Editorial | Nummer 481/482 - Juli/August 2014

// „You can´t evict a movement“

Bis in den mexikanischen Senat hatte sie es mit ihrem Anliegen geschafft. „Wenn wir Frauen nicht unsere Stimme erheben, wird uns niemand hören, und heute werde ich für diese Frau sprechen, die vergewaltigt wurde, die entführt wurde, die ein Kind verloren hat“, verkündet Paola Quiñones. Sie ist Teil der Karawane für den Dialog, in der sich im Juni Migrant_innen aus Zentralamerika zusammengeschlossen hatten, um ihre Rechte einzufordern. Und sie ist Teil eines neuen Selbstbewusstseins: Migrant_innen organisieren sich, machen ihre Situation öffentlich und zwingen die Politik, sie anzuhören.

Erst über Ostern hatte die Migrant_innenkarawane Viacrucis („Kreuzweg“) in Mexiko-Stadt für hunderte Personen 30-tägige Transitvisa für die Reise in die USA ausgehandelt. Die Geflüchteten hatten sich entschlossen, Mexiko zu Fuß zu durchqueren und auf ihrer Durchreise die Menschen über die prekäre Situation undokumentierter Migrant_innen im Land aufmerksam zu machen. Zwischenzeitlich wuchs die Karawane auf rund 1.200 Personen an. Ihren Höhepunkt erreichte die Bewegung mit der staatlichen Garantie einer sicheren und freien Durchreise für die Zentralamerikaner_innen durch Mexiko. Eine der marginalisiertesten Gruppen des Kontinents hatte plötzlich ein politisches Gewicht bekommen, das Mexiko kurzzeitig sogar seinen großen Nachbarn im Norden vergessen ließ. Sehr zum Ärger der USA, deren Reaktion mit der massiven Abschiebung von Mexikaner_innen deutlich ausfiel.

Die circa 60 Teilnehmenden der zweiten Karawane für den Dialog fordern nun eine umfassende Lösung der problematischen Situation der Migrant_innen. „Wir wollen die Gewaltsituation verändern, welche die Migration auslöst und Mexiko in einen Weg der Entmenschlichung verwandelt“, heißt es in ihrem ersten Kommuniqué an die mexikanische Regierung und die Botschafter_innen von Honduras, El Salvador, Guatemala und Nicaragua. Zur gleichen Zeit formierte sich in Mexiko-Stadt die Gruppe Migrantes LGBT, die auf die Situation von Homosexuellen und Trans* aufmerksam machen will.

Doch die Organisierung von Geflüchteten beschränkt sich nicht auf Zentralamerika. Auch hierzulande treten Migrant_innen immer offensiver für ihre Rechte ein. Anfang Juli konnten Geflüchtete in der besetzten ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin eine vollständige Räumung verhindern und die Unfähigkeit der lokalen Politik gegenüber der Asylfrage bloßstellen. Über mehr als eine Woche riegelten über 1.500 Polizist_innen einen gesamten Kreuzberger Block ab, während die Entscheidungsträger_innen sich die Verantwortlichkeit für das Fiasko gegenseitig zuschoben. Schon im September 2012 hatten Geflüchtete mit dem Refugee Protest March von Würzburg nach Berlin und dem kollektiven Brechen der Residenzpflicht ihre Stimme hörbar gemacht. Mit dem Refugee March for Freedom von Straßburg nach Brüssel, gestartet im vergangenen Mai, wurde die europaweite Vernetzung auf eine neue Ebene gebracht.

Geflüchtete und Migrant_innen drängen sich mit den kollektiven Aktionen und ihrer Vernetzung in die politische Wahrnehmung und zeigen, dass sie kein Spielball internationaler Politik sind. Und auch wenn die Situationen in Mexiko und Europa sich in verschiedenen Punkten unterscheiden mögen, ist eines deutlich: Die Ausbeutung, Diskriminierung und Gewalt wird nicht länger hingenommen. Zeit zum Aufatmen ist deshalb nicht. An den durch Frontex gesicherten Außengrenzen der EU sterben weiter Menschen, SPD und Union beschlossen erst im Juli eine Verschärfung des deutschen Asylrechts. In Mexiko erhielt die zweite Karawane nach der Viacrucis keine Durchreisevisa mehr, La Bestia, die Reise mit dem Güterzug, wird auch weiterhin das gefährliche Mittel der Wahl für viele Migrant_innen auf dem Weg in die USA bleiben. Die Situation von Geflüchteten in Lateinamerika und Europa wird sich nicht schlagartig verändern. Die angefangene Organisierung der Kämpfe durch die Migrant_innen jedoch ist ein Prozess, der Entscheidungen zu ihren Lasten immer schwieriger machen könnte. Die Geflüchteten in der Gerhart-Hauptmann-Schule stellten dies angesichts ihrer drohenden Räumung klar: „Ihr könnt keine Bewegung räumen!“ – „You can‘t evict a movement!“

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