Für Beatriz und für alle

„Beatriz wollte leben und glücklich sein“ Die junge Frau ist zum Symbol des Kampfes für legale Abtreibungen geworden – hier auf einer Demo am 8. März (Foto: Kellys Portillo)

Beatriz’ Recht auf eine Wahl wurde nie respektiert. Es dauerte 84 Tage, bis sie einen Kaiserschnitt bekam, als sie gerade in den Wehen lag. Dem Kind im Mutterleib fehlten aufgrund eines Geburtsfehlers Schädel und Gehirn, wodurch es außerhalb des Mutterleibes nicht überlebensfähig war. Zudem hatte die Schwangerschaft das Leben und die Gesundheit von Beatriz gefährdet, da sie an (der seltenen Autoimmunkrankheit, Anm. d. Übers.) Lupus litt. Jede Schwangerschaft bei einer Erkrankung mit Lupus ist laut medizinischer Fachliteratur mit erhöhten Risiken verbunden.

Beatriz’ Tochter wurde dennoch geboren und überlebte fünf Stunden. Laut der medizinischen Akte fehlten Schädeldecke und Hirngewebe vollständig. Die Akte ist einer der Beweise, die verschiedene Organisationen nun vorgelegten, um den salvadorianischen Staat vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte zu verklagen. Die Begründung: „Weil sie im Jahr 2013 keinen Zugang zu einem legalen, frühzeitigen und rechtzeitigen Schwangerschaftsabbruch hatte. Das gefährdete ihr Leben und beeinträchtigte ihre Unversehrtheit, Gesundheit und andere Rechte“.

Die Tatsache, dass Beatriz dazu gezwungen wurde, die Schwangerschaft 84 Tage lang fortzusetzen, wird von den Kläger*innen als Form der Folter angesehen. „Das absolute Abtreibungsverbot ist eine Form der Folter. Weil Beatriz so viel Leid zugefügt wurde; weil sie wusste, dass ihr Leben und ihre Gesundheit in Gefahr waren, wenn sie nicht abtreiben würde. Und hier müssen wir (…) auch die Tatsache berücksichtigen, dass sie bereits ein anderthalbjähriges Kind hatte. Im Falle von Beatriz‘ Tod würde dieses die Mutter verlieren“, erklärte Gisela de León, Menschenrechtsaktivistin und Anwältin einer der klagenden Organisationen.

2017 entschied auch der damalige UN-Sonderberichterstatter über Folter, Juan E. Méndez, dass „das absolute Abtreibungsverbot gegen das Verbot der grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung und in bestimmten Fällen sogar gegen das Verbot der Folter verstößt“. Nun lud der Präsident des Interamerikanischen Gerichtshofs, Ricardo Pérez Manrique, den salvadorianischen Staat und Vertreter*innen der Klägerseite für den 22. und 23. März in Costa Rica vor. Es ist das erste Mal, dass der Corte IDH einen Fall gegen einen Staat verhandelt, der Abtreibungen selbst dann verbietet, wenn das Leben der Mutter in Gefahr oder das Ungeborene nicht überlebensfähig ist. Die Entscheidung wird somit in Bezug auf Abtreibungen einen Präzedenzfall für den gesamten amerikanischen Kontinent schaffen. Beatriz wurden im Alter von 20 Jahren systemischer Lupus erythematodes, Lupus-Nephritis und rheumatoide Arthritis diagnostiziert. Ein Jahr später, im Juli 2011, wurde sie zum ersten Mal schwanger. Sie lebte mit ihrem Partner in Usulután (im Südosten El Salvadors, Anm. d. Red.) in extremer Armut.

Schon ihre erste Schwangerschaft galt als Hochrisikoschwangerschaft. Sie wurde zweimal wegen Blutarmut und Atemnot ins Krankenhaus eingeliefert. Im März 2012 kam ihr Sohn per Kaiserschnitt zur Welt. Er war ein Frühchen, litt an einem Atemnotsyndrom und Entzündungen im Darm und musste 38 Tage im Krankenhaus bleiben.

Eine juristische Odyssee

Ein knappes Jahr später, im Februar 2013, wurde Beatriz zum zweiten Mal schwanger. Wieder eine Hochrisikoschwangerschaft. Die junge Frau war bereits in der 11. Schwangerschaftswoche, als ihr bei einer ärztlichen Untersuchung mitgeteilt wurde, dass der Fötus an Anenzephalie litt, also außerhalb des Mutterleibes nicht überlebensfähig sein würde. Man werde ihren Fall dem Ärzteausschuss vorlegen, „um einen Konsens über den Zeitpunkt des Abbruchs zum Wohle der Mutter zu erreichen“.

Zwei Ultraschalluntersuchungen bestätigten die Diagnose der angeborenen Fehlbildung, die zusammen mit Beatriz’ Erkrankungen die Schwangerschaft verkomplizieren würde. Am 14. März erklärten die Ärzte, dass der Fötus keine Überlebenschance habe. Daher entschied sich Beatriz mit Unterstützung ihrer Familie für einen Schwangerschaftsabbruch. Nach der Antragstellung erhielt sie jedoch die Auskunft, dass dies in El Salvador nicht legal sei, da die Abtreibung seit 1998 vollständig verboten ist. Selbst dann, wenn das Leben der Mutter gefährdet ist, das Ungeborene außerhalb der Gebärmutter nicht lebensfähig ist und die Schwangerschaft die Folge sexueller Gewalt ist. Dies war der Beginn einer juristischen Odyssee. Am 14. März kam das medizinische Komitee des Nationalkrankenhauses Rosales in der Hauptstadt San Salvador zu dem Entschluss, dass ein längeres Warten auf die Abtreibung die Wahrscheinlichkeit eines vermeidbaren Todes der Mutter erhöhen würde. Sechs Tage später forderte der Ausschuss eine Stellungnahme der Rechtsabteilung des Krankenhauses und der Generalstaatsanwaltschaft und meldete den Fall dem Gesundheitsministerium. Die Leiterin des Rechtsabteilung des Krankenhauses informierte auch den Koordinator des Jugendschutzausschusses über die Situation. Dieser antwortete jedoch in seinem Bericht, er sei nicht zuständig und die Staatsanwaltschaft solle einen Anwalt benennen, der die Interessen des Fötus vertrete.

Als Aktivist*innen und feministische Organisationen von dem Fall erfuhren, kontaktierten sie Beatriz und begannen, sie rechtlich zu vertreten. Marcia Aguiluz, die 2013 Teil des Rechtsteams einer der Organisationen war und heute in der Rechtsabteilung von Women’s Link Worldwide arbeitet, erinnert sich an die Suche nach einer legalen Alternative, um Beatriz’ Leben zu retten. So legten sie am 11. April 2013 eine Verfassungsbeschwerde vor dem Obersten Gerichtshof ein. Als die Richter der Kammer jedoch anfingen, ihre Entscheidung hinauszuzögern, begannen die Organisationen nach rechtlichen Möglichkeiten auf internationaler Ebene zu suchen.

