Aufstand an der Grenze

Bevor David Bacon als Journalist und Fotograf aktiv wurde, war er zwei Jahrzehnte lang Fabrikarbeiter und Gewerkschaftsaktivist in Kalifornien. Er begann bei Streiks und von ihm mitorganisierten Kampagnen zu fotografieren, um den ArbeiterInnen eine visuelle Vorstellung ihrer eigenen Wichtigkeit zu vermitteln. Indem er ihren Kampf fotografisch festhielt, gab er ihnen die Möglichkeit, sich selbst anzuschauen. Schließlich begriff er, wie wichtig es war, das Arbeitsleben einer globalen Wirtschaft zu dokumentieren, um eine breite Öffentlichkeit auf den Kampf von ArbeiterInnen für ein besseres Leben aufmerksam zu machen. Heute dokumentiert er hauptsächlich Kinderarbeit und das Elend der Feldarbeiter an der mexikanisch – US-amerikanischen Grenze und veröffentlicht seine Arbeiten in gewerkschaftlichen Schriften. Aufgrund seiner persönlichen Geschichte waren Journalismus und Fotografie für ihn nie neutral, sondern ein Weg, um eine soziale Bewegung für wirtschaftliche und politische Gerechtigkeit zu unterstützen.
„Aufstand an der Grenze“ ist ein fotografisches Projekt, das die Auswirkungen der globalen Wirtschaft von unten beleuchtet, insbesondere die Auswirkungen von neoliberaler Politik auf ArbeiterInnen und Gewerkschaften. In den letzten zwei Jahrzehnten ist der Lebensstandard der mexikanischen ArbeiterInnen gesunken, während die mexikanische Regierung unter dem Druck des Internationalen Währungsfonds und dem Programm der US-Regierung zur Rettung der Banken die niedrigen Löhne dazu benutzt, um ausländische Investoren anzulocken.
„Aufstand an der Grenze“ ist eine Bilderreihe, die mit der Dokumentation der Lebens- und Arbeitsbedingungen der ArbeiterInnen beginnt, die kurz hinter der US-amerikanischen Grenze in den Fabriken von Tijuana und auf den Feldern von Mexicali arbeiten. Die Bilder erzählen auch die Geschichte der ständigen Bemühungen, wirtschaftliche Gerechtigkeit von den Firmen einzufordern, die ihre Produktion dorthin verlagert haben, um die niedrigen Löhne auszunutzen.
Ein Höhepunkt des Widerstandes von ArbeiterInnen in den vergangenen drei Jahren war die Organisation der unabhängigen Gewerkschaft „6. Oktober“ in der Han Young Fabrik in Tijuana und die ständigen Streiks dort. Die Bilder dokumentieren eine Auseinandersetzung, die durch die enge Zusammenarbeit der Besitzer von Maquiladoras mit den Regierungsbehörden und regierungsnahen Gewerkschaften notwendig wurde.
Die Öffnung der mexikanischen Wirtschaft und das Vertrauen auf niedrige Löhne, um Fremdinvestitionen zu fördern, haben viele ArbeiterInnen gezwungen, mit ihren Familien in die USA zu wandern. Dieses Fotoprojekt bezieht auch ihre Erfahrung mit Arbeitsplätzen im Norden ein. Um in den USA soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit zu erringen, organisieren sich ArbeiterInnen sowohl wirtschaftlich, in ihrem Kampf um die Bildung von Gewerkschaften wie auch sozial, gegen Abschiebungen und einwanderungsfeindliche Hysterie.
Wir möchten uns sowohl bei David Bacon für die freundlich erteilte Abdruckerlaubnis als auch bei der IG-Metall in Frankfurt bedanken, die dessen instruktive Bilder in einem Ausstellungskatalog unter dem Titel: “Rebellion on the border” publiziert hat. Mit einem Teil dieser Bilderreihe haben wir den Schwerpunkt Gewerkschaften illustriert. Weitere Fotos und Texte bietet die Website: David Bacon: www.igc.org/bacon

Das Nord-Süd-Netz im DBG-Bildungswerk e.V.

Unsere Welt ist zum globalen Dorf geworden.
Internationale Märkte und globales Engagement multinationaler Konzerne stellen die Gewerkschaften vor völlig neue Herausforderungen. Niedrige Löhne, mangelhafter Arbeits- und Umweltschutz und fehlende Organisations- und Verhandlungsfreiheit in vielen Ländern des Südens bedrohen im internationalen Standortpoker auch die Rechte und sozialen Errungenschaften von ArbeitnehmerInnen in Industrieländern. Mehr denn je sind Gewerkschaften heute gefordert, sich international zu vernetzen und grenzüberschreitend zu handeln.
Seit 1986 unterstützt das Nord-Süd-Netz im DGB- Bildungswerk die Arbeit gewerkschaftlicher Solidaritätsgruppen in Deutschland und fördert ihre Aktivitäten. Es werden jährliche Treffen zum Informationsaustausch durchgeführt. Neben der Zusammenarbeit mit unseren DGB-Gewerkschaften werden vielfältige Kooperationen mit kirchlichen Einrichtungen, politischen Stiftungen und entwicklungspolitischen Organisationen in Deutschland und Europa gepflegt.
Das Nord-Süd-Netz führt gemeinsam mit PartnerInnen im Süden Projekte durch. Wir konzentrieren uns dabei nicht ohne Grund vor allem auf Brasilien und Südafrika: Beide Länder spielen eine Schlüsselrolle auf ihrem jeweiligen Kontinent. Deutsche Unternehmen sind in Brasilien und in Südafrika stark präsent. Unsere dortigen Partner sind der brasilianische Gewerkschaftsbund CUT mit seinen Bildungsstätten Escola Sul und Escola 7 de Outubro sowie die südafrikanischen Workers Colleges und das Bildungsinstitut Ditsela, die von COSATU und anderen Gewerkschaftsbünden getragen werden.
Gemeinsam mit ihnen planen wir Veranstaltungen und Projekte.
Zum Beispiel: Gesundheit, Sicherheit und Umweltschutz am Arbeitsplatz * Workers Participation * Schule für Gewerkschaftsfrauen * Observatorio Social
In Deutschland bieten wir Fachtagungen, Seminare und Workshops zu Fragen der Globalisierung und der Nord-Süd-Beziehungen an.
Das Nord-Süd-Netz engagiert sich in Kampagnen. Zum Beispiel: Gegen Kinderarbeit * Clean Clothes Campagne /Kampagne „saubere“ Kleidung
Das Nord-Süd-Netz erstellt Materialien zu einzelnen Produkten, Ländern, Themen. Zum Beispiel: Kleidung aus der Weltmarktfabrik * Das neue Südafrika * Globalisierung von unten gestalten * Welt der Arbeit – Weltarbeit * Regionale Integration im Süden * Panthersprung in den Weltmarkt * Auf dem Holzweg – über die Zerstörung unserer Wälder * Sprinten mit Weltmarktschuhen
Video: Duisburg und der Regenwald.
Zwei Trevors fahren nach Washington
CD-ROM: Globalisierung

Anschrift: Nord-Süd-Netz im DGB-Bildungswerk e.V., Postfach 10 10 26, 40001Düsseldorf, Fon 0211/ 4301-288, Fax 4301-500

Unfaire Blumen

Noch kurz vor der Jahrtausendwende konnte die europäische Solidaritätsbewegung endlich mal einen vielbeachteten Erfolg feiern. Die in Deutschland vom Menschenrechtsnetzwerk FIAN, Brot für die Welt, Terre des Hommes und anderen Organisationen getragene Kampagne für ein Gütesiegel bei Schnittblumen erreichte einen Durchbruch bei ihren Verhandlungen mit ErzeugerInnen, ImporteurInnen und Gewerkschaften. Großgärtnereien, die sich verpflichten, bestimmte ökologische und soziale Standards einzuhalten und sich entsprechenden Kontrollen zu unterwerfen, können ihre Rosen, Nelken und Narzissen mit dem Siegel „Caring for Mankind and the Environment“ (Schutz für Mensch und Umwelt) kennzeichnen. Viele Blumenbetriebe in Kenia, Simbabwe und Ecuador sind bisher diesem Label beigetreten. Der größte Blumenproduzent Lateinamerikas, Kolumbien, ist indes noch meilenweit davon entfernt, die Bedingungen des Flower-Label-Programms zu erfüllen.

Blühendes Geschäft durch Billiglöhne

“Der Wettbewerbsvorteil der hiesigen Blumenproduktion liegt neben den günstigen klimatischen und geographischen Bedingungen auch in der billigen Arbeitskraft,“ gibt Miguel Camacho Segura, der Wirtschaftschef des Gärtnereiverbandes ASOCOLFLORES in Bogotá, unverhohlen zu. Die Branche boomt und hat sich in den vergangenen Jahren zum drittgrößten Wirtschaftssektor des südamerikanischen Landes gemausert. Der jahrzehntelange Bürgerkrieg und die bisher fruchtlosen Friedensbemühungen von Präsident Andrés Pastrana konnten dem blühenden Geschäft ebenso wenig anhaben wie die allgemeine Rezession in Kolumbien. Die Investitionen in Gewächshäuser und Plantagen in der Hochebene um Bogotá, wo die meisten Blumenbetriebe angesiedelt sind, nehmen zu. Vor kurzem stieg sogar der kalifornische Konzern DOLE in die Branche ein und riss sich binnen weniger Monate die vier größten kolumbianischen Betriebe unter den Nagel. Auf einer Anbaufläche von knapp 800 Hektar produziert DOLE nun jährlich Exportrosen und -nelken im Wert von 160 Millionen Dollar.
Die Stärke der einheimischen BlumenexporteurInnen erklärt ASOCOLFLORES-Ökonom Camacho mit der bestehenden Infrastruktur und den guten Kenntnissen im komplizierten Geschäft. Wer gute Qualität zum richtigen Zeitpunkt bietet, kann mit hohen Gewinnspannen rechnen. Blumen gehören zu den Luxusgütern, die sich auch bei steigendem Preis absetzen lassen. Dabei unterliegt die Branche einer starken Saisonabhängigkeit. „Um den Valentinstag exportieren wir anstatt der üblichen 30.000 zweieinhalb Wochen lang 60.000 oder 70.000 Kartons pro Tag,“ berichtet Camacho. „Dabei verdoppelt oder verdreifacht sich nicht nur der Absatz, sondern auch die Preise steigen auf das Drei- bis Vierfache.“
Ein derartig brutales Saisongeschäft hat massive Auswirkungen auf den Arbeitsalltag der etwa 70.000 unmittelbar in diesem Bereich Beschäftigten; indirekt leben noch einmal 50.000 vom blühenden Business: LKW-FahrerInnen, PackerInnen auf den Flughäfen, PilotInnen der Frachtflugzeuge. „Einerseits sind die ArbeiterInnen froh, überhaupt einen Job zu haben, denn die wirtschaftliche Lage ist schlecht,“ beschreibt Laura Rangel von der unabhängigen Organisation Cactus die Rahmenbedingungen. Sie verdienen den gesetzlichen Mindestlohn von 7.880 Pesos (4,25 Dollar) am Tag und bringen es im Monat gerade auf 200 Mark.
Dafür müssen sie sich viel gefallen lassen. „Sie werden als TölpelInnen beschimpft und haben keine Möglichkeit zu widersprechen oder sich zu beschweren,“ schildert Rangel die Lage in vielen Betrieben. „Sonst droht die Entlassung oder Diffamierung als Subversive.“ Jede Form der Organisation ihrer Beschäftigten betrachten die UnternehmerInnen mit größtem Argwohn.

Inhumane Arbeitsbedingungen

Häufig klagen die ArbeiterInnen über Leistungsdruck und starke körperliche Belastung. In der Spitzensaison sind zwölfstündige Arbeitstage keine Ausnahme. Wegen der gebückten Haltung bekommen viele Wirbelsäulen- und Gelenkprobleme. In einigen Betrieben werden rücksichtslos Chemikalien eingesetzt. Wie rasch nach dem Versprühen von Pflanzengiften die Arbeit weitergeht, liegt im Ermessen von UnternehmerInnen und TechnikerInnen. „Manchmal wird sogar Gift gesprüht, während die Leute auf Feldern oder in Gewächshäusern tätig sind,“ berichtet Laura Rangel. „Das ist zwar nicht mehr der Normalfall, kommt aber vor.“
Die Auswirkungen des Gifteinsatzes in der Blumenindustrie sind oft schwer zu belegen. Vergiftungsfälle werden vielfach von ÄrztInnen verkannt oder von Unternehmen bewusst verheimlicht. Eine Schädigung ungeborener Kinder durch Pflanzenschutzmittel ist indes unbestritten, ihre Ausprägung wird jedoch überbewertet. Der Arzt Mauricio Restrepo, der eng mit Cactus zusammenarbeitet, konnte unter knapp 9000 Beschäftigten der Blumenbranche einen nur geringen Anstieg der Fehl- und Frühgeburten sowie der angeborenen Missbildungen feststellen.
Das schlechte Image von kolumbianischen Schnittblumen setzt die Branche nun zunehmend unter Druck. Zwar geht der überwiegende Teil der Rosen, Nelken und Narzissen aus der Hochebene um Bogotá in die USA. Doch die Aufklärungs- und Boykottkampagnen der europäischen AbnehmerInnen und die wachsende Konkurrenz aus anderen Ländern zeigen zunehmend Wirkung. Mehrere Betriebe bemühen sich nun um die Zertifizierung als menschen- und umweltschonende ProduzentInnen. Dazu müssen sie existenzsichernde Löhne zahlen, Gewerkschaftsarbeit zulassen, Regelarbeitszeiten einhalten, ohne Kinderarbeit auskommen und gefährliche Chemikalien meiden. Die Betriebe, die sich freiwillig an die Bedingungen halten, haben sich zu dem Verband ECOFLOR zusammengeschlossen. Er liefert mittlerweile gut ein Drittel der kolumbianischen Blumen für den deutschen Markt.

