„Vergeben, aber kein Vergessen“

Dass juristische Verfahren gegen oligarchische Medien in Ecuador Aussicht auf Erfolg haben, ist neu. „Es hat sich gezeigt, dass der medialen Macht der Prozess gemacht werden kann“, heißt es in einer Erklärung des ecuadorianischen Präsidenten Rafael Correa von Ende Februar. Nachdem sich Correa mit dem Politbüro seiner Partei Alianza País, Freunden und seiner Familie beraten hatte, gab er in dem Statement zudem großzügig bekannt, denen „zu vergeben, die es eigentlich nicht verdienen“. Correa ist mit der juristischen Feststellung, dass er verleumdet wurde, zufrieden und begnadigte die drei Herausgeber und einen Kolumnisten der oppositionellen Zeitung El Universo am 27. Februar. Auch gegen die beiden zu Geldstrafen verurteilten Autoren des Buches Der große Bruder ließ Correa Gnade walten und verzichtet auf Vollstreckung.
Der größte Rechtsstreit bezieht sich auf den 30. September 2010, als der Staatschef bei einem Putschversuch von desertierten Polizei- und Militäreinheiten angegriffen, festgehalten und mit dem Tode bedroht wurde. Mehrfach erging über Polizeifunk die Aufforderung, den Präsidenten umzubringen. Auf mit Correa sympathisierende Demonstrant_innen und die Spezialeinheit, die zu seiner Befreiung eingesetzt war, wurde scharf geschossen. Mindestens fünf Todesopfer durch Kugeln der Putschist_innen waren zu beklagen.
Den Ereignissen des 30. September 2010 widmete einer der lautesten Streithähne der oligarchischen Presse, der Redakteur Emilio Palacio, im Februar 2011 einen Kommentar. Der erschien in der Zeitung El Universo mit dem Titel „Keine Lügen mehr“. Darin bezeichnet er Correa nicht nur als „Diktator“, sondern wirft ihm auch „Verbrechen gegen die Menschheit“ vor. Correa habe das Gefecht provoziert, den Putschversuch inszeniert und Todesopfer billigend in Kauf genommen, so Palacio. Demgegenüber berichteten Beobachter_innen von einer aufgeheizten Stimmung, die private Medien unmittelbar vor dem Putschversuch erzeugt hatten; sie waren über die Pläne anscheinend informiert. Der Staatschef erstattete Anzeige wegen Verleumdung.
Palacio sowie die Herausgeber der größten ecuadorianischen Tageszeitung, als Verantwortliche für deren Veröffentlichung, wurden mehrmals aufgefordert, die Vorwürfe zurückzunehmen, sich dafür zu entschuldigen und eine Richtigstellung abzudrucken. Darauf ließen sich weder Palacio noch die Direktoren von El Universo, die drei Brüder Carlos, César und Nicolás Pérez ein. Es schien fast so, als wollten sie verurteilt werden und den Skandal um eine von ihnen unterstellte „Einschränkung der Redefreiheit“ möglichst groß erscheinen lassen.
Am 20. Juli 2011 wurden sie zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Zusätzlich sollten sie insgesamt 40 Millionen US-Dollar Schadensersatz zahlen. Die Angeklagten gingen bis zum Obersten Gerichtshof. Doch der bestätigte das Urteil im Falle Palacios am 28. Dezember letzten Jahres und im Falle der Brüder Pérez am 16. Februar dieses Jahres. „Das Urteil zeigt, dass die Pressefreiheit nicht nur für diejenigen ist, die es sich leisten können, sondern für alle“, verlautbarte Correa und ergänzte, dass er den Prozess nicht wollte, sondern es lieber gehabt hätte, wenn El Universo sich korrigiert hätte.
Palacio war direkt nach dem ersten Richter_innenspruch im August nach Miami gereist, von wo aus er den Prozess verfolgte. Stunden nach dem Urteil des Obersten Gerichtshofs begab sich auch einer der Herausgeber, Carlos Pérez, in die panamaische Botschaft und beantragte Asyl. Dieses wurde zunächst gewährt, nach der Rücknahme der Strafe aber wieder aufgehoben.
In einem weiteren Gerichtsverfahren wurden am 7. Februar 2012 die beiden Autoren des Buches Der große Bruder (erschienen 2010), Juan Carlos Calderón und Christian Zurita, zur Zahlung von jeweils einer Million US-Dollar Entschädigung an Rafael Correa verurteilt. Im Buch beschuldigten sie den Präsidenten, von der unrechtmäßigen Vergabe staatlicher Aufträge an die Firma seines jüngeren Bruders Fabricio Correa gewusst zu haben. Auch Calderón und Zurita bot das Staatsoberhaupt mehrmals an, die Anschuldigungen zurückzunehmen, damit er die Anzeige fallen lassen könne. Dem kamen die Autoren nicht nach. Die zuständige Richterin bestätigte, dass die Autoren nicht genügend Beweise hätten, um so eine Behauptung aufzustellen. Sie folgte damit Correas Argumentation, dass er als Person und Bürger „moralischen Schaden“ erlitten habe.
Die Prozesse wurden unter großer nationaler und internationaler medialer Aufmerksamkeit geführt. Das Thema ist delikat und dreht sich um die Definition der Pressefreiheit. In einem Kommentar der Washington Post vom 12. Januar wurde der Vorwurf erhoben, in Ecuador würden Journalist_innen verfolgt und die Autoren von Der große Bruder wären wegen der Dokumentation der staatlichen Verträge mit Fabricio Correa verurteilt worden. Dem widersprach Präsident Correa in einer ausführlichen Stellungnahme: „Was die Washington Post nicht schreibt, ist, dass die Autoren zufällig Journalisten sind, die aber wegen der Behauptung verurteilt wurden, der Präsident habe davon gewusst.“ Ecuadors Außenminister Ricardo Patiño sieht die ecuadorianische Regierung als Ziel einer internationalen Medienkampagne, weil ihre Reformen griffen, sie Auslandsschulden reduziere und sich die Kräfteverhältnisse veränderten.
Immer wieder springen die Lateinamerikanische Pressegesellschaft (SIP), Human Rights Watch oder Reporter ohne Grenzen im Namen der Meinungsfreiheit den Medienoligarch_innen bei. Aber selbst Reporter ohne Grenzen riet jüngst mit Bezug zum Fall El Universo, mit Beleidigungen und Bezeichnungen wie „Diktator“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ nicht leichtfertig umzugehen.
Palacio und die Brüder Pérez hatten angekündigt, vor den Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof zu ziehen. Dieser hatte vorbeugend gefordert, die Strafe gegen El Universo zurückzunehmen. Nach der Aussetzung der Strafe erklärte die Ex-Präsidentin der Institution allerdings, die Befugnisse seien von El Universo überschritten worden. Schließlich habe Correa das Recht, seine Persönlichkeitsrechte zu verteidigen. Maßnahmen sind nun hinfällig. „Hoffen wir, dass die Verurteilten aufhören, sich als Opfer darzustellen“, sagte Correa.
Durch die Entscheidung, die Strafe nicht vollziehen zu lassen, scheint sich der Präsident als gütiger Katholik darstellen und sein Ansehen im internationalen Umfeld aufbessern zu wollen. Innenpolitisch findet die Entscheidung sicher Zustimmung bei moderaten Kräften, kann aber auch als Befriedung vor der Präsidentschaftswahl 2013 gelten: Laufend kommt es zu heftigen Gefechten zwischen Correa und den privaten Medien, die er als „korrupt“ bezeichnet. In einem 2011 veröffentlichten Essayband sieht der Journalist und Kommunikationswissenschaftler Gustavo Abad in Ecuador einen Fight Club, in dem die politische gegen die mediale Macht im Ring steht. Viel zu kurz bei diesen Debatten kommt die Demokratisierung der und das Recht auf Kommunikation, das auch in Ecuador wesentlich durch unabhängige, nicht profitorientierte Organisationen getragen werden muss. Im Wesentlichen betrifft dies kommunitäre Medien, die mithilfe eines Kommunikationsgesetzes Förderung erhalten sollen, damit sie in Zukunft neben privaten und staatlichen Medien einen Anteil von mindestens einem Drittel ausmachen werden.
Die größten Medien Ecuadors befinden sich im Besitz weniger einflussreicher Familien, wie der Familie Pérez, die mit diesen Mitteln ihre liberalen oder konservativen Interessen vertreten und durchsetzen. Bereits in der Verfassunggebenden Versammlung wurden private Medien häufig kritisiert, die ohne Rücksicht auf Wahrhaftigkeit und Persönlichkeitsrechte die politischen Gegner_innen niederschrieben. Mit der Verfassung von 2008 wurde ein neues Kommunikationsgesetz auf den Plan gerufen, das den gesamten Medienbereich umstrukturieren und klare rechtliche Regelungen zu verbotenen Inhalten und deren Sanktionierung festlegen soll. Darunter fallen Jugendschutz, Gewaltverherrlichung, rassistische, sexistische und andere diskriminierende Inhalte. Seit dem Referendum im Mai 2011 ist auch klar: Erstellt und überprüft werden die Richtlinien durch einen Regulationsrat. Erst im November letzten Jahres hat das Parlament die zweite und abschließende Lesung durchgeführt. Die Zustimmung einiger Mitglieder_innen der Regierungsfraktion und anderer Fraktionen wie der indigenen Partei Pachakutik sind nach wie vor nicht sicher. Die Abstimmung wird in diesem Jahr erwartet.
„Wir müssen aus der Gegenwart und aus der Geschichte lernen, für eine echte soziale Kommunikation kämpfen, in der private Geschäfte die Ausnahme sind, nicht die Regel; wo die Redefreiheit ein Recht aller ist und nicht das privilegierter Oligarchen, die eine Druckerei erben und sie auf den Namen von Scheinfirmen auf den Cayman-Inseln anmelden“, schrieb Correa mit Verweis auf das Medienunternehmen El Universo in einem offenen Brief an den Obersten Gerichtshof. Von Angriffen auf die Pressefreiheit zu sprechen, ist nach dem Ausgang der Verfahren auf alle Fälle schwieriger geworden.

Fabeln im Kleinformat

Seine Erzählungen sind kurz, manchmal sogar äußerst kurz. Als eines der kürzesten Prosastücke in spanischer Sprache überhaupt gilt Der Dinosaurier aus dem Jahr 1959: „Als er erwachte, war der Dinosaurier noch immer da”. Augusto Monterroso ist ein Meister der Mikroerzählungen (microrelatos).
Mit dem Band Das Schwarze Schaf und andere Fabeln, der nun erstmals in Gänze in deutscher Übersetzung vorliegt, wird Monterrosos zweites Buch auch denen zugänglich gemacht, die der spanischen Sprache nicht mächtig sind. Das Original erschien 1969. Einige von Monterrosos Erzählungen veröffentlichte Reclam in Leipzig bereits 1977 unter dem Titel Der Frosch, der ein richtiger Frosch sein wollte auf Deutsch. Mit seinen Fabeln, auch wenn diese scheinbar einfach im Stil sind, gelingt es dem Autor, den Leser_innen durchaus tiefgehende Themen und Gedanken nahezubringen. Dies ist nicht auf den ersten Blick zu erkennen, bleibt die Botschaft durch die einfache, unernste, satirische, ja sogar heitere Form doch meist im Hintergrund.
Die ersten Erzählungen des Guatemalteken Augusto Monterroso, der 1921 in der honduranischen Hauptstadt Tegucigalpa geboren wurde, wurden ab 1941 in der Zeitschrift Acento und der Tageszeitung El imparcial veröffentlicht. In jener Zeit arbeitete er auch im Untergrund publizistisch gegen den guatemaltekischen Diktator Jorge Ubico. Dies führte zu seiner Verhaftung, weshalb er 1944 in der mexikanischen Botschaft um Asyl bat. Mexiko sollte sich für den anfänglichen Exilanten zu einer neuen Heimat entwickeln, in der er schließlich 2003 verstarb. Hier machte Monterroso mit Kurzgeschichten wie Das Konzert oder Die Sonnenfinsternis 1952 auch den Anfang seiner schriftstellerischen Karriere.
In seinen Werken erzählt der Autor über sich, über Politik, den Glauben, Moral und letztlich über Menschen, genauer: Menschen und ihr Verhalten – ohne jedoch seinen satirischen Ansatz aufzugeben. Um dieses Element aufrechtzuerhalten, bedient sich Monterroso verschiedener Charaktere: meist Tiere, bisweilen auch Dinge, gelegentlich selbst Menschen. Durch das Instrument der Vermenschlichung, Symbolik und Metaphern gelingt es dem Autor, sein Anliegen verdeckt zu halten. Zudem ist die Methode gut geeignet, die einzelnen Merkmale zum Ausdruck zu bringen und diese sogar lächerlich zu machen. Alles bleibt jedoch angemessen und präzise, denn es dient Monterroso nur als Werkzeug, um seine Botschaften zu übermitteln, die man als zeitlos bezeichnen könnte.
Fabeln wie Der Frosch, der ein authentischer Frosch sein wollte, in der ein Frosch schließlich ein nicht sehr authentisches Ende findet, oder Pferd, das sich Gott ausmalt , in der ein Pferd sich nicht vorstellen kann, ein Ebenbild Gottes zu sein, sind gute Beispiele für den „Ernst im Unernst“, wie García Márquez einmal Monterrosos Werk charakterisierte.
Nach einem Blick in die wilde Welt Monterrosos und seiner Figuren fällt es nicht schwer, zu glauben, dass all diese Charaktere Teil unseres Alltags sind. Tatsächlich gibt es unter den Menschen nicht wenige tyrannische Löwen, träumende Affen oder ausgesprochen prätentiöse Frösche.
Abgerundet wird der Band durch die Illustrationen von Henning Wagenbreth, meist sympathische anthropomorphe Tierwesen, die die Stimmung des Werks treffend widerspiegeln.

Augusto Monterroso // Das Schwarze Schaf und andere Fabeln // Insel Verlag // Berlin 2011 // 71 Seiten // 14,90 Euro

(K)ein Zuhause in der Fremde

Um der Haft zu entgehen, war Schillers Flucht zugleich Rettung, aber auch Abschied für eine ungewisse Zeit, wenn nicht für immer. Der Beginn der Erzählung fängt auf eindringliche Weise diese Stimmung ein. Als Mitglied der Roten Armee Fraktion (RAF) hatte sie bereits zwei Haftstrafen von insgesamt fast sieben Jahren hinter sich. Als 1985 eine dritte Inhaftierung droht, beschließt Schiller, die BRD und Europa über die DDR zu verlassen.
Sie erhält nach mehreren Wochen Warten politisches Asyl in Kuba und eine kleine finanzielle Unterstützung. Doch empfindet sie eine Fremdheit, zunächst noch wegen der fehlenden Sprachkenntnisse, später umso deutlicher aufgrund der eigenen vergangenen politischen Praxis und kulturellen Sozialisation. Das kubanische politische System ist vertikal durchstrukturiert, eine politische Betätigung außerhalb des vorgegebenen Rahmens nicht möglich. Arbeit erhält sie erst viel später.
Margrit Schiller beschreibt den Alltag und ihre Begegnungen mit verschiedenen Leuten und ihre Versuche, ein geregeltes Leben mit Arbeit und sozialem Umfeld zu schaffen. Anekdoten und aufmerksame Beobachtungen wechseln sich ab mit Exkursen über die politischen und historischen Ereignisse und aktuellen gesellschaftlichen Debatten. Dazwischen steht immer wieder die Reflexion über die eigene Biografie und gegenwärtige Selbstverortung, bei welcher der Freude über die Freiheit Selbstzweifel und Isolierung gegenüberstehen.
Schiller erfährt über die kubanischen Freund_innen und ihren späteren Ehemann Zusammenhalt und solidarische Unterstützung als wesentliches Merkmal der kubanischen Gesellschaft. Die Frauen sind hier das Fundament der sozialen und familiären Strukturen, doch gleichzeitig werden die Geschlechterrollen, die vorherrschenden Vorstellungen von Heterosexualität und der Machismo von kaum jemandem thematisiert und kritisiert. Mit ihren eigenen Ansichten und Überzeugungen eckt die Autorin immer wieder an. Angesichts der Weisung der Behörden, über ihr politisches Asyl und ihre Vergangenheit als RAF-Mitglied zu schweigen, wiegen die wiederkehrenden Gefühle von Fremdheit und Einsamkeit umso schwerer. Das schließt auch jegliche offene politisch-intellektuelle Tätigkeit aus. Sie muss ihre Vergangenheit verschließen, das Gute und Schlechte ihrer eigenen Geschichte vergessen, um vorangehen zu können.
Das Schweigen wird zur Last und schließlich zur Sprachlosigkeit. Die Sehnsucht nach Verständnis, die alltäglichen Aufgaben sowie die Sorge um ihre inzwischen geborenen Zwillinge erdrücken Schiller. Die Zerrissenheit zwischen der Dankbarkeit über das gewährte politische Asyl und der Traumatisierung der Flucht, in der die Auswirkungen der Haftjahre noch nachklingen, steht zwischen den Zeilen. Die wirkliche Bedeutung und Dimension von Haft und Exil erhält unter den gelebten Umständen durch die Umwelt keinen Raum. Nur Exilierte können einander begreifen.
Und so erhält Schiller erst viele Jahre später die Bestätigung durch eine andere ehemalige Gefangene aus Uruguay: „Wenn wir, die im Exil waren, uns treffen, sind wir bis heute erstaunt darüber, wie verschieden wir die Fremde erlebt haben im Vergleich zu Reisenden, die aus anderen Gründen im Ausland waren und sich frei bewegen konnten. Diese Empfindlichkeit, die das Exil bewirkt, die Verletzlichkeit, dieses Gefühl, dass das Innere bloß liegt und man sich einigeln muss, um sich zu schützen, macht einen grundlegenden Unterschied zu anderen Arten des Fremdseins aus. Ich kann es nicht besser erklären, aber man verliert die Basis der eigenen Stärke, wenn man gehen muss und nicht zurückkann.“
Als mit dem Fall der Mauer 1989 und dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 auch Kuba in eine wirtschaftliche und finanzielle Krise gerät und das weitere Bestehen des politischen Systems gefährdet ist, beginnt eine harte Zeit für die kubanische Bevölkerung. Die tägliche Sorge um das Allernötigste kann nur mithilfe persönlicher Beziehungen und informeller Geschäfte etwas erleichtert werden. Für Margrit Schiller bedeutet es plötzlich auch einen ungesicherten politischen Status, weil ihre Papiere nicht verlängert werden. Aus Sorge um ihre Zukunft und die ihrer Kinder entschließt sie sich, nach Uruguay zu gehen und verlässt 1993 Kuba mit ihrer Familie.
Ein neues Exil unter anderen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Vorzeichen. In Uruguay gibt es viele Menschen, die aufgrund der Militärdiktatur (1973-1985) Schillers Erfahrungen von Gefängnis und Exil teilen. Die deutsche Immigrantin sucht die Nähe und den Austausch vor allem mit den Frauen. Auch eine gesellschaftliche und politische Debatte scheint hier möglich. Doch Gefängnishaft, Folter und Exil werden lange tabuisiert. Die Zurückgebliebenen interessiert das Exil nicht, den Geflüchteten wird mit einem indirekten Vorwurf begegnet, sie hätten es im Ausland leichter gelebt und den Bezug zu den Hinterbliebenen verloren. Erst allmählich beginnt ein Austausch und eine Auseinandersetzung über das Trauma der Haft und des Exils. Auf der anderen Seite formiert sich eine öffentliche Bewegung der Angehörigen der Verschwundenen. Wieder sind es die Frauen, die den ersten Schritt tun.
Schillers Erinnerungen sind sehr persönlich. Dieser Intimität stehen die historischen und politischen Einschübe gegenüber. Auch die politischen Debatten auf Kuba oder die Repression gegen die Bevölkerung während der Militärdiktatur in Uruguay. Bisweilen hätten diese kurzen Exkurse länger und abgerundeter sein können. Zusammen jedoch ermöglichen sie ein komplexes Bild der sozialen und politischen Umstände, unter denen Schiller gelebt hat.
Am Ende steht das letzte und nicht minder schwierige Thema – die Rückkehr. Ist sie überhaupt möglich? Können alte Beziehungen wieder geknüpft werden und neue entstehen? Und vor allem: Enden nun endlich Fremdheit und Sprachlosigkeit?
Margrit Schiller ist vor acht Jahren den Weg in ein verändertes Deutschland zurückgegangen. Sie hat ihrer Vergangenheit nicht abgeschworen und hat fast zwei Jahrzehnte Exil mit sich gebracht. Das Schreiben hat ihr das Sprechen erhalten. Noch in Kuba begann sie mit den ersten Aufzeichnungen, die mehrere Jahre später in ihrem ersten Buch Es war ein harter Kampf um meine Erinnerung. Ein Lebensbericht aus der RAF von 1999 veröffentlicht wurden. Schillers neues Buch schließt an diese Erinnerungen an. Sie endet mit den Worten einer Freundin zu einer der wesentlichen Erfahrung ihrer Geschichte: „Exil hört nie auf.“

Margrit Schiller // So siehst du gar nicht aus! Eine autobiografische Erzählung über Exil in Kuba und Uruguay. Mit einem Vorwort von John Holloway // Assoziation A // Berlin Hamburg 2011 // 172 Seiten // 16 Euro

