“MADURO HAT KAUM MEHR ZUSTIMMUNG”

NICMER EVANS ist Politologe und Mitglied von Marea Socialista (Sozialistische Flut). Die ehemalige Strömung der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) spaltete sich im Mai 2015 von der Regierungspartei ab. Neben Ex-Minister*innen, Intellektuellen und Aktivist*innen beteiligt sich Marea Socialista an der Plattform zur Verteidigung der Verfassung (Plataforma en defensa de la CRBV), einem Zusammenschluss kritischer Chavist*innen. (Foto: privat)

Herr Evans, wie beurteilen Sie die jüngste Entscheidung des Nationalen Wahlrates (CNE), das Abberufungsreferendum gegen Präsident Nicolás Maduro vorerst zu stoppen?
Sowohl Justiz als auch CNE folgen offensichtlich den Anweisungen der Regierung. Diese hatte schon vor Monaten versichert, dass es zumindest dieses Jahr kein Referendum geben werde. Regionalgerichte in mittlerweile sieben Staaten haben die erste Unterschriftensammlung aus dem Mai wegen einer Reihe gefälschter Unterschriften für ungültig erklärt. Daraufhin hat das CNE den gesamten weiteren Prozess ausgesetzt. Aber in einem ersten Schritt musste nur ein Prozent der Wahlberechtigten in jedem Staat unterschreiben. Dass diese Anzahl auch ohne gefälschte Unterschriften erreicht wurde, hatte der Wahlrat zuvor selbst anerkannt und daher dem Antrag auf ein Referendum stattgegeben.

Das Oppositionsbündnis Tisch der demokratischen Einheit (MUD) will ein Referendum notfalls durch anhaltenden Druck auf der Straße erzwingen. Ende Oktober mobilisierte es unter dem Motto „Die Übernahme Venezuelas“ in zahlreichen Städten. Kann die rechte Opposition dauerhaft auf der Straße präsent bleiben?
Insgesamt habe ich große Zweifel an ihrer Mobilisierungsfähigkeit. Schon am 1. September fand eine enorm große Kundgebung statt. Doch die Leute sind damals nicht gekommen, weil der MUD dazu aufgerufen hat, sondern weil sie die Regierung ablehnen. Als die rechte Opposition zwei Wochen später erneut auf die Straße mobilisierte, ging fast niemand hin. Die Oppositionspolitiker verstehen nicht, dass die Ablehnung der Regierung Maduro weit über die Parteien hinausgeht. Der MUD kann heute die Stimmen der Frustrierten einfangen, weil es keine Alternative gibt, mehr aber auch nicht. Dem Autoritarismus der Regierung setzt er einen parlamentarischen Autoritarismus entgegen.

Sie hatten gemeinsam mit anderen Vertreter*innen des kritischen Chavismus öffentlich erklärt, dass Sie ihre Unterschrift zur Aktivierung des Referendums leisten wollten. Wie kam es dazu, dass Sie in dem Punkt mit der rechten Opposition an einem Strang ziehen?
Ich unterstütze den MUD in keinster Weise. Aber nur weil das Akteure sind, die andere Meinungen vertreten, heißt das nicht, dass sie nicht auch einmal richtig liegen können. Öffentlich zu sagen, dass wir unseren Fingerabdruck abgeben würden, um das Referendum zu aktivieren, war unsere Art auszudrücken, dass wir ein in der Verfassung festgeschriebenes Recht verteidigen. Dieses wurde durch revolutionäre Kämpfe durchgesetzt. Es geht darum, eine schlechte Regierung vorzeitig abwählen zu können. Und unsere derzeitige Regierung ist eine schlechte Regierung. Maduro hat laut Umfragen kaum mehr Zustimmung im Land, während die Leute Chávez noch immer verehren.

Sowohl Sie als auch Präsident Maduro bezeichnen sich als Chavisten. Was unterscheidet Ihre Interpretation des Chavismus von jener der Regierung?
Um nur ein paar zentrale Punkte zu nennen: Chávez hat immer Demokratie, Protagonismus und die direkte Partizipation der Bevölkerung verteidigt und sich permanent den Wählern gestellt. Maduro hat demgegenüber kaum etwas, um nicht zu sagen nichts zum Aufbau der Demokratie in Venezuela beigetragen. Auch wenn Chávez‘ Persönlichkeit durchaus autoritäre Züge aufwies, war seine Regierung im Gegensatz zu jener Maduros nicht autoritär. Chávez hat der Kritik Raum gegeben und sie ständig in seine Regierungsführung eingebaut. Maduro hingegen gesteht keine Fehler ein und ist nicht offen für Kritik. Und genau deswegen ist der kritische Chavismus entstanden.