Protestbewegung mit Problemen

Am 10. November fanden massive Proteste gegen den neoliberalen Wirtschaftskurs des sozialdemokratischen Präsidenten Cardoso statt. Nachdem der „Marsch der Hunderttausend“ am 26. August in die Hauptstadt Brasília geführt hatte, riefen die Gewerkschaftszentrale CUT, die Landlosenbewegung MST und diverse Linksparteien diesmal zu dezentralen Aktionen auf.
Allerdings schwankte die Beteiligung regional stark. Am größten war sie im Süden des Landes, wo die Arbeiterpartei PT und die MST besonders stark verankert sind. Im Bundesstaat Rio Grande do Sul traten rund 200.000 Bankangestellte, Busfahrer und Bauern in den Streik. In mehreren Großstädten ruhten die öffentlichen Verkehrsmittel einige Stunden lang. Anhänger der MST blockierten Fernstraßen im ganzen Land. Bei Boituva, westlich von São Paulo, verwüsteten sie eine Mautstelle, andernorts erzwangen sie die freie Durchfahrt. Dadurch wollten sie gegen die Privatisierung von Autobahnen protestieren.
Dagegen war der groß angekündigte Protesttag in den Metropolen kaum zu spüren. Die bedeutendste Aktion in Rio de Janeiro war der Streik von 160.000 LehrerInnen öffentlicher Schulen. In São Paulo wurde das übliche Verkehrschaos durch den morgendlichen Streik von Bus- und U-Bahnfahrern noch gesteigert. Knapp eine Million Passagiere mußten auf andere Verkehrsmittel umsteigen. Bei einer Kundgebung an der staatlichen Universität USP wurden zwei mitgebrachte alte Autos in Brand gesteckt.
Im südlichen Stadtteil Santo Amaro fanden sich ganze 30 AktivistInnen zu einer der drei dezentralen Vormittagskundgebungen ein. Skeptisch dreinblickende Arbeiter folgten den Reden am CUT-Lautsprecherwagen. Fünf rote Plastikfahnen der Kommunistischen Partei PCdoB flatterten im Wind. Einige Demonstranten klopften eher lustlos mit Stangen auf Kochtöpfe. Der 64jährige Rentner Hugo Ducarmo war gekommen, um gegen die „Tatenlosigkeit der Regierung in der Arbeits-, Wohnungs- und Rentenpolitik“ zu protestieren. „33 Jahre lang habe ich in die Rentenversicherung eingezahlt, aber von den 800 Reais, die mir im Monat zustehen, kriege ich gerade 640“, beklagte er sich (ein Real entspricht derzeit knapp einer DM; die Lebenshaltungskosten liegen nur geringfügig unter dem Niveau in Deutschland). Auf die Abwesenheit von Mitgliedern der Arbeiterpartei PT angesprochen, meinte einer der Redner: „Die werden von der parlamentarischen Arbeit aufgesaugt.“
Bei der Abschlußkundgebung verloren sich einige Hundert DemonstrantInnen auf der verregneten Praça da República. Auch hier konnten die roten Fahnen nicht über das Desinteresse der Bevölkerung hinwegtäuschen. Von der PT war kein einziger Prominenter erschienen, weder Ehrenpräsident Lula noch Senator Eduardo Suplicy. Der populäre CUT-Chef Vicente Paulo da Silva („Vincentinhno“) gab dem schlechten Wetter die Schuld. „In São Paulo hatten wir mehr Teilnehmer erwartet, doch im ganzen Land waren es immerhin anderthalb Millionen“, versuchte er die Pleite zu beschönigen.

Keine klare Linie

Es stimmt, daß die meisten Medien Protestbewegungen herunterspielen und Linksparteien im Fernsehen fast nur in ihren Werbespots zu Wort kommen lassen. Sie flankieren den allgemeinen Entpolitisierungsprozeß, den die Regierung Cardoso seit fünf Jahren parallel zu ihrer wirtschaftlichen Öffnungspolitik erfolgreich vorangetrieben hat. Dem Präsidenten ist es gelungen, seine reibungslose Zusammenarbeit mit der internationalen Finanzwelt als alternativlos darzustellen, jedenfalls für die meisten BrasilianerInnen. Da mag die Linke noch so sehr gegen den IWF polemisieren – sie hat keine Chance gegen die allseits propagierten Wunschbilder einer Konsumgesellschaft à la USA. Doch allein damit läßt sich die mangelnde Resonanz auf ihre Forderungen (siehe Kasten) nicht erklären.
Sie muß sich auch an die eigene Nase fassen. Nach der Wahlniederlage vom Oktober 1998 – es konnten sowohl bei den Präsidentschafts- als auch bei den Parlamentswahlen nur gut ein Viertel der Stimmen verbucht werden – ist sie bei der Formulierung eines überzeugenden Alternativkonzepts kaum vorangekommen. Die PT als größte Oppositionspartei ist vor opportunistischen Schachzügen nicht gefeit: Mal paktiert sie im Parlament mit der Großgrundbesitzerlobby gegen den Präsidenten, mal hofiert Lula den mächtigen rechten Senatspräsidenten Antonio Magalhaes, nachdem dieser im Juli eine – bisher weitgehend folgenlose – Debatte um die Armutsbekämpfung angestoßen hatte.
Andere möchten eine Sozialdemokratisierung der Partei vorantreiben, von der sie sich eine Verbesserung der Wahlchancen erhoffen – wohl zurecht. So forderte jüngst der PT-Fraktionsvorsitzende José Genoino Neto, der auch als potentieller Präsidentschaftskandidat für 2002 im Gespräch ist, im Abgeordnetenhaus folgendes: „Die PT muß einen qualitativen Sprung tun. Dazu gehören drei Dinge: Ein klares Regierungsprojekt für das Land, die Öffnung hin zu einem Dialog mit der Gesellschaft, wobei die Verteidigung korporativer Interessen fallengelassen wird (im Klartext: eine Distanzierung von den Gewerkschaften), und die Überwindung der internen Streitereien.“
Privatisierungen seien nicht pauschal abzulehnen. Der Ex-Marxist und Ex-Guerillero bekennt sich heute zu einem „libertären Sozialismus“.
Für „interne Streitereien“ lieferte die PT in jüngster Zeit eine ganze Reihe von Beispielen: Da wurde ein Abgeordneter abgestraft, weil er mit Regierungsvertretern über die Reform des Rentensystems debattierte. Die Parteispitze verdonnerte ihre drei Gouverneure dazu, einem Treffen aller regionaler Regierungschefs mit dem Präsidenten zum gleichen Thema fernzubleiben – was ihr als bloße Verweigerungshaltung ausgelegt wurde. Und im Staat Rio de Janeiro lassen sich die verschiedenen Strömungen vom (noch) verbündeten Gouverneur Anthony Garotinho gegeneinander ausspielen. Garotinho, Senkrechtstarter von der Demokratischen Arbeiterpartei PDT und bekennender Evangelikaler, macht sich ebenfalls Hoffnungen auf eine Präsidentschaftskandidatur und streckt seine Fühler unübersehbar zur Mitte hin aus.
Nun besteht die Linke – zum Glück – nicht nur aus ParteipolitikerInnen. Progressive Kirchenleute, Gewerkschaften und Basisgruppen aus den verschiedensten Bereichen gehören ebenso dazu wie die Landlosenbewegung, auf die Cardoso gar nicht gut zu sprechen ist.
Allmonatlich finden Mobilisierungen statt, die allerdings die Gesellschaft als Ganze nicht aus ihrer Lethargie zu rütteln vermögen: So kam es am 7. September unter maßgeblicher Beteiligung kirchlicher Gruppen zum „Schrei der Ausgeschlossen“, und einen Monat später erreichten 1.100 TeilnehmerInnen des „Volksmarsches für Brasilien“ nach 1600 Kilometern und 74 Tagen die Hauptstadt. Dort forderte MST-Chef Joao Pedro Stedile seine Anhänger auf, die „Mautstellen zu zerschlagen“, denn diese habe der IWF eingerichtet; und zwar auf „den Straßen, die mit unserem Geld gebaut wurden.“ Solche Demagogie, zusammen mit der tatsächlichen Umsetzung seines Ratschlags am „nationalen Protesttag“, diskreditiert die MST und macht viel von dem kaputt, was nach mühsamer Kleinarbeit in die friedlichen Protestaktionen fließt.
Doch es geht weiter: Am 18. November stellt die „Oppositionsfront“ (zu der neben PT, PDT und PCdoB noch die Sozialistische Partei PSB und die kommunistische Splittergruppe PCB gehören) ein Gründungsmanifest für die „Bürgerbewegung zur Verteidigung Brasiliens, der Demokratie und der Arbeit“ vor. In der Woche darauf findet der zweite nationale Kongreß der PT in Belo Horizonte statt, auf dessen programmatische und personelle Weichenstellungen man gespannt sein darf.
Unterdessen wursteln Cardoso und sein Team von ultraliberalen Finanztechnokraten weiter wie bisher. Die derzeit im Kongreß diskutierte Steuerreform wäre eine Chance, eine soziale Weichenstellung vorzunehmen, wie sie der Präsident hin und wieder beschwört. Doch nichts dergleichen passiert. Auf der Tagesordnung stehen vielmehr neue Privatisierungen, bei denen ausländische Käufer auch noch günstige Kredite bekommen, sinkende Reallöhne und eine konstant hohe Arbeitslosigkeit. Die ständigen blutigen Revolten jugendlicher Häftlinge in São Paulo wie auch die neuen Enthüllungen über die Macht der Drogenmafia sind nur die Gipfel des sozialen Scherbenhaufens, vor dem die neoliberale Politik in Brasilien steht.

KASTEN

Konkrete Anliegen

Forderungen der CUT in ihrem Aufruf zum 10. November

1. Moratorium der Außenschulden und Kündigung des Abkommens mit dem IWF
2. Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich. 36-Stunden-Woche zur sofortigen Schaffung von bis zu 3,6 Millionen Arbeitsplätzen
3. Generelle Lohnerhöhung von 10 Prozent und Mindestlohn von 180 (statt derzeit 136) Reais
4. Bereitstellung von Mitteln der öffentlichen Banken für arbeitsintensive Branchen, vor allem kleine und mittelständische Betriebe
5. Eine wirkliche Landreform, die Anreize und Darlehen für die Produktion, technische Hilfe, soziale Maßnahmen und den Ansatz der Produktion garantiert; Ansiedlung von zwei Millionen Familien innerhalb von vier Jahren
6. Eine Agrarpolitik, die die kleinen und mittleren Landwirte sowie Familienbetriebe begünstigt
7. Ein landesweites Arbeitsplatzbeschaffungsprogramm für Jugendliche mit besonderen Arbeitszeiten für SchülerInnen und StudentInnen
8. Die sofortige Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, um die Vorwürfe der Begünstigung bei der Privatisierung der staatlichen Telefongesellschaften zu prüfen
9. Investitionen in den sozialen Wohnungsbau mit Zuschüssen für die einkommensschwache Bevölkerung
10. Ende der Kinderarbeit und Einführung eines landesweiten Stipendienprogramms für Schüler aus einkommensschwachen Schichten
11. Investitionen in das öffentliche Bildungswesen (Primar- und Sekundarschulen, Fachoberschulen und Unis) mit Ausweitung der Plätze, Begrenzung der Klassenstärken, Qualifizierung und besserer Bezahlung der Lehrkräfte
12. Investitionen in das öffentliche Gesundheitswesen
13. Eine gute, öffentliche Rentenpolitik für alle in Verbindung mit dem Kampf gegen die Steuerhinterziehung
14. Einführung bzw. Ausweitung von Vermögenssteuern
15. Senkung der Zinsen
16. Schaffung eines umfassenden Programms zur Unterstützung von Kleinst-, Klein- und Mittelbetrieben mit Auflagen zur Schaffung von Arbeitsplätzen und der Formalisierung der Arbeitsverhältnisse

Was tun gegen Kinderarbeit?

Am 17. Juni diesen Jahres wur-
de von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf die Konvention 182 zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit verabschiedet. Sie richtet sich vor allem gegen die Schuldknechtschaft, die Kinderprostitution und -pornographie, den Einsatz von Kindern im Drogenhandel und gegen gesundheitsschädigende Arbeiten. Doch abschaffen kann die ILO die Kinderarbeit so auch nicht. Im Gegenteil: Das generelle Verbot der Kinderarbeit ist in den letzten Jahren, auch mangels überprüfbarer Einhaltung, zunehmend in die Kritik geraten. Für eine ganz andere Art der Unterstützung der Kinder wirbt die Werkmappe von der Christlichen Initiative Romero aus Münster.
Grundsätzlich stehen sich zwei Positionen gegenüber. Zum einen wird die vollständige Abschaffung der Kinderarbeit durch Verbote und internationale Sanktionen gefordert. Hinter dieser Auffassung stehen neben der ILO auch fast alle Gewerkschaften, vereinzelt auch UnternehmerInnen aus den Industrieländern, um lästige Konkurrenz aus der 3. Welt auszuschalten. Dagegen wollen die Organisationen arbeitender Kinder aus der 3. Welt, aber auch einige nicht-staatliche Kinderrechts- und -hilfsorganisationen, ein Recht auf Arbeit in Freiheit und Würde für Kinder. Das bezieht übrigens auch die Kinder in Deutschland mit ein.

Achten statt ächten
Was auf den ersten Blick wie ein Rückschritt ins 19. Jahrhundert daherkommt, scheint auf den zweiten Blick nicht ganz abwegig. Die Argumentation ist einfach. Wenn das derzeitige Weltwirtschaftssystem mit der damit einhergehenden Massenarmut beibehalten wird, ist die Abschaffung der Kinderarbeit nur illusorisch. Verbote und Sanktionen treiben die arbeitenden Kinder und Jugendlichen verstärkt in die Illegalität. Internationale Unterstützung hingegen würde den Handlungsspielraum der arbeitenden Kinder erweitern, sie als aktive Subjekte anerkennen und so zu etwas besseren Arbeitsbedingungen führen, die eher mit ihrer Kindheit vereinbar wären.
Eine spannende Debatte also, die hier selbstverständlich nicht in allen Facetten nachgezeichnet werden kann. Wer einsteigen möchte in diese Kontroverse und gleichzeitig Materialien für die Bildungsarbeit sucht, kann in dieser Werkmappe sehr gut fündig werden. Neben zahlreichen Informationen, Hintergrundartikeln, Daten und Fakten finden sich in der Handreichung viele didaktische Hinweise zur Erarbeitung und eigenen Positionsfindung. Einige Materialien sind aufbereitet als Vorlagen für Overhead-Folien, Texte aus verschiedenen Perspektiven regen zur Diskussion an. Es wäre wünschenswert, gerade diese Kontroverse noch weiter auszubauen. Allerdings kann man sich in den zahlreichen Literatur- und Medienhinweisen sowie bei den aufgeführten Internet-Adressen noch weitere Infos besorgen.