Imagemaschine

nd bringende Lokomotiven hat sich Präsident Juan Manuel Santos für Kolumbien ausgedacht: Infrastruktur, Landwirtschaft, Wohnraum, Bergbau und Innovation. Der Staat ist die Maschine, die die Lokomotiven koordiniert. Dieses Bild nutzt der Präsident seit seiner Amtsübernahme im August immer wieder – in einem Land, in dem es seit Jahrzehnten keinen Eisenbahnverkehr mehr gibt. Es ist ein sehr aktiver Staat, der da Infrastrukturinvestitionen und formelle Arbeitsverhältnisse verspricht: „In jedem kolumbianischen Haushalt soll wenigstens eine Person einen richtigen Arbeitsvertrag haben. Wir wollen bis 2014 zweieinhalb Millionen neue Arbeitsplätze schaffen“.
Die Zustimmung der Bevölkerung zum Regierungskurs liegt in offiziellen Umfragen denn auch bei um die 80 Prozent. Santos hat es geschafft, das gesamte bürgerliche Lager um sich zu scharen. Er kommt aus der traditionellen politischen Elite Bogotás, anders als sein Vorgänger Álvaro Uribe, dem engere Verbindungen zu regionalen Caudillos und zum Drogenhandel nachgesagt werden.
Vom Image des wütenden Uribe, der auf TerroristInnen schimpft, wenn er kritische JournalistInnen meint, hat Santos den Schwenk zu versöhnlichen Gesten vollzogen. Nicht umsonst ist er im familieneigenen Medienimperium El Tiempo groß geworden. Und er weiß dieses Image international zu festigen: freundliche Treffen mit Hugo Chávez, Investitionssicherheit für die EU. Die „Nationale Einheit“ scheint ein Erfolg. Santos lädt ein, sich hinter seiner Politik zu versammeln. „Die Lösung von Problemen wie der Arbeitslosigkeit, Sicherheit und Armut kann ja keine politische Farbe haben. In wichtigen Projekten haben uns zum Beispiel die Grünen geholfen“, sagte Santos im Interview mit der Zeitung seiner Familie, El Tiempo. Die Grünen hatten mit Antanas Mockus noch im Mai den Gegenkandidaten für die Präsidentschaftswahl gestellt. Eine parlamentarische Opposition steht dem Bündnis von Santos‘ Partido de la U kaum entgegen: Aus dem in sich tief gespaltenen Linksbündnis PDA nähern sich viele der Berufspolitiker dem Projekt der „Nationalen Einheit“ von Santos an.
Dabei gibt es durchaus Dinge, die der Regierung zu schaffen machen. Die winterlichen Überschwemmungen, die dieses Jahr bereits über 195 Tote gefordert und über 1000 zerstörte Häuser zur Folge haben, zwangen Santos dazu, internationale Hilfe anzufordern.
Die Beseitigung des enormen Haushaltsdefizits erklärte der Präsident zur Hauptaufgabe. Im Senat wird ein Gesetz diskutiert, das „das Recht auf Ausgeglichenheit im Staatshaushalt“ in der Verfassung festschreiben soll: Damit könnten alle anderen Vorhaben davon abhängig gemacht werden, ob dann mit Schulden zu rechnen wäre oder nicht. Einmal mehr würde Kolumbien zum Musterschüler des Internationalen Währungsfonds. Sparen will die Regierung zum Beispiel dadurch, dass die Gewinnabgaben aus Bergbau und Ölförderung direkt an den Zentralstaat und nicht mehr an die Regionen gehen sollen. Gespart wird natürlich auch im sozialen Bereich: Die Gesundheitspolitik etwa führt weiter, was im vergangenen Januar schon einmal für massiven Protest gesorgt hatte: Ärmere Patienten haben kaum Chancen, Subventionen aus dem staatlichen Gesundheitsfonds zu bekommen. Eine Behandlung ermöglichen sich die Patienten durch private Zuzahlungen. Ein weiteres Problem für die Regierung ist die Währungsinstabilität: Die kolumbianische Zentralbank kauft einmal mehr täglich 20 Millionen an Dollarreserven auf, damit der Peso im Verhältnis zum schwachen Dollar nicht zu stark und die kolumbianischen Exporte nicht zu teuer werden – von denen ist das Land nun mal abhängig.
Am Wirtschaftsmodell, das sich mitten im Bergbauboom am Export von Kohle, Gold, Öl und anderen Primärgütern orientiert, hat sich nichts geändert. Neuen Raum nimmt aber die Modernisierung der Landwirtschaft ein, wie Agrarminister Juan Camilo Restrepo im August präsentierte: Der Zugang zu Agrarland soll verbessert, die Nutzung verändert, flächendeckend Landtitel vergeben werden, ein Programm zur Rückgabe von Land an Vertriebene aufgelegt und Landtitel auf illegal erworbenes Land entzogen werden. Die Steuern auf Grundbesitz sollen modernisiert werden.
Dass die Regierung die Rückgabe von Land an interne Flüchtlinge verkündet hat, hatte in Bogotá für große Aufmerksamkeit gesorgt. Zunächst gab es zwei Gesetzesprojekte: Eines zur Rückgabe von Land an einen Teil der über vier Millionen von ihrem Flecken Land Vertriebenen. Zwei Millionen Hektar wolle man in den kommenden vier Jahren für Opfer von Vertreibungen verfügbar machen. Außerdem wolle die Regierung „bald“ eine Gesetzesinitiative zur Agrarreform präsentieren, die in Kolumbien seit über 100 Jahren immer wieder gefordert und nie umgesetzt wurde.
Symbolisch ist der Schwenk der Regierung wichtig: Endlich gibt es eine Anerkennung der Vertriebenen. Doch eine Initiative der Regierung ist das Vorhaben keineswegs: Das Verfassungsgericht fordert eine Regelung schon seit Jahren. Die strukturellen Probleme, die die Vertreibung erst möglich machten, würden nicht einbezogen – so jedenfalls die Kritik der Opferorganisationen. Inzwischen seien die beiden Gesetzesvorhaben zusammengeschrumpft auf Initiativen zur Wiedergutmachung. Das Projekt sei sehr begrenzt und habe mit einer Agrarreform nichts zu tun. Was passiere, wenn nun tatsächlich jemand in seine alte Heimat zurückkehre? Es gebe keinerlei Garantien, dass die Vertriebenen nicht erneut mit Verfolgung rechnen müssen. Woher das Geld für die Landverteilung kommen solle, sei unklar. Wie eine kollektive Wiedergutmachung für indigene oder afrokolumbianische Gemeinden aussehen soll, die besonders von Vertreibungen betroffen sind, ist kein Thema. Währenddessen ist die erste Lesung des Gesetzes im Repräsentantenhaus erfolgreich verlaufen, mehrere Lesungen im Senat stehen noch an. Nach anfänglicher Kritik schloss sich das Linksbündnis Alternativer Demokratischer Pol (PDA) dem Vorhaben an. Konflikte mit Teilen der Ultrarechten sind dennoch möglich: Schon, dass im Gesetzesentwurf Opfer von Verbrechen von Staatsbediensteten ebenfalls als Opfer anerkannt werden, verleitete Ex-Präsident Uribe zur Aussage, das würde die Truppen demoralisieren.
Im Grunde solle das Gesetz den Landbesitz in Kolumbien „in Ordnung bringen“, dieser Meinung ist der Politikwissenschaftler Carlos Gutiérrez. Er befürchtet sogar, eine weitere Landkonzentration könnte die Folge des Gesetzes sein. Besitztitel für privaten Landbesitz werden festgeschrieben, wo dies bisher nicht der Fall war, und damit der Zugang zu Krediten erleichtert. Ein Teil der Vertriebenen wird entschädigt und die Agrargrenze möglicherweise noch ausgeweitet. Erreicht wird eine Inwertsetzung von Parzellen, die zuvor in Subsistenzwirtschaft betrieben wurden.
Das Versprechen der Regierung ist folgendes: „Wir wollen, dass jeder Bauer sich in einen wohlhabenden Juan Valdéz verwandelt: Einen produktiven Unternehmer, der im Berufsverband organisiert ist, mit der Berufung zum Export, der mit technologischer Hilfe erster Güte rechnen kann“, so Santos bei einer Rede im Departamento Bolívar im Oktober. „Juan Valdéz“ ist die kolumbianische Modellfigur des glücklichen Kaffeebauern. Allerdings stellt sich die Regierung vor, export-orientierte Kleinbetriebe in Kooperativen zusammenzuschließen, die von größeren Unternehmen Technologie zur Verfügung gestellt bekommen – unabhängige Landwirtschaft sieht anders aus.
Santos versucht zudem, die Wogen zwischen Exekutive und den Obersten Gerichten wieder zu glätten. Anfang Dezember konnten sich Regierung und Judikative endlich auf die neue Generalstaatsanwältin Vivianne Morales einigen. Der Posten war wegen permanenter Konflikte zwischen Ex-Präsident Uribe und den rechtsprechenden Organen 16 Monate vakant gewesen. Uribe schien zeitweise so etwas wie einen persönlichen Feldzug gegen den Obersten Gerichtshof zu führen. Die „Versöhnung“ mit der Judikative könnte nun allerdings bedeuten, dass einige der PolitikerInnen, die mit dem Paramilitarismus zu tun hatten, mit juristischem Nachspiel zu rechnen haben, da sie das Image einer rechtsstaatlichen Nachkriegsgesellschaft doch gewaltig stören. Da ist plötzlich von Korruption im Transportministerium und im Kolumbianischen Institut für Ländliche Entwicklung (INCODER) die Rede. Letzteres hatte Vertriebenen ihre Landtitel abgesprochen, da sie es ja nicht mehr bewirtschafteten.
Einige aus der Regierung von Álvaro Uribe bekommen es deshalb mit der Angst zu tun. María del Pilar Hurtado beantragte in Panama politisches Asyl – sie sei in Kolumbien „nicht mehr sicher“. Die ehemalige Geheimdienstchefin und der Leiter des Präsidentenamtes Bernardo Moreno sollten wegen des Ausspionierens von Oppositionellen vor Gericht gestellt werden. Dass die Regierung Panamas ihr am 19. November tatsächlich Asyl gewährte, sorgte für Aufsehen und Protestdemonstrationen in beiden Ländern. Immerhin hatte del Pilar Hurtado einem staatlichen Apparat angehört, der über Jahre systematisch mit kriminellen Methoden regierungskritische Organisationen, AnwältInnen und JournalistInnen verfolgte und bis zu den kleinsten häuslichen Details dokumentierte (siehe LN 431). Der kolumbianische Innen- und Justizminister Germán Vargas Lleras beeilte sich zu betonen, dass es sich in Kolumbien um faire Verfahren handele. „Es stimmt nicht, dass der kolumbianische Staat seine Bürger nicht schützen könne. Wir haben hier eine Demokratie, und die drei Gewalten arbeiten harmonisch zusammen“, sagte Präsident Santos. Weiteren „Asyl“-Anträgen wurde daraufhin nicht stattgegeben.
Einerseits sollen wohl tatsächlich staatliche Institutionen wieder in rechtsstaatlichere Bahnen gelenkt werden. Andererseits, so der Politikwissenschaftler Héctor Moncayo in einem Radiointerview, eröffnet sich über diesen juristischen Weg die Möglichkeit, die Verantwortung für staatliche Verbrechen Einzelnen zuzuschreiben: Eigentlich seien staatliche Institutionen Opfer einer Infiltrierung von der Mafia, das habe rein gar nichts mit staatlicher Politik zu tun – private Gruppen seien schuld an Menschenrechtsverbrechen und alles sei zudem hinter Ex-Präsident Uribes´ Rücken geschehen. So blieben Verfahren gegen Einzelne, aber im Großen und Ganzen eine flächendeckende Straflosigkeit der Verantwortlichen die Norm.
Bei all dem ist es fast verwunderlich, wie Santos sein Image im Griff hat, war er doch eine zentrale Figur im Kabinett der letzten Jahre. Als Verteidigungsminister war er verantwortlich etwa für das Bombardement eines Guerilla-Camps auf ecuadorianischem Boden 2008. Während seiner Amtszeit wurde ein System von Boni für SoldatInnen eingeführt, die getötete Gueriller@s präsentierten. Tausende ZivilistInnen wurden daraufhin von Militärs ermordet und als „im Kampf gefallen“ erfasst. Der Trick heißt Rhetorik: Bei allen genannten Vorhaben (Rückgabe von Land, juristisches Haftbarmachen von TäterInnen) wird aus einer Nachkriegsperspektive gesprochen.
Bereits unter Uribe sei erreicht worden, was man wollte: jegliche Versuche einer Friedenspolitik zu delegitimieren, so Moncayo. Denn die sei ja Komplizenschaft mit dem „Terrorismus“. Jetzt wird das Bild verbreitet, der „Terrorismus“ sei so gut wie besiegt, „als wären wir in einer neuen Welt der Versöhnung angelangt“.
In der kolumbianischen Realität herrscht aber weiterhin Krieg: Ende September verbuchte die Regierung einen großen Erfolg, als der FARC-Kämpfer Mono Jojoy getötet wurde. Der so genannte „Konsolidierungsplan“ soll nun – sozusagen als sechste Lokomotive – mit der „integralen Präsenz des Staates“ in etwa Hundert Gemeinden in den Departamentos Meta im Südosten und Sucre und Córdoba im Nordwesten des Landes für Ordnung sorgen, wo die Guerilla zurückgedrängt wurde. „Integrale Präsenz“ bedeutet in diesem Fall Patrouillen von Militärs im städtischen Bereich und soziale Kontrolle auf allen Ebenen: eine neue Phase der „Aufstandsbekämpfung“. Es ist schiere Illusion zu denken, Übergriffe der kolumbianischen Armee auf ZivilistInnen passierten jetzt höchstens noch vereinzelt. Gleichzeitig findet eine Reform der Strafgesetzgebung statt. Eine neue Straftat soll eingeführt werden: Apología al terrorismo heißt soviel wie Rechtfertigung des Terrorismus. Dass eine solche juristische Figur zur Kriminalisierung von KritikerInnen der Regierung beiträgt, liegt auf der Hand. Mit einer ähnlichen Argumentation war schon die liberale Abgeordnete Piedad Córdoba, durch deren Vermittlung in den letzten Jahren mehrere von der FARC Entführte nach Hause zurückkehren konnten, im September ihres parlamentarischen Mandats enthoben worden. Veränderungen sind auch im Strafverfahrensrecht und Polizeirecht geplant.
Die Regierung Santos bedeutet keineswegs die große Erneuerung des Landes. Es ist vielmehr erklärte Regierungspolitik, die Arbeit der Vorgängerregierung weiterzuführen. Aus Deutschland kann sie dabei mit umfassender Unterstützung rechnen: Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP), der im November nach Kolumbien reiste, sagte dort, einem Land wie Kolumbien gebühre Solidarität. „Der internationale Terrorismus ist eine Bedrohung für alle. In diesem Zusammenhang wird Deutschland seinen Beitrag leisten.“

Göttliche Gerechtigkeit oder Entschädigungsgesetz?

Während zwei Dutzend JournalistInnen vor dem Eingang des Privatfriedhofs Parque del Recuerdo Cordillera in Santiago vergeblich versuchten, von der mit Wachpersonal abgeschirmten Beerdigungszeremonie Aufnahmen zu machen, nutzte Rogelio Benavides die Gunst der Stunde: Der Generalsekretär der Nationalsozialistischen Partei Chiles stieg mit einer Hakenkreuzbinde am Arm aus seinem Auto und hielt vor der Presse eine längere Lobesrede auf Paul Schäfer. „Paul Schäfer hat viel Gutes getan. Vorwürfe wegen Kindesmissbrauch sind heutzutage doch einfach vorzubringen, da reicht die Aussage eines Kindes und in 80 Prozent der Fälle wird der Beschuldigte verurteilt“. Den skurrilen Auftritt des Neonazis kommentierte ein Pressevertreter: „Ist dies das letzte Theaterstück Schäfers?“
Auf dem Friedhof waren nur Wenige: Seine Adoptivtochter Rebeca Schäfer, Peter Schmidt und Mathias Gerlach, die Schäfer acht Jahre lang in Argentinien versteckten und dafür zu Bewährungsstrafen verurteilt wurden. Auch Luis Sotomayor, Schäfers langjähriger Anwalt, kam mit seiner Frau.
Dem Begräbnis vorausgegangen war eine Debatte unter den BewohnerInnen des ehemaligen Geländes der Colonia Dignidad, das heute Villa Baviera heißt, ob Paul Schäfer auf dem siedlungseigenen Friedhof begraben werden solle. An dieser nahmen auch jene BewohnerInnen teil, die in den dutzenden noch offenen Prozessen gegen die ehemalige Führung der Kolonie auf der Anklagebank sitzen.
„Wir werden nicht mit Paul Schäfer sterben, wir werden ihn nicht in der Villa Baviera beerdigen“ sagte Martin Matthussen auf einer Pressekonferenz nach der Sitzung. Er ist der Sohn des verstorbenen ehemaligen Führungsmitglieds Alfred Matthussen und leitet heute die Lebensmittelsparte PRODAL. Das Unternehmen ist Teil des so genannten ABC- Aktienholdings, das gegründet wurde um die von Präsident Aylwin 1991 erlassene Auflösung der Rechtspersönlichkeit Colonia Dignidad zu umgehen. Die Kolonie ist jedoch nicht nur in der Lebensmittelsparte aktiv: Eine Steinbruchanlage und ein Tourismusangebot mit Restaurants und Hotels sind weitere Bestandteile der Gesellschaften, deren Eigentum zu ungleichen Teilen auf verschiedene SiedlerInnen verteilt wurde. Einige BewohnerInnen verfügen über größere Aktienanteile, andere wiederum gingen ganz leer aus.
Etwa 150 Personen leben heute noch in Villa Baviera. Sie waren TäterInnen oder Opfer im kriminellen Sektensystem Colonia Dignidad, manchmal auch beides zugleich. Viele sind RentnerInnen, die von der Gemeinschaft mitgetragen werden. Denn über 40 Jahre wurden in der Kolonie für härteste Arbeit keine Löhne gezahlt und so auch keine Rentenansprüche erworben.
Unterstützt wird Villa Baviera seit einigen Jahren durch ein Programm des Auswärtigen Amtes, das auf Basis eines Bundestagsbeschlusses der Deutschen Botschaft in Santiago 250.000 Euro pro Jahr für „Eingliederungsmaßnahmen (soziale und wirtschaftliche Einbindung) in die chilenische Gesellschaft“ zur Verfügung stellt: Die Gesellschaft für Technische Zuisammenarbeit (GTZ) schult Führungskräfte der Unternehmen und bietet Fortbildungen an, ein Therapeutenteam leistet Konflikt- und Traumabewältigung und über das deutsche Lehrerbildungsinstitut Santiago werden die LehrerInnen der Siedlungsschule pädagogisch beraten. Zudem versucht ein Pfarrer der Evangelischen Kirche Deutschlands durch ein seelsorgerisches Angebot dem freikirchlichen Sektenprediger Ewald Frank von der Freien Volksmission Krefeld entgegenzuwirken. Frank war kurz nach der Festnahme Schäfers in die Villa Baviera gereist, um eine Massentaufe durchzuführen und neuer spiritueller Anführer der Gemeinschaft zu werden. Während die in der Villa Baviera gebliebenen BewohnerInnen die Firmen und Ländereien der ehemaligen Colonia Dignidad bewirtschaften, die durch unbezahlte Arbeit der SiedlerInnen und kriminelle Geschäfte der Sekte angehäuft wurden, stehen viele Opfer der Sekte mit leeren Händen da. Dutzende jüngerer Leute haben Villa Baviera in den letzten Jahren verlassen, viele weil sie es nicht mehr aushielten mit ihren ehemaligen Folterern zusammenzuleben. Diese Menschen sind nun ohne staatliche Unterstützung auf sich selbst angewiesen. Entschädigungsklagen vor chilenischen Gerichten liefen bislang ins Leere. „Der Tod Paul Schäfers verhindert eine weitere Strafverfolgung, da es auf dieser Welt keine Strafverfolgung Toter gibt. Jedoch wissen wir alle, dass es eine Gerechtigkeit gibt, die nie endet: die göttliche Gerechtigkeit“, erklärte der chilenische Präsident Sebastian Piñera, als er auf den Tod Schäfers angesprochen wurde.
Mehrere dutzend Verfahren werden noch heute vor chilenischen Gerichten gegen Mitglieder der Sektenführung verhandelt. Die meisten Prozesse werden von Sonderrichter Jorge Zepeda geführt. Die Anklagen lauten unter anderem auf Entführung, Folter und Verschwindenlassen chilenischer Diktatur-GegnerInnen, Vergewaltigung und Missbrauch von Kindern, Zwangsarbeit, „missbräuchliche Behandlung mit Elektroschocks und Psychopharmaka“, Betrug sowie Bildung einer kriminellen Vereinigung. Oftmals gibt es bereits erstinstanzliche Urteile, deren Vollstreckung jedoch bis zur letztinstanzlichen Rechtsprechung ausgesetzt wird. Viele der Prozesse ziehen sich bereits seite mehr als zehn Jahren in die Länge. Der Tod Schäfers bedeutet die endgültige Einstellung derjenigen Gerichtsprozesse, in denen Schäfer der einzige Angeklagte ist. Dies ist jedoch nur in den wenigsten der Verfahren der Fall. Im Mai begann in Talca der Berufungsprozess wegen Vergewaltigung und Missbrauch von Kindern, 14 Jahre nach dem Einreichen der Strafanzeigen. In erster Instanz wurde Paul Schäfer in diesem Prozess zu 20 Jahren Haft verurteilt, 22 seiner Komplizen aus der Sektenführung wurden wegen Beihilfe zu Strafen bis zu fünf Jahren Haft verurteilt. Sollten diese Strafen vom Berufungsgericht bestätigt werden, müsste ein Großteil der ehemaligen Führungsriege der Siedlung ins Gefängnis. Jedoch haben, wie schon immer in der 50-jährigen Geschichte der Sekte, die Angeklagten ein üppig besetztes Rechtsanwaltsteam engagiert, das den Prozess durch verschiedenste Rechtsmittel in die Länge zieht. Acht Anwälte vertreten derzeit die Angeklagten – die Klägerseite wird lediglich durch den Rechtsanwalt Hernán Fernández vertreten, der von einem Anwalt des Staatsverteidigungsrates (CDE) und einer Anwältin der staatlichen Kinderschutz-Behörde (SENAME) unterstützt wird.
In Deutschland ermittelt die Staatsanwaltschaft Bonn auch heute noch gegen mehrere Mitglieder der Sektenführung, ohne dass es zu Gerichtsverfahren gekommen wäre. Viele der Sekte vorgeworfenen Taten sind bereits verjährt, laut Staatsanwaltschaft bestehen aus strafrechtlicher Sicht keine Anhaltspunkte für begangene Straftaten, viele der Vorwürfe seien nicht mit gerichtsverwertbaren Beweisen belegt. In den letzten drei Jahrzehnten haben die deutsche und chilenische Justiz eine Vielzahl von Rechtshilfeersuchen ausgetauscht, ohne dass dies die Strafverfolgung der Sektenführung befördert hätte. Gleichzeitig haben in den letzten Jahren mehrere in Chile angeklagte ehemalige Führungsmitglieder das langsame Mahlen der Justiz dafür genutzt, sich trotz chilenischer und internationaler Haftbefehle nach Deutschland abzusetzen. Denn Deutschland liefert keine deutschen Staatsbürger ins Ausland aus. Lilli Nill, Ernst Schreiber, Hans Riesland und Reinhard Döring werden von der chilenischen Justiz gesucht und leben seit einigen Jahren unbehelligt in Deutschland. Uwe Cöllen und Edith Malessa sind bereits zu Haftstrafen wegen Verschleierung des Kindesmissbrauchs von Paul Schäfer verurteilt und haben sich ebenfalls nach Deutschland abgesetzt. Das hohe Führungsmitglied der Sekte Albert Schreiber verstarb 2008 in Krefeld. Anwalt Hernán Fernández empfindet das als einen Skandal. Piñeras Ruf nach göttlicher Gerechtigkeit hält er entgegen: „Es ist Zeit für eine umfangreiche Aufarbeitung in Form eines Entschädigungsgesetzes für die Opfer und einem Schuldeingeständnis der Staaten Chile und Deutschland, die jahrzehntelang zugesehen haben wie auf dem Koloniegelände Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt wurden.“