„Was ich will, ist leben“

Als Beatriz am 18. April zu einer psychologischen Untersuchung ins Krankenhaus eingeliefert wurde, beantragten die klagenden Parteien Maßnahmen beim Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte, um eine angemessene medizinische Versorgung für Beatriz sicherzustellen, die ihre Menschenrechte respektiert. Dem psychologischen Gutachten zufolge hatte die junge Frau in den Monaten zuvor Suizidgedanken gehabt. Die Krankenhauspsychologin wies auch darauf hin, dass ihr emotionaler Zustand durch die Distanz zum Sohn beeinträchtigt wurde und sie wegen der Anomalien des Fötus sehr besorgt war. In verschiedenen Interviews mit salvadorianischen und internationalen Medien bekräftigte Beatriz ihre Entscheidung, die Schwangerschaft abzubrechen; ihre Angst vor dem Tod und das Bedürfnis, mit ihrem Sohn zusammen zu sein: „Was ich will, ist leben. Ich möchte bei meinem Kind sein, bei meiner Familie.“

Kein Vergessen Blumen- und Plakatniederlegung am Denkmal für Beatriz in der salvadorianischen Hauptstadt San Salvador (Foto: Kelly Portillo)

Doch mit der Entscheidung veränderte sich das Leben von Beatriz und ihrer Familie. Personen aus verschiedenen Bereichen der salvadorianischen Gesellschaft und auf internationaler Ebene diskutierten öffentlich darüber. Die konservativsten Gruppen drängten sie dazu, ihre Schwangerschaft fortzuführen und schickten ihr Babyausstattung. Eine Vertreterin einer dieser Gruppe schickte ihr einen Hut für das Kind, das später ohne Gehirn geboren werden würde. Für die Familie von Beatriz und die Mitkläger*innen waren solche Aktionen eine Beleidigung. Humberto, einer der Brüder von Beatriz, erinnert sich, dass er und seine Familie Angst um das Leben seiner Schwester hatten. Sie wollten, dass Beatriz‘ Recht auf Selbstbestimmung respektiert wird.

Obwohl die Kammer die Verfassungsbeschwerde zunächst zuließ und eine Vorsichtsmaßnahme erließ, um das Leben und die körperliche und geistige Gesundheit von Beatriz zu garantieren, wies sie die Beschwerde im Mai zurück. Die Begründung lautete, es läge seitens der angeklagten Behörden kein fahrlässiges Verhalten vor. Am 3. Juni 2013 setzten bei Beatriz die Wehen ein. Ihre Tochter kam per Kaiserschnitt zur Welt und starb schon fünf Stunden später. Für Víctor Mata, der Teil des Anwält*innenteams, das Beatriz vertrat und jetzt Zeuge in dem internationalen Gerichtsverfahren ist, hat die Entscheidung der Richter*innen „das Recht von Beatriz auf Integrität verletzt und ihr Leben aufs Spiel gesetzt“.

In einem Sachbericht behauptete der salvadorianische Staat, dass Beatriz Zugang zu Justizmechanismen im Land hatte, als sie die Verfassungsbeschwerde einreichte. Der Staat bestätigte, dass die Entscheidungen der Gerichte auf der geltenden Gesetzgebung beruhten und dass sich Beatriz in einer stabilen Situation befunden habe. Er wies auch darauf hin, dass die Verfassung keine Hierarchie zwischen dem Leben der Mutter und dem Fötus festlegt, weshalb beide das gleiche Schutzniveau genießen.

Laut dem Interamerikanischen Gerichtshof ist der Schutz des Lebens ab der Empfängnis zwar ein legitimes Ziel, aber die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen bei Unvereinbarkeit des Fötus mit dem Leben genüge den Anforderungen der Eignung nicht. Die Nicht-Überlebensfähigkeit des Fötus bricht die Beziehung zwischen Kriminalisierung und verfolgtem Zweck, da das Leben des Fötus zwangsläufig nicht gewährt werden könne. Darüber hinaus wurde festgestellt, dass der fehlende Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen das Recht auf Leben, Gesundheit, persönliche Unversehrtheit und Privatleben von Beatriz ernsthaft beeinträchtigte und in diesem Fall die höchste Schwere erreichte. Laut dem UN-Hochkommissar für Menschenrechte sind „Einschränkungen des Zugangs zu sicheren Abtreibungen das Ergebnis sozialer Einstellungen, die Frauen stigmatisieren und ihre Körper zu Instrumenten politischer, kultureller, religiöser und wirtschaftlicher Ziele anderer machen. Die Kriminalisierung der Abtreibung verfestigt die Stigmatisierung und Diskriminierung weiter und verletzt die Würde und körperliche Unversehrtheit der Frau.“

Für Gabriela Paz, Sozialanthropologin und feministische Aktivistin, ist der Fall von Beatriz ein disruptives Beispiel für den Widerspruch der Norm: Obwohl Beatriz die Lebenserfahrung hatte, um die Mutterschaft auszuüben, und in einer heterosexuellen und monogamen Beziehung lebte, wurde sie zu einer Person, die sich der Norm widersetzte, da sie den Wunsch äußerte, ihre Schwangerschaft zu beenden. Paz betont, wie wichtig es ist, anzuerkennen, dass das Leben von Menschen ein grundlegender Wert ist, die Norm daher überprüft und an die Realitäten und Bedürfnisse der Menschen angepasst werden muss.

Am 8. Oktober 2017 verstarb Beatriz an gesundheitlichen Komplikationen, verschlimmert durch einen Verkehrsunfall. Sie hatte Atemprobleme und erlitt zwei Herzstillstände. Ihre Familie und die klagenden Organisationen fordern, dass der Interamerikanische Gerichtshof den salvadorianischen Staat nach der Anhörung am 22. und 23. März verurteilt und umfassende Wiedergutmachungen für ihre Familie, sowie weitere Maßnahmen, festlegt. Dies solle verhindern, dass andere Frauen und Mädchen das Gleiche wie Beatriz erleiden müssen. Darüber hinaus fordern sie die Abschaffung des absoluten Verbotes von Schwangerschaftsabbrüchen. „Das Recht von Beatriz, selbst zu entscheiden, wurde vom Staat verletzt. Er ließ sie im Stich. Unsere Motivation für die internationale Klage ist, dass andere Frauen nicht das Gleiche durchmachen wie meine Tochter“, erklärt Delmi, die Mutter von Beatriz. Der Interamerikanische Gerichtshof wird sein Urteil im letzten Quartal 2023 bekannt geben.

Es ist bereits das zweite Mal, dass El Salvador im Zusammenhang mit den sexuellen und reproduktiven Rechten von Frauen vor den Interamerikanischen Gerichtshof gebracht wird: Am 2. November 2021 wurde El Salvador im sogenannten Fall Manuela verurteilt. Manuela wurde wegen eines geburtshiflichen Notfalls zuhause behan-delt, wobei das Kind verstarb. Manuela wurde wegen schweren Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von 30 Jahren verurteilt. Zu den vom Gericht angeordneten Maßnahmen gehört eine Neuregelung der ärztlichen Schweigepflicht, seiner Ausnahmen sowie die Anpassung der medizinischen Leitfäden und Dokumentation für die Behandlung geburtshilflicher Notfälle.

KINDER GEBÄREN KINDER

In Nicaragua ist jede Art von Schwangerschaftsabbruch strafbar. Meist kommen die Frauen, die die ganze Härte des Gesetzes zu spüren bekommen, weil sie abgetrieben haben, aus sehr armen Verhältnissen. Heißt das, dass auch hier die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht eine Rolle spielt?
In Nicaragua ist die Abtreibung seit 2006 ausnahmslos strafbar. Wie in ganz Lateinamerika betrifft die Situation weitaus mehr Frauen, Mädchen und Jugendliche, die in sehr prekären Verhältnissen leben. Die Ärmsten, die keinen Zugang zu Bildung und Informationsmöglichkeiten haben, gehen das größte Risiko ein, wegen einer unter schlechten Bedingungen durchgeführten Abtreibung zu leiden und zu sterben.