Christliche Initiative Romero ( Hg.): Arbeitende Kinder achten statt Kinderarbeit ächten, Werkmappe für die Bildungsarbeit. Münster 1999, 47S. DIN-A4, 12,- DM.
Zu beziehen über: CIR, Frauenstr. 3-7, 48143 Münster, Tel.: 0251/89503, Fax: 0251-82541, e-mail: ci-romero@oln.comlink.apc.org

Gelegentlicher Schußwechsel

Pedro war ein umsichtiger, intelligenter und charismatischer junger Mann. Seine Bewegungen waren schnell und kontrolliert nach all den Jahren des Überlebenskampfes in den Straßen von Chicago. Die meiste Zeit seines Lebens war er zwischen seiner Sozialhilfe empfangenden Mutter und einem Onkel hin und her geschoben worden; er war von mehreren Schulen geflogen und hatte eine Zeit im Jugendvollzug hinter sich. Mit zwanzig Jahren war Pedro Anführer einer Straßengang. Und er war ein wunderbarer Mensch.
1993 zog Pedro für vier Monate bei uns ein, nachdem er zu Hausarrest verurteilt und unter meine Aufsicht gestellt worden war. Er war respektvoll und höflich, und mein sechsjähriger Sohn Ruben liebte ihn heiß und innig. Pedros bester Freund war mein damals 19jähriger Sohn Ramiro.

Zugang zur eigenen Geschichte

Während er bei uns wohnte, gab ich ihm Bücher zu lesen – auch politische Bücher, damit er die Welt um sich herum besser begreifen könnte. Eines von ihnen war Palante, ein mit Fotos illustriertes Buch über die Young-Lords-Partei, einer politischen Organisation der US-amerikanischen PuertoricanerInnen in den 70er Jahren. Pedro, dessen Familie aus Puerto Rico stammt, bekam dadurch Zugang zu einem wichtigen Teil der Geschichte, von dem er bislang nichts gewußt hatte. Er verschlang das Buch, so wie er auch andere Bücher verschlang – das erste Mal in seinem Leben.

Gegen den Vergeltungsschlag

Als der Hausarrest vorbei war, zog Pedro mit seiner Freundin und ihrem kleinen Sohn in ein anderes Viertel und fand einen Job. Obwohl er weiterhin Anführer der Gang war, sprach er nun vom Kampf für soziale Veränderungen und von Plänen, woanders neu anzufangen. Im November 1993 wurde er von drei Kugeln in Rücken, Bein und Arm getroffen. Ramiro und ich besuchten ihn im Krankenhaus. Er lebte, aber er war danach nicht mehr derselbe.
Noch während er im Krankenhaus lag, überfiel dieselbe Gang, die ihn erwischt hatte, einen Freund von Pedro und Ramiro und tötete ihn. Angel, Stipendiat einer der besten Schulen der Stadt, war auf dem Weg zur Schule, als er überfallen wurde – eine Tatsache, die in den Nachrichten am Tag darauf keine Erwähnung fand. Statt dessen stand seine mögliche Bandenmitgliedschaft im Zentrum des Medieninteresses – gerade so, als ob das seinen Tod irgendwie rechtfertigen würde. Ich versuchte, Pedro davon zu überzeugen, daß er seine Jungs unter Kontrolle halten sollte. Ich wußte genau, daß Ramiro und die anderen nur auf ein Zeichen von ihm warteten. Pedro mußte sehr mit sich ringen, untersagte aber letztendlich einen Vergeltungsschlag – obwohl es ihm schwer fiel.
Leider ist die Geschichte hier noch nicht zu Ende. Anfang 1994 soll Pedro einen der Jungs aus der Gang, die er hinter dem Überfall auf sich und auf Angel vermutete, erschossen haben. Über ein Jahr war er auf der Flucht, bevor er festgenommen, verhört und für schuldig befunden wurde. 1996 trat er seine Strafe von vierzig Jahren Haft im Gefängnis von Statesville an.

Zu viele Begräbnisse

Pedros Geschichte zeigt ein bißchen die Vielschichtigkeit der Arbeit mit solchen Jugendlichen. Die meisten Menschen würden sie am liebsten einfach abschreiben, dabei sind sie intelligent, kreativ und sehr anständig. Ich arbeite seit über dreißig Jahren mit Leuten wie Pedro, die ich in Jugendgefängnissen, alternativen Bildungseinrichtungen, Unis, auf der Straße oder in Jugendorganisationen kennengelernt habe – von East L.A., wo es mehr Gangs gibt als sonst irgendwo im Land, bis nach Hartford, Connecticut, wo die Anzahl von Banden besonders drastisch ansteigt. Ich war auf vielen Begräbnissen, habe viele Mütter weinen gesehen und besuchte viele Verwundete in Krankenhäusern – bei weitem zu viele. Aber ich habe ebenso erlebt, wie einige der gefährdetsten Jugendlichen zu starken Gemeindeführern wurden, das College besuchten, Bücher schrieben, Kunst machten oder wundervolle Familien gründeten.

Gangs geben den Jugendlichen sozialen Halt

Wie ich oft gesagt habe, wenn ich über Latino-Gangs schreibe, dämonisiere ich sie weder, noch glorifiziere ich sie, da beides die Realität verzerrt. Vor allem habe ich seit langem erkannt, daß die meisten Jugendlichen nicht in den Gangs sind, um Kriminelle, Killer oder Häftlinge zu werden. Für viele bedeutet die Gang, sie selbst sein zu können, und gibt ihnen eine feste Struktur, die sie brauchen, um ihr Leben in den Griff zu bekommen. Das sind Dinge, die ihnen andere Institutionen, einschließlich Schulen und Familien häufig nicht bieten. Jedoch kann die Mitgliedschaft in einer Gang ohne eine geeignete Führung durch die Community verheerende Folgen haben.
Es gibt unterschiedliche Arten von Latino-Gangs, aber die häufigsten sind die Cholo-Gangs im Südwesten der USA. Die Cholos beziehen sich direkt auf die Pachucos aus den dreißiger und vierziger Jahren. Sie tragen besondere Kleidung, gehen einen bestimmten Gang und sprechen eine Mischung aus Spanisch, Englisch und einem ganz eigenen, als caló bekannten Slang. Cholos wurden von Weißen und südostasiatischen EinwanderInnen nachgeahmt, von osteuropäischen ImmigrantInnen ebenso wie von indianischen Jugendlichen in den Reservaten oder denen in Zentralamerika. Die afro-amerikanischen Crips- und Bloods-Banden eiferten den Cholo-Stil stark nach. Cholos stehen zudem hinter den Gang-Strukturen in den südlichen und nördlichen Barrios, angebunden an die größten Gefängnisorganisationen in Kalifornien – der Mexikanischen Mafia (La Eme) und Nuestra Familia.
Diese Bandenstrukturen haben sich im gesamten Westen der USA, in manchen Fällen sogar bis in den Mittleren Westen ausgebreitet. Sie finden sich inzwischen auch in Mexiko, El Salvador und Guatemala. Überraschenderweise gibt es diese Strukturen auch bei einigen Jugendlichen in Armenien, seit die Einwanderungsbehörde der USA 1992 begann, in großem Stil armenische Jugendliche wegen fehlender Dokumente in ihre Herkunftsländer abzuschieben.

Unterschiedliche Organisationsformen

Die andere bedeutende Bandenstruktur von Latinos entwickelte sich in der Gegend von Chicago. In den späten sechziger und frühen siebziger Jahren formierten sich dort Gruppen wie die Latin Kings oder die Spanish Cobras. In den Neunzigern breiteten sie sich in umliegende Gegenden und nach New York City, Connecticut, Texas, Mexico und Puerto Rico aus. Die Latin Kings, die größte dieser Gruppen, wurde überwiegend von PuertoricanerInnen aus den Barrios im Nordwesten von Chicago geründet, nahmen aber auch schnell Jugendliche aus der wachsenden mexikanisch-amerikanischen Bevölkerung auf. Die Gangs haben auch in den Gefängnissen von Illinois und einigen umliegenden Staaten zugenommen. Sie sind stark in den Drogenhandel verwickelt, obwohl die Hauptanreize der Stolz auf ihre Kultur, das Zugehörigkeitsgefühl und die Einweihungsriten sind.

Die heilende Kraft der Kultur

Es kann viel darüber gesagt werden, wie man am besten mit Jugendlichen der Latino-Gangs arbeitet. Mit Organisationen wie die in Kalifornien ansässige Barrios Unidos (mit rund 30 Ortsgruppen im Land) und Chicago’s Youth Struggling for Survival, die ich zusammen mit 200 Jugendlichen und Erwachsenen gründen half haben wir auf die heilende Kraft der Kultur („la cultura cura“) gesetzt: Vermittlung politischen Wissens und politische Aktionen, wirtschaftliche Entwicklung, Training für Führungspersönlichkeiten, Kunst/Schreibtraining und Meditation gehören zu unseren Angeboten. Und ich habe erlebt, wie junge Leute, die von anteilnehmenden Erwachensen, Mentoren und Älteren umgeben, sich von destruktiven Lebensstilen und Suchtverhalten abwandten und zu fähigen und zuversichtlichen Menschen wurden. Das ist besser als das Errichten von Gefängnissen, die Null-Toleranz- und die Drei-Strafen-und-du-bist-draußen-Politik der herrschenden Kultur in den USA. Die Welt ändert sich – wir treten ein in eine neue Ära. Die Latinos, die innerhalb der nächsten fünfzig Jahre die Bevölkerungsmehrheit in den USA bilden könnten, sind der Schlüssel für den Weg, den wir einschlagen werden.
Ich bin der festen Überzeugung, daß eine Welt der Gerechtigkeit, des Friedens, sozialer Gerechtigkeit und echter Gemeinschaft möglich ist. Dazu bedarf es unserer Köpfe, unseres Bewußtsein und unserer Träume. Wenn wir alle uns organisieren, können wir dies zur Wirklichkeit werden lassen. Pedro, mit dem ich immer noch in Kontakt stehe, ist keine „verlorene Sache“ – obwohl, wie ein kluger Mann ja mal sagte, die „verlorenen Sachen“ die einzigen sind, für die es sich zu kämpfen lohnt.
Wir brauchen kein Land, in dem die Polizei unsere Kinder zur Schule begleitet, Pizza-Boten Waffen mit sich führen oder die Gefängnisse zahlreicher sind als die Colleges. Wir können aufgeklärter sein, sozialer, phantasievoller. Und, davon bin ich überzeugt, wir könnten so auch sicherer sein.

Übersetzung: Martin Ling/Elisabeth Schumann-Braune

Luis Rodríguez ist Dichter, Journalist und Kritiker in den USA. Er hat am kürzlich erschienenen Bildband East Side Stories. Gang Life in East L.A. PowerHouse Books, New York 1998 mitgearbeitet.

KASTEN:
Eine kleine Bibliographie zum Thema Jugend für Interessierte zum Weiterlesen

Conto de Knoll, Dolly: Die Straßenkinder von Bogotá. Ihre Lebenswelt und ihre Überlebensstrategien. IKO-Verlag, Frankfurt a. Main 1991.
Dücker, Uwe von: Die Kinder der Straße. Überleben in Südamerika. Frankfurt a. Main 1992.
Dücker, Uwe von: „Straßenschule“. Straßenkinder in Lateinamerika und Deutschland. IKO-Verlag, Frankfurt a. Main 1998.
Hurrelmann, K. u. a.: Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. Weinheim 1995.
Karcher, W. u. a. (Hrsg.): Zwischen Ökonomie und sozialer Arbeit. Lernen im informellen Sektor in der „Ditten Welt“. Frankfurt a. Main 1993.
Liebel, Manfred: Mala Onda – Wir wollen nicht überleben, sondern leben. Jugend in Lateinamerika. IKO-Verlag, Frankfurt a. Main 1993.
Liebel, Manfred: „Wir sind die Gegenwart.“ Kinderarbeit und Kinderbewegungen in Lateinamerika. IKO-Verlag, Frankfur a. Main 1994.
Liebel, Manfred; Overwien, Bernd; Recknagel, Albert (Hrsg.): Arbeitende Kinder stärken. Plädoyers für einen subjektorientierten Umgang mit Kinderarbeit. IKO-Verlag, Frankfurt a. Main 1998.
Liebel, Manfred; Overwien, Bernd; u.a. (Hrsg.): Was Kinder könn(t)en. Handlungsperspektiven von und mit arbeitenden Kindern. IKO-Verlag, Frankfurt a. Main 1999.
Rudolph, Hans-Heiner: Jetzt reden wir! Jugend, lebensweltbezogene Bildung und Gemeindeentwicklung in Lateinamerika. IKO-Verlag, Frankfurt a. Main 1997.
Schibotto, Giangi: Unsichtbare Kindheit. Kinder in der informellen Ökonomie. IKO-Verlag, Frankfurt a. Main 1993.
Strack, Peter: Kein Papst, kein Che. Jugendliche in Lateinamerika. Lamuv Verlag, Göttingen 1995.
Streissler, Anna Isabella: Jugendliche in Bogotá. Eine ethnologische Studie zu Lebenswelt und Zukunftsangst. Brandes & Apsel, Frankfurt a Main 1999.
Weyand, Michaele: „…sonst wird sich hier nie was ändern.“ Zur Alltagswirklichkeit von Jugendlichen in der neuen Demokratie in Chile. IKO-Verlag, Frankfurt a. Main 1992.
CIR – Christliche Initiative Romero (Hrsg.): Unser Leben ist kein Spiel. Straßenkinder in Lateinamerika. Münster 1993.
Im Blickpunkt: Jugend. In: Akzente. Aus der Arbeit der GTZ, Heft 4 / 97.
Rebellierende Jugend. Blätter des iz3w (Informationszentrum Dritte Welt e. V.), Nr. 165, Freiburg 1990.