Kasten:
Der Fall Paul Schäfer
Paul Schäfer, der Gründer und jahrzehntelange Chef der deutschen Siedlung Colonia Dignidad in Chile, wurde am 4. Dezember 1921 in Troisdorf bei Köln geboren. Als Kind verlor er ein Auge, weswegen er im zweiten Weltkrieg nicht Soldat, sondern Sanitäter in Frankreich wurde. Er gehörte nie der SS an, wie jahrzehntelang von der Presse behauptet wurde. Paul Schäfer war ein genialer Manipulator, der es verstand, seine Identität nach Belieben zu retouchieren.
Ab 1948 war er Jugendpfleger, Erzieher oder Heimleiter, wurde aber stets wegen seiner sexuellen Übergriffe auf Minderjährige entlassen. 1954 spaltete sich Schäfer mit einigen Anhängern vom Bund evangelisch-freikirchlicher Gemeinden ab und gründet die Sekte Private Soziale Mission.
1960 ermittelte die Staatsanwaltschaft gegen ihn wegen Kindesmissbrauchs. Er floh daraufhin 1961 mit etwa 200 AnhängerInnen, darunter vielen Kindern aus getrennten Ehen, nach Chile. Die Gruppe kaufte ein abgelegenes Stück Land, das als Colonia Dignidad bekannt wurde. Das Gut war nach außen abgeschlossen. Erzwungene Beichten, körperliche Strafen und zwangsweise verabreichte Medikamente erzeugten einen großen Innendruck. Schäfer war der unumschränkte Herrscher über dieses kleine Reich. Seine Privatsekte war 50 Jahre lang intakt und besteht in Bruchstücken heute weiter.
Schäfer missbrauchte täglich kleine Jungen, verbot jedoch sexuelle Kontakte zwischen den übrigen BewohnerInnen. Selbst Ehepaare mussten getrennt leben. Immer wieder versuchten SiedlerInnen zu fliehen, wurden aber wieder zurückgebracht und mit Prügeln und monatelanger Zwangsmedikamentierung bestraft. 1966 löste die Sekte den ersten großen Skandal aus, als dem Jugendlichen Wolfgang Müller die Flucht gelang und er über Misshandlungen berichtete.
Als der Sozialist Salvador Allende 1970 zum chilenischen Präsidenten gewählt wurde, fürchteten die stark antikommunistischen deutschen SiedlerInnen eine Enteignung. Militante RechtsextremistInnen bereiteten Allendes Sturz vor und gründen die Bewegung Patria y Libertad, die sich der Infrastruktur der Colonia Dignidad bediente. Auf diese Weise bekam die Sekte einen rechtsextremen Einschlag und fand Verbindungen zu nach Chile geflohenen deutschen HitleranhängerInnen.
Mit dem Putsch des chilenischen Militärs am 11. September 1973 wurde Schäfers Sekte zur politischen Verbrecherorganisation und zu einem Teil des chilenischen Militärstaates. Schäfer konnte sich auf Pinochet verlassen und dieser sich auf Schäfer.
1974 besuchte Pinochet die Siedlung. Die Colonia Dignidad kaufte Land hinzu, baute ihre Wirtschaftsunternehmen aus und integrierte sich in den Militärstaat.
Die Beziehungen zur deutschen Botschaft in Santiago waren während der härtesten Repressionsjahre gut. Der BND nutzte die Colonia Dignidad, um chilenische RegimegegnerInnen auszuspionieren, die in die deutsche Botschaft geflüchtet waren und um Asyl in Deutschland ersuchen wollten.
Ab Ende 1973 nutzte der chilenische Geheimdienst DINA die Colonia Dignidad als Folterschule und geheimen Haftort. Viele Gefangene verschwanden dort. Chilenische Militäreinheiten operierten von der Siedlung aus gegen angebliche Gueriller@s, die tatsächlich aber wehrlose Gefangene waren, die ermordet wurden.
Im März 1977 berichtete Amnesty International über das Folterlager in der Siedlung. Die deutsche Botschaft in Santiago reagierte auf den Bericht dadurch, dass Botschafter Strätling die Siedlung besuchte, sich von Schäfer herumführen ließ und sie dann von den Vorwürfen freisprach. Die Colonia Dignidad klagte gegen Amnesty und löste den längsten Zivilprozess in der Geschichte der Bundesrepublik aus. Amnesty gewann erst 1997.
1990 feierte die Colonia Dignidad mit einem Festakt ihr dreißigjähriges Bestehen. In diesem Jahr endete Pinochets Herrschaft; Schäfer aber herrschte noch weitere acht Jahre über seine Sekte. Zwar erkannte im Februar 1991 die chilenische Regierung der Sekte die juristische Person ab, faktisch aber blieb sie bestehen.
Schäfers Stellung wurde erst gefährdet, als ihn 1996 mehrere chilenische Eltern wegen sexuellen Missbrauchs ihrer Kinder verklagten. Die chilenische Justiz stellte einen Haftbefehl gegen Schäfer aus. Dieser verbarg sich erst in der Siedlung und baute dann ein Netz von Fluchtorten in- und außerhalb Chiles auf.
Erst 2005 konnte Schäfer in seinem argentinischen Versteck verhaftet werden, sieben Jahre nach der Verhaftung Pinochets in London. Seine AnhängerInnen hatten ihm Schweigen gelobt. Vielleicht reden sie nun. In der Siedlung gibt es unentdeckte Massengräber von chilenischen politischen Gefangenen. Das ins Ausland verschobene Schwarzgeld, das viele Millionen umfasst, könnte für die Entschädigung der Opfer verwendet werden.
// Dieter Maier und Jan Stehle

Spannungen an der Grenze

Die aktuellen Auseinandersetzungen begannen während eines Fußballspiels. Am 11. Oktober wurde eine Gruppe von kolumbianischen Straßenhändlern entführt, die sich zu einem Fußballturnier auf der venezolanischen Seite der Grenze getroffen hatte. Während das Amateur-Derby lief, fuhren Kleintransporter auf den Platz und 25 Bewaffnete in schwarzen Uniformen umstellten die Spieler. Mit Namenslisten wurden zwölf Männer, darunter acht Kolumbianer, ausgesondert, auf die Autos geladen und mitgenommen. Die Entführung machte zu diesem Zeitpunkt nur in den lokalen Medien Schlagzeilen. Erst als die Entführten zwei Wochen später in der venezolanischen Ortschaft Chururú erschossen aufgefunden wurden, beachtete auch die internationale Presse den Fall. Am schnellsten äußerte sich der kolumbianische Präsident Álvaro Uribe. Er behauptete, die Mörder seien Mitglieder der kolumbianischen Guerilla Heer der Nationalen Befreiung (ELN) und Venezuela biete den Aufständischen Unterschlupf. Ihm sekundierte der Gouverneur Tachiras, César Pérez Vivas. Der Oppositionspolitiker der christlich-sozialen Partei COPEI hatte vor wenigen Wochen Schlagzeilen gemacht, als er behauptete, der venezolanische Innenminister sei ein Kommandant der ELN.
Inzwischen steht Pérez Vivas selber im Mittelpunkt der Ermittlungen. Der Gouverneur hat in seinem Bundesstaat ein Gesetz erlassen, dass paramilitärische Sicherheitsinitiativen legalisiert und soll sich laut Informationen der Bundesregierung in Kolumbien mit Vertretern der dortigen Paramilitärs getroffen haben. „Wir werden nicht zulassen, dass Pérez Vivas die Souveränität des venezolanischen Staates untergräbt“, hatte Vizepräsident Ramón Carrizales schon im September angekündigt. Auch Iris Varela, in Sicherheitsfragen stets gut informierte Parlamentarierin der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (Psuv), beschuldigt den Gouverneur, die Paramilitärs zu unterstützen. Es würden Foto- und Tonaufnahmen existieren, die Funktionäre der Landesregierung Tachira zusammen mit Paramilitärs zeigen. „César Pérez Vivas ist dabei, informelle Sicherheitsstrukturen aufzubauen und den Privatunternehmen zur Verfügung zu stellen.“ Dabei würde die Regionalregierung auf die selben kolumbianischen Paramilitärs zurückgreifen, die in der Region zu sozialen Säuberungen aufgerufen hätten.
Varela bezog sich dabei auf die Flugblätter, die Paramilitärs unmittelbar nach dem Mord an den Straßenhändlern verteilt hatten. Darin drohten sie Menschen, die „mit den Streitkräften kollaborieren“, mit „sozialen Säuberungen“ – ein Begriff, der in Kolumbien für die Ermordung sozial unerwünschter Personen verwendet wird. Außerdem forderten die anonymen VerfasserInnen die LadenbesitzerInnen, Unternehmen und Schulen in der Region auf, am 30. Oktober zu schließen. Wer der Forderung nicht nachkomme, müsse die Konsequenzen tragen. Die Drohung wirkte: Etwa tausend und damit rund 90 Prozent der Läden blieben nach Schätzungen lokaler Medien in den Orten an der Grenze zu Kolumbien geschlossen. Laut der örtlichen Nationalgarde ist dies ein einmaliger Vorgang. Zwar habe es in den letzten Monaten immer wieder Drohungen gegeben, aber niemals hätten sie eine solche Wirkung gehabt. Das Militär verstärkte am Wochenende die Präsenz in drei der betroffenen Gemeinden und verhaftete acht Kolumbianer sowie zwei Venezolaner. Unter den Verhafteten befindet sich ein bekannter Führer der Paramilitärs.
Bereits zwei Tage später kam es zum nächsten Zwischenfall: In der Gemeinde Pedro María Ureña schossen unbekannte Motorradfahrer auf einen Kontrollpunkt der Nationalgarde. Die Kugeln trafen zwei der Gardisten in den Rücken. Sie starben an den Verletzungen. Der für die Region zuständige Brigadegeneral, Franklin Márquez, bezeichnete die Täter als Angehörige von „irregulären Gruppen, die Angst und Unsicherheit in der Region verbreiten wollen“ – ein deutlicher Hinweis, dass er damit Paramilitärs meinte. Dieser Überfall brachte das Fass endgültig zum Überlaufen. Präsident Hugo Chávez forderte César Pérez Vivas auf, die Konsequenzen seines Handelns zu bedenken und riet dem Oppositionspolitiker, sich um ein Asyl in Peru zu kümmern. Dort sind mehrere venezolanische Oppositionspolitiker untergetaucht, gegen die in Venezuela Strafverfahren laufen.
Die Vorgänge weisen darauf hin, dass sich irreguläre rechte Milizen an der Grenze zu Kolumbien so fest etabliert haben, dass sie die sozialistische Regierung in Caracas offen herausfordern können. Damit rückt das Problem des Paramilitarismus nun ins Zentrum der venezolanischen Politik. Untrennbar verbunden ist der Konflikt mit dem Nachbarland Kolumbien. Die venezolanischen Behörden sprechen zwar von „irregulären Kräften“, „Bandenkriminalität“ oder „Paramilitärs“, gemeint sind aber die Nachfolgeorganisationen der Vereinigten Selbstverteidigungskräfte Kolumbiens (AUC), die dort nach einer aktuellen Bilanz der Staatsanwaltschaft für mindestens 25.000 Morde verantwortlich sind. Als scheinbar unabhängiger Kriegsakteur haben sie im Auftrag der Regierung Uribe den Konflikt mit Guerilla entscheidend beeinflusst. BeobachterInnen fühlen sich unterdessen an die 1980er Jahre in Nicaragua erinnert. Dort hatten mit den Contras ähnliche informelle Verbände, die mit Hilfe der USA von den rechts regierten Nachbarländern aus agierten, die sozialistische Regierung der FSLN in einen zermürbenden Kleinkrieg verwickelt. Auch aktuell kann die rechte Regierung in Kolumbien mit Unterstützung der USA rechnen. Erst Ende Oktober unterzeichneten Barack Obama und Alvaro Uribe eine Vereinbarung über sieben neue Militärstützpunkte für die USA in Kolumbien.
Ein weiteres Indiz für die zunehmenden Spannungen zwischen den Nachbarländern ist die Verhaftung von drei Kolumbianern Ende November, die als Mitarbeiter der kolumbianischen Geheimpolizei (DAS) in Venezuela spioniert haben sollen. Nach Angaben des Innenministeriums wurden bei den Verhafteten zahlreiche Unterlagen sichergestellt, welche die Tätigkeit der mutmaßlichen Agenten belegen. Ihr Ziel sei gewesen, Informationen über die venezolanische Armee zu beschaffen. Die kolumbianische Regierung dementierte umgehend die Zugehörigkeit der Verhafteten zur Geheimpolizei. Die kolumbianische Seite hatte auf ähnliche Vorwürfe immer wieder geantwortet, dass Mitarbeiter der DAS ein „ausdrückliches Verbot“ hätten, sich nach Venezuela zu bewegen.
Die jüngsten Ereignisse bedeuten eine weiteren Tiefpunkt in den diplomatischen Beziehungen beider Länder, die seit Monaten auf Eis liegen, nachdem die kolumbianische Regierung behauptet hatte, die Chávez-Regierung habe Waffen an die kolumbianische Guerilla Bewaffnete Revolutionäre Streitkräfte Kolumbien (Farc) verkauft. Die mutmaßlichen Beweistücke entpuppten sich zwar tatsächlich als venezolanische Waffen. Sie waren allerdings bereits vor Chávez‘ Amtszeit durch die andere Guerilla ELN bei einem Angriff auf das venezolanische Militär erbeutet worden.

Blutroter Teppich für Investoren

Den eigenen Augen war nur schwer zu trauen. In einem Interview Mitte Juni mit der regierungsfreundlichen Zeitung El Comercio äußerte sich Premierminister Yehude Simon: „Hätten wir vom ersten Tag an mit wirklicher Stärke agiert, dann hätte es 500 Tote gegeben.“ Ein paar Tage zuvor, am 5. Juni, hatte eine mehrere hundert Mann starke Sondereinheit der Polizei im Norden des Landes, im Departamento Amazonas, eine friedliche Straßenblockade von tausenden Indigenen mit Tränengas und scharfer Munition brutal aufgelöst (siehe Kasten). Die offiziellen Zahlen der staatlichen Ombudsstelle (Defensoría del Pueblo) sprechen von insgesamt 33 Toten: 23 Polizisten, fünf Indigene und fünf Einwohner von Bagua Chica. Um die zweihundert Indigene und Polizisten trugen schwerste Verletzungen durch den Einsatz von Schusswaffen davon. Noch immer werden zahlreiche Angehörige indigener Gemeinschaften vermisst, die an den Protesten teilnahmen, bisher aber nicht in ihre Heimatgemeinden zurückgekehrt sind. Vermisst wird weiterhin auch ein Polizist.
Simon trat sein Amt erst im Oktober des letzten Jahres an. Noch im Juli will er es nach eigener Aussage wieder aufgeben. Die Geschehnisse in Bagua fordern dann doch Tribut. Seinen Ausstieg bereitet Simon kontrolliert vor, denn spätestens für den Wahlkampf der Präsidentschaftswahlen im Jahr 2011 will er die politische Bühne wieder betreten. Die eigene Partei trägt den vielversprechenden Namen Partei Humanistische Bewegung.
Ein interessanter Satz fand sich am 5. Juni in einem Artikel der Tageszeitung La Republica: „Während das Amazonasgebiet kurz vor der Explosion steht, verschieben die Abgeordneten im Parlament jede Möglichkeit einer Lösung des Konfliktes.“ Was wie eine Prophezeiung für den Gewaltausbruch am selben Tag klang, war im Kern auf eine Sitzung des Parlamentes in Lima vom Vortag gemünzt. Teile der politischen Elite spielten mit den Interessen und Rechten der EinwohnerInnen des peruanischen Amazonasgebietes. Nach langen Verhandlungen zwischen Regierung, Parlament und den Verhandlungsführern von AIDESEP, der amazonischen Dachorganisation der Indigenen, sollte im Parlament über den Widerruf eines der zentralen Regierungsdekrete, dem Forst- und Wildtiergesetz, abgestimmt werden. Gegen dieses hatte sich seit Anfang April wieder massive Proteste im Amazonasgebiet geregt. Nach mehreren Monaten war die parlamentarische Kommission für Verfassungsfragen zu der Erkenntnis gekommen, dass dieses Dekret verfassungswidrig sei. Doch zur Debatte kam es nicht. Mit einer trickreichen Eingabe gelang es der Fraktion der regierenden APRA-Partei von Präsident Alan García, eine Entscheidung zu vermeiden. Die Mehrheit der Stimmen aus APRA und Fujimori-Block reichte aus, um das Gesetz an einen außerparlamentarischen Runden Tisch verweisen – erneut weg von der Entscheidungsebene des Parlamentes. Indigene Interessen wurden so erneut zum Spielball zwischen Exekutive und Legislative.
Der Streik und die Proteste in großen Teilen des peruanischen Amazonasgebietes blieben seit Anfang April weitestgehend friedlich. Zehntausende Angehörige indigener Gemeinschaften waren mobilisiert. Sie blockierten Straßen und sogar Flüsse, besetzten Förderstationen von Erdöl- und Erdgasleitungen. Große Teile des Landes waren dadurch lahm gelegt, die Versorgungslage gestaltete sich vielerorts schwierig. Im Mai erklärte die Regierung per Dekret für mehrere Gebiete den Ausnahmezustand. Damit sollten explizit auch wirtschaftliche Interessen von Unternehmen geschützt werden, während Grundrechte der Bevölkerung ausgehebelt wurden. Das Militär erhielt dadurch das Mandat zu intervenieren und löste unter anderem Flussblockaden gewaltsam auf, um den Ölunternehmen freie Fahrt zu ermöglichen.
Mit ihren Aktionen und Blockaden protestierten die indigenen Gruppen gegen jene Regierungsdekrete, die in der ersten Hälfte des Jahres 2008 von der Regierung direkt verabschiedet worden waren. Das Parlament hatte ihr Ende Dezember 2007 für einen Zeitraum von 180 Tagen direkte Gesetzgebungskompetenzen zuerkannt. Diese Möglichkeiten, Gesetze im Schnellverfahren zu produzieren, sollte die Regierung nutzen, um in verschiedenen Bereichen den nationalen gesetzlichen Rahmen entsprechend den Erfordernissen des Freihandelsabkommens mit den USA anzupassen. Unter anderem kam es so auch zur Gründung eines – allerdings chronisch unterfinanzierten – peruanischen Umweltministeriums. Doch die Regierung ging zuweilen über das erteilte Mandat und sogar über die verfassungsrechtlichen Möglichkeiten hinaus, wie eine Studie des Verfassungsrechtlers Fernando Eguiguren aus dem August 2008 belegt.
Am Ende entstand ein Gesetzeswerk von mehr als 100 Dekreten. Viele von ihnen berührten indigene Territorien und die Rechte indigener Gemeinschaften, ohne dass diese zuvor konsultiert oder informiert wurden. Und dies obwohl Peru die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorgansiation (ILO) über die Rechte indigener Völker 1993 ratifiziert hat: Die Umsetzung in nationales Recht steht noch immer aus. Auch das Parlament wurde trotz einer bestehenden Vereinbarung mit der Regierung nicht wie geplant über die kreierten Gesetze informiert.
Eine Gesamtschau der Regierungsdekrete vermittelte den Eindruck, hier gehe es größtenteils um reine Investitionsförderung. Zustimmungsquoten für den Landverkauf bäuerlicher und indigener Gemeinschaften sollten reduziert, die Zustimmung von Gemeinden, die Firmen einholen müssen, wenn sie auf dem Gebiet der Gemeinden Rohstoffvorkommen erkunden oder Rohstoffe fördern wollen, sollte hinfällig werden. Das neue Forst- und Wildtierdekret wiederum bezog auch indigene Territorien mit ein und schloss dort den Nutzungswechsel von Wald- zu landwirtschaftlicher Nutzung explizit nicht aus, wenn es um Projekte nationalem Interesses geht. So liesse sich produktive Waldfläche beispielsweise für den Anbau von Agrokraftstoffen umnutzen.
Die Liste der beanstandeten Regierungsdekrete war lang. Die ersten Proteste flammten bereits im August des letzten Jahres auf. Es folgte ein elftägiger Streik im Amazonasgebiet, der einen Teilerfolg brachte: Zwei der Dekrete, die den Erwerb von gemeinschaftlichem Land – bäuerlicher und indigener Gemeinden – für Investoren erleichtern sollten, wurden vom Parlament zurück genommen. Nur war mit der Rücknahme von nur zwei Dekreten der Konflikt nicht gelöst. Die Forderungen wurden aufrecht erhalten, doch die Verhandlungen zwischen den Parteien stockten immer wieder oder wurden verzögert. Als Druckmittel wurde schließlich Anfang April der zweite Amazonienstreik aufgerufen, der Anfang Juni im Blutbad von Bagua seinen negativen Höhepunkt fand. Wenige Tage später wurde er nach hektisch angesetzten Verhandlungen zwischen Regierung und mehreren VertreterInnen regionaler indigener Organsationen Amazoniens beendet. Alberto Pizango, Vorsitzender von AIDESEP saß da übrigens nicht mehr mit am Verhandlungstisch. Nachdem gegen ihn ein Haftbefehl wegen angeblicher Anstiftung zum Aufruhr während des Streiks veranlaßt wurde, konnte er sich noch in die nicaraguanische Botschaft flüchten, um Tage später in das politische Asyl des mittelamerikanischen Landes zu fliehen. Ein Auslieferungsbegehren der peruanischen Regierung ist jedoch wahrscheinlich.
Wer dachte, dass der brutale Polizeieinsatz ein Umdenken bei Regierung und Präsident in Lima auslösen würde, sah sich getäuscht. Zwei Tage nach dem Massaker in Bagua legte diese vielmehr nach. In einem perfiden Fernsehspot wurden die protestierenden Indigenen masiv herabgewürdigt. Sie seien Extremisten und Wilde, die Polizisten umgebracht hätten und aus dem Ausland – gemeint waren in erster Linie Venezuela und Bolivien – gesteuert würden. Einen friedlichen Dialog würden sie weder praktizieren können noch wollen. Präsident Alan García verstieg sich in einem Fernsehinterview sogar zu der Formulierung, die indigenen EinwohnerInnen des Amazonastieflandes seien eben keine BürgerInnen erster Klasse. Perus Präsident führte damit seinen rassistischen Diskurs fort, den er im Namen der Investitionsförderung bereits Ende 2007 aufnahm. In drei langen Artikeln in seinem damaligen Hausblatt El Comercio legte er dar, wie die indigenen EinwohnerInnen geizig auf ihren Bodenschätzen hocken, nicht wollen, dass andere sie fördern und selbst nicht in der Lage sind, sie zu entwickeln oder Investitionen zu tätigen.
Ein Schuldeingeständnis des Präsidenten gibt es bis heute nicht. In seiner Rede an die Nation Mitte Juni sprach er von Fehlern und einem Neustart, der gemacht werden müsse. Aber da war auch wieder der präsidiale Finger, der auf vermeintliche ausländische Agitatoren und Demagogen verwies, die die Proteste angeheizt und den eigentlichen Sinn der Dekrete – den Schutz (!) des Amazonasgebietes vor Entwaldung (so nannte es Garcia wirklich) – verzerrt dargestellt hätten.
Die beiden Dekrete, Auslöser für den jüngsten Amazonienstreik, wurden mittlerweile vom Parlament zurückgezogen. Während Umweltminister Antonio Brack nun am Jammern ist, das man ein neues Forstgesetz entwerfen müsste und bis dahin das Freihandelsabkommen mit den USA gefährdet sei, meldete sich jüngst der neoliberale Hardliner und ehemalige Ministerpräsident, Pedro Pablo Kuczynski, auf überraschende Weise zu Wort. Er äußerte, dass sich das Blutvergießen in Bagua mit einer rechtzeitigen Rücknahme der Dekrete hätte vermeiden lassen. Das Freihandelsabkommen mit den USA, das seit dem 1. Februar in Kraft ist, sieht er zwar nicht gefährdet, mahnt die politische Klasse aber zur Einheit und neuen Gesetzesentwürfen. Man darf gespannt sein, denn die Liste kritisierter Regierungsdekrete aus dem letzten Jahr ist noch immer nicht vollständig abgearbeitet.
Die weiteren Beratungen über die noch in der Diskussion stehenden Dekrete werden nun von einer neuen Kommission bearbeitet. Beteiligt sind neben verschiedenen Ministerien die regionalen Strukturen indigener amazonischer Organisationen. Inwiefern diese Stuktur arbeitsfähig ist und eine wirkliche Einbeziehung der indigenen Interessen leisten kann, muss sich erst noch erweisen. Bisher hat die Regierung keinen Nachweris erbracht, dass sie die vielen sozialen Konflikte im Land wirklich nachhaltig lösen will und kann. Erst in den letzten Tagen reiste noch-Minister­präsident Simon von Konfliktherd zu Konfliktherd: Es brennt an anderen Orten nämlich lichterloh weiter. Und das Vertrauen in die mit der jeweiligen Regierungsdelegation geschlossenen Übereinkünfte von Seiten der betroffenen Gruppen ist sehr gering.
Der Popularitätsfanatiker García ist unterdessen auf einem neuen Tiefpunkt angelangt. Nur noch rund 20 Prozent der PeruanerInnen unterstützen infolge der blutigen Ereignisse in Bagua nach jüngsten Umfragen seinen Regierungsstil. Die peruanische Ökonomie, die García noch im letzten Jahr als unanfällig für die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise gepriesen hatte, ist im Abwärtstrend. So war der April von einer Rezession von zwei Prozent gekennzeichnet. Und gesunde Vorsicht ist angebracht, wenn Alan García Fehler eingesteht und einen Neubeginn verkündet: Es könnten nämlich sehr leicht wieder die alten Fehler werden.