Zeitnahe Neuwahlen würden ziemlich sicher zu einem Wahlsieg des MUD führen. Welche politische Rolle kann ein kritischer Chavismus zukünftig spielen?
Es stimmt, der MUD würde heute die Wahlen gewinnen, aber dennoch sind mittelfristig Überraschungen möglich. Umfragen zeigen, dass sich die Mehrheit der venezolanischen Bevölkerung von keinem der beiden großen Blöcke repräsentiert fühlt. Wenn es heute wirklich transparente Präsidentschaftswahlen gäbe, könnte eine dritte Kraft zumindest die politisch gewollte Polarisierung aufbrechen. Das wird der kritische Chavismus zwar nicht alleine leisten, aber eine neue, progressive Linke hat in Venezuela großes Potenzial. Der Aufbau von Alternativen kann jedoch nicht durch Dekrete erfolgen, sondern braucht seine Zeit.

Es scheint, dass die Bewohner*innen der barrios vergleichsweise ruhig bleiben, obwohl sie am ehesten die Kapazität hätten, die Regierung zu stürzen. Woran liegt das?
Es gab dieses Jahr phasenweise täglich lokale Proteste und auch Plünderungen, aber die waren nicht koordiniert. Ich denke, dass mit der Aussetzung des Referendums ein neuer Protestzyklus beginnt, der allmählich an Stärke gewinnen wird. Bis vor kurzem war die Wirtschaftskrise der Hauptgrund auf die Straße zu gehen, doch nun wird die politische Ebene an Bedeutung gewinnen. Die Regierung setzt auf Angst. Die Leute in den ärmeren Vierteln befürchten, von der Verteilung günstiger Lebensmittel ausgeschlossen zu werden.

Wie dramatisch nehmen Sie die Wirtschaftskrise wahr?
Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass unsere Leute sterben, weil es keine Medikamente gibt. Niemand kann mehr von einem normalen Arbeitseinkommen leben. Die Bevölkerung zahlt für die ervWirtschaftskrise, die eine korrupte politische Führung verursacht hat, die über Jahre hinweg Reichtümer angehäuft hat. Ich will nicht abstreiten, dass es auch einen Wirtschaftskrieg gegen die Regierung gibt, aber ich bin fest davon überzeugt, dass dieser nicht die Hauptursache für die Krise ist. Chávez hatte seinerzeit genauso mit Sabotage seitens der Wirtschaft und Schwankungen beim Erdölpreis zu kämpfen, aber er konnte die Probleme stets überwinden. An der Aufgabe, das einseitig auf Erdöl basierende extraktivistische System zu überwinden, ist allerdings auch Chávez gescheitert. Doch heute liegt der einzige Vorschlag der Regierung darin, mit Hilfe transnationaler Unternehmen den Bergbau auszuweiten. Das wird nicht die Krise lösen, sondern bedeutet weitere Plünderung.

ZWISCHEN DIALOG UND ESKALATION

Es war ein Foto, das viele innerhalb der Opposition gerne vermieden hätten. Der venezolanische Präsident Nicolás Maduro und Jesús „Chúo“ Torrealba, Generalsekretär des Oppositionsbündnisses Tisch der Demokratischen Einheit (MUD), begrüßten sich per Handschlag, um einen möglichen Dialog auszuloten. Das Bild weckt sowohl Hoffnungen als auch Befürchtungen. „Das Treffen war respektvoll, auf Augenhöhe und aufrichtig“, zeigte sich der venezolanische Präsident zufrieden. „Ich glaube Maduro nicht einmal sein ‚Guten Tag‘, das sind Teufel, die zu allem fähig sind“, kommentierte hingegen Ex-Präsidentschaftskandidat und Gouverneur des Bundesstaates Miranda, Henrique Capriles Radonski auf seinem Twitter-Account. „Aber ich vertraue Papst Franziskus und glaube an die Kirche“, fügte er gewissermaßen als Rechtfertigung hinzu, einen möglichen Dialog nicht von vornherein abzulehnen.