Im Internet sind Informationen u. a. hier zu finden:

Deutsches Jugendinstitut München: http:www.dji.de
Kindernothilfe e. V.: http:www.kindernothilfe.de

Der Ball rollt, die Rupie auch

Sialkot, im Nordosten Pakistans, hat etwa 500.000 EinwohnerInnen. Zwischen 20.000 und 25.000 von ihnen sind in der Produktion von Sportartikeln, vor allem Fußbällen, tätig. Bälle hoher Qualität werden heutzutage vorwiegend aus mehrfach unterklebtem Kunstleder hergestellt, deren fünf- oder sechseckige Stücke, die den Latex-Kern umkleiden, nach wie vor in aufwendiger Handarbeit mit Garn zusammengenäht werden müssen.
Je nach Qualitätsstufe bringt es ein/e erwachsene/r Näher/in auf drei bis fünf Bälle an einem neun bis zehn stündigen Arbeitstag. Ein unsicherer Job, der von der Auftragslage abhängig ist und dessen Entlohnung nicht ausreicht, eine Familie von durchschnittlich sechs bis acht Personen zu ernähren. Die Konsequenz: Alle müssen ran an den Ball. Der Anteil der Frauen am Nähprozeß beträgt 53 Prozent. Obwohl sie aufgrund der haushaltlichen Verpflichtungen nur in Teilzeit nähen können, wird ein Drittel der Fußbälle, so eine Studie des britischen Save the Children Fund (SCF), von ihnen hergestellt. Die Kinder dagegen, die im Schnitt 23 Prozent des Familieneinkommens erwirtschaften, arbeiten in Vollzeit und können nicht zur Schule gehen. Nach der SCF-Studie sind 7.000 Kinder unter 14 Jahren in die Ballproduktion eingespannt.
Die Produktionskette verläuft vom Exporteur – der auch die importierten Rohstoffe zur Verfügung stellt – über Subunternehmer, quasi Coyotes, zu Nähwerkstätten, die die Arbeit in Heimarbeit auf der Basis von Stücklohn weitergeben. Die Kinder beziehungsweise ihre Mütter, sind weder offiziell registriert, noch gibt es so etwas wie Arbeitsschutz oder Sozialleistungen.

Fair Pay – Fair Play

Im Vorfeld der jetzt anstehenden Fußballweltmeisterschaft lancierten gepa, Fair Handelshaus und die Partnerorganisation Fair Trade e.V. ein Projekt in Siaklot, das über fair gehandelte Fußbälle diese Ausbeutungsformen beseitigen helfen will. Wesentlicher Bestandteil der Fair-Handelsstrategie ist der Ausschluß des Zwischenhandels beziehungsweise des Subunternehmertums, wie auch der Kinderarbeit.
Durch die Einrichtung kleinerer Nähwerkstätten auf dörflicher Ebene (village based stitching units) mit mindestens zehn NäherInnen erhalten die Familien ein höheres Einkommen und die Kinder Möglichkeiten zum Schulbesuch. Flankiert wird die Einrichtung der Klein-Werkstätten durch verschiedene Dorfprojekte, wie die Förderung von Dorfschulen und Berufsausbildungsprogrammen für die minderjährigen ehemaligen NäherInnen.
Die fair gehandelten Bälle werden in zwei Qualitäten (Profi- und Freizeitsportbälle) angeboten, die den FIFA- und DFB-Richtlinien entsprechen und in je zwei Designs erhältlich sind. Der Mehrpreis von einem beziehungsweise zwei US-Dollar pro Ball bedeutet eine durchschnittliche Erhöhung des Exportpreises um 25 Prozent. Die Bälle sind im Endverkaufspreis nicht teurer als vergleichbare Qualitätsbälle, da die gepa auf einen Teil der Gewinnspanne verzichtet.
Der Mehrpreis dient der Aufstockung des vom Exporteur ortsüblich gezahlten Preises um circa 35 Prozent, was etwa einen Vater zusammen mit seinem über 14jährigen Sohn auf den gesetzlichen Mindestlohn von 6.000 pakistanischen Rupie kommen läßt. Weiterhin werden die Sozialabgaben der Näher beglichen, ein anderer Bestandteil geht in einen Fonds für Dorfprojekte, deren Zielgruppen die nun erwerbslosen Frauen und Kinder sind. Ein vierter Anteil wird dem Exporteur für soziale, technische und logistische Weiterentwicklungen zur Verfügung gestellt.

Umsatzplus für die gepa

Während die WM anläuft, zeigen sich schon erste Erfolge. Es gibt bereits eine gute Resonanz bei den AbnehmerInnen. Nicht zuletzt die gepa-Strategie, zusätzlich zum Kaffee, Tee, Kakao etc. auch neue, unkonventionelle Produkte ins Sortiment aufzunehmen, ist dafür verantwortlich, daß sich nach der umstrittenen Umstrukturierung vor drei Jahren wieder ein positiver Umsatztrend zeigt.
Die Erweiterung der Produktpalette entspricht dem Wunsch der Hauptkunden, den Weltläden und Aktionsgruppen. Auf Ebene der Läden ist man froh über jeden kreativen Sortimentswechsel. Ist dieses Angebot auch ein Wagnis, so bleibt doch die Lebendigkeit und Anziehungskraft der neuen Idee übrig. Über die Absatzentwicklung dieser Fußbälle läßt sich natürlich noch nicht viel sagen. Sie scheint jedoch in relativ kurzer Zeit auf recht ertragreichen Boden gefallen zu sein. Die Bälle werden von den Weltläden, von Vereinen, aber auch von engagierten Einzelpersonen gekauft.

Hauptsache, der Ball rollt

In den letzten Monaten wurden europaweit 41.000 der fair gehandelten Bälle verkauft. In dieser Statistik nicht enthalten ist das fußballbegeisterte Italien, das sich auch in Sachen Fairer Handel grundsätzlich nicht zu verstecken braucht – dort wurden seit Februar ungefähr 120.000 Bälle umgesetzt. Der Verkauf in Deutschland beläuft sich auf 26.000 Bälle.
Auch Volker Finke, Trainer beim SC Freiburg, begeistert sich für die neue Idee: „Wir finden es wichtig, Initiativen wie den fairen Handel zu unterstützen, die sich nicht nur für den Abbau von ausbeuterischer Kinderarbeit einsetzen, sondern darüber hinaus auch nach neuen Perspektiven für die betroffenen Kinder suchen. Hier können fair gehandelte Fußbälle ein Zeichen setzen, denn Fairneß ist auch auf dem Fußballplatz gefragt. Der Fußballsport, der viele Kinder und Jugendliche bei uns begeistert, schlägt die Brücke zu den Kindern in Pakistan, deren Situation es zu verbessern gilt.“
Nicht nur die anstehende WM, sondern auch der „Global March“ gegen Kinderarbeit, der im Mai durch Deutschland in Richtung Genf führte, wo die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) Anfang Juni über eine Konvention zum Thema Kinderarbeit verhandelt, verleihen der Idee der fair gehandelten Fußbälle derzeit Aktualität und Attraktivität.
Was jedoch geschieht nach diesen spektakulären Ereignissen? Für die Zeit nach der WM hat sich die gepa das Projekt „100.000 Bälle“ ersonnen, dessen Ziel darin liegt, pro Jahr mindestens 100.000 der fair gehandelten Fußbälle abzusetzen. Eine Herausforderung, die es ermöglichen würde, 100 erwachsenen NäherInnen eine Vollbeschäftigung zu adäquaten Löhnen zu sichern.
Demnächst in Planung: Fair gehandelte Volleybälle.

Forschungsgegenstand Straßenkind

“Straßenkinder und Kinderarbeit“ – ein Titel, der sicherlich bei vielen Lesern, die sich hin und wieder über Dritte-Welt-Probleme informieren, ähnliche Assoziationen hervorruft: kleine Schuhputzerjungen in São Paulo, halbwüchsige Feuerschlucker an Straßenkreuzungen von Mexiko-Stadt und Kinder, die auf Baumwoll- und Orangenplantagen schwere Erwachsenenarbeit verrichten. Straßenkinder haben ihren festen Platz im europäischen Lateinamerikabild, denn Berichte über Straßenkinder sind fast ebensolche Publikumsmagneten wie Erdbeben, Vulkanausbrüche oder die Drogenmafia. Jedoch stellt sich mitunter die Frage, inwieweit das teils von Mythen übersättigte Thema sich tatsächlich mit Dritte-Welt-Realitäten auseinandersetzt oder die pauschalisierende Negativberichterstattung lediglich einen weiteren Beitrag zum eurozentristischen Weltbild und Erste-Welt-Messianismus liefert (siehe hierzu auch den Artikel von C. Herrmanny in dieser Ausgabe).

Ein sozialgeschichtlicher und interkultureller Vergleich

Nach den Worten der Herausgeberin Christel Adick ist das Anliegen dieses Buches, eine „sozialgeschichtliche und interkulturelle Vergleichsperspektive“ zu Kinderarbeit und Straßenkindern zu erstellen. Oder mit anderen Worten: ein breites Panorama von Straßenkinderschicksalen zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Ländern zu bieten. Bereits an der Auswahl der Themen wird deutlich, daß der „Straßenkinderkontinent“ Lateinamerika zugunsten anderer Regionen, wie Rußland, Asien und Afrika eher unterbelichtet ist.
Was also kann der Leser von einer in wissenschaftliches Format gebrachten Straßenkinderlektüre außer theoretischen Definitionsversuchen und einigen Fakten erwarten? Eine Ursachentheorie, so Adick, jedenfalls nicht. Denn obwohl erwiesen ist, daß Armut die Hauptursache von Kinderarbeit ist, kann das Problem nicht allein strukturell erklärt werden. „Beziehungsarmut in einer kapitalistisch durchrationalisierten (Ersten) Welt“ kann Jugendliche ebenso auf die Straße treiben, wie sozialökonomische Zwänge Millionen von Kindern in Entwicklungsländern auf die Straße schicken. Auf eine tiefergreifende Analyse, welche Beziehung zwischen steigender Armut in der Bevölkerung und der Zunahme der Zahl der Straßenkinder besteht, wird aber verzichtet.
Weiter geht es darum, den “Forschungsgegenstand Straßenkind” klar zu definieren. Also muß eine Art akademische Schublade her, in die „echte Straßenkinder“ eingeordnet und wissenschaftlich untersucht werden können. Einerseits seien das jene, die von den „ jeweils gesellschaftlich herrschenden Normen abweichen“. Andererseits räumt Adick ein, daß „abweichendes Verhalten“ Straßenkindern ein negatives Etikett aufdrücke. Das Dilemma, eine Definition „des Straßenkindes“ zu erstellen, die ohne negative Etikettierung auskommt, bleibt ungelöst.
Für Leser, die sich mehr für Sachverhalte, als für sozialpädagogische Theorien interessieren, werden einige Artikel wenig Licht ins Dunkel des Straßenkinderlebens bringen. Andere, wie zum Beispiel Manfred Liebels Beitrag zur Straßenkinderbewegung in Lateinamerika oder die Manila-Studie von Stephan Kunz „Die Müllkinder von Smoky Mountain“, sind informativ und helfen auch dem soziologisch unbedarften Leser, Kinderarbeit nicht nur als Dritte-Welt-Makel, sondern als einen Bestandteil bestimmter familiärer und gesellschaftlicher Strukturen und Wertesysteme zu verstehen. Die Autoren gehen davon aus, daß auf der Straße lebende und arbeitende Kinder weder zu kriminalisieren noch zu bemitleiden, sondern als Personen anzusehen sind, die sich trotz ihrer benachteiligen Position mit Willen und Erfindungsreichtum durchs Leben schlagen, rationale Entscheidungen treffen und ihre Forderungen auch selbst zu artikulieren wissen.

Recht auf Arbeit

Anhand von Befragungsstudien, die mit über 1.500 Kindern in Nicaragua und El Salvador durchgeführt wurden, zeigt Liebel, daß es nicht die Arbeit an sich ist, die Straßenkinder belastend finden, sondern deren diskriminierender rechtloser und illegaler Charakter. „Wenn sie unsere Arbeit verbieten, handeln sie gegen unsere Rechte…Statt sie zu verbieten, sollte man uns helfen und Gesetze schaffen, die uns schützen und uns mehr Rechte während der Arbeit geben.“ Denn schließlich, so die Kinder, ist Geldverdienen notwendig, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen und ihre Familie zu unterstützen. Liebels Beitrag wirft als einziger die Frage auf, wie Straßenkinder selbst ihre Position beurteilen und was sie und nicht Wissenschaftler oder Entwicklungsexperten daran erhaltens- oder abschaffenswert finden.
Ähnlich wie Liebel stellt auch Kunz‘ Artikel Kinderarbeit nicht als etwas Asoziales dar, sondern als legitimen und notwendigen Bestandteil der Familienökonomie. Traditionell trugen in den Philippinen Kinder immer mit ihrer Arbeit zur Prosperität der ärmeren Haushalte bei. Aufgrund der massiven Landflucht wandelten sich jedoch Art und Weise dieser Arbeit. Übernahmen Kinder früher auf dem Lande wichtige Funktionen in der Haus- und Feldarbeit, so begleiten sie heute ihre Eltern zum Müllsammeln auf Manilas größte Mülldeponie Smoky Mountain. Kinderarbeit, in diesem Fall das Müllsammeln, ist hier die Fortsetzung eines traditionellen Erziehungsmodells, in dem jungen Familienmitgliedern seit frühester Kindheit bestimmte Arbeiten übertragen werden. Die Arbeit der Kinder hat sich in der Stadt zwar in gefährliches und gesundheitsschädigendes Geldverdienen verwandelt, bildet aber trotz alledem einen wichtigen Bestandteil der Familienökonomie. Das wird auch von den Erwachsenen so gewürdigt. Kunz geht außerdem auf verschiedene Entwicklungsprojekte ein, die zum Ziel hatten, den Jugendlichen von Smoky Mountain neue Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen, nachdem die Deponie eingeebnet wurde. Mit der Schließung hat sich die ökonomische Situation für die Hälfte der „Müllmenschen“ verschlechtert. Die meisten dieser Projekte scheiterten jedoch oder konnten die „Müllkinder“ nicht genügend integrieren. Kunz romantisiert Kinderarbeit nicht, sondern arbeitet ihre rationale Grundlage heraus: die Notwendigkeit in einer Gesellschaft, in der „alle Grundbedürfnisse in Waren verwandelt“ (Liebel) werden, Geld zu verdienen.
Da die Beiträge zu „Straßenkinder und Kinderarbeit“ in erster Linie für ein akademisches Publikum geschrieben wurden, ist das Buch für außerhalb der Wissenschaft stehende Interessierte eine eher anstrengende und zuweilen langweilige Lektüre. Wer sich jedoch über spektakuläre und abenteuerliche Straßenkinderepisoden hinaus mit dem Thema beschäftigen und auch über den derzeitigen Forschungsstand zur Problematik informieren möchte, demjenigen vermittelt das Buch durchaus neue und nachdenkenswerte Einblicke in das Leben auf der Straße, damals wie heute, in der Ersten wie in der Dritten Welt.

Christel Adick (Hrsg.): Straßenkinder und Kinderarbeit. Sozialisationstheoretische, historische und kulturvergleichende Studien, IKO-Verlag für Interkulturelle Kommunikation, Frankfurt am Main 1997, 305 S.