Kasten:
Die Ereignisse vom 5. Juni im Überblick
Um die zweitausend Indigene hatten seit Ende Mai in Höhe von Kilometer 200 der Fernstraße Belaunde Terry eine Straßenblockade errichtet. Der Streckenabschnitt liegt im Departamento Amazonas unweit der Kleinstadt Bagua (Chica). Die Straße ist eine wichtige Transportroute, welche die nördliche Küstenzone um Chiclayo mit dem nördlichen Amazonastiefland verbindet.
Am 5. Juni rückte in den frühen Morgenstunden eine Sondereinheit der Polizei gegen die Blockade vor. Die auf der Straße und im angrenzenden Feld nächtigenden Menschen wurden überrascht, denn noch am Vorabend waren zwischen Polizei, Indigenen und lokalen Kirchenvertretern Absprachen getroffen worden. Die Blockade sollte gegen zehn Uhr von den Protestierenden aufgelöst werden.
Die circa 500 Mann starke Polizeieinheit setzte Tränengas aus Schusswaffen und von Hubschraubern aus ein. Verschiedene Zeugen sagten, dass scharfe Munition aus Maschinenpistolen zum Einsatz kam (und nicht etwa Gummigeschosse) als die Tränengasgranaten aufgebraucht waren. Unter den Indigenen kam es dadurch zu zahlreichen Verletzten und auch Toten. Viele der Protestierenden flüchteten sich in das hügelige Gelände jenseits der Straße. Dort setzten sich die Kämpfe fort. Auch Polizisten wurden erschossen, unter welchen Umständen ist unklar. Die Indigenen sagten aus, nur mit Speeren bewaffnet gewesen zu sein. Dies ließe darauf schließen, dass sie Polizisten entwaffnet haben und diese dann mit deren eigenen Waffen töteten. Die Polizei hingegen behauptet, die Indigenen hätten von Anfang an Schusswaffen gehabt. Entlang der Verbindungsstraße gingen die Kämpfe weiter: Die Polizei setze weiter Tränengas ein, verfolgte Menschen im Gelände, verhaftete und verprügelte sie. Die Auseinandersetzungen zogen sich bis in den Nachmittag des 5. Juni.
Im wenige Kilometer entfernten Bagua wandelten sich am selben Tag friedliche Proteste in gewalttätige Auseinandersetzungen, als die Menschen von den Geschehnissen an der Verbindungsstraße hörten. Fotos und Videos dokumentieren, dass eine Polizeistation umzingelt wurde. Polizisten sind zu sehen, wie sie vom Dach in die Menschenmenge schießen. Im knapp 100 Kilometer von Bagua entfernten Imacita spielten sich dramatische Ereignisse an der Erdölförderstation Nr. 6 von Petroperú ab. Die Station war seit April durch indigene Gruppen besetzt, während eine kleine Polizeieinheit die Anlagen vor Ort schützte. Zwischen Polizisten und Indigenen gab es ein Übereinkommen, dass die Anlage nicht angegriffen würde. Dieses wurde von den Indigenen aufgekündigt, nachdem sie von der blutigen Ereignissen an der Fernstraße Belaunde Terry erfuhren. Zwölf Polizisten wurden von einigen Indigenen mit Speeren getötet, während andere Indigene weiteren Polizisten zur Flucht verhalfen.
// Mathias Hohmann

IV. Gipfel der Indigenen Völker am Titicacasee in Puno
“Wir sind hier, um für die Verteidigung unserer Territorien zu kämpfen.” Die Aussage des kurzen Werbespots war unmissverständlich. Zum IV. Gipfel der Indigenen Völker der Amerikas strömten für fünf Tage Ende Mai rund 7.000 VertreterInnen indigener Völker und sozialer Bewegungen aus allen Ländern des Kontinentes auf das Altiplano nach Puno. Eröffnet wurde das Treffen mit einem Ritual für pacha mama (Mutter Erde) am Ufer des Titicacasees.
Im Jahr 1990 traf sich zum ersten Mal eine Allianz der Indigenen Völker der Amerikas im ecuadorianischen Quito. Anlass der damaligen Zusammenkunft war das Gedenken an 500 Jahre des Widerstandes, den indigene Völker seit der Conquista 1492 geleistet hatten. Zugleich sollte damit den 500 Jahr-Feierlichkeiten der UnterdrückerInnen etwas entgegengesetzt werden.
Selbstbestimmung und Autonomieforderungen waren bereits in Quito die Forderungen der indigenen Völker und sind es noch immer. Während des Gipfels in Puno ließ sich anhand des heftigen Konfliktes im peruanischen Amazonasgebiet beobachten, wie indigene Völker weiterhin ihrer Rechte beraubt werden und sei es durch die „eigene” Regierung. Doch das Selbstbewusstsein der indigenen Bewegungen ist mittlerweile deutlich gestiegen. Dabei helfen auch die gegenwärtigen diversen globalen Krisen des kapitalistischen Systems, die mehr als dringend Alternativen erfordern.
Miguel Palacín, Vorsitzender der Andinen Koordination der Indigenen Organisationen (CAOI), betonte in seiner Eröffnungsrede, dass „jetzt der Moment gekommen ist, die eigene Unsichtbarkeit gegenüber den Staaten aufzugeben und mit eigenen Vorschlägen unsere Rechte als indigene Völker zu wahren.” Im Kern ging es in den Sitzungen und zahlreichen Arbeitstischen um die zentralen Forderungen nach plurinationalen Staaten und einem Guten Leben (buen vivir).
Mit Hugo Blanco war auch eine Symbolfigur des Kampfes der peruanischen Kleinbauern und -bäuerinnen vor Ort. Der 73-jährige, der in den 1960er Jahren Bauernaufstände für Land in der Region Cusco anführte, äußerte: „Die Bedeutung des Treffens liegt nicht einmal so sehr in den Übereinkommen, die getroffen werden. Viel wichtiger ist es, dass Indigene aus allen Ländern der Amerikas hierher kommen, um ihre Erfahrungen auszutauschen.” So könne er durchaus noch sehr viel von jungen Mapuche und ihren aktuellen Kämpfen lernen.
Parallel zum großen Gipfel wurden weitere kleine Gipfel absolviert: für indigene Jugendliche, Kinder und Frauen. Letztere hielten zum ersten Mal ein eigenes Treffen ab. “Es ist wichtig hier zu sein, um die Stimmen der Frauen hörbar zu machen, ihre Perspektive einzubringen und ihre Rechte zu verteidigen”, so Blanca Chancoso von der Kichwa-Organisation Ecuarunari aus Ecuador. „Ohne Frauen gibt es keinen Wandel, ohne Frauen gibt es keine Demokratie”, ergänzte Leonilda Zurita, Vertreterin der Vereinigung der bolivianischen Kleinbäuerinnen. Ein wichtiges Ergebnis des Treffens ist die Gründung der Kontinentalen Koordination der indigenen Frauen.
Die gemeinsame Abschlusserklärung des IV. Gipfels, die Declaración de Mama Quta Titikaka vom 31. Mai, schließt mit den Worten „Die Erde gehört uns nicht, sondern wir gehören der Erde!” Sie fasst insgesamt 17 Übereinkommen zusammen. Gefordert werden unter anderem die Gründung einschließender plurinationaler Staaten, in denen die ursprünglichen indigenen Territorien wieder hergestellt werden und die Umsetzung internationaler Normen über indigene Rechte in jeweiliges nationales Recht. Auch die globale Klimadebatte fand Berücksichtigung: So fordert die Deklaration den Aufbau eines internationalen Tribunals zu Klimagerechtigkeit und die Einrichtung eines Internationalen Gerichtshofes über Umweltstraftaten. Parallel zum UN-Klimagipfel in Kopenhagen im Dezember 2009 soll es einen Alternativen Gipfel der Indigenen Völker geben. Für den V. Gipfel der Indigenen Völker der Amerikas geht es 2011 nach Bolivien.
Die Lage des Tagungsortes Puno unweit der Grenze zu Bolivien ließ erwarten, dass Präsident Evo Morales auftaucht. Der ließ sich jedoch wegen Arbeitsüberlastung entschuldigen. Vielleicht waren es aber auch die seit längerem angespannten Beziehungen mit der peruanischen Regierung, die ihn auf einen Auftritt verzichten ließen. Doch schon sein offener Brief an die TeilnehmerInnen des Gipfels löste paranoide Reaktionen und beschuldigendes Fingerzeigen bei Regierung und Präsident in Lima aus. Dabei äußerte Morales im Brief lediglich Kritik an Freihandelsabkommen – die peruanische Regierung sah jedoch schon darin eine Einmischung und Ansätze zur Aufstachelung der zehntausenden Indigenen, die im peruanischen Amazonasgebiet seit Anfang April protestierten. Wie bitte sollen diese denn ohne Unterstützung von außen ihre Forderungen entwickelt haben? So wird in Regierungskreisen in Lima sehr laut und geringschätzig über indigene Völker gedacht.
// Mathias Hohmann

Politisch inszenierte Flucht

Bis zuletzt herrschte Unklarheit über seinen Aufenthaltsort. Am 20. April hätte Manuel Rosales eigentlich vor einem Gericht in Caracas erscheinen müssen. Gegen den amtierenden Bürgermeister der im nordwestlichen Erdölstaat Zulia gelegenen Metropole Maracaibo laufen Ermittlungen wegen Korruption und unrechtmäßiger Bereicherung. Der Oberste Gerichtshof hatte den Prozess aus Sicherheitsgründen in die venezolanische Hauptstadt verlegt. Doch seit dem 30. März hat sich Rosales in Venezuela nicht mehr in der Öffentlichkeit gezeigt. Erst kurz vor dem Gerichtstermin wurde klar, was viele bereits vermutet hatten. Der Bürgermeister halte sich in einem „befreundeten Land“ auf, verkündete Omar Barboza, Präsident von Rosales‘ Partei Eine Neue Ära (UNT). Am Morgen des 20. April bestätigte der peruanische Außenminister, José Antonio García Belaúnde, dass Rosales als Tourist nach Peru eingereist sei. Kurz darauf beantragte der venezolanische Oppositionspolitiker Asyl. Die Begründung: Er werde politisch verfolgt.
Die Vorwürfe gegen Rosales gehen zurück auf einen Bericht des venezolanischen Rechnungshofes von Juli 2007. Dieser hatte Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit Rosales‘ Vermögenserklärung und den Finanzen des Staates Zulia in den Jahren 2002 bis 2004 festgestellt, wo Rosales damals Gouverneur war. Fragwürdig sei unter anderem die Herkunft zahlreicher privater Besitztümer im In- und Ausland.
Von Peru aus meldete sich Rosales in einer Videobotschaft zu Wort. Die Vorwürfe gegen ihn beruhten allesamt auf gefälschten Unterlagen, so der Bürgermeister. Den venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez bezeichnete er als Diktator, Feigling und Putschist und warf ihm vor, die Augen vor der grassierenden Korruption in seinem eigenen Umfeld zu verschließen. „Ein frustrierter Militär kann nicht unser geliebtes Land zerstören. Ich rufe die Venezolaner dazu auf, ihren Platz in diesem Kampf einzunehmen“, riet er seinen Landsleuten. Diese Äußerungen wurden bei seinen peruanischen GastgeberInnen nicht gerne gehört. Außenminister García Belaúnde sagte, sein Land dürfe „von keinem Ausländer als politische Plattform benutzt werden“. Der peruanische Kongressabgeordnete Javier Valle Riestra, der die Verteidigung von Rosales übernommen hat, riet seinem Klienten, Äußerungen zu unterlassen, die dem Asylantrag schaden könnten. Dennoch gilt es als wahrscheinlich, dass Peru dem Venezolaner politisches Asyl gewähren wird. Bereits mehrere venezolanische Staatsangehörige flohen in der Vergangenheit vor der Justiz nach Peru. Der peruanische Präsident Alan García hielt sich zwischen 1992 und 2001 zudem selbst im Exil auf, um zu Hause einer Verurteilung wegen Korruption zu entgehen.
Mit der Regierung Chávez liegt Rosales schon lange im Clinch. Während des Putschversuchs gegen den Präsidenten im April 2002 unterzeichnete er neben vielen anderen Oppositionellen das so genannte Carmona-Dekret, wodurch in Venezuela eine Diktatur unabsehbarer Dauer installiert worden wäre. 2006 trat Rosales als Präsidentschaftskandidat der Opposition demokratisch gegen den Präsidenten an, blieb jedoch chancenlos.
Chávez und andere PolitikerInnen werfen ihm zusätzlich vor, in Zulia Paramilitärs aus Kolumbien zu dulden und nach dem Vorbild des östlichen Tieflandes in Bolivien das Land destabilisieren zu wollen. Rosales und Chávez beschimpften sich diverse Male gegenseitig. Der venezolanische Präsident sprach im vergangenen Jahr mehrfach davon, „den Mafioso“ hinter Gittern sehen zu wollen. „Manuel Rosales würde sich nicht der venezolanischen Justiz ausliefern, er würde sich Hugo Chávez ausliefern, der ihn verfolgt“, rechtfertigt Omar Barboza daher die Flucht seines Parteifreundes. Germán Saltrón, venezolanischer Repräsentant beim Interamerikanischen Menschengerichtshof tritt dem entgegen. „Jeder weiß, dass der Präsident niemanden ins Gefängnis stecken kann. Jemanden festnehmen lassen und verurteilen können nur die zuständigen Gerichte.“

Es gilt als wahrscheinlich, dass Peru Manuel Rosales politisches Asyl gewähren wird.

Der Fall Rosales gehört zu einer Reihe von ähnlichen Fällen, in denen die venezolanische Justiz derzeit gegen Korruption mobil macht. Anfang April wurde der ehemalige Verteidigungsminister Raúl Baduel verhaftet. Dem früheren engen Verbündeten von Hugo Chávez wird die Unterschlagung von umgerechnet etwa 15 Millionen US-Dollar während seiner Amtszeit vorgeworfen. Im November 2007 hatte er sich nur wenige Monate nach seinem Ausscheiden aus dem Amt überraschend gegen die von Chávez propagierte, dann in einem Refrendum gescheiterte Verfassungsreform ausgesprochen und versucht seitdem, sich als Regierungskritiker zu profilieren. Der chavistische Ex-Gouverneur von Yaracuy, Carlos Giménez, wurde ebenfalls verhaftet. Ihm wird Veruntreuung öffentlicher Gelder zur Last gelegt. Auch gegen Juan Barreto, dem ehemaligen chavistischen Oberbürgermeister von Caracas, und Eduardo Manuitt, chavistischer Ex-Gouverneur von Guárico, wird wegen finanziellen Unregelmäßigkeiten während ihrer Amtszeiten ermittelt. Während Manuitt und Giménez bereits gegen Ende ihrer Amtszeiten nicht mehr von der Zentralregierung unterstützt wurden, gilt Barreto nach wie vor als regierungsnah. Fast täglich erhebt derzeit irgendjemand in Venezuela Korruptionsvorwürfe gegen politische GegnerInnen.
Die Unabhängigkeit der Justiz wird jedoch von der Opposition angezweifelt. Sie verweist darauf, dass meist gegen Oppositionelle und Dissidenten vorgegangen werde, Korruptionsvorwürfen gegen prominente chavistische PolitikerInnen jedoch nicht weiter verfolgt würden. Als bezeichnend gilt der Fall des Ex-Gouverneurs von Miranda und derzeitigem Minister für Infrastruktur, Diosdado Cabello. Dem Geschäftsmann wird auch aus den eigenen Reihen immer wieder vorgeworfen korrupt zu sein, ohne dass die Justiz deswegen aktiv würde.
Auch wenn die Wut über fehlende Ermittlungen gegen hochrangige Chavistas nachvollziehbar ist, hat die Opposition dennoch ein Glaubwürdigkeitsproblem. In Venezuela können sich nämlich die meisten Menschen nicht vorstellen, dass ausgerechnet deren PolitikerInnen eine weiße Weste haben sollten. Dafür hat das Land schon zu viele Korruptionsskandale erlebt, in die VertreterInnen der heutigen Opposition verstrickt gewesen waren. Die Argumentation bezieht sich somit in erster Linie darauf, dass es ungerecht sei, gegen die einen vorzugehen, die anderen aber zu schonen. Darüber hinaus unterstellt die Opposition fast jeglichem Vorgehen der Justiz einen politischen Hintergrund. Anfang April etwa wurden drei Mitglieder der Hauptstadtpolizei für das Vorgehen gegen die Bevölkerung während des Putsches 2002 zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Was Angehörige der insgesamt 19 Toten des Umsturzversuchs als wichtigen Schritt zur juristischen Aufarbeitung des Geschehenen feierten, war für die Opposition jedoch lediglich „politisch motivierte Rechtsprechung“. In einem anderen Fall verbrachte der ehemalige Student Nixon Moreno aus der Andenstadt Mérida zwei Jahre in der offiziellen Vertretung der katholischen Kirche in Caracas, um sich vor der Justiz zu schützen. Im vergangenen März gelang ihm die Flucht. Ihm werden unter anderem schwere Körperverletzung und versuchte Vergewaltigung einer Polizistin vorgeworfen. Da die Straftaten im Zusammenhang mit oppositionellen Studierendenprotesten stattfanden, bezeichneten viele Oppositionelle Moreno als „politisch Verfolgten“. „Es scheint so, dass es reicht, zur Opposition zu gehören, um Straftaten begehen zu dürfen“, sagt Innenminister El Aissami. Die Opposition argumentiert umgekehrt genau so. Dass die venezolanische Justiz, die traditionell schwach ist und von Politik und finanzkräftigen Privatpersonen beeinflusst wird, unter diesen Umständen kaum glaubwürdig gegen Korruption vorgehen kann, liegt auf der Hand. In vielen Fällen, etwa bei den hunderten Morden, die im Auftrag von GroßgrundbesitzerInnen in den letzten Jahren begangen wurden, wird sie überhaupt nicht aktiv. Grund sich zu beklagen hat somit nicht nur die Opposition.