Es gibt keine Möglichkeit, eine Abtreibung ohne Angst in Anspruch zu nehmen − weder für die Ärzte, Krankenschwestern, Hebammen oder auch völlig ungeschulten Personen, die ihn klandestin anbieten, noch für die Frauen, die abtreiben müssen. Frauen aus sehr armen Verhältnissen setzen ihre Schwangerschaft bis zur Entbindung fort, selbst wenn sie vergewaltigt wurden oder eine Risikoschwangerschaft haben, da es keine andere Möglichkeit gibt. Besser informierte, wohlhabendere Frauen, die über Unterstützungsnetze, insbesondere im Freundinnenkreis, verfügen, haben eher Zugang zu sicheren Diensten.

Besonders verstörend sind in diesem Zusammenhang die Schwangerschaften von Mädchen unter 14 Jahren, da jedes dieser Mädchen ein Opfer sexuellen Missbrauchs ist. Welche psychischen und gesundheitlichen Folgen hat die erzwungene Kinderschwangerschaft für das künftige Leben dieser Mädchen und Jugendlichen?
Offiziellen Statistiken des Gesundheitsministeriums zufolge gibt es in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen im Jahresdurchschnitt 1.600 betreute Entbindungen von Mädchen unter 15 Jahren.

Das trifft nur auf diejenigen zu, die eine Gesundheitseinrichtung besuchen. Eine beträchtliche Anzahl von Mädchen aus ländlichen und städtischen Randgebieten geht nicht ins Krankenhaus. Aus diesem Grund müssen wir davon ausgehen, dass die Zahl der Mädchen, die Kinder bekommen, wesentlich höher ist.

Für die Mädchen, die in staatlichen Einrichtungen betreut werden, dreht sich alles um die Sorge für das ungeborene Kind, wobei das schwangere Mädchen vernachlässigt wird. Es gibt keinen speziellen Betreuungsplan, die Rechte der Mädchen werden nicht berücksichtigt, sie sind gezwungen, ein Kind zu gebären, da sie keine andere Wahl haben und eine Abtreibung nicht in Frage kommt. Vom Anbeginn der Schwangerschaft sind sie dazu verurteilt, sich wie erwachsene Frauen zu verhalten und sich um ihre Schwangerschaft zu kümmern.

Sofort nach der Entbindung wird von ihnen verlangt, mit dem Stillen zu beginnen − trotz ihrer Schmerzen, trotz ihres Protestes. Dies alles wird vom Gesundheitspersonal nicht beachtet und meistens nicht einmal von ihren engsten Angehörigen.

In der Regel ist ihr Leben zerstört, die Wege, ein Mädchen zu bleiben, zu spielen, zu studieren und soziale Kontakte zu knüpfen, sind definitiv verschlossen. Das Mädchen wird mit Strenge behandelt, damit es seine Rolle als „Mutter” annimmt. Es muss sich nicht nur um das Baby kümmern, sondern auch im Haushalt mithelfen und manchmal auch Geld für die Versorgung des Neugeborenen beisteuern. All das ist eine echte Tragödie.

Niemand untersucht den Ursprung der Schwangerschaft, im Allgemeinen wird weggesehen. Meistens sind es erwachsene Männer, sogar alte Männer, die das Mädchen schwängern.

Einige feministische Organisationen haben, mit zunehmend begrenzten Kapazitäten, Maßnahmen mit den Familien und insbesondere mit den Mädchen entwickelt − aber das sind nur Versuche in geringem Umfang.

Häufig ereignet sich die zweite Schwangerschaft schon bald darauf, da es keine Initiativen zur Aufklärung und Verhütung gibt.

Erleiden diese Mädchen das gleiche Stigma wie erwachsene Frauen, denen vielfach unterstellt wird, in die sexuelle Handlung eingewilligt zu haben, so dass die gesamte Schuld auf das Opfer abgewälzt wird?
Es ist sehr wenig Empathie vorhanden − selbst für diese Mädchen. Häufig werden sie beschuldigt, den Vergewaltiger provoziert zu haben, sei dieser nun ein Familienmitglied, ein Bekannter oder ein Fremder. Die ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf die Pflicht, die Verantwortung für die Betreuung der Schwangerschaft und dann für das Neugeborene zu übernehmen. Sie werden in der Nachbarschaft gehänselt, in der Schule stigmatisiert und da sie als schlechtes Beispiel für ihre Mitschülerinnen gelten, wird ihnen nicht erlaubt, weiter zur Schule zu gehen. Die Mütter der Mädchen trifft auch ein Teil des Stigmas und der Schuldzuweisung, denn: „Sie hat sich nicht um sie gekümmert, sie hat sie nicht gut erzogen, und deshalb ist sie verantwortlich für das, was ihr [der Tochter] passiert ist.”

Hierzu eine Anekdote: Einmal unterstützte ich eine Familie, deren Mädchen nach einer Vergewaltigung schwanger geworden war und ein totes Kind zur Welt brachte. Als ich ihre Mutter fragte, was das Schlimmste war, das sie während des gesamten Prozesses ertragen musste, antwortete sie: der Spott der Menschen in meiner Gemeinde.

Kaum jemand verurteilt den Vergewaltiger. Es gibt weder strafrechtliche noch soziale Sanktionen. Es gibt immer einen Grund, die Verantwortung der Männer herunterzuspielen. Sie machen mit ihrem Leben, ihrem Wohnsitz, ihrem Arbeitsplatz und ihrem sozialen Umfeld weiter wie zuvor, während das vergewaltigte Mädchen und seine Familie unter Verachtung und Ausgrenzung leiden.

Das Strafgesetzbuch legt fest, dass jeglicher Geschlechtsverkehr mit einem Mädchen unter 14 Jahren als Vergewaltigung eingestuft wird und mit zwölf bis 15 Jahren Gefängnis bestraft werden kann. Wie sieht es mit der Strafverfolgung der Täter aus? Werden Ermittlungen gegen sie geführt?
Wie bereits erwähnt, wird gegen Vergewaltiger weder ermittelt noch werden sie strafrechtlich verfolgt. Die Zahl der Anzeigen ist minimal. Und in den Fällen, in denen ein Prozess eingeleitet wird, der für die Familien der Opfer emotional schwierig und kostspielig ist, ist der Prozentsatz der Vergewaltiger, die angeklagt und bestraft werden, noch geringer. Nicht einmal zehn Prozent der Gesamtzahl der Anzeigen führen zu einer Anklage. Viele der Inhaftierten werden später amnestiert und freigelassen, entweder wegen guter Führung oder weil sie Beziehungen zu den Behörden oder zu anderen politischen Akteuren haben, so dass sie nach ihrer Freilassung in ihre eigenen Gemeinden zurückkehren, wo sie sich manchmal wieder an den Mädchen und jungen Frauen in ihrer Umgebung vergreifen.