Nach monatelangen erfolglosen Versuchen hatten sich unter Vermittlung des Vatikans am 30. Oktober Vertreter*innen von Regierung und Opposition zu direkten Gesprächen getroffen. Die jeweils vier Delegierten einigten sich auf die Einrichtung von vier Gesprächstischen, die erstmals am 11. November zusammenkommen sollen. Auf der Tagesordnung stehen dann unter anderem Frieden, Rechtsstaat, Menschenrechte, die wirtschaftliche Situation, vertrauensbildende Maßnahmen und Wahlen. Neben dem Heiligen Stuhl wird der Dialog von der Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR), dem früheren spanischen Ministerpräsidenten José Luis Rodríguez Zapatero sowie den Expräsidenten Panamas und der Dominikanischen Republik, Martín Torrijos und Leonel Fernández begleitet. Auch die USA signalisierten ihre Unterstützung. Der Staatssekretär für politische Angelegenheiten des US-Außenministeriums, Thomas Shannon, reiste nach Caracas und traf dort sowohl Maduro als auch Oppositionelle.
Dabei schien wenige Tage zuvor der Boden für eine weitere Eskalation des politischen Machtkampfes bereitet. Am 20.Oktober hatte der Nationale Wahlrat (CNE) das von der Opposition angestrebte Abberufungsreferendum gegen Präsident Maduro wegen mutmaßlicher Betrugsdelikte während der ersten Unterschriftensammlung im Mai vorerst gestoppt. Um den Prozess des Referendums in Gang zu setzen, mussten damals in jedem Bundesstaat zunächst jeweils mindestens ein Prozent der Wähler*innen unterschreiben. Mitte August erkannte der Wahlrat landesweit 1,25 von 1,85 Millionen eingereichten Unterschriften an – nötig gewesen wären lediglich 200.000. Mehr als 600.000 Unterschriften waren ungültig, fast 11.000 stammten von Verstorbenen. Am 21. September gab der CNE dann einen Zeitplan und die genauen Bestimmungen für das geplante Abberufungsreferendum bekannt. Demnach hätte die Opposition als nächsten Schritt zwischen dem 26. und 28. Oktober in jedem Bundesstaat die Unterschriften von 20 Prozent der registrierten Wähler*innen einholen müssen. Der CNE stellte aber auch klar, dass ein mögliches Referendum erst im kommenden Frühjahr stattfinden könne und verschob die für Dezember vorgesehenen Regionalwahlen um ein halbes Jahr. Vor allem das verschleppte Referendum ist für die Opposition ein Skandal. Dem Wahlrat wirft sie vor, den Prozess bewusst zu verzögern und ein Anhängsel der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) zu sein. Regierungspolitiker*innen hatten schon seit Monaten betont, dass ein Referendum in diesem Jahr unmöglich sei. Der Zeitpunkt ist entscheidend, weil es laut Verfassung nach dem 10. Januar 2017 keine Neuwahlen gäbe, sondern der von Maduro ernannte Vizepräsident für den Rest der Legislaturperiode die Präsidentschaft übernehmen würde. Nachdem Regionalgerichte in insgesamt sieben Bundesstaaten die erste Unterschriftensammlung annulliert hatten, setzte der CNE am 20. Oktober dann den gesamten Prozess aus. In den sieben betroffenen Staaten müsste nun zunächst die erste Unterschriftensammlung wiederholt werden, was zu weiteren Verzögerungen führt.
Die umstrittene Entscheidung schien der seit langem befürchtete Funke zu sein, der das Pulverfass Venezuela zum Explodieren bringen würde. Die rechte Opposition warf der Regierung vor, die Verfassung außer Kraft gesetzt und einen Putsch vollzogen zu haben. Unter dem Motto „Die Einnahme Venezuelas“ mobilisierte der MUD am 28. Oktober in zahlreichen Städten auf die Straße und rief zu einem teilweise erfolgreichen Generalstreik zwei Tage später auf. Für den 3. November kündigte das Parteienbündnis an, vor den Präsidentenpalast Miraflores ziehen zu wollen. Seit dem kurzzeitigen Putsch gegen Maduros Vorgänger Hugo Chávez im April 2002, hatte es dort keine oppositionelle Demonstration mehr gegeben. Gleichzeitig leitete die oppositionelle Mehrheit in der Nationalversammlung einen „politischen Prozess“ gegen Maduro ein, um ihn nach brasilianischem Vorbild abzusetzen. Im Gegensatz zu dem südlich gelegenen Nachbarland, dessen Verfassung zumindest ein „Impeachment-Verfahren“ zur parlamentarischen Absetzung einer Präsidentin oder eines Präsidenten enthält, existiert solch ein Vorgehen in Venezuela jedoch nicht. Da das Parlament entgegen eines Urteils des Obersten Gerichtes (TSJ) Ende Juli drei Abgeordnete aus dem Bundesstaat Amazonas vereidigt hat, denen Stimmenkauf vorgeworfen wird, gelten dessen Entscheidungen zurzeit ohnehin als illegal. Der das Land lähmende politische Machtkampf schaukelt sich seit dem Sieg des MUD bei den Parlamentswahlen Ende 2015 permanent hoch. Während die oppositionelle Mehrheit in der Nationalversammlung von Beginn an offen auf einen Regierungswechsel hinarbeitet, regiert Maduro mit Dekreten. Das Oberste Gericht (TSJ) blockiert derweil die parlamentarische Arbeit.