Kasten:

Opposition lehnt Gesetze ab

Neben den Ermittlungen wegen Korruption sieht sich die Opposition derzeit durch mehrere chavistische Gesetzesinitiativen unter Druck gesetzt. Mitte März übertrug das Parlament der Zentralregierung die alleinige Kontrolle über Häfen, Flughäfen und Straßen. Bisher waren die Bundesstaaten selbst für die Betreibung verantwortlich. Laut Artikel 164 der Verfassung steht ihnen dieses Recht in Koordination mit der Zentralregierung auch zu. Das neue Gesetz wurde nun unter anderem damit begründet, dass die Infrastruktur für die staatliche Sicherheit fundamental sei und die Regionalregierungen Häfen und Flughäfen de facto privatisiert hätten. Die fünf Gouverneure der Opposition werteten das Gesetz als Affront gegen sich und die Dezentralisierung in Venezuela. Die 17 Gouverneure der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas PSUV unterstützen die Maßnahme hingegen.
Noch gravierender sieht sich die Opposition durch die per Gesetz verabschiedete Neuordnung des Großraumes Caracas geschädigt. Dort hatte im vergangenen November überraschend der Oppositionelle Antonio Ledezma die Wahl für das Amt des Oberbürgermeisters für sich entschieden. Dieses dient vornehmlich der Koordinierung der fünf administrativen Teilbereiche von Caracas, von denen vier von der Opposition regiert werden. Der bedeutendste Teil von Caracas, das westlich gelegene, chavistisch regierte Municipio Libertador, fällt zukünftig komplett aus seinem Einflussbereich heraus. Sein Amt dient somit nur noch der Koordinierung der vier übrigen Munizipien, wodurch Ledezma jeglichen Einfluss auf den Kernbereich von Caracas, einen Großteil seines Budgets und seinen Amtssitz an der Plaza Bolívar im Kern der Altstadt verliert.
Damit wird das prestige-, aber wenig einflussreiche Amt des Oberbürgermeisters nach nur neun Jahren im Prinzip wieder abgeschafft. Chavistas begründen diese Änderung damit, dass die Verfassung in Artikel 18 die Verabschiedung eines Gesetzes vorsieht, welches die politische Struktur des Hauptstadtdistriktes festlegen und die administrative Aufteilung zwischen Hauptstadt und dem angrenzenden Bundesstaat Miranda bestimmen soll. In diesem liegen die vier oppositionell regierten Munizipien. Das Parlament schuf zudem einen Verwaltungsposten für den Hauptstadtdistrikt, der als Schnittstelle zwischen Zentralregierung und Bürgermeisteramt von Libertador dienen soll. Besonders delikat ist in diesem Zusammenhang, dass der Präsident persönlich die Person für diesen Posten ernennen darf. Das lässt Erinnerungen an die Zeit vor 1989 wach werden, als sämtliche Gouverneure vom Präsidenten „per Fingerzeig“ bestimmt wurden. Ledezma bezeichnete das das neue Gesetz daher als „verfassungswidrig“ und legte Klage beim Obersten Gerichtshof ein.
// Tobias Lambert

Der Präsident im Auge des Hurrikan

Die costaricanische Botschaft im Norden Bogotás ist normalerweise ein Ort, an dem nichts Besonderes passiert. Costa Rica möchte bestenfalls als Urlaubsziel ins Gerede kommen und die Botschaft wirbt auf ihrer Website mit Karibikflair und dem typisch costaricanischen Slogan: ”La Pura Vida” (Das wahre Leben). Die Unruhe, die am 22. April vor dem Eingang der diplomatischen Vertretung des kleinen mittelamerikanischen Landes entstand, war daher recht ungewöhnlich: Eine Menschenmenge drängte vor den Botschaftsbereich und hielt Fotos von Ermordeten und Verschwundenen in die Höhe, JournalistInnen und FotoreporterInnen versuchten die besten Plätze vor dem abgezäunten Eingang zu ergattern und mehrere Fernsehkameras wurden in Stellung gebracht. Grund hierfür war ein besonderes Ereignis: Mario Uribe Escobar, ein Cousin und enger Vertrauter des kolumbianischen Staatspräsidenten Álvaro Uribe Vélez, hatte beim Botschafter Costa Ricas um politisches Asyl angesucht.
Gegen Mario Uribe wurde kurz zuvor Haftbefehl erlassen. Es besteht gegen ihn der dringende Tatverdacht, sich mit Paramilitärs eingelassen und Geschäfte mit DrogenhändlerInnen gemacht zu haben. Bereits im Oktober letzten Jahres war das Strafverfahren gegen ihn eingeleitet worden. Daraufhin legte der frühere Kongresspräsident und Senator für die Partei Colombia Democrática (Demokratisches Kolumbien) zum Bedauern des Präsidenten sein Kongressmandat nieder. Der Verdacht gegen ihn erhärtete sich und veranlasste den Obersten Gerichtshof dazu, Untersuchungshaft anzuordnen. Mario Uribe versuchte noch, sich ins Ausland abzusetzen, flüchtete in die costaricanische Botschaft und wurde, nachdem sein Asylgesuch als “unangemessen” abgelehnt wurde, am Botschaftsausgang von der Polizei in Empfang genommen und ins Gefängnis überführt.
Mit Mario Uribe sind es nun bereits 33 Kongress-Abgeordnete die in Verbindung mit dem sogenannten Parapolítica-Skandal verhaftet wurden. Insgesamt wird derzeit gegen 74 ParlamentarierInnen wegen ihrer Verbindungen zu Paramilitärs strafrechtlich ermittelt. Die gegen die Abgeordneten erhobenen Anschuldigungen klingen dabei stets sehr ähnlich: Sie sollen mit den Paramilitärs Absprachen über die Manipulation von Wahlen, Erpressung von Stimmen, Einschüchterung und Ermordung von Oppositionellen getroffen haben. Weiterhin wird ihnen zur Last gelegt, paramilitärische Todesschwadronen finanziert zu haben und in das Geschäft des Drogenhandels involviert gewesen zu sein.
Lange Zeit war es der Regierung gelungen, relativ schadfrei alle Skandalmeldungen zu überstehen. Die Verbindungen zwischen PolitikerInnen und paramilitärischen Gruppen wurden als Einzelfälle, die aufgedeckten zwielichten Verflechtungen zu paramilitärischen Strukturen als private Probleme der betroffenen PolitikerInnen dargestellt. Die Tatsache, dass inzwischen mehr als ein Viertel der 268 Abgeordneten aus Senat und Repräsentantenhaus ins Visier strafrechtlicher Verfolgung geraten oder bereits inhaftiert worden sind, führt diese Argumentation ad absurdum und beschert dem kolumbianischen Kongress eine einzigartige Legitimationskrise. Der Skandal zeigt eindrücklich, wie stark sich insbesondere die neuen politischen Eliten den Paramilitarismus zu Nutzen gemacht haben, um ihren Weg ins Zentrum der Macht zu beschleunigen. Zudem ist auffällig, dass vor allem die Uribe unterstützenden Kleinparteien von den Ermittlungen betroffen sind: Colombia Democrática, Mitte der 80er Jahre von Präsident Álvaro Uribe und seinem Cousin Mario Uribe gegründet, hat wegen ihrer systematischen Verbindungen zu Paramilitärs fast ihre gesamte Abgeordnetenbank ans Gefängnis verloren. Auch sind längst nicht mehr nur die HinterbänklerInnen der anderen Regierungsparteien betroffen. So sind gegen den Vorsitzenden der sozalen Partei der nationalen Einheit (Partido de la U) – Carlos García Orjuela Ermittlungen aufgenommen worden. Weiterhin ist ein Verfahren gegen Nancy Patricia Gutiérrez – aktuelle Kongresspräsidentin und Sprecherin der Partei Cambio Radical – eröffnet worden. Ihr wird vorgeworfen, ihre gesamten Wahlsiege seit 2002 den Paramilitärs zu verdanken. Und schließlich ist auch der ehemalige Vorsitzende der Konservativen Partei – Luis Humberto Gómez Gallo – ins Zentrum der Ermittlungen gerückt.
Ein anderer Fall könnte nun dem Präsidenten selbst gefährlich werden: Die ehemalige Senatorin Yidis Medina hatte sich selbst der Bestechlichkeit bezichtigt und wurde daraufhin verhaftet. Sie hatte zugegeben, dass sie sich ihre Zustimmung zur Verfassungsänderung, die schließlich Uribes Wiederwahl ermöglicht hatte, bezahlen ließ.
Nachdem Uribe im Jahre 2004 mit dem Versuch gescheitert war, per Referendum seine Wiederwahl zu ermöglichen, entschied sich der Präsident, über den Weg des Kongresses die Verfassung zu ändern. Hierfür fehlte ihm aber die erforderliche Mehrheit. Yidis Medina und Teodolindo Avendaño hatten noch zwei Tage vor der Abstimmung öffentlich erklärt, die Verfassungsreform nicht zu unterstützen und entsprechend mit Nein stimmen zu wollen. Am Tag der Abstimmung war Avendaño nicht anwesend. Medina schwenkte im letzten Moment um, stimmte mit Ja und eröffnete dem Präsidenten den Weg zur Wiederwahl. Uribe ist der erste Präsident in Kolumbiens Geschichte, der eine zweite Amtszeit angetreten hat.
Die Vorwürfe gegen Uribe, sich die Zustimmung zur Wiederwahl gekauft zu haben, sind nicht neu. Mehreren Kongressabgeordneten wurde unterstellt, ihre Loyalität sei mit Posten und besonderen finanziellen Zuwendungen für Projekte in ihrer Region gekauft worden. Für diesen Klientelismus und das korrupte Verhalten von Kongressabgeordneten liegen nun Zeugenaussagen und Beweise vor. Die Tatsache, dass Medina sich selbst bezichtigt, Zuwendungen angenommen zu haben, verpflichtet die Staatsanwaltschaft zu ermitteln, woher diese kamen. Für den Präsidenten bedeutet dies, dass nicht nur gegen ihn strafrechtlich ermittelt werden könnte, sondern dass die Legitimität und Legalität seiner Präsidentschaft in Frage steht.
Trotz des entschlossenen Vorgehens der Staatsanwaltschaft und der Gerichte gegen die Parapolítica zeigen die jüngsten Ereignisse, dass die strukturellen Verbindungen des paramilitärisch-militärischen Komplexes keineswegs in Auflösung begriffen sind. Das Märchen vom Ende des Paramilitarismus wird von Präsident Uribe seit nunmehr fast zwei Jahren propagiert. Mit den Worten “Kolumbien hat den Paramilitarismus überwunden! Es gibt keinen Paramilitarismus mehr!” feierte er im Sommer 2006 den Abschluss des sogenannten Friedensprozesses mit den Vereinigten Selbstverteidigungsgruppen Kolumbiens (AUC). Tatsächlich begaben sich bis Ende 2006 mehr als 31.000 Paramilitärs in das staatliche Demobilisierungsprogramm.
In den Jahren zuvor hatten die Paramilitärs sich und ihren politischen Verbündeten mittels beipielloser Gewalt in vielen ländlichen Gebieten und einigen urbanen Zentren regelrechte parallele Herrschaftsenklaven geschaffen. Doch nach der Vertreibung der Guerilla und der Vernichtung jeder nennenswerten Opposition war der militärische und politische Nutzen großer paramilitärischer Verbände nicht mehr gegeben. Im Rahmen von Uribes Politik der “demokratischen Sicherheit” und der in Gang gesetzten Konstruktion eines starken, autoritären und kommunitären Staates sollten die Paramilitärs in die Legalität überführt und in das autoritäre Projekt eingebunden werden.
Obwohl die AUC bereits 2002 verkündet hatten, für immer die Waffen ruhen zu lassen, kam es trotz dessen nie zu einer Einstellung gezielter Gewaltanwendung. Kontinuierlich wurden Angehörige sozialer Organisationen, Menschenrechtler und Oppositionelle Opfer gezielter Mordanschläge. In den ersten vier Jahren der Amtszeit Uribes wurden mehr als 3.000 Menschen von paramilitärischen Todesschwadronen gezielt ermordet, darunter etwa 400 GewerkschafterInnen und 30 JournalistInnen.
Als 2006 die Demobilisierung der AUC abgeschlossen war, begannen die paramilitärischen Todesschwadronen fortan unter der Bezeichnung Águilas Negras (Schwarze Adler) in Erscheinung zu treten. Die nationale Kommision für Wiedergutmachung geht davon aus, dass noch immer über 4.000 Paramilitärs in 34 verschiedenen Banden in über 200 Gemeinden in 22 Departamentos des Landes aktiv sind. Aus vielen Städten und ländlichen Gemeinden wird berichtet, dass die Paramilitärs dort zu keinem Zeitpunkt ihre Kontrolle aufgegeben haben. Sie nutzten die Demobilisierung, um ihren Handlungsrahmen in legale Räume zu überführen und gleichzeitig die eigenen bewaffneten Gruppen zu konsolidieren. Es entstanden kleinere, aber unvermindert schlagfertige Todesschwadronen, die die Arbeit ihrer Vorgänger fortsetzen.
Die Ereignisse der vergangenen Tage und Wochen zeichnen ein deutliches Bild der Lage: Im Schatten des Parapolítica-Skandals gibt es eine neue Welle der Gewalt gegen Menschenrechtsgruppen, soziale Organisationen und Opferverbände. Nachdem im Zusammenhang mit der Organisierung des weltweiten Gedenk- und Protesttages für die Opfer von Paramilitarismus und Staatsverbrechen am 6. März sechs Menschen ermordet, mehr als 50 Personen aus dem Kreis der OrganisatorInnen der Massendemonstrationen mit dem Tod bedroht und mehrere ihrer Büros überfallen wurden, reißt die Kette der Übergriffe nicht mehr ab. Die Águilas Negras gehen landesweit in die Offensive und schrecken nicht davor zurück, selbst diplomatische Vertretungen und MitarbeiterInnen staatlicher Programme auf ihre schwarzen Listen zu setzen.