“An der Seite der PRI”

Mit rücksichtsloser Brutalität hatte Fidel Velázquez Zeit seines Lebens Opponenten verfolgt und die mexikanische Gewerkschaftsbewegung der seit 1929 regierenden Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) bedingungslos untergeordnet. Im Januar 1994, während des zapatistischen Aufstands, exponierte er sich als Scharfmacher und forderte öffentlich: “Exterminiert sie!”. Das Ende der unbeschränkten PRI-Herrschaft und Fidels Tod im Frühjahr dieses Jahres fallen nun in einer merkwürdigen Symbolik zusammen. Heute besteht für Mexikos Gewerkschaftsbewegung erstmals die Chance, eine selbständige und unabhängige Kraft zu werden. Eine Chance allerdings, die bisher noch kaum genutzt wurde.

Jeden Tag einen neuen Job

Die Bilanz der Gewerkschaftspolitik unter Velázquez’ Ägide sieht desaströs aus: Die Kaufkraft der Löhne verringerte sich seit 1977 um beinahe unglaubliche 75 Prozent. Vor zwanzig Jahren konnte ein Arbeitnehmer also viermal mehr Waren mit seinem Lohn einkaufen als heute. Nach Berechnungen der staatlichen Statistikbehörde INEGI kommen 65 Prozent der ArbeitnehmerInnen nicht in den Genuß von Sozialleistungen, Urlaub oder Zulagen, und 20 Prozent verdienen weniger als den staatlich festgelegten Mindestlohn. Der durchschnittliche Stundenlohn im verarbeitenden Gewerbe liegt bei 1,45 US-Dollar. Zum Vergleich: In den USA sind es 13 US-Dollar.
Dabei ist es südlich des Rio Bravos heute ein Privileg, überhaupt in einem Lohnarbeitsverhältnis zu stehen. In den Städten versuchen sich bis zu 40 Prozent der Menschen im informellen Sektor durchzuschlagen: Kaugummis verkaufen, Windschutzscheiben putzen, fliegender Handel – jeden Tag ein neuer Job, um sich über Wasser zu halten. Mexikanische ArbeitnehmerInnen sind unterbezahlt, arbeiten meist über 50 Stunden die Woche und verfügen kaum über soziale Absicherungen im Krankheitsfall oder bei Arbeitslosigkeit. Kinderarbeit ist keine Ausnahme, vier von zehn Kindern beenden nicht einmal die Grundschule.

Applaus für T-Shirts

Nun darf man sich den CTM und die zahlreichen anderen “offiziellen” Gewerkschaften, die im PRI-loyalen Dachverband CdT (Congreso del Trabajo) zusammengeschlossen sind, nicht als Gewerkschaften im westeuropäischen Sinne vorstellen. Sie dienen nicht der Interessenvertretung der Arbeitnehmer, sondern fungieren vielmehr als Transmissionsriemen der PRI. Wer beispielsweise in einem Betrieb arbeiten möchte, muß meist zuerst in die CTM eintreten bevor er angestellt wird. Die Unternehmen gewähren der CTM ein Vertretungsmonopol der Beschäftigten und im Gegenzug garantiert die CTM dem Unternehmen die Disziplinierung und Unterordnung der Beschäftigten. Korruptionsgelder halten das System zusammen. Charrismo heißt in Mexiko der Begriff, mit dem diese Gangstermethoden bezeichnet werden.
Damit nicht genug: Tritt ein Beschäftigter in die CTM ein, wird er automatisch PRI-Mitglied, denn die CTM und die Organisationen des CdT sind Untergliederungen der Partei und organisieren heute noch etwa 25 Prozent der Arbeitnehmer. Bei den großen Wahlkampfveranstaltung werden Mitglieder-Kontingente mit Bussen herangekarrt und müssen für ein T-Shirt und ein paar Pesos dem jeweiligen Kandidaten der PRI Applaus spenden. Ähnlich funktionieren in Mexiko Bauernverbände und Stadtteilorganisationen der PRI.

Die Zeiten der Totalkontrolle sind vorbei

Doch die Zeiten der totalen Kontrolle sind vorbei. Der PRI-Korporativismus in der Gewerkschaftsbewegung zerfällt mit der Partei. Das sichtbarste Zeichen dafür waren die tumultartigen 1. Mai-Feiern der letzten drei Jahre. Früher sah es am Tag der Arbeit in Mexiko ähnlich ordentlich aus wie in Ost-Berlin oder Moskau. Hunderttausende defilierten im Gleichschritt fahnenschwenkend vor dem Regierungspalast an einem Podest vorbei, auf dem der Präsident und die PRI- und Gewerkschaftsführung “Volksverbundenheit” demonstrierten. Seit 1990 verweigert die Arbeiterklasse der DDR das Schauspiel, ihre russischen Kollegen zogen 1992 nach und auch in Mexiko ist das Ritual seit 1995 aus der Mode gekommen. Damals wurde die Maiparade abgesagt, weil Präsident Zedillo fürchtete, er würde von der eigenen Parteibasis gnadenlos ausgepfiffen werden – die schwerste Wirtschaftskrise seit den 30er Jahren war gerade fünf Monate alt. Die Stimmung scheint sich nicht gebessert zu haben, denn seither gibt es keine offiziellen Maiveranstaltungen unter freiem Himmel mehr, und selbst bei der Saalkundgebung im Auditorio Nacional dieses Jahr hörten die versammelten PRI- und CTM-Funktionäre ein tumultartiges Buh-Geschrei als Leonardo Rodríguez Alcaine, der Nachfolger Fidel Velázquez, sagte: “Unsere Überzeugungen stellen uns an die Seite der PRI.”
Die Maidemonstration wird in den letzten zwei Jahren nun von oppositionellen und von der PRI unabhängigen Gewerkschaften ausgerichtet. Innerhalb des CdT hat sich mittlerweile eine Oppositionsströmung mit dem Namen Foro Sindicalista Frente la Nación gebildet, die von Francisco Hernández Juárez von der Telefonarbeitergewerkschaft, Pedro Castillo von der Elektrizitätsarbeitergewerkschaft und Elba Esther Gordillo, der ehemaligen Präsidentin der LehrerInnengewerkschaft, angeführt wird. Diese ehemaligen PRI-Anhänger gehen nun auf Distanz zum neoliberalen Kurs ihrer Partei. In den letzten Monaten sind auch unabhängige Gewerkschaften wie die STUNAM (Universitätsangestellte der UNAM) oder die FAT (kleine linksorientierte Gewerkschaftszentrale), die ihre Wurzeln in oppositionellen Strömungen der 70er Jahre haben, ins Foro eingetreten, so daß sich das Foro zu einer ernsthaften oppositionellen Strömung innerhalb der Gewerkschaftsbewegung zu entwickeln scheint. Auch innerhalb der CTM formiert sich eine Opposition, die sich 1998 auf dem nächsten Kongreß der Organisation artikulieren wird.
Gleichzeitig ist Vorsicht angezeigt, denn die Abwendung von Führern ehemaliger Charro-Gewerkschaften von der zerfallenden PRI kann auch nur durch ihr Eigeninteresse motiviert sein. Und außerdem: Unter den Bedingungen der ungesicherten Beschäftigungsverhältnisse, des sich verschärfenden Druckes am Arbeitsplatz und des Abbaus der Reallöhne ist es nicht leichter geworden, die Beschäftigten in unabhängigen Gewerkschaften zu organisieren. Ganz im Gegenteil: Wie Adriana Guadalupe Valenzuola Ruíz, eine Maquiladora-Arbeiterin in Tijuana sagt: “Wer sich hier organisiert, wird als Unruhestifter rausgeschmissen. Draußen warten Tausende auf deinen Job.”

Den arbeitenden Kindern nützt nur, was sie selbst wollen

In Lateinamerika, Westafrika und Südostasien sind seit einigen Jahren Organisationen arbeitender Kinder im Entstehen. Ihre Vorstellungen und Forderungen zur Kinderarbeit decken sich oft nicht mit dem, was Regierungen und internationale Organisationen wie ILO und UNICEF verkünden. Vor allem wenden sie sich dagegen, jede Arbeit von Kindern in Bausch und Bogen zu verdammen und abschaffen zu wollen. Statt dessen verlangen sie, Armut und Ausbeutungsverhältnisse ins Visier zu nehmen und die Kinder dabei zu unterstützen, bessere Arbeitsbedingungen zu erreichen und in Würde und freier Entscheidung arbeiten zu können. Die Kinder wollen weiter ihre Familien unterstützen und eine aktive anerkannte Rolle in ihren Gesellschaften spielen.
Die Osloer Konferenz näherte sich ein Stück weit den Vorstellungen der Kinderorganisationen, indem sie sich auf die besonders ausbeuterischen und riskanten Formen der Kinderarbeit konzentrierte. Sie blieb aber meilenweit von den Erwartungen der Kinder entfernt, indem sie die internationalen und strukturellen Ursachen der Ausbeutung von Kindern ignorierte und sich wie eh und je auf gesetzliche Verbote und Boykottappelle kaprizierte. Eine neue Strategie, die wirklich den arbeitenden Kindern zugute käme und ihre Situation verbesserte, kam auf der Osloer ILO-Konferenz nicht in Sicht.
Die 300 MinisterInnen und ExpertInnen von ILO, UNICEF, Gewerkschaften, Unternehmensverbänden und Kinderhilfsorganisationen, die sich auf der Konferenz die Köpfe heiß redeten, duldeten sage und schreibe drei (3) handverlesene Kinder unter sich und störten sich auch noch daran, daß die anderen ihr Forum verließen und vor der Tür ihrer luxuriösen Konferenzstätte demonstrierten. In Oslo waren es vor allem einige Gewerkschaften und Regierungen, die sich die Mitwirkung und Kritik der Kinder verbaten.
Ihre Sturheit und Arroganz wurde selbst innerhalb der UNICEF, die die Konferenz mitveranstaltete, mit Empörung quittiert. Immerhin: In einem Brief an die norwegische Regierung erklärte Bill Myers, einer der profiliertesten UNICEF-Experten zur Kinderarbeit:
„Allein pragmatische Erwägungen erfordern, die arbeitenden Kinder gerade in dem Moment, in dem wir Maßnahmen zu ihrem Schutz beschließen, mitwirken zu lassen und uns ihnen zu stellen. Jedes Mal mehr erkennen die Experten, daß ein wirksamer Schutz der Kinder gegen den Mißbrauch am Arbeitsplatz nicht von oben gegen den Willen der Bevölkerung dekretiert werden kann, vor allem in Ländern mit einem hohen Anteil armer Familien, deren Kinder mehrheitlich in der Landwirtschaft, im Haushalt und im informellen Sektor arbeiten.“
In Oslo wurde die Chance verpaßt, neue Wege im Kampf gegen die wirtschaftliche Ausbeutung und den sozialen Ausschluß zusammen mit den direkt betroffenen Kindern zu suchen. Um so wichtiger ist es, die Kritik, Vorschläge und Forderungen der sich organisierenden Kinder selbst einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

KASTEN

Erklärung des V. lateinamerikanischen und karibischen Treffens
arbeitender Kinder an die internationale Gemeinschaft

Für Arbeit in Würde und eine Gesetzgebung, die uns schützt und anerkennt

Die VertreterInnen der Bewegungen und Organisationen arbeitender Kinder Lateinamerikas und der Karibik (NATs) sowie anwesende VertreterInnen der arbeitenden Kinder Afrikas und Asiens, die sich auf dem V. lateinamerikanischen und karibischen Treffen aller organisierten arbeitenden Kinder versammelt haben, geben hiermit im Namen von weiteren Millionen von arbeitenden Kindern dieser Regionen folgende Erklärung an die internationale Öffentlichkeit ab:
Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen hat für uns Kinder die Rechte, angehört zu werden (Art. 12), uns zu organisieren (Art. 15) und beschützt zu werden (Art. 32) festgelegt. In unserem tagtäglichen Leben, in unserer Arbeit, in unseren Organisationen und auf diesem lateinamerikanischen Treffen haben wir NATs jedoch feststellen müssen, daß diese Rechte nicht ausreichend sind, denn sie werden in der Praxis nicht respektiert.
Man hört uns an, aber man berücksichtigt unsere Ansichten nicht. Man gibt uns das Recht, uns zu organisieren, aber unsere Organisationen arbeitender Kinder und Jugendlicher werden nicht anerkannt. Man „beschützt“ uns, aber man läßt uns nicht an der Ausarbeitung solcher „Schutz“programme mitwirken. Unsere Organisationen kämpfen Tag für Tag für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen, für unsere Rechte auf angemessene und qualitativ gute Ausbildung, für bessere Gesundheitsbedingungen, für Möglichkeiten, uns versammeln zu können, um gemeinsam Aktionen durchzuführen, das heißt dafür, in unserem Leben selbst die Protagonisten zu sein und in unseren Gesellschaften als soziale Subjekte anerkannt zu werden. Unsere Organisationen haben sich als die beste Art erwiesen, uns vor Ausbeutung, schlechter Behandlung und der Geringschätzung durch die Gesellschaft zu schützen. Innerhalb unserer Organisationen fühlen wir uns als würdige, fähige und vollwertige Personen und empfinden Stolz für unsere Arbeit. Hier bilden wir uns und finden Raum für Solidarität und für die Erarbeitung von Vorschlägen für Alternativen zum bestehenden System von Armut und Gewalt, das für uns unzumutbar ist.
Damit unsere Meinungen ernstgenommen werden, müssen unsere Organisationen auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene rechtlich voll anerkannt werden. Unsere demokratisch gewählten VertreterInnen müssen in allen lokalen, nationalen und internationalen Gremien mitreden und mitwählen können, in denen über Politik, die die Kinder und die Arbeit betrifft, entschieden wird, wie in der Bildungspolitik, der Arbeitspolitik sowie bei Plänen zur sozialen Absicherung und Gemeindeentwicklung. Die Präsenz der NATs innerhalb dieser Gremien gemeinsam mit Delegierten anderer sozialer Organisationen ist die beste Garantie im Kampf gegen Ausbeutung, Armut und Ausgrenzung und ein großer Schritt zur Durchsetzung der Menschenrechte. Wir NATs aus Lateinamerika und der Karibik wie auch unsere Freunde aus Afrika und Asien verstehen uns als ProduzentInnen DES LEBENS, angesichts der Kultur des Todes, die uns jegliche Rechte und unsere volle Eingliederung in die Gesellschaft verwehrt. Dies nicht anzuerkennen bedeutet, uns noch weiter als jetzt schon auszugrenzen. Gleichzeitig von Bürgerrechten zu uns zu sprechen, ist ein Hohn.
JA zur Arbeit in WÜRDE, NEIN zur Ausbeutung!
JA zur Arbeit unter SCHUTZ, NEIN zu schlechter Behandlung und Mißbrauch!
JA zu ANERKANNTER Arbeit, NEIN zu Ausschluß und Ausgrenzung!
JA zu Arbeit unter MENSCHLICHEN BEDINGUNGEN, NEIN zu unwürdigen Bedingungen!
JA zum RECHT, IN FREIHEIT ZU ARBEITEN, NEIN zur Zwangsarbeit!
Huampaní, Lima (Peru), 6.–9. August 1997
VertreterInnen der Bewegungen arbeitender Kinder: aus der Region Südamerika: Argentinien, Paraguay, Uruguay; aus der Andenregion: Kolumbien, Chile, Ecuador, Peru, Venezuela; aus Mittelamerika und der Karibik: Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras, Nicaragua, Dominikanische Republik.
Übersetzung: Jutta Pfannenschmidt und Manfred Liebel