Bedeutet die Tatsache, dass die Täter überwiegend aus dem familiären Umfeld kommen oder die Mädchen in einem anders gearteten Abhängigkeitsverhältnis zu ihnen stehen, dass es eine Untererfassung der Fälle gibt, die das tatsächliche Ausmaß von häuslicher Gewalt, sexuellem Missbrauch, Schwangerschaft und erzwungener Mutterschaft nicht wirklich widerspiegelt?
Handelt es sich bei den Tätern um Familienmitglieder, wird das Drama noch komplexer. In der Regel steht in diesen Fällen die gesamte Familie unter dem Druck des Aggressors, der gewalttätig ist, der bedroht und seine Drohungen bis hin zur Tötung wahr macht. Die Anzahl und die Grausamkeit, mit der Frauen getötet werden, ist zunehmend alarmierend. Das macht es fast unmöglich, Strafanzeige zu stellen. Auf dem Land, wo die Menschen eher isoliert voneinander leben, gibt es Fälle, in denen ein gewalttätiger Mann mit der Mutter und den Töchtern zusammenlebt, ohne dass jemand davon weiß oder eingreifen kann.

Obwohl in bestimmten Bevölkerungsgruppen, die mehr Gelegenheit hatten, sich über Geschlecht, Gewalt und Frauenrechte zu informieren, ein größeres Bewusstsein vorhanden ist, wird Gewalt gegen Frauen gesellschaftlich immer noch toleriert.

Wir sind dazu mit einem realen als auch legislativen Rückschritt konfrontiert, der eine Kultur des Respekts gegenüber Frauen nicht fördert. In ihren Reden proklamieren die staatlichen und politischen Akteure das traditionelle Familienmodell, in dem der Mann befiehlt und die Frau gehorcht, man fördert „Versöhnung” und „Liebe”, um die Familie zusammenzuhalten, setzt darauf, dass Konflikte ohne das Eingreifen anderer gesellschaftlicher Akteure gelöst werden. Das bedeutet, dass die Frauen abgeschreckt werden, Missbrauch, Vergewaltigung und andere Verbrechen an die Öffentlichkeit zu bringen, dass alles getan wird, um den Zusammenhalt der Familie um jeden Preis zu bewahren, selbst wenn er das Leben der Frauen kostet.

Welche feministischen Organisationen, die sich dem Schutz dieser Mädchen annehmen und gegen die Straflosigkeit ankämpfen, können derzeit in Nicaragua überhaupt noch arbeiten?
Die Möglichkeiten in Nicaragua zu arbeiten sind sehr begrenzt. Die wenigen staatlichen Einrichtungen, die sich auf die Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen spezialisiert haben, wurden aufgelöst, und Frauenorganisationen, die sich mit diesen Themen befassen, wurden schikaniert, geschlossen, ihre Betriebserlaubnis wurde annulliert und in vielen Fällen sogar ihr Eigentum beschlagnahmt. Die wenigen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die es noch gibt, verfügen nicht mehr über finanzielle Mittel, da Kooperation mit dem Ausland strafbar ist (siehe LN 558). Dieses Panorama macht die Situation von Tag zu Tag hoffnungsloser.

Die derzeitige Regierung führt einen Frontalangriff gegen feministische Organisationen. Sie alle werden beschuldigt, Putschisten zu sein, äußere Einmischung zu fördern und Landesverrat zu begehen. Es gibt steuerliche Schikanen, die Organisationen dazu zwingen, ihre Tätigkeit einzustellen, weil sie nicht in der Lage sind, alle wirtschaftlichen und rechtlichen Anforderungen zu erfüllen, die ihnen auferlegt werden.

Die Kirche spielt im Leben der Menschen in Nicaragua eine aktive Rolle. Welche Haltung nimmt sie bei diesem Thema ein?
Insbesondere die katholische Kirche hat in der politischen Krise, die Nicaragua seit 2018 durchlebt, mehrheitlich gegen die Verletzung der Menschenrechte ihre Stimme erhoben, Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit gefordert. Nicht so die evangelikalen Kirchen und andere Konfessionen, die schweigen und/oder sich dem offiziellen Diskurs der Diktatur anschließen. Was jedoch die spezifischen Frauenfragen betrifft, sind alle Kirchen schuldig. Ihren Dogmen zufolge sind sie strikt gegen Abtreibung, gegen sexuelle und reproduktive Rechte im Allgemeinen, und ich denke, dass sie es versäumt haben, gegen alle Formen der Gewalt gegen Frauen ihre Stimme zu erheben. Sie verkünden Vergebung als Basis für die Lösung von Problemen in der Familie. Sie stellen die absolute Macht des Mannes und den daraus resultierenden Schaden für die Familie und ihr soziales Gefüge nicht in Frage

Die Kirche ist immer noch der Tradition verbunden und zu rückständig, um so heikle und herausfordernde Themen wie Geschlecht und Gleich-*berechtigung zu diskutieren.

“ES TUT WEH EINE FRAU ZU SEIN”

Legale Abtreibung! Feminist*innen während der Parlamentssitzung zum Abtreibungsverbot (Foto: Asamblea Nacional del Ecuador, Flickr BY-SA 2.0)

„Am 8. Januar 2015 wurde ich von zwei Männern entführt und auf das Schlimmste sexuell missbraucht. Die Ärztin gab mir keine Notfall-Verhütung, um eine ungewollte Schwangerschaft zu verhindern. Um die Medikamente zur AIDS-Abwehr musste ich betteln. Vor einigen Monaten forderte das Parlament die Staats­anwalt­schaft auf, in meinem Fall zu ermitteln – vier Jahre später.“ Mit dieser Schilderung beginnt die Rechtsanwältin Dr. Jéssica Jaramillo am 5. Februar 2019 ihre Rede vor dem ecuadorianischen Parlament. Sie und andere Frauenrechtler*innen wollen die Abgeordneten dazu bewegen, Schwangerschaftsabbrüche nach Vergewaltigungen, sowie bei Inzest und Missbildungen des Fötus zu legalisieren. Bisher ist das nur erlaubt, wenn die Frau durch die Schwangerschaft in Lebensgefahr schwebt oder wenn eine Frau mit Behinderung Opfer einer Vergewaltigung wurde. Mindestens 243 Frauen wurden bislang wegen Abtreibung verurteilt.
Außerdem fordern die Frauenrechtler*innen, dass Sexualstraftäter konsequent verfolgt werden. „Das ist mir geschehen, die ich eine juristische Ausbildung habe“, sagt Jaramillo. „Ich möchte mir nicht vorstellen, wie es den Mädchen und Frauen ergeht, die in dieser Situation nicht wissen, was sie tun sollen.“ Zwar gibt es seit 2017 ein Gesetz zur Abschaffung der Gewalt gegen Frauen, doch die zu diesem Zweck veranschlagten Gelder von umgerechnet ca. 530.000 Euro reichen laut der Frauenrechtsaktivistin Virginia Gómez bei weitem nicht aus. Offizielle Berechnungen ergaben, dass 17,6 Millionen veranschlagt werden müssten, um alle gefährdeten Frauen angemessen zu versorgen.

Erst im Januar hatte der Fall Martha die Hauptstadt Quito erschüttert. Martha, so der Schutzname der 35-Jährigen, war mutmaßlich von drei ihr bekannten Männern in einer Bar vergewaltigt worden. Dort wurde sie ohnmächtig, nackt und von Hämatomen übersät gefunden. Die Polizei registrierte Blutflecken in ihrem Intimbereich, auf der Kleidung der Männer, einer Bierflasche, einem Glas, an den Wänden, auf dem Billardtisch und an beiden Enden eines Billardqueues, mit dem sie Martha wahrscheinlich intim verletzt hatten. Auf dem Handy eines der Männer entdeckte die Polizei Fotos des Tathergangs. Der Anwalt der Überlebenden, Fabrizzio Mena Ríos spricht von einem noch nie da gewesenen Gewaltakt.