Sternenspucke in der Rupununi

Tage später zieht ein Sturm auf über Lethem, von einer Art, wie ihn noch keiner der Dorfbewohner so knapp über dem Äquator erlebt hat: Terry* Melville sitzt unter seinem Palmdach, zwei der fingernagelgroßen Hagelkörner lutschend, die zu Millionen so plötzlich vom Himmel gekommen sind; die Kinder aber, die nicht wissen, was Eis ist, lauschen von den dunkelsten Ecken des Adobehauses aus Angst geschüttelt auf das anbrandende Trommeln der weißen Kristalle. Terry schnalzt mit der Zunge und isst zwei weitere Eisstücke.
Die Rupununi – das sind zwei in sich geschlossene Savannengebiete im Südwesten Guyanas, zusammen fast so groß wie Schleswig-Holstein, voneinander getrennt durch das abrupt aufsteigende, schroffe Bergmassiv der Kanukus. Dieser von dichtem Dschungel bedeckte Gebirgszug wird seinerseits durchschnitten vom Rupununi River. In den nördlichen Savannen leben die Makushi, in den Südsavannen die Wapishana – ein fast vergessener Stammeskrieg, so sagt man, hat die Völker irgendwann entzweit. Lethem, der einzige größere Ort der Region, benannt nach einem englischen Kolonialbeamten, liegt strategisch günstig westlich der Kanukus und östlich des an Brasilien grenzenden Flusses Río Takutu auf einem schmalen Savannenstreifen, der beide Hälften der Rupununi miteinander verbindet.
Bis auf den erst 1991 geöffneten „Trail“ zwischen Lethem und Georgetown, auf welchem die Fahrt in den ersten Jahren eine Woche dauerte und nur in Bedford Trucks gemeistert wurde, durchschneiden keine Straßen die Savanne, lediglich die Spuren weniger motorisierter Fahrzeuge, die – chronisch unterversorgt mit Benzin – Ranchs und Dörfer versorgen. Die zersiedelten Dörfer der Amerindians – allesamt wegen der saisonalen Überschwemmungen auf Anhöhen errichtet – haben klangvolle Namen, heißen Morurawanao (Hügel des Riesengürteltieres), Patarina (Hügel der Großen Farine-Pfanne) oder Shea (Geschwollener Rücken). Sämtliche Hütten bestehen aus verflochtenem, mit ockerfarbenem Lehm verkleidetem Astwerk oder Lehmziegeln und tragen steile Dächer aus Palmwedeln. Küche und Schlafgemach sind in separaten Hütten untergebracht. Wie Spinnweben führen schmale Trampelpfade von jeder Behausung sternförmig zu Wasserstelle, Plumpsklo, Gemüsegarten, Jagdgrund, dorfeigenem Fußball- und Cricketplatz.
Die 15.000 Rupununi-BewohnerInnen leben von Fischfang und Jagd, sammeln proteinreiche Insektenlarven aus faulenden Palmstämmen, bauen auf kleinen Waldlichtungen Maniok an, ernten Mangos, Cashews und Erdnüsse, halten Hühner und teilweise sogar Schweine und Rinder. Besonders zu schätzen wissen sie Farine (in der Pfanne geröstetes, stärkehaltiges Maniokmehl) und Tasso (pulverisiertes, sonnengetrocknetes Fleisch) – über Monate haltbarer Proviant, der – mit Zucker und Wasser gemixt – einen nahrhaften Brei ergibt. Auf ihren legendären Trinkorgien füllen die Amerindians sich mit Parakari – selbstgemachtem Maniokwein – ab.
Geld ist in der Rupununi fast so rar wie Hagel. Man kann es nur im Gebiet um Lethem verdienen, wo es ein Postbüro, eine Krankenstation, ein Schlachthaus, eine Sekundärschule und ein paar Läden gibt, als Goldgräber in den angrenzenden Bergregionen oder als vaqueiro einer der wenigen großen Rinderfarmen. Kein Wunder, dass es die meisten Jugendlichen nach Brasilien drängt: Dort gibt es modernes Leben, Elektrizität, Straßen, Diskos, in denen Forró gespielt wird, tolle Klamotten, käufliche Frauen, Drogen – doch wird Land nicht so einfach vergeben wie in Guyana, und so kehren viele geläutert zurück in ihr altes Heimatdorf.
Terry Melville geht nicht gern in Diskos. Überhaupt sind ihm Menschenansammlungen über fünf Personen zuwider. Nur einmal im Jahr, beim großen Oster-Rodeo von Lethem, mischt er sich unters Volk, um die ungezähmten Pferde von der Pirara-Ranch, die wilden Milchkühe von der Manari-Ranch und die vor Kraft strotzenden Stiere von der Dadanawa-Ranch zu sehen, Brahman-Mischlinge, Limousin, Short Horn, Charolais. Zu den wichtigsten von Preisrichtern überwachten Disziplinen des Rodeos gehören das Reiten auf Bullen und wilden Pferden, das Lasso-Werfen auf Stiere, das Fesseln von Pferden und Kälbern, das Melken wilder Kühe, das Fangen mit Fett eingeriebener Schweine.
„Lethems Rodeo ist nicht mehr, was es mal war“, seufzt Terry. In der Tat genießt es mittlerweile überregionale Bekanntheit und hat sogar Ölgesellschaften als Sponsoren, die ein Auge auf die unausgebeutete Region geworfen haben. Nicht nur die bannahs – die Kumpels – aus der Rupununi, sondern viele BrasilianerInnen und so genannte coastlanders, indisch- und afrikanischstämmige KüstenbewohnerInnen Guyanas, reisen eigens nach Lethem, um während der zwei, drei Tage des Rodeos bei bassschwerem Reggae zu feiern, zu saufen, Geschäfte zu schließen. Die plötzliche Anwesenheit so vieler Fremder verunsichert die zurückhaltenden Rupununi-BewohnerInnen, denen ihre Abgeschiedenheit vom Rest der Welt sehr am Herzen liegt. Während des Rodeos kommt es überall verstärkt zu cow rustling, einem von alters her praktizierten „Volkssport“: Rinder werden von den schlecht bewachten Naturweiden gestohlen und nach Brasilien geschmuggelt. Wer sich dabei erwischen lässt, braucht nicht mit Milde zu rechnen: Kuhdiebe kriegen eine Kugel durch die Brust.
„Früher“, erinnert sich Terry wehmütig, „versammelten sich alle vaqueiros der Rupununi zu den legendären Round-ups, mal in Imprenza, wo ich geboren wurde und aufwuchs, mal sonst wo auf einer Ranch, wann immer dort Rinder gezählt, gebrandmarkt, kastriert und Pferde zugeritten werden sollten. Das war stets ein Ereignis; alle bannahs halfen, dann wurde für sie eine Kuh geschlachtet, und es gab einen Festschmaus. Kaum ausgenüchtert ging es ab zur nächsten Ranch; die vaqueiros führten ein wildes, unbändiges, freies Leben.“
Die Rupununi – jahrtausendelang war sie nur von Amerindians bewohnt. Ab dem 16. Jahrhundert kursierte in Europa die Legende von El Dorado: Irgendwo im Innern Südamerikas liege ein riesiger See, der Parima oder Amuku, an dessen Ufern sich die goldene Stadt Manoa befinde. Ungezählte Expeditionen rüsteten sich daraufhin, dieses Goldland zu finden und auszubeuten – alle vergebens. Heute geht man davon aus, dass der geheimnisvolle See nichts anderes als die während der Regenzeit überschwemmte Rupununi gewesen sein könne. Und die goldene Stadt – ein Hirngespinst. Auch nach der Kolonisierung Guyanas durch Holländer und Briten blieb die Rupununi für Fremde beinahe unerreichbar: dichte Dschungel verwehrten potenziellen Eindringlingen aus der kultivierten Küstenregion den Durchgang. Und doch gelangten entflohene Sklaven, Gewaltverbrecher, Menschenjäger, Goldschürfer, Forschungsreisende und Missionare bis hierher. Aus Brasilien kamen regelmäßig Menschenhändler, raubten ganze Familien der Amerindians, um sie bei sich zu Hause zu verkaufen, und entvölkerten so ganze Landstriche.
Unter den ersten Weißen, die in der Rupununi siedelten, befand sich Terrys Großvater Harry Pradey Colan Melville, ein schottischer Abenteurer, der noch zu Lebzeiten zur Legende wurde und wie kein zweiter Mensch die Rupununi prägte. Alles begann damit, dass Wapishana-Amerindians ihn, einen todkranken jungen Mann, im Ufergebüsch eines Schwarzwasserbaches entdeckten. Er war dort von seinen Begleitern – Goldsuchern – zum Sterben zurückgelassen worden. Die Wapishana trugen ihn ins Dorf, pflegten ihn, integrierten ihn in ihre Gemeinschaft, gaben ihm sogar zwei Schwestern als Frauen, deren Namen er nicht auszusprechen lernte und die er darum Janet und Mary nannte. Die erste gebar vier, die zweite sechs Kinder, darunter Terrys Vater Charles. Nach missglückten Versuchen, über den reißenden Essequibo River Handelsbeziehungen mit Georgetown aufzubauen, ließ sich Melville erst in Wichabai, dann in Dadanawa nieder, begann ab 1892 mit der Rinderzucht – und gelangte als Fleischlieferant des im Kautschukrausch aufblühenden Manaus zu beträchtlichem Wohlstand. Reichtum bescherte ihm die Idee, in Guyanas Dschungeln Kautschuk zu gewinnen, sowie sein Einfluss auf die Amerindians und die britische Kolonialregierung, die ihn 1911 zum Commissioner und Magistrat der Rupununi ernannt hatte.
Mit seinem Schwiegersohn Ben L. Hart, einem geborenen US-Amerikaner, der die Pirara-Ranch bewirtschaftete, versuchte der alte Melville sein waghalsigstes Unternehmen: eine Bresche zu schlagen in die Urwaldmauer, die ihn von der dicht besiedelten Küste trennte, um auf diesem Weg Rinder in die Schlachthäuser der Kolonie zu treiben. Der oft überwachsene und unpassierbare so genannte Cattle Trail stellte über Jahrzehnte die einzige Überlandverbindung dar und wurde schließlich vom Dschungel zurückerobert.
Der alte Melville war Begründer einer Dynastie, eines Geschlechtes so zahlreich und lebenstüchtig, dass es keine Familie gab, die im Süden Guyanas mehr Macht besaß. Die etwa 5.000 Quadratkilometer große Dadanawa-Ranch übergab er nach dem ersten Weltkrieg den Kolonialbehörden. Sie existiert seitdem als Aktienunternehmen, anfangs noch mit bis zu 40.000 Rindern, heute mit höchstens 4.000. Melvilles Söhne und Töchter übernahmen fast sämtliche anderen Rupununi-Ranchs und sorgten für immensen Nachwuchs. Er selbst aber wurde im Alter von den Gespenstern seiner Vergangenheit eingeholt, brach mit allem, was ihn mit der Rupununi verband, reiste nach Schottland, heiratete eine Schottin und starb dort kurz darauf, im Jahre 1927.
Terrys Vater Charles Melville, der die Imprenza-Ranch führte, nahm sich zunächst Mamai Maria zur Frau, eine der letzten überlebenden Atorad-Amerindians, und zeugte mit ihr fünf Kinder. Dann heiratete er eine walisischstämmige Arawak, die ihm weitere Kinder schenkte – darunter: Terry, der seinen englischen Tee schlürft, der den Sternenhimmel jede Nacht nach Satelliten absucht, der es genießt, stundenlang den Blattschneiderameisen zuzuschauen, der Brahman-Rinder und Phoenix-101-Bullen liebt, der nichts, aber auch gar nichts hält von der „Giraffenbrut“ – das heißt den Kühen mit den langen Beinen: Die haben nämlich zu wenig Fleisch, und von der Unruhe, die die ungeliebten Coastlanders in die Rupununi tragen, seit der „Trail“ nach Georgetown eröffnet wurde: „Der hat die Rupununi auf ewig verdorben!“
Terrys Mutter Edwina verstand es, die Zukunft aus dem Teesatz zu lesen. Sie sagte voraus, ob ein Mann nicht vom Balata-Sammeln zurückkehren, das Vieh von Vampiren bedroht, der Regen ausbleiben, eine Frau Zwillinge gebären, deren zukünftiger Ehemann Trinker werden würde. Was sie nicht voraussagte, war die harte Zeit des Exils, die den Melvilles bevorstehen sollte.
Am 2. Januar 1969 – gerade haben Staatschef Forbes Burnham und seine afro-guyanisch dominierte sozialistische Partei dank dreister Manipulationen die politischen Wahlen im seit kurzen unabhängigen Guyana gewonnen – stürmen Gruppen schwer bewaffneter Männer in einer von Pirara ausgehenden Blitzattacke Lethems Polizeistation und die Außenposten Annai und Good Hope. Die Angreifer – später wird die Regierung sie „Terroristen“ nennen – sind sämtlich Mitglieder der Hart- und Melville-Familien beziehungsweise deren Angestellte. Sie haben Bazookas und Maschinengewehre bei sich, töten fünf der zwölf in Lethem anwesenden Polizisten, legen, noch bevor Nachricht nach Georgetown gegeben werden kann, die Funkstation lahm, jagen schließlich das Gebäude in die Luft. Der District Commissioner der Rupununi, seine Frau und andere Beamte werden ins Schlachthaus gesperrt. Vorsorglich blockieren die Rebellen sämtliche Landepisten der Umgebung – bis auf Manari. Dennoch gelingt es einem kleinen Flugzeug, nach Georgetown durchzubrechen und dort die Nachricht vom „Rupununi Uprising“ zu verbreiten. Sofort fliegt ein Armeesonderkommando, ausgerüstet mit Granaten und Flammenwerfern, in die Krisenregion, landet in Manari. Die Soldaten schlagen die Rebellen in die Flucht, verhaften achtundzwanzig von ihnen. Etwa siebzig Rebellen entkommen nach Brasilien und Venezuela, wo sie bereitwillig Asyl erhalten. Sieben Amerindians bleiben tot zurück. Tausende BewohnerInnen der Rupununi sind durch die Ereignisse so verstört, dass sie sich tagelang in den Kanuku-Bergen, den Pakaraimas oder in Brasilien versteckt halten.
Die genauen Hintergründe des Aufstandes sind bis heute nicht völlig geklärt. Sicher ist, dass die Harts und Melvilles ihren eigenen unabhängigen Staat ausrufen wollten. Den beteiligten Amerindians ging es um Landrechte. Sie befürchteten eine staatlich legalisierte Invasion ihrer Stammesgebiete durch die westindische Küstenbevölkerung. Kurz vor Weihnachten 1968 hatte es eine Lagebesprechung der Rancher gegeben. Über die Feiertage waren einige von ihnen in ihrer Privatmaschine von Pirara nach Venezuela geflogen, wo sie eine Woche im Gebrauch moderner Waffen ausgebildet wurden, bevor sie am Neujahrstag zurückkehrten – mit schwerem Gepäck. Unter den aktiv Beteiligten waren auch Söhne von Charles Melville und Mamai Maria.
Terry war damals 17 Jahre alt. Wie alle übrigen Familienmitglieder musste er seine Rupununi verlassen und ins brasilianische Exil gehen, und es sollten fünf Jahre verstreichen, bis er seine Heimat wieder sah. Viele Melvilles der älteren Generation sahen sie nie mehr. Die Glanzzeit der großen Rancher-Familien war vorüber.
Das Talglicht flackert. Terry schlürft seinen Tee, und in sein Schlürfen mischen sich die Schreie der Eulen und fernes Aufheulen eines Hundes. Terry ohne englischen Tee, das wäre fast so schlimm wie Terry ohne seine Rupununi.
„Vor einigen Jahren“, erzählt Terry, „ kamen ein paar Verwandte aus Georgetown auf Besuch, mit denen war ich bei Pirara fischen. Auf dem nächtlichen Weg zurück hatten wir mehrere Hügel zu überqueren, von denen man einen weiten Ausblick hat. Auf dem ersten Hügel sagten die bannahs zueinander: ‚Schau, die Lichter da hinten am Horizont – das ist Lethem!’ Ich daraufhin: ‚Entschuldigung, bannahs, das ist nicht Lethem, sondern Bonfim!’ Beim nächsten Hügel sahen sie wieder Lichter in der Ferne und riefen: ‚Schau, Lethem!’ Und ich: ‚Tut mir leid, bannahs, das ist nicht Lethem, sondern ein Savannenbrand!’ Sie sahen mich irritiert an. Ich: ‚Bannahs, seht ihr die dunkle Stelle zwischen dem Buschfeuer und Bonfim? Das ist Lethem!’“ So war es. In der ganzen Rupununi gab es bis 1999 keinen elektrischen Strom. Mit den Ranchern war auch die Chance auf Fortschritt jahrzehntelang verschwunden. Lethems benzinbetriebener Generator funktionierte nur wenige Stunden pro Tag. Erst der mit chinesischer Hilfe errichtete kleine Staudamm am Moco-Moco Creek erlaubte eine regelmäßige Energieversorgung Lethems und der umliegenden Siedlungen – doch schon seit Jahren sind die Generatoren mangels ausreichender Wartung nicht mehr in Betrieb.
Weitere Entwicklungsprojekte sind im Gange: Binnen kurzem soll eine Brücke über den Río Takutu, die Guyana und Brasilien miteinander verbindet, fertig gestellt werden. Dann wird Lethem endgültig aus seinem Dornröschenschlaf erwachen.
Sektenmissionare dringen inzwischen bis in entlegenste Teile der Savannen vor, WissenschaftlerInnen horchen im Auftrag der Pharmaindustrie die Amerindians aus. Wen wundert es da, dass manche Tuschaus (Häuptlinge) Fremde ohne Genehmigung nicht in ihren Dörfern dulden und sofort verjagen? Terry will umziehen, weg aus der Umgebung von Lethem, dem Fortschritt entgehen, ungestört sein in seiner Rupununi. Doch längst schon ist sie nicht mehr wirklich „seine“ Rupununi: Bereits 1998 erhielt Vannessa Ventures Ltd., ein kanadisches Bergbauunternehmen, vom guyanischen Staat Explorationsrechte für ein riesiges Gebiet, in dem Gold und Diamanten in großen Mengen vermutet werden. Teil dieses Gebietes ist die Rupununi. Die Suche nach El Dorado geht also weiter. Mittlerweile hat Vannessa Ventures mit der Ausbeutung der Bodenschätze begonnen.
Die Hunde heulen die ganze Nacht. Am nächsten Morgen perlt kühler Tau von den Gräsern der Savanne: Speichel der Sterne – so nennen ihn die Makushi in ihrer Sprache. „Sammle schon mal Feuerholz!“, ruft Terry seiner Frau Paulette* zu, um sich Mut zu machen, denn er möchte die Fischfalle kontrollieren, die er am Vorabend im Moco-Moco Creek gebaut hat. Er hofft auf einen reichen Fang: Ein Nachbar will gestern am Oberlauf des Baches Kutis und Yakatus gesehen haben. So eine Nachricht verbreitet sich schnell. Terry lacht Paulette an: „Hast du auch genug Salz für die Fische?“ Er spannt seine Brust und bahnt sich den Weg durch das Ufergebüsch am schwarzen Bach. Er weiß, seine Frau schaut ihm nach – stolz.
Doch die Fischfalle ist leer.

* Vornamen geändert

„Asyl war immer was für Leute aus der Politik“

Pablo: „Buenaventura war früher eine sehr friedliche Stadt. Man konnte zu jeder Tages- und Nachtzeit ausgehen. Aber die Probleme mit der Guerilla, den Paramilitärs, dem Drogenhandel und der Regierung selbst kamen auch nach Buenaventura. Man denkt immer, es wird einen nie persönlich treffen. Man denkt, man beobachtet alles von weitem. Wenn dann plötzlich das eigene Leben bedroht ist, dann merkt man, wie schwierig die ganze Situation ist. So war es auch in unserem Fall. Adrianas Onkel ist in Dinge hineingeraten, mit denen er nichts zu tun haben wollte. Er wurde gezwungen, mit der Guerilla zu kooperieren.“
Adriana: „Er hatte einen kleinen Laden und die Guerilla nutzte ihn für ihre Versorgung. Daraufhin haben Paramilitärs seine zwei Söhne getötet. Mein Onkel konnte zunächst entkommen, aber als er in Cali bei der Menschenrechtsombudsstelle Anzeige erstatten wollte, haben ihn die Paramilitärs umgebracht. Es passierte, was immer in Kolumbien passiert: Jemand stirbt bei dem Versuch, Schutz zu suchen. Bei der Behörde geben sie dir einen Termin in 20 Tagen. Da hat der Mörder viel Zeit, dich zu töten.“
Pablo: „Adrianas Bruder verbrachte viel Zeit mit den Söhnen dieses Onkels, sie lebten alle in einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Buenaventura. Als ihr Onkel ermordet wurde, musste Adrianas Bruder fliehen. Die FARC beschuldigten ihn des Verrats. Er kam zu uns nach Hause und so kam das Ganze zu uns. Ihr Bruder musste sich einen anderen, sichereren Ort suchen, aber die Guerilla beharrt darauf, dass wir ihn decken. An diesem Punkt beginnen sie, dich persönlich zu verfolgen. Sie kommen zu dir nach Hause, rufen an, schicken SMS und Briefe mit Drohungen.“
Adriana: „Sie sagten immer, ich soll gut nachdenken, ob ich mich nicht erinnere, wo er ist.“

„Namen zu nennen, ist nicht ratsam“

Pablo: „So setzen sie einen unter Druck. Man weiß nicht was man tun soll. Weil sie den Bruder nicht finden, fangen sie an, dir zu drohen. Sie stehen dir gegenüber, so wie wir jetzt bei diesem Gespräch, und sagen dir: „Du hast 48 Stunden, um dein Haus zu verlassen.“ Da kriegt man Angst. Besonders schlimm wurde es, als Adriana mit ihrem kleinen Sohn im Bus überfallen wurde. Die Täter nahmen ihr die Handtasche weg. Sie dachte erst, es sei ein normaler Raubüberfall, aber sie sagten: „Wir haben ein Problem mit dir, nicht mit den anderen.“ Das war traumatisch. Erst sind wir in einem anderen Viertel untergekommen. Dann war es dort auch nicht mehr sicher. Also in eine andere Stadt, nach Cali, wo meine Mutter und einige meiner Brüder wohnen. Wir haben Anzeige bei den Behörden erstattet, bei der Staatsanwaltschaft, bei der Polizei und beim Ombudsbüro. Aber es passierte nichts.
Die Staatsanwaltschaft nimmt die Anzeige nicht mal an, wenn du den genauen Namen des Täters nicht nennen kannst! Außerdem sind aus der Staatsanwaltschaft und der Polizei selbst Personen involviert – zum Teil sogar aus der Regierung. Das heißt, wenn du sagst, die und die Person ist es, gehst du eine doppelte Gefahr ein.“
Adriana: „Selbst wenn man die Namen kennt, ist es nicht ratsam, sie zu nennen. Weil du vielleicht genau den denunzierst, bei dem du die Anzeige erstattest.“
Pablo: „In Cali waren wir auch nicht sicher. Bei Adrianas Onkel war es ja auch so gewesen, dass sie ihm gefolgt sind. Am Ende haben sie ihn umgebracht, als er gerade Schutz suchte. Du fühlst dich im eigenen Land nicht mehr sicher. Deshalb haben wir uns entschieden zu gehen. Ich habe sehr viel im Internet recherchiert, über alle möglichen Länder. Wir haben Anwälte befragt. Asyl, das war immer was für Leute aus der Politik. Als dann das mit der FARC passierte… da fühlt man sich schon irgendwie politisch. Wenn man bedroht wird, versucht man herauszufinden, wo man schnell hingehen kann. Es war nicht so wichtig wohin, Hauptsache schnell. Deutschland schien uns eines der Länder zu sein, in dem die Menschenrechte geschützt werden. Anderswo, in Frankreich, Spanien, Italien, waren die Aufnahmebedingungen schwieriger. In Kanada fordern sie zum Beispiel Sprachkenntnisse, gleich wenn man ankommt.“

„Wir kamen uns vor wie im Gefängnis“

Adriana: „Wir haben auch in Kolumbien versucht, Schutz zu bekommen. Die Behörden haben das abgelehnt, weil wir keine Leibwächter bezahlen konnten. Sie haben uns geraten, das Land zu verlassen. Das Geld für den Flug haben wir von Freunden und Verwandten geliehen.
Am Frankfurter Flughafen haben uns Polizisten empfangen. Wir haben ihnen erklärt, dass wir in Kolumbien verfolgt werden und in Deutschland Asyl suchen. Auf spanisch – wir wussten ja nicht mal, wie man auf deutsch „Guten Tag“ sagt. Gott sei dank hatten wir aber ein Dokument auf Englisch dabei, wo alles drinstand. Einer der Polizisten brachte uns zu einem Büro. Sie redeten nicht mit uns, aber sie durchsuchten uns sehr intensiv. Unsere Koffer, unsere Körper, alles. Sie machten viele Fotos, von allen Seiten. Wir kamen uns vor wie im Gefängnis. Sie fragten, ob wir Geld hätten und nahmen uns unsere Papiere ab, ohne zu sagen, wann wir sie zurückbekämen. Abends brachten sie uns zu einem Flüchtlingslager. Es gab zu essen, aber man durfte nicht raus. Niemand erklärte uns wie es weitergehen würde und die meisten anderen sprachen kein Spanisch. Nach sechs Tagen schickten sie uns nach Gießen in ein anderes Flüchtlingslager und drei Tage später nach Braunschweig.
In Frankfurt hatten sie uns schon Blut abgenommen und uns untersucht, in Gießen und in Braunschweig dann wieder. Über die Ergebnisse der Untersuchungen haben sie uns nichts gesagt. Naja, wenn wir was Schlimmes hätten, hätten sie uns wohl Bescheid gesagt – also nehme ich an wir sind kerngesund! (lacht).
Jetzt sind wir also im Flüchtlingsheim in Braunschweig. Es gibt noch mehr Kolumbianer hier, auch zwei aus Buenaventura. Weil sie kein Geld für den Flug hatten, haben sie sich auf einem Schiff versteckt, im Frachtraum. Die Überfahrt nach Hamburg hat 17 Tage gedauert. Insgesamt waren sie zu viert. Zwei sind auf der Überfahrt gestorben. Das Schiff hatte Bananen geladen und sie sind an den Chemikalien im Frachtraum erstickt. Die andern beiden haben knapp überlebt. Jetzt sind sie in Braunschweig gelandet.“
Pablo: „Der Alltag im Heim ist ziemlich durchorganisiert…“
Adriana: „…ja, wenn man nicht zu den festgelegten Zeiten in die Kantine kommt, kriegt man nichts mehr zu essen.“
Pablo: „Es ist was anderes, ob man isst, wann man will oder ob man essen muss, weil es Essen gibt.“