Finca Irlanda – Erfolg der Boykott-Kampagne

Schaut man in das Telefon­buch von Ta­pachula, so tauchen etliche für die mexika­nisch-gua­temaltekische Grenz­region eher be­fremdlich klingende Namen auf: von Knoop, Hudler-Schimpf, Giesemann, Kahle, Pohlenz und andere. Die deut­schen Koloniali­sten kamen wäh­rend der Diktatur des Porfi­rio Díaz (1876-1910) nach Mexiko und grün­deten, beseelt vom pro­testantischen Geist des Kapita­lismus und ausgestattet mit guten Kontakten zur heimischen Han­delsbourgeosie, im ertragreichen Soconusco Kaffeeplantagen, die sich noch heute im Besitz der jeweiligen, mittlerweile oftmals verschwägerten Familien befin­den. Die deutsche Oligarchie gewann schnell Einfluß auf die Politik des Bundes­staates und hatte auch das “Recht” auf ihrer Seite, besser gesagt, das Recht auf Rechts­freiheit. Ob die Rura­les, die Landpolizei un­ter Dik­tator Porfirio Díaz, oder heute die Guardias Blancas, die para­militärischen Weis­sen Garden: Sie setzte nackte Gewalt gegen jegliche Versuche, gegen ihre Arbeitsbedin­gungen aufzubegeh­ren. Wenn auch mittler­weile durch die ohnehin halbherzig durch­geführte mexikanische Agrar­reform auf eine Ober­grenze von 300 Hektar ge­schmälert, werfen Plantagen immer noch satte Gewinne ab. Im fruchtbaren Soconusco wer­den Kaffee­sorten wie etwa Ma­ragogype produziert, die bis zu 25 Prozent über dem Weltmarkt­preis gehandelt werden. Die gut­bewachten Villen der Plantagen­besitzer in der Provinzhaupt­stadt Tapachula zeugen von Prosperi­tät.

Anthroposophischer Kapitalismus

Mit dem Namen Rudolf Pe­ters verbindet sich eine darüber hinausgehende Besonder­heit: Die­se aus Hamburg stammende Familie betreibt auf ihrer Finca Irlanda seit 1928 biologisch-dy­namischen Anbau gemäß den von Rudolf Steiner, dessen per­sönlicher Schüler Peters war, entwickelten Demeter-Richtli­nien, und war damit seinerzeit der erste Produ­zent von organi­schem Kaffee weltweit. Dieser Kaffee wird hierzulande vom Bio-Großhändler Lebensbaum ver­trieben und landet so in der Regel im selben Regal wie auch diverse al­ternativ gehandelte Kaf­fees. Die Packung trägt das Label “FairTrade”. Das hat je­doch nichts gemein mit der ähn­lich titulierten nie­derländischen Alternativhandelsorganisation Fair Trade Organisatië, noch mit der deutschen Siegelvereini­gung “Transfair”, son­dern ist ein von Lebensbaum selbst kreiertes Pseudo-Siegel, um so dem wach­senden Konkur­renzdruck im Bio- und Alterna­tivhandel Rech­nung zu tra­gen, wie auch dem Trend der Kunden zum politisch be­wußten Kauf.
Diesen Etikettenschwindel pran­gert die FAU/IAA (Freie Arbeiter Union/ Internatio­nale Arbeiter-Assoziation) seit Sep­tember letzten Jahres mit Flug­blatt- und sonstigen Aktionen an. Begründung: Mit der Bezeich­nung “fair” wiegt sich, wer für diesen Kaf­fee mit 30,60 DM pro Kilo “gerne ein paar Mark mehr hinlegt” (aus dem pastellfarbe­nen Lebensbaum-Prospekt), in der Illusion, hier­mit marginali­sierte Menschen in Chiapas zu unterstützen.
Dem ist jedoch mitnichten so. Auf der Finca Ir­landa wird mit den gleichen ka­pitalistisch-aus­beuterischen Methoden pro­du­ziert wie auf den umliegenden Fincas Ham­burgo, Prusia, Nueva Alemania und an­deren mit ähn­lich klingenden Namen. Die so­zialen und arbeits­rechtlichen Be­dingungen der 40 bis 100 (nach widersprüchlichen Angaben) Fest­angestellten und der rund 500 meist guatemalteki­schen Sai­sonarbeiterInnen sind unter al­ler Sau. Es herrschen mi­serable Zu­stände, die sich im Kern nicht von denen unter­scheiden, die schon B. Traven in seiner “Rebellion der Gehenk­ten” einen Tzotzil so beschreiben läßt: “Nach Soconusco gehe ich nicht. Da sind die Alemanes. Die haben alle Cafetales. Und die sind grausamer als die Bestien des Dschungels und behandeln einen Indianer, als wäre er weni­ger als ein Hund.”
Die von der FAU/IAA in Flugblattaktio­nen, Medienbei­trägen sowie durch Aufklä­rungskampagnen bei Naturkost­mes­sen, etwa der Frankfurter BIOFACH, zur Diskussion ge­stell­ten Mißstände, wie unzurei­chende Unter­bringung der Pflük­kerInnen in sogenannten galleras (Hühnerställen), Ak­kord- und Hun­ger­löhne sowie Kinderarbeit wurden und werden von Lebens­baum-Geschäftsfüh­rer Ul­rich Wal­ter, der nebenher auch Vor­stands­mitglied bei De­meter ist, be­stritten. Die Finca Irlanda be­hauptet in öffentlichen Dar­stel­lun­gen von sich, den ge­setzlich vor­geschriebe­nen mexi­kanischen Mindestlohn einzu­halten. Auf vor­gebliche Errun­genschaften wie eine Sozialversicherungsab­ga­be und eine Schule wird eben­falls hingewie­sen. Gerne wird auch das Argu­ment vorgebracht, die Situation der saisonal einge­stell­ten PflückerInnen sei im­mer­hin noch wesentlich besser als bei ver­gleichbaren Ar­beits­ein­sätz­en in Guatemala.
Die Finca Irlanda liegt geo­graphisch in­nerhalb des Terrains der Finca Hamburgo, die bestens durch Guardias Blancas ge­schützt ist, denen man nachsagt, auch für die Besitzer der Finca Ir­landa tätig zu sein. Es herrscht ein allgemeines Klima der Angst.

Besuch im Potemkinschen Dorf

Zwei mexikanischen Journali­stInnen gelang es, bis Irlanda vorzudringen, indem sie be­haup­teten, sich als Touristen aus New York für den Öko-An­bau zu in­ter­essieren und zu Pe­ters zu wol­len. Auf der Finca an­gekommen, wur­den sie schleu­nigst von ei­nem Verwalter ver­jagt, hatten je­doch vorher, zu Fuß un­terwegs, die Gelegenheit gehabt, sich mit Ern­te­arbeiterIn­nen zu unter­hal­ten. Sie er­fuhren, daß Schule und Gesund­heits­ver­sor­gung mehr oder weniger nur Makulatur sei­en und daß allen offiziellen An­ga­ben zum Trotz der Min­dest­lohn von 12 bis 18 Pesos (etwa 3,- bis 4,- DM für einen Arbeits­tag von Sonnenauf- bis unter­gang) kei­nesfalls im­mer ein­ge­hal­ten wird, schon gar nicht wäh­rend der Erntezeit. Hier gel­ten Ak­kordlöhne, es wird nach der Men­ge von cajas (ein Korb von Kaf­feekirschen à 66 kg) be­zahlt. Mit dieser Methode läßt sich un­ter Umständen der Min­destlohn, zu­min­dest der gua­te­mal­tekische, sogar überschreiten – wenn man die Kinder ein­spannt.

Leben nach Steiner-Richtlinien

Das Thema Kinderarbeit beim Kaffee ist ein heikles: Vermut­lich gibt es weltweit keine “kin­derarbeitsfreie” Tasse Kaffee zu trinken. Auch bei der noch so sehr in den Alternativhandel ver­strickten Kleinkoopera­tive ist nicht auszuschließen, daß letzt­endlich doch die Achtjährigen hel­fen müssen, die schweren Kaf­feesäcke kilometerweit zur näch­sten Sammelstelle zu schlep­pen. Die oben erwähnten Jour­nalistInnen zitieren jedoch ei­nen Arbeiter dahingehend, daß – entgegen der Erklärung von Le­bensbaum, die Finca Irlanda wür­de keinen Lohn an Kinder zah­len, man könne jedoch nicht kon­trollieren, daß mitkommende Kinder ihren in der Saisonar­beit beschäftigten Eltern beim Pflük­ken “helfen” würden – durchaus auch Kinder unter Vertrag ge­nommen werden.
Was den Min­destlohn angeht, ist ohnehin an­zumerken, daß dies eine offi­zielle Größe ist, die de facto un­ter dem Existenzmini­mum liegt. Von dieser stolzen Summe wer­den den PflückerIn­nen pro Tag noch 3 Pesos für eine Verpfle­gung ab­gezogen, die sich auch seit 1912 nicht we­sentlich verän­dert hat, wo sie der deutsche Finquero Fuhrbach stolz be­schreibt mit: “Kaffee und drei Tortillas des Morgends, fünf Tortillas, gekochte Bohnen und Pozol zum Frühstück und gerade so zum Mittag um 5 Uhr, bis auf zwei Tage in der Woche, an denen sie Fleisch und Reis be­kommen.” Bleibt zu hoffen, daß dieses Menü wenigstens den De­me­ter-Richtlinien entspricht.
Weiter hinzu kommt, daß die Entlohnung zweiwöchentlich er­folgt, womit die ArbeiterIn­nen an die Finca gebunden wer­den. Ein System, das an die alt­her­ge­brachte Praxis der Patrones er­in­nert, Abhängigkeitsverhält­nisse mit­tels der sogenannten tiendas de raya (“Läden der Kreide­stri­che”) zu zementieren.
Über die Höhe der Sozialab­gaben gibt es ebenfalls Wider­sprüch­liches zu hören. Was von Lebensbaum als eine “Vielzahl so­zialer Vergünstigungen” her­vor­gehoben wird, ist letztendlich nichts anderes als die Erfüllung mexi­kanischer Gesetzesvorga­ben, die auch mehr auf dem Pa­pier als in der Praxis Sinn ma­chen, wenn es auf der Finca kei­nen Arzt gibt und das nächste Hos­pital mehrere Auto­stunden entfernt ist.

Reif für die Schlagzeilen

Bereits im Mai 1995 forderte die FAU/IAA die Firma Lebens­baum in einem Schreiben auf, den Vertrieb von Irlanda-Kaffee einzu­stellen. Wie zu erwarten, blieb eine Reaktion des Unter­nehmens aus. Daher begann im September des gleichen Jahres eine breit angelegte Boykott-Kampagne, die tatsächlich die Aufmerksamkeit auf das Pro­blem lenkte. Innerhalb einiger Mo­nate hatte die Kampagne zur Folge, daß die Kaffeeumsätze bei Lebens­baum um bis zu 25 Pro­zent sanken. Die Firma Le­bens­baum rea­gierte stereotyp: Immer wieder wurde verlautbart, daß es die Miß­stände in Wirk­lichkeit gar nicht gäbe. Als “Be­weis” hielten nicht ob­jektive, da bran­chen­interne Gut­achten her.
Die Berichter­stattung von Ver­tre­tern der Naturkostbran­che sei grund­sätz­lich problematisch, da von bio­logischen Scheuklap­pen ge­prägt und da­her auf dem so­zialen Auge eher blind, so der Vor­wurf. Die FAU/IAA zitiert ei­nen Ver­treter von Allos, eben­falls ein Marktführer der Bran­che: “Es geht doch um die bio­lo­gi­sche Qualität. Die Indianer sollen froh sein, daß sie nicht mehr mit Giften arbeiten, das an­dere ist doch erstmal egal.”
Spätestens seit der BIOFACH – weltweit die führende Natur­kostmesse – im Frühjahr 1996 wurde die von der FAU/IAA los­getre­tene Diskussion so weit in die Öffentlichkeit getragen, daß der Rechtfertigungsdruck wuchs. Der Demeter-Bund, der die Finca Ir­landa seit 35 Jahren zer­tifiziert und nach eigenen An­gaben “regelmäßig kontrolliert”, erstellte plötzlich, auf’s Renom­mee bedacht, selbst ein Gutach­ten. Es beruht zwar nur auf zwei Stippvisiten im April und Juni 1996 – also außerhalb der Ernte­zeit – und in weiten Teilen auf Aussagen der Besitzer, außerdem ist es in den Zahlenangaben et­was widersprüchlich.

Das Demeter-Gutachten

Die Studie kommt dennoch zu kritischen Befunden: Wohn­räu­me und Sa­ni­täreinrichtungen für die Ern­te­ar­beiterIn­nen wer­den mo­niert, eben­so die Tatsa­che, daß die Schu­le kaum mit Bü­chern aus­ge­stat­tet ist, wobei ausdrück­lich Er­wähnung fin­det, daß das Farm-Management auch noch vor­gab, hiervon nichts zu wissen. Die Ar­beiterInnen kom­men in dem von einem Forst­wis­sen­schaftler erarbeiteten Gut­achten prak­tisch nicht zu Wort, außer mit einem Zitat, daß ihnen kein Platz gegeben wird, einen Garten anzulegen – ein merk­wür­diger Wi­der­spruch zu an­ders­lau­tenden An­gaben von Le­bens­baum, die betonen, die Finca Ir­lan­da würde den Angestellten Ge­mü­segärten zur Verfügung stellen.