Doch bevor der politische Konflikt nun vollends eskalieren konnte, beruhigte der zaghaft begonnene Dialog zunächst die Lage. Nach der Freilassung von fünf von der Opposition als politische Gefangene bezeichneten Personen, kündigte der MUD an, zunächst sowohl auf den Marsch zum Präsidentenpalast als auch auf eine parlamentarische Amtsenthebung Maduros zu verzichten. „Der Heilige Stuhl hat beide Seiten darum gebeten, die Demonstrationen abzusagen. Wir glauben, das ist sinnvoll, um Zusammenstöße zu vermeiden, die den Dialog überschatten könnten“, sagte Parlamentspräsident Henry Ramos Allup. Chavistische Politiker*innen lobten ihn für die Aussagen, Maduro sprach von einer „mutigen und besonnenen Entscheidung“. Capriles Radonski stellte jedoch klar, dass es sich keineswegs um eine Absage handele. „In Kürze werden wir wissen, ob es einen Dialog gab oder nicht. Wenn nicht, werden wir unsere Agenda zur Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung in unserem Land fortsetzen“. Als Frist für Fortschritte setzte die rechte Opposition den 11. November, an dem das erste Folgetreffen im Rahmen des Dialogs geplant ist.
Die mehrgleisige Strategie des MUD spiegelt auch dessen interne Situation wider. Der mögliche Dialog ist in den eigenen Reihen hochumstritten und offenbart einmal mehr, wie uneinig sich die Regierungsgegner*innen jenseits der Minimalforderung nach einem Regierungswechsel sind. Während die wichtigsten Oppositionsparteien Primero Justicia, Acción Democrática und Un Nuevo Tiempo den Dialog trotz Vorbehalten unterstützen, lehnt ihn die ultrarechte Voluntad Popular des seit 2014 inhaftierten Leopoldo López vehement ab. 14 kleinere Parteien schlossen sich der Position an und setzen stattdessen auf den Druck der Straße. Der Umgang mit Voluntad Popular könnte für den Dialog eine ernsthafte Gefährdung bedeuten. Maduro, dem eine Spaltung des Oppositionsbündnisses gelegen käme, bezeichnete die Partei als „terroristische Gruppierung“. Das wiederum führte umgehend zu Solidaritätsbekundungen seitens der größeren Parteien des MUD. „Sie wollen den Dialog von innen heraus zum Implodieren bringen, sie wollen die Bedingungen dafür herstellen, dass wir uns zurückziehen“, warf der MUD-Generalsektretär Torrealba den Chavist*innen vor. „Aber das wird nicht passieren, sie werden es sein, die sich letztlich zurückziehen.“
Eine Einigung ist zurzeit tatsächlich schwer vorstellbar, zu unterschiedlich sind die Ziele von Regierung und Opposition, zu groß das gegenseitige Misstrauen. Während sich Maduro erst zu den nächsten regulären Präsidentschaftswahlen Ende 2018 den Wähler*innen stellen will, fordert die Opposition die Neubesetzung des Wahlrates und Neuwahlen bis spätestens Frühjahr 2017. Nach unbestätigten Informationen würde sie dafür auch eine zeitgleiche Neuwahl des Parlamentes anbieten. Somit nimmt die Regierung am Dialog teil, um Zeit zu gewinnen und sich an der Macht zu halten, die Opposition aber, um einen Machtwechsel herbeizuführen.
Außen vor bleiben bei dem Dialog die politischen und gesellschaftlichen Kräfte, die sich nicht einem der beiden großen politischen Lager zuordnen wollen. Die in der Plattform zur Verteidigung der Verfassung zusammengeschlossenen Aktivist*innen des kritischen Chavismus fordern auch, dass noch 2016 ein Abberufungsreferendum stattfinden soll, wollen mit dem MUD aber nichts zu tun haben. Auf einer Pressekonferenz sprach Ana Elisa Osorio, die frühere Umweltministerin unter Hugo Chávez, von einem „revolutionären Notfall“, der nun eingetreten sei, und rief dazu auf, rasch eine linke Alternative aufzubauen. Zumindest für mögliche Neuwahlen käme dieser Aufruf wohl zu spät.

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