„Wir wussten nicht was wir unterschreiben“

Adriana: „Wir bekamen einen Termin zur Befragung. Als wir ins Büro kamen, saßen dort eine Deutsche und eine Übersetzerin, eine ältere Frau, die ich kaum verstand. Ich dachte immer, sie redet deutsch mit mir, bis sie mir gesagt hat, ich spreche gerade Spanisch mit Ihnen. Aber ich konnte sie einfach nicht verstehen. Sie stellte mir die Fragen und ich antwortete. Aber mir ist aufgefallen, dass ich viel und lange gesprochen habe und sie nur ganz wenig übersetzt hat. Erst dachte ich, wahrscheinlich sind die deutschen Worte kürzer. Das Protokoll, das wir unterschreiben mussten, war dann auch auf Deutsch.“
Pablo: „Wir wussten gar nicht genau, was wir unterschreiben!“
Adriana: „Man wird getrennt befragt. Teilweise fragen sie Dinge, da dachte ich, sie wollen, dass man durcheinander kommt. Aber die Fakten sind ja die gleichen und man hat sie erlebt und erzählt sie so, wie sie passiert sind. Die Übersetzung ist leider nicht sehr gut. Wir haben gemerkt, dass da Dinge drin stehen, die wir so nicht gesagt haben. Zum Beispiel steht bei mir im Protokoll, dass ich die Nichte des Bürgermeisters von Buenaventura sei. Die Nichte des Bürgermeisters von Buenaventura hat reichlich Geld und sie wäre längst in New York, sie würde ihr Leben genießen und an einer angesehenen Universität studieren! Ich bin einfach nur die Nichte eines Gemeindevorstehers aus einem Dorf bei Buenaventura.
Irgendwann kam dann die Antwort auf unseren Asylantrag. Auf Deutsch, logischerweise. Da hat man den Bescheid in der Hand, 16 Seiten, und weiß nicht was drin steht. Ich kann schon ein paar Dinge auf Deutsch sagen, aber um diese 16 Seiten zu lesen… Wir hatten auf ein „Ja“ gehofft. Aber bei den Worten, die da standen, da war kein Ja dabei. Wir suchten uns jemanden, der uns die Antwort übersetzen konnte. Es war eine Ablehnung. Die Begründung ist, dass die FARC-Guerilla keine politische Gruppe sei. Dabei sollte es doch eigentlich gleichgültig sein, woher die Gewalt kommt, oder?
Wir wussten inzwischen schon, dass Kolumbianer in Deutschland kaum Asyl bekommen. Einige Kolumbianer sind aus dem Flüchtlingsheim abgehauen. Sie waren verzweifelt, sie sagten: „Wenn nicht die mich töten, die mich in Kolumbien verfolgen, dann töten mich die, die mir das Geld geliehen haben, um das Land zu verlassen.“ Die meisten sind nach Spanien gegangen, klar, wegen der Sprache. Natürlich ohne Papiere, unsere Ausweise liegen ja alle bei den Behörden. Manche haben Familie oder Freunde in Spanien. Bei uns ist das nicht der Fall, wir wissen nicht, wohin wir gehen sollen. Sonst wären wir vielleicht schon weg.“
Pablo: „Jetzt haben wir große Angst, dass wir zurückgeschickt werden.“
Adriana: „Aber wir können nicht zurück. Dabei sehnen wir uns eigentlich danach, zurückzugehen. Wir träumen davon, dass es in Kolumbien Frieden gibt, dass man ohne Angst auf der Straße herumlaufen könnte. Als wir hier ankamen, das war sehr seltsam. Wenn nachts ein Auto langsam an uns vorüber fuhr, dachten wir gleich, dass jemand schießen könnte.“
Pablo: „Das ist der psychologische Druck…“
Adriana: „…ja, auch im Dezember mit den ganzen Feuerwerkskörpern. Da war man völlig erschrocken, weil man dachte, das sei eine Bombe oder sie würden schießen. Man steckt noch in der Phase, in der man in Gedanken in Kolumbien ist. Und dann fällt einem wieder ein, ich bin ja in Deutschland, in Sicherheit. Wir hoffen immer noch, Asyl zu bekommen. Dann wären wir hier sicher und ich könnte meinen Sohn nachholen. Mein größter Wunsch ist, wieder mit ihm zusammen zu sein. Denn mein Leben, meine Seele ist eigentlich in Kolumbien geblieben.“

* Namen geändert

Von wegen Wandel

Auf dem Hauptplatz des kleinen Städtchens Atoyac im Bundesstaat Guerrero steht eine Bronzestatue. Sie erinnert an den 1974 vom Militär erschossenen Guerillero Lucio Cabañas. Am 18. Mai 1967 schlugen hier Kaziken (lokale Machthaber) und Regierung einen LehrerInnen- und Elternprotest blutig nieder. Daraufhin war der Dorflehrer Cabañas in die Berge gezogen, um Bauern und Bäuerinnen für den bewaffneten Kampf zu gewinnen. Es sollte der Anfang der Guerilla Partei der Armen werden. Zu Füßen der Statue des verehrten Maestro liegen Blumen. Nur der Sockel befindet sich noch im Rohzustand – angeblich weil die zuständige lokale NRO Spendengelder aus der Bevölkerung veruntreut hat.
Unweit des Platzes befindet sich der Sitz von Afadem (Vereinigung der Angehörigen von Verhaftet-Verschwundenen), einer der vielen Angehörigenorganisationen, die seit den 1970er Jahren nach ihren vom Staat verschleppten Familienmitgliedern suchen und die Bestrafung der Täter einfordern. Circa 1.300 verhaftet-verschwundene Personen zählt die Liste von Afadem seit 1968. Knapp die Hälfte davon stammt aus Guerrero, die meisten sind Bauern und Bäuerinnen (siehe Kasten). Tita Radilla, Vizepräsidentin der Organisation, Gladivir Cabañas und Geschäftsführer Julio Mata sitzen in einem spärlich eingerichteten Büroraum. „Es ist nicht einfach, die jüngste Vergangenheit von Atoyac aufzuarbeiten,“ erklären sie. Cabañas, Sohn eines Verschwundenen und Neffe von Lucio Cabañas ist selbst erst seit einigen Monaten bei Afadem. Vorher habe er zuviel Angst gehabt, verfolgt zu werden, sagt er. „An der Repression gegen soziale Aktivisten hat sich hier nicht viel geändert,“ meint Cabañas. Etliche der Betroffenen würden kaum über das Erlebte sprechen geschweige Anzeige erstatten, erzählt Radilla. Die lokale Arbeit zu Menschenrechten und Erinnerung in Gemeinden sei deshalb sehr wichtig. „Auch wir wussten jahrelang nicht, wie man eine formale Anzeige erstattet,“ fügt Radilla hinzu. Inzwischen hat Afadem eine Klage vor die Interamerikanische Menschenrechtskommission bringen können. Es handelt sich um den Fall von Tita Radillas Vater, Rosendo Radilla, der 1971 vom Militär verhaftet wurde und bis heute verschwunden ist. Es ist der erste Fall des so genannten „Schmutzigen Kriegs“ in Mexiko, der vor dieser Instanz verhandelt werden wird. Etwas Stolz liegt in Tita Radillas Stimme, als sie davon erzählt. Bei der Frage, was ihre Zusammenarbeit mit der „Sonderstaatsanwaltschaft für soziale und politische Bewegungen der Vergangenheit“ (Femospp) gebracht habe, verziehen die drei AktivistInnen jedoch ihre Mienen. Keinen ihrer Fälle habe diese Einrichtung vorangebracht, sagt Julio Mata.

Leere Versprechungen

Dabei hatte Fox zu Beginn seiner Amtszeit große Töne gespuckt. „Wahrheit und Gerechtigkeit“ hatte er versprochen, von „Rechtsstaat“ und „Menschenrechten“ war viel die Rede in jenen Tagen. 2002 hatte Fox per Dekret die Sonderstaatsanwaltschaft Femospp eingerichtet und die Polizeiarchive der 1985 aufgelösten politischen Polizei DFS geöffnet. Auf den ersten Blick erschien das Projekt vielversprechend: Neben der Aufklärung des Schicksals der Verschwundenen und der Massaker von 1968 und 1971 während der StudentInnenproteste in Mexiko-Stadt wurde die Femospp beauftragt, die Verantwortlichen juristisch zu belangen, der mexikanischen Öffentlichkeit einen historischen Bericht über die Repression zu präsentieren und Entschädigungsmodi zu erarbeiten. Afadem fungierte seither als Nebenklägerin der Femospp in 300 der insgesamt 644 Vorermittlungen.
Doch Anfang Januar 2007 wurde die Sonderstaatsanwaltschaft nach monatelangen Gerüchten einer bevorstehenden Schließung letztlich sang- und klanglos aufgelöst. Angeblich sollen die Vorermittlungen und die wenigen eingeleiteten Prozesse von der Bundesstaatsanwaltschaft PGR weiter verfolgt werden. Dazu zählt auch die Ermittlung gegen Ex-Präsident Luis Echeverría, der seit Ende November 2006 unter Hausarrest steht und wegen Völkermordes angeklagt ist (siehe LN 391). Doch der PGR war die Femospp von Anfang an ein Dorn im Auge. Die Schließung hatte der Ex-Vorsitzende der PGR Daniel Cabeza de Vaca mit der Begründung befohlen, sie habe „ihren Auftrag erfüllt“. Der seit 1. Dezember letzten Jahres amtierende Präsident Felipe Calderón hingegen hat nie auch nur ein einziges Wort über die Aufarbeitung der Repression oder über die Femospp verloren. „Die Komplizenschaft zwischen dem aktuellen Regime und denen, die politische Gegner systematisch verschwinden ließen, ist offensichtlich“, kommentierte der ehemalige politische Gefangene und Journalist Marco Rascón auf einer Pressekonferenz im Januar die Schließung.
Ihren Auftrag hat die Behörde dabei nicht annähernd erfüllt: Fast kein Schicksal eines Verschwundenen wurde aufgeklärt. Erst im November 2006 – unter dem Druck ihrer drohenden Schließung – hatten MitarbeiterInnen zum ersten Mal die leiblichen Überreste von zwei Bauern und Guerilleros in Guerrero ausfindig gemacht. Bei der Rechtssprechung sind die Ergebnisse ähnlich ernüchternd. Bis heute ist kein Angehöriger der Streitkräfte vor Gericht gestellt worden. Lediglich bei einigen Polizeibeamten und zwei der Hauptverantwortlichen der DFS gelang dies. Der ehemalige Direktor der DFS, Luis de la Barreda, wurde bisher jedoch in den meisten Prozessen freigesprochen. Einer der Hauptverantwortlichen der paramilitärischen Brigada Blanca, Miguel Nazar Haro, darf seine Strafe unter Hausarrest absitzen. Ob Echeverría tatsächlich gerichtlich zur Rechenschaft gezogen wird, ist im besten Falle zweifelhaft.
Ex-Präsident Vicente Fox sorgte von vornherein für die Wahrung der Interessen des Militärs. Denn die Weisung des Gründungsdekretes der Femospp lautete, dass „juristische Anschuldigungen gegenüber Institutionen oder Gruppen zu vermeiden seien“. 2002 modifizierte die Regierung kurzerhand die zuvor von ihr unterzeichnete „Interamerikanische Konvention gegen Verschwindenlassen“: Sie hob deren Rückwirksamkeit auf und fügte hinzu, dass die Militärgerichtsbarkeit für Klagen gegen Militärs zuständig sei – de facto ein Freibrief für das Militär. Eine spätere Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichtshofes verbesserte allerdings wieder die Möglichkeit, in Mexiko wegen Verschwindenlassen zu ermitteln.
Auch Sonderstaatsanwalt Carrillo Prieto nahm das Militär mehrmals öffentlich in Schutz. Als „lobenswert“ bezeichnete er einen vom Verteidigungsministerium ausgearbeiteten Amnestievorschlag für das Militär. „Mexiko braucht eine Versöhnung seiner Bürger mit dem Militär“, so seine Begründung.
Die Femospp beschnitt auch eigenhändig ihre Möglichkeiten, indem sie gar nicht erst wegen des Tatbestands „Verschwindenlassen“, sondern wegen “Illegaler Freiheitsberaubung im Sinne einer Entführung“ ermittelte – ein individueller Tatbestand, der zudem verjährt. Menschenrechts- und Angehörigenorganisationen warfen ihr deshalb vor, nicht zu unterscheiden zwischen „der Aufgabe, gewöhnliche Verbrechen zu untersuchen und individuelle Verantwortlichkeiten auszumachen und der Aufgabe, Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufzuarbeiten, die im Kontext einer staatlich verbürgten und systematischen Repression begangen wurden“.
Für kurzen Aufruhr sorgte im Februar 2006 die inoffizielle Veröffentlichung des schwerwiegenden historischen Abschlussberichts der Femospp. Das Historikerteam war Ende 2005 entlassen worden, als klar wurde, welch kritisches Dokument im Namen der Behörde verfasst worden war. Monatelang leitete Carrillo Prieto den Bericht nicht zur Veröffentlichung an Präsident Fox weiter. Daraufhin schickten die AutorInnen ihn schließlich an einige Medien und Einzelpersonen. Das Militär war im Bericht klar als hauptverantwortliche Institution der Repression hervorgegangen. Fox war das Thema zu diesem Zeitpunkt nur noch lästig. Als er in einem Interview mit der BBC zu dem Bericht befragt wurde, reagierte er entnervt: Der Bericht sei „inoffiziell“ und „unseriös“. Überhaupt habe die Femospp ihren Auftrag bereits erfüllt, der Oberste Gerichtshof habe entschieden, dass die Verbrechen verjährt seien (sic!) und „nun möge er doch bitte über Themen reden dürfen, die ihn interessieren“, so Fox im Interview. Mehrere Monate später veröffentlichte die Femospp eine verwässerte Version des Berichts auf ihrer Internetseite.
Gladivir Cabañas‘ Angst vor Verfolgung ist nicht aus der Luft gegriffen. „Im November 2003 wurde in Atoyac der Bauer Zacarias Barrientos mit großkalibrigen Waffen von Unbekannten erschossen,“ erzählt Tita Radilla. „Danach kam der Sonderstaatsanwalt nie mehr hierher.“ Für die Justiz war es ein Eifersuchtsdrama. Afadem jedoch verdächtigt das Militär. Denn Barrientos war der wichtigste Zeuge der Femospp in Atoyac. Der Bauer war in den 1970er Jahren vom Militär festgenommen und zur Kollaboration in der Aufstandsbekämpfung gezwungen worden. Als die Sonderstaatsanwaltschaft eingerichtet wurde, begann er, als Zeuge für sie auszusagen. „Er wusste viel, sehr viel,“ sagt Radilla, „er hat viele von unseren Angehörigen denunziert und war von der Gemeinde verstoßen worden. Ich denke, er wollte sich von dieser Last frei machen.“ Zeugenschutz für Barrientos hatte Afadam vergebens von der Sonderstaatsanwaltschaft gefordert. „Fox“, sagt Cabañas, „hat die Femospp nur geschaffen, um internationale Aufmerksamkeit zu erregen und sich als Menschenrechtler zu präsentieren.“ Doch nichts sei daran wahr.

KASTEN:

Rebellion, Kooptation und Repression

Kaum eine Guerilla Lateinamerikas ist so erfolgreich vergessen und isoliert worden wie die mexikanische. Zwischen 1963 und 1990 soll es rund 40 Guerillagruppen in Mexiko gegeben haben, in denen fast 2.000 Personen aktiv waren. Lucio Cabañas Bauernguerilla Partei der Armen zählte zu den größten unter ihnen. Die Gesamtzahl der Opfer der staatlichen Repression ist schwer zu ermitteln. Schätzungen des mexikanischen Historikers Fritz Glockner zufolge ist von bis zu 8.000, mindestens aber von 3.000 Opfern zwischen 1969 und 1979 auszugehen. Hauptakteure im Kampf gegen die Guerilla waren die Armee und der 1985 abgewickelte Bundessicherheitsdienst DFS, de facto eher eine politische Polizei.
Der Politikwissenschaftler Sergio Aguayo spricht von einer „Doppelstrategie“ der Regierung Echeverría (1970-1976). Auf der einen Seite schuf Echeverría neue Partizipationskanäle, investierte in die Hochschulen, gewährte Tausenden von politisch Verfolgten aus Lateinamerika Asyl und initiierte eine Öffnung des Wahlsystems – nicht zuletzt als Antwort auf die Legitimitätskrise des Regimes, die die blutige Niederschlagung der StudentInnenbewegung 1968 massiv verstärkt hatte. Auf der anderen Seite ging die Regierung mit äußerster Brutalität und Systematik gegen die studentische und die bewaffnete Linke und ihre soziale Basis vor. Dazu bediente sich der Staat extralegaler Verhaftungen und Hinrichtungen, paramilitärischer Einheiten, geheimer Gefängnisse, der systematischen Folter und des Verschwindenlassens. Am 2. Oktober 1968, mit Echeverría als Innenminister, wurden auf einer Kundgebung in Mexiko-Stadt mehrere hundert Studierende von Sicherheitskräften erschossen. Am 10. Juni 1971 löste die paramilitärischen Einheit Los Halcones eine StudentInnendemonstration blutig auf. Mehr als hundert Menschen kamen ums Leben. In Guerrero bombardierte die Armee ganze Landstriche, um den „Feind im Inneren“ zu eliminieren und die Solidarität der Landbevölkerung mit der Guerilla zu brechen, wie es im inoffiziell veröffentlichten Abschlussbericht der Angehörigenorganisation Femospp heißt. Mit der Ermordung von Lucio Cabañas 1974 hatte Echeverría die Guerilla in Guerrero vorerst besiegt.
José López Portillo (1976-1982) machte 1978 ein Amnestieangebot an die Guerilla und ermöglichte der linken Opposition erstmals die Partizipation an Präsidentschaftswahlen. Gleichzeitig schuf er die als Todesschwadron bezeichnete Brigada Blanca zur Bekämpfung der Guerilla Liga Comunista 23 de Septiembre. 1982 hatte sie die Stadtguerilla zerschlagen und die Mehrzahl ihrer Mitglieder ermordet oder verhaftet. Die Guerilla jedoch kehrte in Guerrero, Chiapas, Oaxaca und anderen Bundesstaaten in den 1990er Jahren wieder. Unter Fox kam es erneut zu einem starken Anstieg der Guerillaaktivität. Zum Auftakt der Regierung Felipe Calderón detonierten am 7. November 2006 mehrere Sprengstoffbomben vor dem Wahlgericht, der Parteizentrale der PRI und einer Bankfiliale in Mexiko-Stadt. Fünf bewaffnete Kommandos bekannten sich zur Tat. Auslöser für die permanente Wiederkehr der Guerilla in Mexiko seien, so schreibt der Historiker Carlos Montemayor, die unwirksamen polizeilich-militärischen Konfliktlösungsstrategien, die soziale und politische Ursachen für die Radikalisierung ignorieren.

Angst vor den Roten

Frau Zehnder, wie haben Sie den Putsch vom 11. September 1973 in Chile erlebt?

Ich wohnte damals in Santiago. Meine Tochter war gerade sechs Wochen alt und ich war im Mutterschutz. Da ich eigentlich als Buchhalterin arbeitete, verdiente ich einigermaßen und hatte mir ein kleines Haus mieten können. Dort bot ich immer ein paar Leuten ein Quartier an, die als politische Flüchtlinge aus anderen Ländern kamen, vor allem Bolivianern und Argentiniern.
In den Tagen vor dem Putsch gab es in Santiago viele Attentate, mit denen die Militärs die Stimmung aufheizten. Sie schoben die Morde zwar den Kommunisten in die Schuhe, aber eigentlich waren sie selbst die Urheber. Jeden Tag, jede Nacht hörten wir Explosionen. Aber am 10. September war es ganz still. Da sagten die Bolivianer: Morgen früh gibt es einen Militärputsch. Sie kannten sich aus, sie hatten das schon ein paar Mal erlebt.

Wurden Sie in den Tagen danach verfolgt?

Alle Flüchtlinge aus meinem Haus, das waren ungefähr zehn, wurden abgeholt und ins Nationalstadion gebracht. Die Angst war groß, was mit ihnen passieren würde. Es wurden so viele umgebracht in den ersten Tagen, und die Lastwagen, die aus dem Nationalstadion kamen, waren voller Leichen. Aber die Leute aus meinem Haus haben alle überlebt.

Was ist Ihnen selbst passiert?

Ich konnte mich zunächst noch einigermaßen frei bewegen und habe mich auf die Suche nach den Verhafteten gemacht. Im Laufe der Zeit wurde es aber auch für mich eng. Ich wurde einmal verhört, musste untertauchen und kam schließlich in einem Flüchtlingslager des UNHCR [Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen, Anm.d.R.] unter. Dort begann für mich eine Zeit, in der ich mich völlig leer fühlte, nur meine Tochter beschäftigte mich. Einmal kamen vier Frauen, die wollten etwas von mir wissen. Aber ich wollte überhaupt nichts erzählen, nur schlafen, mich um meine Tochter kümmern, nichts weiter. Ich lebte dort, aber es war, als ob ich gar nicht richtig lebte. Das dauerte rund 20 Tage, bis Anfang November. Als wir hier ankamen, schneite es schon.

Im November 1973 kamen Sie in die Schweiz?

Ja, aber das hatte ich nie gewollt. Nicht in die Schweiz! Das waren ja die Kapitalisten. Ich hatte gehofft, ich käme entweder nach Holland oder nach Schweden, diese beiden Länder waren besonders aktiv in ihrem Einsatz für Verfolgte. Aber mich haben die Schweizer mitgenommen. Alle Länder, die aufnahmebereit waren, schickten ihre Beamten in das Flüchtlingslager. Dort brachten sie uns in einen Raum, wir stellten uns in einer Reihe auf und dann wählten sie aus. Sie schauten, ob wir jung oder alt waren, ob wir bei guter Gesundheit waren, fragten, ob wir ausgebildet waren oder nicht, ob wir studiert hatten.

Und was wurde aus denen, die nicht gesund und jung und gebildet waren?

Die blieben dort! Wir erfuhren überhaupt nicht, um welche Länder es ging. Man sagte uns, morgen früh kommt ein Bus der UNO. Dann wurden wir zum Flughafen gebracht und waren gespannt, wer uns dort in Empfang nehmen würde. Wir sahen, dass es ein Schweizer Flugzeug war, und erfuhren so, wohin es ging. In diesen Stunden habe ich mich etwas gefühlt wie ein Tier auf dem Markt, so wie sie uns von der einen Seite und von der anderen beschaut haben. Aber gut, es ging um unser Leben! Wir haben uns nicht beschwert, dass man uns so behandelte. Wir hatten immer noch Angst, auch dort in dem Flüchtlingslager. Ich glaube, das war eine der wenigen Situationen in meinem Leben, in denen ich mich nicht gewehrt habe. Obwohl es viel Grund dazu gegeben hätte.

Wie sind Sie in der Schweiz empfangen worden?

Uns war kalt, und wir sind alle erst einmal krank geworden (sie lacht). Untergebracht wurden wir in einem Hotel in Pully bei Lausanne, wo wir anderthalb Monate blieben. In den ersten Wochen durften wir das Haus nicht verlassen. Ich erinnere mich, dass da alte Spanier kamen, die den Bürgerkrieg mitgemacht hatten und in der Schweiz lebten. Sie interessierten sich nun für uns und unsere Geschichte. Die Polizei ließ sie in den ersten Wochen nicht zu uns, wir wurden isoliert. Die Angst vor uns Roten war einfach riesig.
Über Weihnachten 1973 waren wir bei einem Kinderarzt in Genf. Es hatte nämlich eine Kampagne gegeben, dass Familien über Weihnachten Flüchtlinge aufnehmen sollten. Das war wunderbar. Er konnte Spanisch, und er hat meine Tochter, die eine Mittelohrentzündung bekam, gleich versorgt.

Wie erhielten Sie Ihr Asyl?

Das ging ganz einfach. Ich war unter den 200 Flüchtlingen, die mit dem Kontingent des Schweizer Bundesrates aufgenommen wurden. Wir waren unter den ersten, die aus Chile kamen.