Die Nachricht von Marthas Schicksal rief, wie andere Missbrauchsfälle, eine Welle der Solidarität hervor. Frauenrechtler*innen organisierten am 20. und 21. Januar Protestmärsche vor die Staatsanwaltschaft in Quito. Sie demonstrierten für harte strafrechtliche Konsequenzen für Marthas Aggressoren. Auf Facebook verkündeten Feminist*innen: „Was sie dir getan haben, haben sie uns getan, denn während sie dich vergewaltigen, verletzen sie uns, brechen sie uns und füllen uns wieder neu mit Ängsten. Aber du, Kriegerin, bist nicht stumm geblieben, und uns bleibt nur zu sagen, dass du nicht allein bist! Du bist mutig, du bist wunderbar, du hast Freiheit und Würde verdient. Wir werden wachsam sein, Schwester, wir glauben dir!“

„Lass mich entscheiden!“

Proteste der Frauenrechtler*innen, wie der Abtreibungsgegner*innen, begleiten auch die Parlamentssitzungen zur Reform des Strafrechts seit Januar. Die Feminist*innen sind an ihren grünen Halstüchern zu erkennen mit der Aufschrift #dejamedecidir – „lass mich entscheiden“. Wie Gómez sagt: „Der ecuadorianische Staat hat bei seinen Frauen viele Schulden zu begleichen. Die Abtreibung bei Vergewaltigung ist das Mindeste, was er seinen Frauen schuldig ist.“ Die Aktivist*innen wirken auf verschiedenen Ebenen auf Politiker*innen ein. 2016 sprach Jaramillo vor dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen vor und erwirkte eine Resolution, die die ecuadorianische Regierung aufforderte, Abtreibung im Fall von Vergewaltigung zu legalisieren. Bereits 2015 hatte die UN-Frauenrechtskommission dasselbe gefordert. Katherine Mosquera und Kolleginnen von der Organisation Mujeres por el Cambio (Frauen für den Wandel) appellierten in der Stadt Cuenca im Süden Ecuadors an die Abgeordneten ihrer Region.

Mosquera stellte in einem Pressegespräch am 21. Januar aktuelle Zahlen der Gewalt an Frauen vor. In den letzten 13 Jahren seien demzufolge knapp 14.000 Frauen vergewaltigt worden, also durchschnittlich elf Frauen am Tag. Mehr als 700 von ihnen waren Mädchen im Alter unter zehn Jahren. 17.448 Mädchen unter 14 wurden zwischen 2009 und 2016 gezwungen, zu gebären, heißt es an anderer Stelle. Die Abtreibungsgegner*innen argumentieren dem zum Trotz, dass der ungeborene Fötus ab der Zeugung ein Recht auf Leben habe.
Mosquera hält dem entgegen, dass „das Abtreibungsverbot bedeutet, die Frauen nicht als Rechtssubjekte, sondern als Objekte zu behandeln. Sie werden aufgrund ihres Geschlechtes diskriminiert, weil nur ihnen diese Sanktionen auferlegt werden. Das Gesetz bestraft nicht die Abtreibung, sondern verurteilt, dass die Frauen keine Mütter sein wollen.“ Wie Jaramillo betont sie, dass durch das Abtreibungsverbot vor allem armen Frauen der Zugang zum Gesundheitssystem verwehrt wird. Vor allem aber sprechen die Feminist*innen in konkreten Bildern, um eine Gesellschaft zu erreichen, „die sich an die Gewalt an Frauen gewöhnt hat“, so Jaramillo. Im November hatte Gómez in einer Rede vor dem Parlament gesagt: „Sie können sich nicht vorstellen, wie die jungen Mädchen leiden, um die Köpfe der Babys durch ihre schmalen Becken zu gebären.“ Immer wieder erinnern die Feminist*innen an die akute Brisanz ihrer Appelle: „Jetzt gerade töten sie uns, vergewaltigen sie uns, bedrängen sie uns.“

Auf Facebook schreibt eine Nutzerin: „Es tut weh, eine Frau zu sein, aber es tut noch mehr weh, die Mutter von drei Töchtern zu sein. Wenn die Männer nicht selbst vergewaltigen, klagen sie die Frau an und rechtfertigen die Aggressoren.“ Rechtliche Beschlüsse können die Frauen unmittelbar in ihrer Unversehrtheit, ihrem nackten Überleben, betreffen. So macht Gómez deutlich, dass bloße Unversehrtheit nicht das Ziel ist: „Wir wollen leben. Mehr noch: Wir wollen leben und glücklich sein – ¡Vivas y felices nos queremos!“

 

KAMPF DEN DINOSAURIERN

Mit Grün gegen das Patriarchat Proteste für das Recht auf  Abtreibung vor dem Kongress (Foto: Prensa Obrera, CC BY 4.0)

Grün ist die Farbe dieses argentinischen Herbstes. Zunächst waren die Dienstage und Donnerstage grün, dann wurden es alle Wochentage. Bei Aktionen im ganzen Land zogen hunderte und tausende Frauen mit grünen Halstüchern durch die Straßen und bis vor das Parlamentsgebäude. Das pañuelo verde (grünes Tuch) ist zum allgegenwärtigen Symbol für das Recht auf Abtreibung geworden, das derzeit im argentinischen Kongress diskutiert wird.

Argentinien trägt grün, denn die Debatte um Legalisierung der Abtreibung wird derzeit an jeder Straßenecke geführt. Sie ist präsenter denn je – auch wenn sie nicht ganz neu ist. Seit 30 Jahren ist das Recht auf Abtreibung eine der zentralen Forderungen der argentinischen Frauenbewegung. Seit 13 Jahren gibt es die Nationale Kampagne für das Recht auf legale, sichere und kostenfreie Abtreibung, ein Bündnis von mittlerweile über 300 verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Gegründet auf einem der legendären Nationalen Frauentreffen, zu denen heute jährlich 100 000 Frauen aus dem ganzen Land pilgern, hat die Kampagne ein Gesetzesprojekt zum selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch entwickelt. Der heute im Parlament zur Debatte stehende Entwurf ist das Ergebnis jahrelanger Arbeit, Reflexion und Anpassung in kollektiven Prozessen. Es ist bereits der siebte Versuch, das Gesetz ins Parlament einzubringen, aber der erste, der es bis zur Verhandlung gebracht hat. Für viele ist das ein historischer Moment, der dem unermüdlichen Aktivismus, Durchhaltevermögen und nicht zuletzt dem Druck der Straße zu verdanken ist. „Wir haben unglaubliche Fortschritte gemacht“, sagt Carolina Balderrama, feministische Journalistin in der Nachrichtenagentur Telam, über die Bewegung. „Wir sind auf jeder Tagesordnung. Es gibt einfach keinen Ort mehr, an dem nicht über Feminismus, über Abtreibung, über die Rechte der Frauen diskutiert wird.“

Am 13. Juni werden zunäachst die Abgeordneten des Unterhauses über den Gesetzesentwurf abstimmen, bei positivem Ausgang wird er dem Senat vorgelegt. Zuvor hatten 738 geladene Personen jeden Dienstag und Donnerstag vom 10. April bis 31. Mai ihre Argumente für oder gegen die Gesetzesvorlage dargelegt. Vier Kommissionen erstellen auf Grundlage der Anhörungen ein Gutachten für die Abstimmung. Das Ergebnis ist denkbar knapp. Entscheidend werden die kaum 30 bislang unentschiedenen Stimmen sein, die hart umkämpft sind. Laut öffentlicher Stellungnahmen waren am letzten Anhörungstag 112 Abgeordnete für und 115 gegen den Gesetzes­entwurf, diese Zahlen jedoch variieren täglich. Sollte das Gesetz angenommen werden, würden in Argentinien Schwangerschaftsabbrüche bis zur 14. Woche legal und zu einet kostenfreien medizinischen Grundleistung des Gesundheitssystems werden. Argentinien wäre damit neben Uruguay und Kuba das einzige Land in Lateinamerika, das ein bundesweites Gesetz für legale Schwangerschaftsabbrüche hätte. In anderen Ländern Lateinamerikas greifen lokale Regelungen oder straffreie Ausnahmen, Komplettverbote gibt es in Chile, El Salvador, Honduras, Nicaragua, Haiti, Surinam und der Dominikanischen Republik.