“In der ersten Reihe” ge­brandmarkt

Spätestens seit am 18. Sep­tem­ber im ZDF-Magazin “Kenn­zei­chen D” der Beitrag “Kin­der­arbeit auf dem Deut­schen Öko­markt” ausgestrahlt wurde, in dem es auch um die Finca Ir­lan­da ging, ist die Kam­pagne der FAU/IAA im Auf­wind, nachdem die Organisa­tion bereits ein pres­se­rechtliches Ver­fahren ge­won­nen hatte. Juristisch vertreten wur­de Lebensbaum inter­es­san­terweise von einem Anwalt des Le­bensmittelmultis Tengelmann-Grup­pe. Man sitzt ja im gleichen Boot – wer hat schon Interesse da­ran, wenn dem Kunden der Schluck Kaffee im Hals stecken bleibt.
Etwa zeitgleich fand eine wei­tere interes­sante Diskussions­run­de statt: Im Rahmen ih­rer “Mon­tags­gespräche” lud die anthro­po­so­phische GLS-Bank mit Sitz in Bo­chum am 23. Sep­tember zu ei­ner Veranstaltung zum Thema ein – Imagerettung allenthaben.
Lebensbaum-Geschäftsführer Ul­rich Wal­ter nämlich hatte bei die­sem Geldinstitut einen 150.000,- DM Kredit für plötz­lich doch notwendige Renovie­rungs­maßnahmen der Mas­sen­un­ter­künfte, sowie für “allgemeine In­fra­strukturmaßnahmen” bean­tragt. Dieser Antrag wurde abge­lehnt, was voraussehbar war, nicht nur wegen des Gutachtens, son­dern nicht zuletzt aufgrund der Tatsa­che, daß die Finca Ir­landa beim besten Willen nicht in die Kate­gorie “Klein- und Kleinst­pro­jekte aus der Dritten Welt” zu quetschen ist, an die sich der ent­sprechende GLS-Fonds richtet.

Ein Öko-Chamäleon

Im Laufe der GLS-Veran­stal­tung teilte Ulrich Walter dann ei­nem allerseits verblüff­ten Pub­li­kum mit, daß er das FairTrade-Sie­gel in Zukunft nicht mehr zu ver­wenden ge­denke. Und mit ei­ner Mitte Ok­tober erschie­nenen Preis­aufli­stung wurde auch amt­lich – Sin­neswandel hinter Sin­nes­wandel – daß auch Schluß ist mit der einst gepriesenen langfri­sti­gen Ab­nahmegarantie. Rund 75 Prozent des bislang von Finca Ir­landa bezogenen biolo­gisch an­ge­bau­ten Kaffees wurde quasi über Nacht aus dem Verkehr ge­zo­gen und nur der Anteil des biologisch-dynamisch angebau­ten Demeter-Kaffees beibehal­ten.
Bei dem neuen Lebensbaum-Kaffee – schlagartig erhältlich in eben­falls neuen Tü­ten – handelt es sich offenbar um biologi­schen Kaffee, der von drei mexikani­schen Kooperativen stammt, die von der Siegelver­einigung Trans­Fair lizensiert sind. Ein du­bio­ser Frontenwandel: “die so­zialpolitische Ausrichtung”, so Wal­ter, sei “immer schon Be­stand­teil der Firmenphilosophie” ge­wesen. Finanziell ist diese Ima­gerettung vermutlich eine eher bittere Pille: Erstens ist der Ko­operativkaffee – woher auch im­mer er kon­kret stammt – teu­rer, zweitens gilt es nun auch pro Kilo 0,39 DM Lizenzgebühren an TransFair zu bezahlen – billi­ger war’s doch mit der selbstge­schnitzten Medaille. Seit einigen Wochen also ist Fin­ca Ir­landa-Kaffee mehr oder we­niger nur noch im Zusam­men­hang mit Demeter bezie­hungs­wei­se in geringerem Um­fang über die niederländi­sche Natur­kost­firma Simon Levelt im Han­del erhältlich. Worin besteht nun der Erfolg der Kampagne? Ver­än­derung des Bewußtseins hier­zu­lande – kein Thema. Ist es ge­lungen, eine positive Verände­rung der Lebenssitua­tion der Ar­bei­terInnen auf der Finca zu er­wir­ken? Offenbar leider nein.
Selbst die Fa­milie Peters ist re­lativ schnell fallengelassen wor­den, über die ohnehin hart­näckig das Ge­rücht am Leben erhalten wird, sie bewege sich permanent am Rande der Pleite. Als Aus­gleich für das Unvermö­gen, den Ange­stellten Gemüse­gärten zur Verfügung zu stellen, leistet sich die Familie Peters jeden­falls ein dreißig Hektar großes Natur­schutz­gebiet mit vom Aus­sterben be­drohten Wild­hühnern (Stück­preis jeweils ge­schätzte 25.000 US-Dollar) – die kann man ja, an den Rand des Exi­stenzminimums ge­drängt, not­falls versilbern.

Erfolg – für wen?

Was jedoch wäre die Alterna­tive für die durch eine seit sieb­zig Jahren bestehende, zwar an­throposophische, aber doch pa­tri­ar­chalische Betriebsführung ge­präg­te Arbeiter­schaft, wenn sich die Familie Peters dem­nächst nur noch der Hühnerzucht widmete? Die Landbesetzungen auf den Fin­cas Li­quidambar und Prusia haben gezeigt, daß es möglich war, binnen kurzem den Real­lohn der Cafeteros zu ver­fünf­fachen. Und so trotz dieser poli­tisch rasch unterbundenen Ak­tion erneut aufgezeigt, daß eine kooperative Or­ganisationsform al­le­mal, wenn auch nicht op­timale, so doch würdevollere Über­le­bensmöglichkeiten schafft.

WELTstadt – STADTwelt

Warum wachsen die Städte? lautete die Leitfrage für die verschiedenen Beiträge, die sich mit Spontansiedlungen in Cara­cas, der Öko-Modell-Stadt Curitiba im Süden Brasiliens, dem Phänomen der Straßenkinder und schließlich der Zukunft von “Dritte-Welt”-Städten befaßten. Wer sich mit der sozialen, ökonomischen oder ökologischen Problematik von Städten in Lateinamerika auseinandersetzt, der muß zunächst den Ursachen für die Landflucht auf den Grund gehen. Am intensivsten gelang dies Uwe Pollmann vom “Dritte-Welt”-Haus in Bielefeld in seinem Beitrag zu Straßenkindern in der “Dritten Welt”. Das traditionelle Problem der ungerechten Landverteilung, neuere Entwicklungen zur modernisierten Plantagen- und extensiven Weidewirtschaft sind Auslöser für die ökologische Zerstörung sowie die soziale Misere der Landbevölkerung und Ursache für Migration. Die überwiegend jungen Leute, die oftmals völlig mittellos in der Stadt ankommen, bauen auf freiem Ge­lände zunächst einfache Wellblech- oder Papphütten . Im Laufe der Zeit, so be­schrieb Prof. Pachner von der Universität Tübingen am Beispiel von sogenannten Spontansiedlungen, deren Entwicklung er seit über 20 Jahren begleitet, werden die einfachen Hütten jedoch ausgebaut. Strom- und Wasserzuleitung werden zunächst illegal beschafft, später offiziell eingerichtet. Am Ende stehen oftmals an­sehnliche, stabile Häuschen, die an die In­frastruktureinrichten angeschlossen sind. Heute leben in den Metropolen La­teinamerikas zwischen 40 und 60% der Bevölkerung in solchen Siedlungen. Ent­scheidende Gründe dafür, daß Pachner die Bezeichnung “Slum” für diese Viertel ab­lehnt, sind die heterogene Bevölke­rungsstruktur und eine sehr unterschiedli­che infrastrukturelle Ausstattung. Hinzu kommt die Tatsache, daß hier neben der Mehrzahl der BewohnerInnen, die im in­formellen Sektor ihr Einkommen sichern, auch Menschen mit teilweise langjähriger Integration in den formalen städtischen Arbeitsmarkt zu finden sind. Interessant wäre es gewesen, zu verfolgen, wie sich die Entwicklung für Neuankömmlinge in den Krisenjahren der vergangenen Dekade vollzog oder wie sich die Lebens- und Wohnverhältnisse der seit längerem in Spontansiedlungen lebenden Menschen durch die De-Industrialisierung verändert haben. Leider gelang es dem Tübinger Geographen jedoch nicht, seine teilweise sehr intensiven empirischen Untersuchun­gen etwa zur Wohnsituation in Spontan­siedlungen zu neueren ökono­mischen und politischen Prozessen in Be­ziehung zu setzen. Die oftmals in diesen Siedlungen verwurzelten barrio-Organi­sationen, über die Sozialwissenschaftle­rInnen unter dem Begriff “neue soziale Bewegungen” dis­kutieren, wären eine ge­sonderte Betrach­tung wert gewesen. Ihre Rolle für die Eta­blierung und Entwicklung der Siedlungen selbst kann gar nicht über­schätzt werden.

Modellstadt Curitiba

Bemerkenswert ist, daß in zahlreichen Ländern Lateinamerikas, dem Teil der “Dritten Welt” mit der intensivsten Ver­städterung, der Wanderungsdruck auf die Metropolen in den letzten 10 Jahren nach­gelassen hat. Es sind heute vor allem mit­telgroße Städte, die ein überproportionales Wachstum aufweisen. Zu diesen mittel­großen Städten zählt das inzwischen etwa 1,3 Millionen EinwohnerInnen beherber­gende Curitiba im südbrasilianischen Bundesstaat Paraná. Über die Grenzen Brasiliens hinaus hat sie sich inzwischen den Ruf einer Öko-Modell-Stadt erwor­ben. Folgt man den Ausführungen von Gilberto Calcagnotto vom Institut für Ibero­amerikakunde in Hamburg, steht hinter dieser Erfolgsgeschichte vor allem ein Mann: der dreimalige Bürgermeister Jaime Lerner. Lerner, der damals als poli­tisch unerfahrener Technokrat galt, wurde unter der Militärdiktatur vom Provinzgou­verneur Paranás auf den Posten des Bür­germeisters gehievt. Doch der gelernte Architekt entwickelte sich zu einem Er­neuerer mit großer Sensibilität für Um­weltprobleme. Auf seine Initiative geht das moderne Bussystem mit zahlrei­chen Expresslinien und eigenen Spuren, das mit einer Verbundnetzkarte befahren werden kann, zurück. Damit konnte der Treib­stoffverbrauch der Stadt um nahezu 25 Prozent verringert werden. Die zuvor überdurchschnittlich hohe Zahl von Ver­kehrstoten wurde drastisch gesenkt. In den letzten Jahren wurde zudem ein cambio verde genanntes Müllsammelsystem ein­gerichtet, bei dem von der Stadtverwal­tung im Tausch gegen wiederverwertbares Material Gutscheine für Schulbücher, Fahrscheine oder Gemüse ausgegeben werden. Der neue Bürgermeister scheint das Werk Lerners fortsetzen zu wollen. Momentan stehen so ehrgeizige Projekte wie die Erneuerung des Abwassersystems auf der Tagesordnung.
Intention der Kongreßleitung war es, ne­ben Fragen der Stadtentwicklung und -planung auch das Phänomen des wach­senden städtischen Elends anzusprechen. Es war die Aufgabe Uwe Pollmanns vom “Dritte-Welt”-Haus Bielefeld, das sich seit Beginn der 70er Jahre in der Internationa­lismusarbeit engagiert und inzwischen ne­ben dem Schwerpunkt Öffentlichkeits­arbeit mehrere Straßenkinder-Projekte unterstützt, dies am Beispiel einer Stadt der “Dritten Welt” zu tun. “Straßenkinder in Recife” lautete sein Thema, und einmal mehr zeigte sich die Schwierigkeit, Elend oder soziale Mißstände vor einem west­lich-industriellen Wohlstandspubli­kum differenziert und mit einer ausrei­chenden gefühlsmäßigen Distanz zu prä­sentieren. Das Thema legt den Blick auf dunkelhäu­tige, zerlumpte Gestalten, zu früh gealterte Kindergesichter nahe, die bald nur noch Mitleid erregen. Dabei wurde eigentlich sehr kenntnisreich und sensibel über den täglichen Überlebens­kampf auf der Straße informiert. Pollmann gelang es zugleich den Bogen zur bundes­republikanischen Konsumgesellschaft zu schlagen, die von niedrigen Kaffee- und Orangenpreisen profitiert, die auf die Ausbeutung von Kinderarbeit zurückzu­führen sind.
Daran besteht kein Zweifel: Wer sich über Städ­tewachstum Gedanken machen will, der muß zunächst sehen, was auf dem Land passiert. Zentrale Ursache für Städte­wachstum ist die Landflucht.
Zukunftsorientierte Stadtpolitik beginnt also auf dem Land. Hier bedarf es grund­legender ökonomischer und sozialer Re­formen. Pragmatisch gesehen mag die Aufgabe der StadtplanerInnen auf den Umgang mit weiterem Wachstum oder die Steuerung innerstädtischer Prozesse kon­zentriert bleiben. Hier können sie sich im besten Fall die Frage stellen, wie sie die Stadt wachsen lassen wollen. Aus ökolo­gischer und sozialer Sicht lautet das Lö­sungswort “Verdichtung”. Gerade Städte in Nord- und Südamerika, die mit ihrer auf den Autoverkehr ausgerichteten Ent­wicklung nahezu grenzenlos ins Um­land gewuchert sind, während sie inner­städtische Bereiche verkommen lassen, bieten hier prinzipiell große Handlungs­spielräume. Unzweifelhaft zeigen wie­derum Erfahrungen aus Nord- wie Süd­amerika, daß alles andere als die invisible hand des Freien Marktes diese Probleme lösen wird. Vielmehr bedarf es konkreter Markteingriffs- und Planungsinstrumente, die jedoch von politischer Macht und Durchsetzungskraft abhängen. Wo und wie diese entwickelt werden kann, konnte allerdings nicht auch noch Thema dieser Tagung sein.

