultur, innerhalb derer zivile Konfliktlösung selbstverständlich wäre, ein Problem mit dem Bolivien in Lateinamerika nicht allein steht. Auch andere junge Demokratien haben ihr Problem damit, die formal vorgesehenen Konfliktlösungsmechanismen auch Wirklichkeit werden zu lassen, wenn es darauf ankommt.
Aber ob in Bolivien oder in Chile: Die Eliten rühmen fast unisono die neu gewonnene demokratische politische Kultur. Kompromisse und Koalitionen seien an die Stelle von Konfrontation und gegenseitiger Vernichtung getreten, so jubelt es allerorten. Nichts gegen die Freude über das Ende der Militärdiktaturen, aber es reicht nicht, wenn einst verfeindete Parteien miteinander Koalitionsregierungen bilden. Ob eine neue politische Kultur verankert ist, beweist sich in Konfliktsituationen.
Für die angeblich inzwischen so stabile bolivianische Demokratie sieht die Bilanz dabei nicht gut aus. Jede gewählte Regierung seit 1985 hat einmal den Ausnahmezustand ausgerufen, um soziale Konflikte mit Gewalt unter Kontrolle zu bekommen. Sánchez de Lozada verhängte ihn nach Gewerkschaftsprotesten im April 1995 gleich für ein halbes Jahr – die Verfassung erlaubt nur drei Monate. Auch der Verweis darauf, die Mehrheit der Bevölkerung sei mit dem Ausnahmezustand einverstanden, hilft nicht weiter. Im Gegenteil, er belegt, wie brüchig der gepriesene demokratische Konsens in der Gesellschaft ist.
Hugo Banzer hat den Ausnahmezustand im aktuellen Konflikt, in dem neben den Kokabauern im Chapare auch wieder die Lehrergewerkschaft in La Paz mobilisiert hat, noch nicht verhängt. Vielleicht will er sich dieses Mittel noch eine Weile aufheben, vielleicht hat er Sorgen um seinen internationalen Ruf, wahrscheinlich gilt beides. Bewaffnete Einsätze im Chapare jedenfalls gehören zur Normalität der real existierenden Demokratie in Bolivien, und auch der Ausnahmezustand wäre keine Ausnahme.

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