Seit einem Grundsatzurteil im Jahr 2012 bleiben auch in Argentinien Abtreibungen in zwei Fällen straffrei, bei Lebensgefahr und physischen oder mentalen Gesundheitsrisiken der Schwangeren oder wenn die Schwangerschaft durch eine Vergewaltigung zustande gekommen ist. Behandlungsprotokolle für Frauen, die nach diesen Regelungen ein Recht auf legalen Schwangerschaftsabbruch haben, sollen den Zugang zu straffreien Abtreibungen in diesen Fällen sicherstellen. Bisher haben jedoch nur acht von 24 Provinzen überhaupt ein derartiges Protokoll aufgesetzt. Laut informeller Zahlen des Gesundheitsministeriums gibt es zwischen 400 und 500 dieser legalen Abtreibungen pro Jahr. Geheime Abtreibungen werden vom selben Ministerium allerdings offiziell auf zwischen 370.000 und 522.000 jährlich geschätzt (2009). Dabei sind seit 1983, dem Ende der Militärdiktatur, 3030 Fälle bekannt geworden, bei denen Frauen an Komplikationen bei einer Abtreibung gestorben sind. Laut Weltgesundheitsorganisation ist das der Grund für ein Drittel aller Fälle von Muttersterblichkeit. Die Mehrheit der Frauen, die in Folge von Abtreibungen sterben, sind jung und arm. Viele Aktivist*innen reden daher von der Legalisierung der Abtreibung als „Schuld der Demokratie“ als das Menschenrecht, was die Rückkehr zur Demokratie noch nicht erbracht hat. Neben Selbstbestimmung über den Körper und autonomen Entscheidungen über Mutterschaft dreht sich die Diskussion stark um die Frage nach sozialer Gerechtigkeit, um den ungleichen Zugang zu sicheren Abtreibungen und die Verpflichtung des Staates, diese zu garantieren. Es ist eine Frage der Klasse, denn Frauen aus den Oberschichten haben Zugang zu Privatkliniken und Mittel diese zu bezahlen, Frauen aus ärmeren Bevölkerungsschichten oder ärmeren Provinzen müssen oft zu unsicheren Methoden greifen. Die Frage ist längst nicht mehr, ob es Abtreibungen geben soll oder nicht, es gibt sie tagtäglich, sondern ob sie legal und sicher oder geheim und mit großen Risiken durchgeführt werden.

Gegner*innen sowie Befürworter*innen mobilisieren ihrerseits nach allen Kräften. Verschiedene Berufsgruppen haben in offenen kollektiven Briefen Stellung bezogen – Schriftstellerinnen, Künstlerinnen, Filmschaffende, Dichterinnen, Architektinnen, Lehrerinnen, Presseleute, Fotografinnen, Angestellte des Öffentlichen Dienstes und viele weitere haben über 70.000 Unterschriften gesammelt und sie an die Abgeordneten geschickt. Je näher die Abstimmung rückt, desto aufgeheizter die Debatte. Am 4. Juni, dem dritten Jahrestag der Gründung von Ni Una Menos (Nicht eine weniger), war die Hauptforderung der Großdemonstration erstmals nicht das Ende der sexualisierten Gewalt, sondern auch das Recht auf Abtreibung. Zehntausende schoben sich als „grüne Flut“ durch die Straßen von Buenos Aires und Argentinien, um für die Verabschiedung des Gesetzes zu demonstrieren.

Auch die Abtreibungsgegner*innen sammeln Unterschriften, veranstalten „Märsche für das Leben“ und tragen neuerdings ein Halstuch in hellblauen Nationalfarben, das für „die beiden Leben“ skandiert, das des ungeborenen Kindes und das der Schwangeren. Hellblaue Fluten sieht man allerdings selten, eher Fotos und Plakatwände mit gigantischen Föten. Ein sechs Meter großer Fötus aus rosa Pappmaché wird bei Demonstrationen durch die Straßen getragen. Dabei wird regelmäßig gemeinsam die National­hymne gesungen. Die Anti-Abtreibungs­bewegung bezeichnet sich als „Pro Vida“ (Für das Leben), in etwa vergleichbar mit den sogenannten Lebensschützern in Deutschland. Hinter dem Schutz des „ungeborenen Kindes” steckt oft die gleiche konservative Rechte, für die das Leben eines bereits geborenen Kindes, das in den Armenvierteln und Randbezirken aufwächst, keine Existenzberechtigung hat.

In den Anhörungen wurde von den Gegner*innen neben offensichtlichen Fake Facts meist ideologisch-religiös und moralisch argumentiert – unter anderem mit absurden (Ab-)Gründen wie: Schwangerschaften würden vor fortdauerndem sexuellen Missbrauch schützen (Ursula Basset, Doktorin der Rechtswissenschaften an der Katholischen Universität UCA), das „Verbrechen Abtreibung“ sei eine „Todesstrafe“ für ungeborene Kinder und ein „wirkliches“ gewaltsames Verschwindenlassen (Oscar Botta der NGO ProFamilia) oder Abtreibung sei „Holocaust“ (Cristina Miguens, selbsterklärte „Feministin “ der Frauenzeitschrift Sophia). Viele der mehrheitlich männlichen Vortragenden kamen aus dem Kreis der katholischen Unversität UCA oder der mit dem Opus Dei assoziierten Universidad Austral.

In Argumentation und Aktion der Abtreibungsgegner*innen wird deutlich, was derzeit eine Tendenz in rechten Bewegungen scheint: die Aneignung von linken Begriffen, Organisationsformen und Symbolen für eigene Zwecke – der ständige Bezug auf Menschenrechte und deren vermeintliche Verteidigung bei eigentliche Aushöhlung. Die Gegenseite bezeichnet Pro Vida daher treffender als „antiderechos”, als Bewegung, die gerade gegen und nicht für Grundrechte eintritt.

Dass nun gerade auch Präsident Macri, selbst überzeugter Abtreibungsgegner, versucht, sich einen feministischen Diskurs anzueignen und trotz seiner rechtskonservativen Cambiemos-Regierung, die Möglichkeit zur Debatte im Parlament eröffnet hat, mag zunächst überraschen. Letztendlich ist es aber dem enormen gesellschaftlichen Einfluss der feministischen Bewegung zuzuschreiben, die als aktiver politischer Akteur großen Rückhalt in der Bevölkerung genießt. Vielen Aktivist*innen fällt es daher schwer zu glauben, dass das Gesetzesprojekt noch abgelehnt wird. „Der soziale Druck, dass jetzt legalisiert wird, ist unaufhaltsam“ erklärt Journalistin Balderrama, die selbst in einer der Anhörungen gesprochen hat. „Und mehr und mehr verbreitet sich auch der Gedanke, dass die Abgeordneten, die nicht für das Gesetz stimmen, Dinosaurier sind, die in einem vergangenen Zeitalter hängengeblieben sind“. Sogar Mitglieder der Regierungspartei PRO posierten Anfang Juni für ein gemeinsames Foto mit dem grünen Halstuch.