Das Morden geht weiter

LN: Im Zusammenhang mit dem Mord an den Kindern vor der Candelária sind neue Zahlen veröffentlicht worden. Wenn auch die Statistiken voneinander abweichen, so deutet doch alles auf ein Ansteigen der Gewalttaten gegen Kinder und Jugendliche im Staate Rio hin. Wie ist diese Tendenz zu erklären?
Barros: Schon seit einiger Zeit erscheint es uns, daß die Regierung die Kontrolle über die Todeskommandos verloren hat. Die Zunahme der Zahl der gewaltsamen Tode von Kindern und Jugendlichen ist offensichtlich, auch wenn die Regierung immer wieder unsere Angaben bezweifelt. Die Regierung hat systematisch andere Informationen verbreitet, um vorzutäuschen, die Situation sei unter Kontrolle. Ich spreche hier von der Regierung des Bundesstates Rio, die Bundesregierung hat noch viel weniger unternommen. Die politische Verantwortung liegt bei den Landesregierungen, sie sind für die Polizei verantwortlich. Mit großen Worten ist die Landesregierung von Rio schon seit einiger Zeit für den Kampf gegen die Morde an den Kindern eingetreten. Der Gouverneur, Leonel Brizola, erhebt in der Öffentlichkeit die gleichen Anklagen wie wir, die Nichtregierungsorganisationen (NROs). Statt tatsächlich effektiv etwas zu unternehmen, tritt er vor die Presse und beklagt die Situation. Wir glauben, daß auch internationale Anklagen nicht ausreichen, die Polizei müßte vielmehr die Mörder tatsächlich ergreifen. Uns scheint, daß die Regierung keine politische Kraft hat, um die Beschuldigten zu verhaften. Die entscheidende Erklärung dafür, warum die Regierung diese Kraft nicht hat, liegt wohl in der Verwicklung der Polizei selbst in die Morde. Es gibt offensichtlich eine hohe Beteiligung insbesondere der Miltärpolizei an den Morden. Und statt die Gesellschaft über diese Situation konkret zu informieren und Unterstützung zu erlangen, hat die Regierung Desinformation betrieben und vorgetäuscht, die Lage sei unter Kontrolle.
Eine Umfrage der Zeitung “O Globo” unter Miltärpolizisten ermittelte, daß 25 Prozent der befragten Polizisten zugeben, Kontakt mit Todesschwadronen gehabt zu haben. Das entspricht einer Zahl von 8.000, es gibt in Rio insgesamt etwa 30.000 Militärpolizisten. Auch die Zivilpolizei (policia civil) ist beteiligt, nach den bekanntgewordenen Fällen allerdings in geringerem Maße. Aber darüber hinaus gibt es ja noch die privaten Wachdienste, 70.000 sind in unserem Bundesstaat offiziell beschäftigt. Hier existiert noch weniger Kontrolle – ganz zu schweigen von den illegalen Wachdiensten. Wenn wir hier eine ähnliche Rate wie bei der Militärpolizei ansetzen, in Wirklichkeit wird sie eher höher sein, dann haben wir ein richtiges Heer, das völlig außer Kontrolle ist. Nach einer Studie, die wir gemacht haben, gehen wir davon aus, daß nicht weniger als 20.000 Personen zu Todesschwadronen gehören. Diese Todesschwadrone stehen nicht isoliert da, sie verbinden sich mit dem Drogenhandel, dem Waffenhandel, dem illegalen Glücksspiel. 40.000 Polizisten gibt es insgesamt im Bundesstaat. Da ist eine Kontrolle nicht mehr möglich, zumal wenn man bedenkt, daß die Drogenbosse viel besser bewaffnet sind als die Polizei. Dieser Krieg ist verloren. Aber die Regierung gibt das nicht zu, sie kann nicht öffentlich eingestehen, daß sie de facto die Macht verloren hat.
Auch die Justiz erweist sich als machtlos. Viele Prozesse werden durch die Polizei schlecht vorbereitet, und das geschieht mit Absicht. Verurteilungen hängen in der Regel von Identifizierungen durch Augenzeugen ab; dies ohne Schutz zu machen, bedeutet, sich den Todesschwadronen auszuliefern. Die ZeugInnen verschwinden also, und die Angeklagten werden freigesprochen. Die faktische Straffreiheit ist der Hintergund für das Massaker an den Straßenkindern. Die Mörder wollen zeigen, daß sie die Herren im Zentrum Rios sind.

In der veröffentlichten Meinung Brasiliens war natürlich die Verurteilung des Massakers einhellig. In der Bevölkerung lassen sich aber durchaus andere Reaktionen beobachten, viele halten die Todesschwadronen für eine effektive Antwort auf die Kriminalität. Das ist eine Frage, die die Gesellschaft spaltet. Darum gab es nach dem Massaker kaum Proteste, die Kundgebungen waren schwach besucht. Auch die Tatsache, daß die ermordeten Kinder Schwarze sind, scheinen die Schwarzen in Rio nicht als Angriff auf sich zu betrachten. Von Protesten á la Los Angeles ist hier nichts zu erkennen.
Ja, das ist eine schwierige Frage, wir denken darüber auch nach und wollen das noch besser untersuchen. Zunächst gilt es zu bedenken, daß tatsächlich ein Teil der Bevölkerung solche Morde unterstützt, und dieser Teil ist nicht klein. Wir haben zum Beispiel die Leserbriefe von Zeitungen untersucht, und da zeigt sich, daß ein Teil der Mittelschicht – denn nur die liest Zeitungen – ein taktisches Bündnis mit den Todesschwadronen geschlossen hat. Sie stehen ihnen die Verantwortung für die Sicherheit einer bestimmten Gegend zu. Aber auch die marginalisierte Bevölkerung sieht die Straßenkinder mit den Augen der herrschenden Klassen: als Bedrohung, als verloren, als zukünftige Banditen. Das geht soweit, daß die Eltern von ermordeten Kindern sagen: “Ich habe es ihm immer gesagt. Ein solches Leben führt zu nichts.” Sie akzeptieren die Morde, weil das Kind den “falschen Weg” gewählt hat. Die Dichotomie zwischen Gut und Böse ist in unserer Gesellschaft tief verankert, und viele rechnen die Kinder zur Seite des Bösen. Ich würde sagen, daß etwa 50 Prozent der Bevölkerung die Todesschwadronen unterstützt, von denen, die dagegen sind, haben viele lediglich karitative Gründe. Nur eine kleine Minderheit sieht die politische Dimension und tritt für die Rechte der Kinder ein. Zum anderen ist die Schwarzenbewegung in Brasilien schwach und zersplittert. In der Bevölkerung entsteht kein Bewußtsein, daß ein solches Massaker ein Anschlag auf die schwarze Bevölkerung ist. Hier müssen wir politisch noch viel weiterkommen.

Nach der ersten Empörungswelle gab es einen auffallenden Umschwung in der Presse. Plötzlich gerieten die NROs ins Schußfeld. Nicht mehr die Polizei wurde beschuldigt, sondern die Gruppen, die mit den Kindern arbeiten. Statt den Kindern zu helfen, hätten sie in die eigene Tasche gewirtschaftet. Nicht die Verquickung der Polizei mit den Todesschwadronen stand im Mittelpunkt der Diskussion, sondern die Effizienz der Arbeit der NROs.
Diese Beschuldigungen gehen vor allem von dem Richter Liborni Siqueira aus. Dieser hat selbst eine Organisation, die Straßenkinder betreut. Er hält nun seine Linie für die einzig richtige: die Kinder frühzeitig in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Aber wir haben festgestellt, daß die schlechtbezahlte Kinderarbeit nur die Armut reproduziert und den Kindern keine Perspektive eröffnet. Dieser Richter beschuldigt nun alle Organisationen, die nicht seiner ideologischen Linie folgen, die Kinder nur auszunützen. So behauptet er, daß Organisationen, die mit den Kinder auf der Straße arbeiten, statt sie einzusammeln, das Verbleiben der Kinder auf der Straße wollen.
CEAP und andere Organisationen haben eine ganz andere Ausrichtung der Arbeit. Wir setzen uns für die Rechte der Kinder ein und fordern, daß der Staat diese Rechte akzeptiert. Wir wollen nicht die soziale Betreuung der Kinder garantieren, sondern wollen den Staat zwingen, seine Verantwortung gegenüber den Kindern zu übernehmen. Die NROs sind doch nicht verantwortlich für das Elend in Brasilien, für die sozialen Probleme. Unsere Aufgabe ist es in erster Linie, Druck auf den Staat auzuüben und seine Arbeit zu überwachen. Wir müssen den Staat dazu zwingen, seine Aufgabe zu erfüllen, das ist unseres Erachtens die primäre Funktion der NROs. Wir können uns nicht auf das Abenteuer einlassen zu versuchen, den Staat zu ersetzen. Eine NRO, die vielleicht 30 Kinder betreuen kann, mag eine gute Arbeit machen, sie beruhigt aber mehr ihre Seele, als daß sie einen ernsthaften Beitrag zur Lösung des Problems leistet.

Aber soll das heißen, daß Projektarbeit völlig sinnlos ist? Können denn konkrete Projekte nicht auch einen Pilotcharakter haben, neue Wege aufzeigen in der Arbeit mit Straßenkindern?
Genau. Das kann eine Funktion von konkreter Projektarbeit sein. So macht Projektarbeit Sinn: Beispiele entwickeln, die dann vom Staat in größerem Umfang umgesetzt werden können. Die Beschuldigungen gegen die NROs sind eine Strategie, um diese Organisationen zu schwächen. Wir haben uns auch gegen die willkürlichen Zugriffe der Justiz auf die Straßenkinder eingesetzt. Die Justiz konnte aufgrund eines einfachen Gutachtens Kinder einsammeln und zwangseinweisen. Wir haben die Funktion des “Anwaltes der Kinder” eingeführt, Einspruchsmöglichkeiten geschaffen. Es ist heute nicht mehr so leicht, Kinder von der Straße gegen ihren Willen in Anstalten einzuweisen. Das hat uns in der Justiz Feinde geschaffen. Der Staat hat auf diese neue Situation nicht reagiert. Er hat einen Teil der großen Anstalten stillgelegt, er hat aber nichts an deren Platz gesetzt. So bleiben die Kinder zunehmend auf der Straße sich selbst überlassen. Auch der internationale Druck hat sich bisher als unzureichend erwiesen, trotz aller Veröffentlichungen im Ausland hat die Regierung nichts getan. Jetzt nach dem Massaker wird sie ein paar Sachen machen…

Das Problem mit der internationalen Reaktion ist doch, daß sie sehr punktuell ist. Sie reagiert jetzt auf das Massaker, und wahrscheinlich wird es sogar einige Verurteilungen geben. Aber langfristig die Sozialpolitik in Brasilien zu beeinflussen, ist natürlich viel schwieriger. Auch sehe ich eine gewisse Verlogenheit. Es ist sehr leicht, Mitleid mit einem Straßenkind zu haben und sich über die Morde zu empören. Aber schließlich haben die Regierungen der Staaten des Nordens auch eine Mitverantwortung für die soziale Lage in Brasilien. Die Gruppen müßten also nicht nur die Massaker anklagen, sondern auch die Mitverantwortung der internationalen Politik thematisieren.
Genau. Die Auslandsverschuldung, die Politik des IWF tragen dazu bei, das Elend hier zu verstärken. Rechnerisch gesehen könnten die Zahlungen für die Auslandsschulden (über 10 Mrd. US-Dollar pro Jahr) für soziale Projekte verwendet werden. Aber natürlich hat auch unsere Elite eine große Verantwortung. Wenn mehr Geld da wäre, würde dies noch nicht automatisch den Mißbrauch dieser Gelder verhindern…
Die Straßenkinder akzeptieren nicht mehr passiv das Elend und den Hunger. In dieser Hinsicht sind sie revolutionär. Auch wenn sie nicht organisiert sind, nicht im Rahmen einer politischen Strategie agieren, so rebellieren sie doch. Die brasilianischen Streitkräfte sind sich dessen bewußt. Eine Studie der ESG (eine Ausbildungakademie der Militärelite, LN) hat die Straßenkinder zu einem der Hauptprobleme der inneren Sicherheit erklärt.

Unser Leben ist kein Kinderspiel

Dieser Kommentar stammt von einem Kind auf dem 1. Straßenkinderkongreß Nicaraguas 1992 als Reaktion auf die relativ spärliche Resonanz bei JournalistInnen und PolitikerInnen.
Ähnlich wie in Nicaragua gibt es bereits in Peru, Mexico und Brasilien (vgl. LN 227) eigene Organisationen, in denen Kinder ihre Interessen und Ansprüche selbständig artikulieren. Dies wird deutlich im dritten Schwerpunkt einer Broschüre der Christlichen Initiative Romero e.V., die jetzt zum Thema Straßenkinder in Lateinamerika erschienen ist.
Zuvor werden in einigen Aufsätzen die Situation und die Problemlage der Kinder, vornehmlich aus Mittelamerika und Brasilien, ausführlich beschrieben. Es geht um Kinderarbeit, Kinderprostitution und um die Ausmaße des Elends der Straßenkinder. Mittlerweile lebt schon die dritte Generation Kinder auf der Straße. Kaum 14jährige Mädchen sind die Mütter dieser “Asphaltenkel”.
Dieses Leben auf der Straße ist geprägt von Arbeit, bzw. der Suche danach, unter Umständen der eigenen “Elternrolle” und, besonders wichtig, der gesellschaftlichen Diskriminierung. Von Kindheit im europäisch verstandenen Sinn sind die Kinder in Lateinamerika weit entfernt. Dazu kommt die alltägliche lebensbedrohliche Verfolgung durch die Polizei und private, durch Geschäftsleute angeheuerte Sicherheitsdienste, die die Straßenkinder zu Freiwild werden lassen.
Den Verfasserinnen dieser Broschüre ist es, trotz aller Differenz zur Lage in Europa, auch wichtig gewesen, auf die Situation von Kindern hier hinzuweisen. In den Texten wird deutlich, daß es die weltweiten Strukturen der Ungerechtigkeit sind, die die Kinder zwingen, auf der Straße zu leben. So haben die Erfüllung der strengen Auflagen des IWF, vor allem die Kürzungen im Bildungs-, Sozial- und Gesundheitsbereich, die Zahl der Straßenkinder in den 80er Jahren spürbar anwachsen lassen.
Im letzten Teil des Heftes werden Aktionsvorschläge, Lernspiele, Material- und Literaturhinweise sowie weiterführende Adressen für die Arbeit im Unterricht und in Gruppen bzw. für Aktionen zum Thema aufgeführt. Die Broschüre ist eine gelungene Zusammenstellung von Materialien und sowohl zur eigenen gebündelten Information als auch für MultiplikatorInnen geeignet. Das sehr gute Lay-out wird durch ansprechende Photos und durch einzelne Graphiken ergänzt.

Unser Leben ist kein Spiel. Straßenkinder in Lateinamerika. 1993 herausgegeben von und zu bestellen bei: Christliche Initiative Romero e.V., Kardinal-von-Galen-Ring 45, 48149 Münster.

Newsletter abonnieren