Wenig später kam dann die so genannte Freiplatzaktion [siehe Kasten, Anm.d.R.] zustande. Erinnern Sie sich daran?

Ja, die war sehr wichtig. Dabei machte die Polizei den Flüchtlingen viele Probleme, denn die waren ja quasi illegal ins Land gekommen und baten dann hier um Asyl. Die meisten kamen über italienische Flughäfen und reisten über die Tessiner Grenze ein. Dort wurde streng kontrolliert. Eine schwierige Zeit.

Wie gestaltete sich Ihr Kontakt zu Kollegen, zu Nachbarn?

Zunächst lief das sehr schlecht, ich konnte mich ja überhaupt noch nicht verständlich machen. Französisch lernte ich erst später, dann war es kein Problem mehr. Viele Leute verhielten sich sehr ablehnend. Und wir wurden genau kontrolliert! Unsere Nachbarn wurden aufgefordert, zu melden, was ihnen auffiel – zum Beispiel, ob wir Besuch erhielten. Einmal kam ein Ehepaar zu Besuch, chilenische Flüchtlinge, die in Schweden Asyl erhalten hatten. Nachdem sie zwei Wochen da waren, kam die Polizei und teilte ihnen mit, dass sie am nächsten Tag abreisen müssten.
Auf der anderen Seite gab es auch Menschen, die uns halfen. Das Protestantische Sozialzentrum in Moutier hat uns sehr unterstützt. Sie besorgten uns Flüchtlingen im Ort eine bessere Wohnung, und ich begann dann auch, Kurse zu besuchen. Sie überzeugten mich endlich, dass es gut wäre, etwas für meine Bildung zu tun, die Sprache zu lernen, mich mit meiner neuen Umgebung zu beschäftigen. Das hat lange gedauert.

Warum? Wenn Sie sich bis dahin nicht integrieren wollten – hatten Sie dann den Wunsch, so bald wie möglich nach Chile zurückzukehren?

Nein. Wenn ich zurückgekehrt wäre, wäre ich mit Sicherheit verhaftet worden. Das war keine Perspektive. Ich sah überhaupt keine Perspektive, das war ja das Problem. Denn auch der Aufenthalt in der Schweiz öffnete mir keine Fenster. Zunächst habe ich mich nur in meinen vier Wänden wohl gefühlt, ich wollte sonst vom Land nichts wissen. Ich suchte nichts! Ich hatte Frieden, hatte Ruhe. Es gab dann eine Gruppe von Jugendlichen, die sich um uns kümmerten. Es waren nur ein paar wenige, aber sie kamen immer wieder, setzten sich zu mir an den Tisch, unterhalten konnten wir uns nicht, aber sie kamen wieder. Ich machte ihnen Tee oder Kaffee.

Haben denn die Behörden Versuche unternommen, Sie zu integrieren?

Uns Flüchtlingen wurde nicht klar gemacht, was wir von der Schweiz erwarten konnten und was nicht. Die Lebensumstände hier waren uns überhaupt nicht vertraut. Da gab es so skurrile Szenen wie bei einer Freundin, bei der irgendwann der Mann von den Rundfunkgebühren vor der Tür stand und eine Nachzahlung für die letzten zwei Jahre verlangte. In Chile zahlte man damals überhaupt keine Rundfunkgebühren, jeder hatte so viele Geräte wie er wollte. Sie hat sich furchtbar aufgeregt und ihr Radio zum Fenster hinausgeworfen.
Aber das gilt auch für wichtige Themen. Zum Beispiel hätte man uns klar machen können, dass wir besser leben könnten, wenn wir einen Job haben. Die Abhängigkeiten, sei es von einem Mann, der das Geld verdient, oder von einer Behörde, die einen versorgt, die waren sehr unangenehm in diesem fremden Land. Auch dem Protestantischen Sozialzentrum gegenüber fühlte ich mich etwas unwohl, weil ich von ihnen etwas erhielt, was ich nicht selbst verdient hatte. Erst als ich dann selbst gearbeitet habe, hat sich das langsam geändert.

Haben Sie dann nach Ihren Kursen Arbeit gefunden?

Ich fand hier etwas, in unserem Dorf. Sie fragten zum Glück nicht, woher ich kam. Sie brauchten jemanden, ich brauchte Arbeit, also fing ich an. Bei der ersten Lohnauszahlung wollten sie meine Papiere sehen, und ich zeigte ihnen meinen Flüchtlingspass. Das war eine echte Katastrophe. Ich bin sicher, sie hätten mich nicht dabehalten, wenn sie mich nicht unbedingt gebraucht hätten. Sie hatten vor uns Flüchtlingen aus dem kommunistischen Chile eine riesige Angst – dass wir Gewerkschaften gründen könnten, dass wir die Beschäftigten kommunistisch beeinflussen würden und so weiter. Dass wir unsere Revolution nun hier machen würden, wo sie in Chile gescheitert war.

Dieses Interview ist Teil einer fortlaufenden Reihe, die sich mit der lateinamerikanischen Realität in der Schweiz beschäftigt – sowohl historisch als auch aktuell. Ziel ist es, ein breites Spektrum lateinamerikanisch-schweizerischer Themen zu betrachten und darüber kritisch zu berichten.

KASTEN:
Die Freiplatzaktion

Beim Ungarn-Aufstand 1956 und dem sowjetischen Einmarsch in Prag 1968 war die Schweizer
Exekutive, der Bundesrat, noch umstandslos bereit gewesen, Tausende von Flüchtlingen aufzunehmen. Anders 1973: Die Menschen aus Chile flohen schließlich nicht vor einem kommunistischen Regime, sondern waren selbst Linke. Erst unter massivem Druck sagte der Bundesrat ein Kontingent von 200 Flüchtlingen aus Chile zu, angesichts der Tausenden Verfolgten in Chile ein Hohn. Im Dezember 1973 riefen engagierte Schweizerinnen und Schweizer deshalb alle politischen und kirchlichen Gemeinden auf, je fünf Plätze für politische Flüchtlinge aus Chile zur Verfügung zu stellen. Binnen kürzester Zeit wurden „Freiplätze” für 3000 Flüchtlinge zugesagt, obwohl sich viele Gemeinden verschlossen und sich die großen kirchlichen Hilfswerke querstellten. Die Swissair verweigerte anfangs Flüchtlingen die Beförderung, und der Bundesrat erließ, nachdem die ersten fünf Menschen tatsächlich eingetroffen waren, eine Visumspflicht für Chileninnen und Chilenen. Bis in die achtziger Jahre konnten dennoch rund 2000 Flüchtlinge in die Schweiz gerettet werden – oft unter hohem Einsatz der „Freiplätzler”, die manche Flüchtlinge persönlich aus Chile herausholten.

Politisches Geschacher um neue Verfassung

Das politische Chaos in Ecuador hält an. Um den Forderungen der sozialen Bewegungen nach einer neuen Verfassung für das Land nachzukommen, reichte Präsident Alfredo Palacio Mitte Oktober bei der obersten Wahlbehörde einen Antrag auf ein Referendum ein. Doch die Behörde wies die Initiative des Präsidenten als „unausgewogen und verfassungswidrig“ zurück. Nur in äußerst dringenden Fällen politischer Instabilität sei es dem Präsidenten laut der geltenden Verfassung erlaubt, über den Kongress hinweg eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen. Dies sei aber laut der Wahlbehörde nicht der Fall. Andere VerfassungsexpertInnen erkennen dem Präsidenten generell das Recht ab, ein Referendum für dieses Ziel auszurufen.
Einiges weist somit darauf hin, dass die unausgereifte Initiative von Palacio eher als Versuch zu verstehen ist, die schwache Unterstützung innerhalb der Bevölkerung auszubauen, statt eine tief greifende politische Veränderung des Landes anzugehen. Palacio, unter Ex-Präsident Lucio Gutiérrez Vizepräsident, übernahm nach dessen Sturz im April dieses Jahres das Amt des Präsidenten. Bis Anfang 2007 hat er es weiterzuführen. Bei seinem Amtsantritt verpflichtete er sich, eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen. Zunächst konnte dies die politischen Turbulenzen, die Ecuador seit gut zehn Jahren beherrschen, beenden. Acht Präsidenten hatten erfolglos versucht, das Land aus der Krise zu führen. In der Bevölkerung gilt eine neue Verfassung als Heilmittel, die politische Stabilität wiederzuerlangen.

Angst um die Macht

Die sozialen Bewegungen und linken Parteien setzten den Präsidenten unter Druck, weiter an dem Referendum festzuhalten. Währenddessen bemühten sich die traditionellen Parteien im Kongress, diese Initiative auf eine Reform der Verfassung zu minimieren, über welche der Kongress selbst zu entscheiden hat. Ihre Angst: Eine verfassungsgebende Versammlung hätte die Macht, den Kongress aufzulösen und den Einfluss der Parteien auf die Staatsapparate zu beschneiden.
Mit Erfolg. Palacio legte dem Kongress seinen Entwurf zur Bearbeitung vor, wo dieser nun wahrscheinlich politisch zu Grabe getragen wird, statt wie geplant Ende des Jahres an den Urnen beurteilt zu werden. Die Mehrheit der Abgeordneten des Ein-Kammer-Parlaments kündigte an, die Version des Präsidenten erst gar nicht zu analysieren, sondern stattdessen Reformen für die geltende Verfassung einzuleiten. „Der Vorschlag zu einer verfassungsgebenden Versammlung ist gefährlich für das Land”, verteidigte der Kongress-Präsident Wilfrido Lucero die Haltung des Parlaments. „Dieser rechtfertigt sich nur im Falle einer Diktatur.”
Weit entfernt ist das Land von diesem Szenario nicht. So ist etwa das Justizsystem Ecuadors zutiefst gelähmt. Außerdem konnte seit knapp drei Jahren der oberste Posten der Staatsaufsichtsbehörde nicht besetzt werden. Diese untersucht Unregelmäßigkeiten in den Regierungsstellen. Für die Besetzung ihrer Posten ist eine Zweidrittel-Mehrheit unter den Abgeordneten nötig, die bisher nicht zustande kam. Nun wollen die Abgeordneten durchsetzen, dass eine einfache Mehrheit genügt, um den Stau bei der Postenverteilung abzubauen. Mehr dürfte nicht zu erwarten sein.
Palacio, der keiner Partei angehört und somit kaum Unterstützung im Kongress genießt, könnte zum Bauernopfer im Gerangel um die Verfassungsreform werden. Abgeordnete drohten dem Präsidenten mit politischen Verfahren. Sie warfen ihm vor, anhand der verfassungsgebenden Versammlung eine Verlängerung seiner Amtszeit zu suchen, was dieser umgehend zurückwies. Sollte Palacio nicht das Referendum vorantreiben und sich mit dem Kongress arrangieren, drohen die sozialen Bewegungen mit neuerlichen Protesten auf der Straße. Palacio bekräftigte zunächst, dass der begonnene Prozess für eine neue Verfassung „unumkehrbar” sei. Doch das Einreichen des Referendums im Kongress hat diesem Prozess jegliche Aussicht auf Erfolg genommen.

Ablenken mit Außenpolitik

Vorübergehende Abhilfe bekam Palacio durch außenpolitische Themen, die ins Sichtfeld der Öffentlichkeit rückten und ihm so den politischen Druck durch das Referendum von den Schultern nahmen. Zwischenfälle an der Grenze zu Kolumbien und mögliche Änderungen der peruanischen Grenzpolitik ließen Palacio außenpolitisch agieren, statt die innenpolitische Krise zu meistern. Kampfhubschrauber und Militäreinheiten der kolumbianischen Armee sollen in der zweiten Novemberwoche bei einer Militäroperation gegen Guerillagruppen das Grenzgebiet überschritten haben. Palacio setzte nicht auf stille Diplomatie, sondern ließ den Zwischenfall öffentlich austragen und kündigte eine umgehende Stippvisite in der Zone an. Quito reichte eine Protestnote bei der kolumbianischen Regierung ein und forderte eine öffentliche Entschuldigung. Bogotá verweigerte diese jedoch, da es nie zu einer Grenzüberschreitung gekommen sei.
Die ecuadorianische Regierung rief das Nachbarland ebenfalls auf, eine Lösung für die rund 300.000 kolumbianischen Kriegsflüchtlinge zu finden, die in den letzten Jahren in Ecuador Zuflucht suchten. So sollen allein mehr als 1.000 Bauern und Bäuerinnen auf Grund der jetzigen Militäraktion in ecuadorianische Provinzen geflüchtet sein.
Für weitere Unruhe sorgte der ehemalige Erzfeind Peru. Der peruanische Kongress kündigte Ende Oktober eine Änderung der Meeresgrenzen zu Chile an, was in Ecuador mit Sorge betrachtet wird. Bis zu einem Friedensvertrag 1998 hatten Peru und Ecuador militärisch Grenzstreitigkeiten ausgetragen. Nun wird in Quito befürchtet, das damals abgeschlossene Abkommen über die Anerkennung des Grenzverlaufs beider Länder könnte von Peru annulliert werden. „Ecuador muss sich militärisch für diesen Fall rüsten”, forderte der ecuadorianische Ex-Präsident León Febres Cordero. Der Kongress beschloss, dass es keine offenen Fragen über den Grenzverlauf gebe und Peru somit keine Änderungen vornehmen dürfe. Vorsorglich wurde schon mal mit dem Säbel gerasselt: der Kongress bestellte die obersten Militärchefs für den 22. November ein, um über militärische Reaktionen unterrichtet zu werden, sollte das Nachbarland Schritte zur Veränderung seiner Grenzen unternehmen. Palacio stellte zwar klar, dass sein peruanischer Kollege Alejandro Toledo ihm gegenüber versichert habe, dass die gemeinsamen Grenzen nicht zur Debatte stünden. Ein Zügeln der eifernden ParlamentarierInnen war vom Präsidenten jedoch nicht zu hören.

Ab in den Knast

Ein anderes Manöver, das fehlschlug, leistete sich unterdessen der Ex-Oberst und Ex-Präsident Lucio Gutiérrez, der am 14. Oktober nach monatelangem Asyl im Ausland nach Quito zurückkehrte. Bei seiner Landung in der ecuadorianischen Hauptstadt wurde er umgehend verhaftet. Gutierréz, der sich nach wie vor als legitimer Präsident proklamiert, wollte das politische Chaos in Ecuador nutzen, um mit Hilfe seiner AnhängerInnen eine Rückkehr an die Macht zu erreichen. Sein Versuch endete hinter Gittern.

Eingesperrt in Diktatur und Demokratie

Belinda, als Sie nach acht Jahren aus dem Gefängnis kamen, herrschte in Chile schon Demokratie. Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Eindruck?
Ich fühlte mich vollkommen fremd. Diese Gesellschaft und diese Leute waren so ganz anders als ich sie kannte. Niemand grüßte mehr auf der Straße. Im Gefängnis, in Grenzsituationen, hasst der Mensch entweder oder er antwortet mit Liebe. Wir haben uns untereinander sehr geholfen. Als ich dann rauskam, traf ich auf eine völlig desinteressierte und egoistische Gesellschaft. Dieser Individualismus, diese Kälte – das war wie eine Mauer.
Sie sind im Oktober 1994 von Präsident Patricio Aylwin begnadigt und daraufhin entlassen worden.
Begnadigt in Anführungsstrichen. Chile ist das einzige Land in Südamerika, in dem die politischen Gefangenen nicht sofort frei kamen. Wir blieben in den Händen der Militärgerichtsbarkeit, obwohl wir Zivilpersonen waren. Wir haben das überhaupt nicht verstanden. Schließlich haben wir ja dazu beigetragen, dass die Demokratie sich durchsetzen konnte. Aber erst vier Jahre später kam die Begnadigung. Und die musste man beantragen und um Entschuldigung bitten. Ich habe mich lange dagegen gewehrt. Ich hatte mich für nichts zu entschuldigen.

Wieso Begnadigung in Anführungsstrichen?
Uns wurde unsere Strafe nicht erlassen, sie wurde nur umgewandelt. Ich musste wählen – um Asyl im Ausland bitten und eine Einreisesperre für Chile von 12 Jahren erhalten oder während der sieben Jahre Strafe, die noch übrig waren, mich jeden Monat bei der Polizei melden. Viele Mitgefangene haben sich selbst exiliert. Für mich kam das nicht in Frage. Ich blieb ohne Rechte und behielt einen Eintrag im Strafregister wie eine gewöhnliche Kriminelle. Damit hat man allerdings keine Chance, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Viele ehemalige politische Gefangene sind auf diese Weise heute immer noch sozial ausgeschlossen.

Wieso wurden die politischen Gefangenen so behandelt?
Die chilenische Regierung schloss einen Pakt mit den Militärs zu deren Bedingungen. Sie wussten, dass zu Zeiten der Diktatur jeder Vorwand genügte, um jemanden ins Gefängnis zu bringen. Und trotzdem ließen sie aus Angst vor den Militärs zu, dass wir alle nur einer nach dem anderen freigelassen wurden. Das war sehr schmerzhaft für uns. Die Situation erscheint mir auch noch heute völlig surreal und verlogen. Diejenigen, die uns eingesperrt und gefoltert haben, leben auf freiem Fuß, arbeiten sogar als Ärzte oder Lehrer. Wir aber sind nach wie vor stigmatisiert.

Wie erlebten Sie diese Stigmatisierung?
Ich fand keine Arbeit, obwohl ich dank eines Stipendiums aus Dänemark studieren konnte. Erst lernte ich Fremdsprachensekretärin, dann wurde ich Lehrerin. Das war sehr schwer für mich, denn als ich ins Gefängnis kam, hatte ich gerade einmal fünf Jahre die Schule besucht. Den größten Teil meiner Bildung erhielt ich von meinen Mitgefangenen. Wir setzten im Gefängnis das Recht auf Prüfungen durch, so dass ich zu einem offiziellen Abschluss kam. Aber dann bekam ich keine Stelle wegen meines Eintrags im Strafregister. Nicht einmal die Universidad Bolivariana mit ihrer Abteilung für Menschenrechte gab mir eine Chance. Zu vier Vorstellungsgesprächen haben sie mich eingeladen. Eine der Angestellten erkannte mich und meinte: Ah, Belinda, Sie waren doch die letzte politische Gefangene. Sie wurden gefoltert, nicht wahr? Und ich habe ganz naiv davon erzählt, denn ich dachte, hier herrscht Vertrauen. Sie haben mich nie wieder angerufen. Das war ein harter Schlag. Danach blieb mir nur eins: mich noch einmal ihren Bedingungen zu beugen und mich zwei weitere Jahre lang jeden Monat bei der Polizei zu melden, damit auch der Eintrag ins Strafregister gelöscht wurde. Jedes Mal, wenn ich dort war, fragte ich mich zähneknirschend, warum ich mir das antat. Aber es war die einzige Chance, die ich hatte. Im Juli letzten Jahres habe ich meine letzte Unterschrift geleistet. Erst jetzt darf ich wieder wählen und muss nicht mehr durch die Hintertür um Arbeit bitten.

Im letzten Jahr wurde ein Bericht über die Folter in Chile veröffentlicht. Haben Sie dort auch ausgesagt?
Ja, aber ich war froh, dass so viele Compañeros und Compañeras dort waren, die meine Geschichte kannten. So musste ich keine Details erzählen. Die Folter habe ich ganz tief in meiner Erinnerung verschlossen. Was sich mir stark eingeprägt hat, war der Moment, in dem ich das Gesicht meines Folterers gesehen habe. Da spürte ich unwahrscheinlichen Hass und gleichzeitig Mitleid. Das sind kranke Seelen, die sie dafür ausbilden. Ich habe mich immer gefragt, was ich tun würde, wenn ich ihm eines Tages auf der Straße begegnen würde. Ich weiß es nicht. Ich habe das Gedicht „Zärtlichkeit“ darüber geschrieben.
Belinda schweigt kurz und zitiert dann:

Deine Strafe wird es sein
mich lächeln zu sehen,
denn Du konntest mir die Zärtlichkeit nicht
entreißen, die, der du Stromstöße versetzt hast.

Was hat die Veröffentlichung des Berichts gebracht?
Viele Leute wussten bis dahin nicht, was in den Gefängnissen wirklich geschehen ist. Sie waren entsetzt. Jetzt aber ist das für immer in der Geschichte festgehalten. Doch auch diese Situation ist wieder ambivalent, denn die Folterer werden ja nicht strafrechtlich verfolgt. 15 Jahre nach Ende der Diktatur unterwirft sich die Regierung immer noch den Bedingungen der Militärs.

Existiert denn eine reale Bedrohung durch einen Putsch?
Ich glaube nicht, dass die Bedingungen für einen Putsch gegeben sind. Aber er wird als Vorwand genutzt, die Menschen ruhig zu halten. In ihrem Programm hatte die Regierung versprochen, die Verfassung von Pinochet zu ändern oder dessen Privatisierungen rückgängig zu machen. Nichts davon wurde in die Tat umgesetzt, aus Angst vor den Militärs. Und so schwiegen die Menschen. Schließlich sind in der Diktatur ja auch Leute verschwunden, die sich nicht politisch engagierten. Die Angst sitzt tief.
Bleibt nach solchen Erfahrungen nicht Wut auf Ihr Land zurück?
Auf mein Land, nein. Aber auf das System, das in Chile herrscht. Unbewusst habe ich mich immer mehr zurückgezogen. Ich will nichts mehr von all dem wissen. Mein Mann sagt: „Du bist so light geworden“. Das tut sehr weh. Aber ich kann nicht mehr anders. Ich habe alles gegeben. Die einzige Hoffnung, die ich noch habe, sind die Jugendlichen. Deshalb wollte ich auch Lehrerin werden. Ich will nicht diese Jugend, die die Diktatur zurückgelassen hat, die nicht spricht, die keine eigene Meinung hat. Ich habe sie ja selbst erlebt, als ich mit ihnen studierte. Niemand hat dort diskutiert oder widersprochen. Ich aber möchte Kinder erziehen, die kritisch sind, die Fragen stellen und Vorschläge machen. Das ist das Einzige, was mir heute noch bleibt.

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