Die Befürworter*innen des Gesetzes haben Zahlen und Argumente auf ihrer Seite. In verschiedensten Umfragen sprachen sich stets über 50 Prozent der Befragten für Abtreibung aus, der Prozentsatz steigt in der jüngeren Bevölkerung. Laut Balderrama sind gerade die Oberstufenschülerinnen sehr wichtige neue Akteurinnen, die jetzt auf der politischen Bühne auftauchen. Sie organisieren sich und fordern, dass das in der Schublade liegende Gesetz zur „Integralen sexuellen und reproduktiven Gesundheit“ umgesetzt wird, das sexuelle Aufklärung im Schulsystem verankert. Das Motto der Legalisierungs­kampagne ist: Sexualkunde, um entscheiden zu können, Verhütungsmittel um nicht abtreiben zu müssen, legale Abtreibung um nicht zu sterben. Legalisierung bedeutet auch Recht auf Information und Zugang zu diesen Informationen, wie auch an der jüngsten Verurteilung einer Ärztin in Deutschland aufgrund des Paragraphen 219a StGB zu sehen war.

Der Kampf um das Recht auf Abtreibung hat noch mehr junge Frauen politisiert, die enorme Präsenz der Bewegung auf den Straßen ist das „Merkmal unserer Zeit“, schreibt die Ni Una Menos-Gründerin Mariana Carbajal in ihrer Kolumne in der Zeitung página12. Das soziale Bewusstsein hinsichtlich der Notwendigkeit zur Legalisierung der Abtreibung hat sich radikal verändert. Unabhängig vom Ausgang der Abstimmung ist die soziale Entkriminalisierung bereits Realität. Und obwohl es de facto bereits straffrei möglich ist, in Argentinien abzutreiben und diese Praxis existiert, sieht die Antiderechos-Bewegung eine Bedrohung in der Verankerung des Rechts auf selbstbestimmte Abtreibung im Gesetz. Das liegt auch daran, dass die Ni-Una -Menos-Bewegung wie an diesem 4. Juni die Forderung nach Abtreibung mit grundlegender Kritik an der neoliberalen Politik und dem aktuellen Sozialabbau der Regierung verknüpft. Mit dem Feminismus von Ni Una Menos, der heute mehr als jede andere gesellschaftliche oder politische Kraft mobilisiert, geht eine Opposition zum Macrismus einher. Die Forderung nach Abtreibung stellt somit in doppeltem Sinne eine Bedrohung der alten Ordnung dar.

„Wir Frauen werden zu politischen Akteuren. Das macht Angst“, erklärt Mariana Carbajal. Einer der zahlreichen Sprechgesänge auf den feministischen Demonstrationen, der Forderungen einläutet, lautet: „Ahora que sí nos ven“ – „Jetzt, da wir endlich gesehen werden.“ Jetzt, wo der Feminismus politische Kraft entwickelt hat, wo er nicht mehr zu übersehen ist, ist der Druck groß genug, damit das Recht auf legale und sichere Abtreibung zum Gesetz wird.

// MEIN BAUCH GEHÖRT MIR

In den meisten Ländern Lateinamerikas und der Welt ist das Recht auf körperliche Selbstbestimmung für Frauen keine Selbstverständlichkeit. In Chile gibt es nun einen kleinen Hoffnungsschimmer. Am 22. August wurde das Totalverbot von Abtreibungen aufgehoben und ein Schwangerschaftsabbruch zumindest in drei Fällen legalisiert: Nach einer Vergewaltigung, bei akuter Lebensgefahr für die Mutter oder bei einer tödlichen Erkrankung des Fötus drohen nun keine Strafen mehr. Damit wurde ein Relikt aus der blutigen Vergangenheit abgeschafft, das uneingeschränkte Verbot war 1989 unter dem Diktator Augusto Pinochet eingeführt worden.

Die Lockerung ist ein Schritt in die richtige Richtung – mehr aber auch nicht. Was bei aller Euphorie in Vergessenheit gerät: Der Wille der Frauen, um die es geht, zählt nach wie vor nicht. Weiterhin muss erst ein Gewaltverbrechen nachgewiesen werden oder akute Lebensgefahr bestehen, damit Frauen über ihren Körper bestimmen können. Die leichten gesetzlichen Verbesserungen sind außerdem keine Garantie dafür, dass die betroffenen Frauen tatsächlich die nötige medizinische Versorgung erhalten. Immer wieder berichten Frauen davon, dass ihnen Abtreibungen verwehrt werden. Die gesellschaftliche Ächtung ist groß und viele Betroffene müssen Anfeindungen bis hin zu Morddrohungen über sich ergehen lassen.

Nur in Uruguay, Kuba, den Guyanas und Mexiko-Stadt ist ein Schwangerschaftsabbruch in den ersten Wochen straffrei. In Nicaragua und El Salvador sind Abtreibungen dagegen weiterhin gänzlich verboten und die betroffenen Frauen sowie das medizinische Personal müssen mit hohen Strafen rechnen. Der Fall von María Teresa Rivera sorgte vor einigen Jahren für großes Aufsehen. Die Salvadorianerin hatte eine Fehlgeburt erlitten. So weit, so normal. Nicht jedoch in El Salvador. Die damals 28-Jährige wurde verdächtigt, eine Abtreibung durchgeführt zu haben, sie wurde wegen Mordes angeklagt und zu 40 Jahren Gefängnis verurteilt. Vier Jahre saß sie in Haft. 2016 wurde Rivera auf massiven Druck durch soziale Bewegungen entlassen. Doch die Tortur ging weiter. Die Staatsanwaltschaft drohte, die Entscheidung anzufechten. Ein Sturm der moralischen Entrüstung brach über die Mutter herein. Rivera musste das Land verlassen, im März dieses Jahres erhielt sie Asyl in Schweden.

Doch es regt sich Widerstand: Aktivist*innen von Tijuana bis Patagonien kämpfen gegen die katastrophale Situation und leisten den betroffenen Frauen Hilfe. Die geltenden Gesetze kriminalisieren vor allem arme Frauen, die meist nicht das Geld für eine Abtreibung oder medizinische Versorgung aufbringen können. Indigene Frauen aus ländlichen Gebieten werden besonders schlecht behandelt.

Die internationale Organisation Women on Waves umgeht das Abtreibungsverbot geschickt: Mit einem Boot umschiffen die Aktivist*innen Länder, in denen Abtreibungen verboten sind und führen in internationalen Gewässern Schwangerschaftsabbrüche durch. Eine gute Idee, dennoch keine Lösung für alle Frauen. Viele Betroffene leben fernab der Küsten, Abtreibungen finden stattdessen im Hinterzimmer statt: ohne professionelle Ärzt*innen, unter prekären hygienischen Bedingungen. Bei der Vielzahl der Frauen wirkt dieses Boot wie ein Tropfen in der blauen Weite des Ozeans.

Strenge Gesetze und der religiös-moralische Zeigefinger gefährden weiterhin das Leben von Frauen in Lateinamerika. Gesellschaftlicher Wandel ist allerdings immer von Fort- und Rückschritten geprägt.

Es besteht Hoffnung, solange sich Frauen weiterhin kritisch organisieren und das Patriarchat in Frage stellen, selbstbestimmt ihre Rechte einfordern und solidarische Werte vorleben.

KLASSENFRAGE ABTREIBUNG

Wie organisiert ihr euch als Anarchist*innen?
Ich bin in der Radio-Gruppe Rosas Negras, die zu verschiedenen Themen Sendungen macht. Rosas Negras besteht aus verschiedenen feministischen Gruppen. Wir unterstützen Proteste, wie für die Entkriminalisierung von Abtreibungen. Wir sind zwar wenige, aber wir arbeiten daran, ein anarchafeministisches Kollektiv aufzubauen, weil ein Großteil der feministischen Organisationen eher wie NGOs organisiert sind oder Verbindungen zur Kirche haben.

Habt ihr keine Probleme dabei, wenn ihr offen als Anarchist*innen auftretet? In Mexiko gibt es ja eine wahre Hexenjagd gegen vermeintliche Anarchist*innen.
Mit dem Radio hatten wir bisher keine Probleme. In El Salvador kennen die Leute Anarchismus nicht. Die Polizei zum Beispiel hat überhaupt keine Vorstellung davon, was Anarchismus sein soll (lacht). Klar, Besetzungen zum Beispiel sind schwierig. Wenn wir versuchen, etwas zu besetzen, geht das nicht, weil es kein Verständnis dafür gibt.

Und habt ihr auch politische Probleme?
Grundsätzlich gibt es weniger politische Organisierung, weil 2009 mit der FMLN eine linke Partei die Wahl gewonnen hat und viele Leute die Erwartung hatten, dass sich mit dieser Regierung etwas ändern würde. Mittlerweile sehen die Leute aber, dass es wenig Unterschiede zwischen der einen und der anderen Seite gibt. Es fängt wieder an, dass sich die Leute organisieren. Wir versuchen eine Diskussionsplattform zu etablieren, die linke Alternativen aufbauen kann. Daran gibt es ein großes Interesse von den Leuten, weil sie sehen, dass die Dinge eben nicht besser werden.

Heißt das also, dass sich die Leute jetzt mehr organisieren?
Im Moment ist das eher am Entstehen, und es gibt vor allem Diskussionen. Bis jetzt wird eher wenig gemacht, aber es wird mehr.

Und was sind die Themen, die diskutiert werden?
Was wir machen, ist die Situation zu analysieren. Eines der Themen ist das Abtreibungsverbot, ein anderes das Rentensystem. Im Moment gibt es ein privates und ein öffentliches Rentensystem. Die Regierung will, dass die Rente hauptsächlich öffentlich wird und man sich zusätzlich privat versichern kann, was die Opposition verhindern will. Ein anderes Problem ist, dass die Regierung gerade die Renten nicht auszahlen kann, weil die rechte Opposition die Regierung unter Druck setzt, damit keine neuen Kredite aufgenommen werden. Im Moment gibt es also keinen Haushalt. Und klar, ein Thema, das man über El Salvador immer wieder hört, ist das der Gewalt, der Banden. Das ist ein sehr schwieriges Thema, unter anderem, weil die Regierung nur auf Repression setzt, bis hin zu extralegalen Hinrichtungen durch die Polizei.

Kannst du etwas genauer auf das Abtreibungsverbot eingehen?
Bis 1998 waren Abtreibungen erlaubt, wenn das Leben der Mutter in Gefahr war, im Fall von Vergewaltigungen oder wenn der Fötus nicht überlebensfähig war. Seit 1998 sind Abtreibungen komplett verboten. Es gab auch schon immer ein religiös motiviertes Vorurteil, dass Abtreibungen nicht erlaubt werden sollten. Das komplette Abtreibungsverbot wurde durch Druck von katholischen Gruppen umgesetzt.

Und wie wirkt sich dieses Abtreibungsverbot aus?
Es gibt Fälle von Frauen, die im Gefängnis sind, wei sie eine Fehlgeburt hatten. Ihnen drohen Haftstrafen von bis zu 30 Jahren. Es gibt eine Kampagne, die „17 y más“ (17 und mehr) heißt, die sich um 17 bekannte Fälle kümmert und sich dafür einsetzt, dass Frauen, die wegen Fehlgeburten im Gefängnis sind, freikommen. Eine Frau, die sechs Jahre im Gefängnis war und mittlerweile freigekommen ist, hat Asyl in Schweden erhalten. Die Kampagne hat mit 17 Frauen angefangen, aber es gibt viel mehr Fälle, in denen Frauen im Gefängnis sitzen.

Und diese Frauen sind im Gefängnis, nur weil sie abgetrieben haben?
Ja, aber eigentlich nein, wegen Fehlgeburten, für die sie aber verurteilt wurden, als hätten sie abgetrieben. Wegen einer Abtreibung kann man bis zu 30 Jahre ins Gefängnis kommen, aber ihnen werden zusätzlich andere Vergehen angehängt, wie Mord. Ein Problem ist, dass das medizinische Personal, das Abtreibungen durchführt, dafür bis zu zwölf Jahre ins Gefängnis kommen kann. Sie rufen dann die Polizei, weil sie keine Probleme haben wollen.

Und warum rufen die Leute die Polizei?
Das hat viel mit dem Einfluss der Religion und Unwissen zu tun. Weil die Leute denken, dass das Absicht gewesen sei, dass diese Person keine Fehlgeburt hatte, sondern abtreiben wollte. Es ist bekannt, dass das als Verbrechen gilt, also rufen sie die Polizei.

Und was ist die Position der Regierungspartei FMLN?
Aktuell hat die Regierung einen Gesetzesentwurf eingebracht, der Abtreibungen entkriminalisieren soll. Es gibt viele Organisationen, die diesen Vorschlag unterstützen. Ziel ist es, wieder auf den Stand von vor 1998 zu kommen, es geht also um die Frage, ob Abtreibungen in bestimmten Fällen legalisiert werden können. Wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist, wenn der Fötus keine Überlebenschance hat, nach Vergewaltigungen. Das Problem ist, dass die FMLN keine Mehrheit hat und sich, um das Gesetz umzusetzen, mit kleineren Parteien zusammentun müsste. Das versuchen sie, aber auf der anderen Seite ist dann der Vorschlag von ARENA (der rechten Oppositionspartei, Anm. d. Red.), die Strafen für Abtreibung auf bis zu 50 Jahre zu erhöhen.

Abgetrieben wird immer. Wie wird das gemacht? Und vor allem, wer macht das?
In vielen Fällen wird das im Geheimen gemacht. In Privatkliniken gibt es einige Ärzte, die das machen und als Fehlgeburt registrieren. Dass hat viel damit zu tun, dass in Privatkliniken die Patienten wie Kunden betrachtet werden, die dafür zahlen können, Zugang zu einer Privatklinik zu haben. Arme Frauen, die in öffentliche Krankenhäuser gehen, haben das Problem, dass dann dort im Zweifel die Polizei gerufen wird. Frauen, die die ökonomischen Mittel haben, gehen zum Beispiel nach Mexiko und lassen die Abtreibung dort durchführen. Diejenigen Frauen, die ins Gefängnis kommen, sind arme Frauen. Das ist also eine Klassenfrage.

 

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