Von der Vergangenheit eingeholt

Die Bevölkerung Ecuadors hat dazu gelernt. In strömendem Regen verhinderten hunderte DemonstrantInnen am Nachmittag des 20. Aprils das Abheben eines kleinen Privatjets vom Flughafen der Hauptstadt Quito. Mehrere Präsidenten hatten in den letzten acht Jahren diesen Weg der Flucht ins meist karibische Ausland gesucht, um sich vor der wütenden Bevölkerung und der Justiz zu schützen. Dem 48-jährigen Ex-Oberst Lucio Gutiérrez gelang die Flucht jedoch nicht. Ihm blieb nichts anderes übrig, als um diplomatisches Asyl in der brasilianischen Botschaft zu ersuchen.
Wenige Stunden zuvor hatte das Parlament Gutiérrez nach nur zwei Jahren und drei Monaten seines Amtes enthoben. Auch die bis dato treuen Streitkräfte hatten dem Staatschef ihre Unterstützung entzogen. Die Abgeordneten begründeten ihre Entscheidung mit „Amtsvernachlässigung, Unterdrückung von Demonstrationen und Verletzung der Verfassung” durch den Präsidenten.
Auf der anderen Seite wurden allerdings auch andere Stimmen laut, die das Verfahren als Staatsstreich interpretieren. Der peruanische Botschafter bei der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), Alberto Borea, drückte zum Beispiel Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Absetzung von Gutiérrez aus: „Die OAS darf nicht einfach darüber hinwegsehen, dass die Dinge in Ecuador nicht rechtmäßig abliefen”. Das Ein-Kammer-Parlament, das aus 100 Abgeordneten besteht, hatte bei Anwesenheit von nur 62 ParlamentarierInnen mit 60 Stimmen für eine Absetzung des Präsidenten gestimmt. Dafür ist jedoch eigentlich eine absolute Mehrheit von mindestens 67 Stimmen notwendig. „Die Frage ist nun, ob die fehlenden 38 Abgeordneten ordnungsgemäß befragt wurden”, so Borea. Bis dies geklärt sei, wolle die OAS eine Anerkennung der neuen Übergangsregierung abwarten.

Ecuador unter chirurgischen Händen

Den Umständen zum Trotz legte der bisherige Vizepräsident Alfredo Palacio auf Initiative des Parlaments kurz nach Gutiérrez Absetzung den Amtseid provisorisch in einem anderen Gebäude statt im Parlament ab, da dieses von aufgebrachten DemonstrantInnen blockiert wurde. Der 66-jährige Chirurg ist der fünfte Präsident des krisengeschüttelten Landes binnen acht Jahren. In einer ersten Erklärung sagte er zu, die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung zu prüfen. Forderungen der DemonstrantInnen nach einer Auflösung des Parlaments und Neuwahlen lehnte er jedoch ab. Laut dem Verfassungsrechtler Enrique Echevarría würde die Auflösung des Parlaments durch Palacio „einem diktatorischen Akt” gleich kommen. Doch auch die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung käme den verarmten Andenstaat teuer zu stehen. „Dies würde 25 Millionen US-Dollar kosten, die im Moment besser für die Gesundheitsversorgung der EcuatorianerInnen aufgebracht werden sollten”, so Echevarría.
Auch der von der Mehrheit der Bevölkerung geforderten Wiedereinführung einer nationalen Währung wollte Palacio kein grünes Licht erteilen, obwohl er die Zirkulation des US-Dollars „als größten Fehler” verurteilte. Dieser ist wurde 2000 als alleinige Währung Ecuadors eingeführt. Der Greenback sollte damals die Hyperinflation und den Staatsbankrott stoppen.
Um die explosive Stimmung im Land etwas zu beschwichtigen, kündigte Palacio die Auflösung eines Erdölfonds an, der unter Gutiérrez geschaffen worden war, um die öffentlichen Schulden von mehr als 14 Milliarden US-Dollar abzubauen. Stattdessen soll dieses Geld nun in soziale Investitionen fließen und zur Stabilisierung des Haushalts beitragen.

Gescheiterter Populist

Ähnliche Maßnahmen hatte Gutiérrez bei seinem Amtsantritt im Januar 2003 ebenfalls versprochen. Damals war er für viele noch ein Hoffnungsträger für einen radikalen strukturellen Wandel in sozialen und wirtschaftlichen Belangen des Landes gewesen. Sein Lebenslauf gab ihm zunächst Recht: Im Jahr 2000 hatte er als Armeeoberst gemeinsam mit der indigenen Bewegung einen populären Aufstand gegen die damalige Regierung Gustavo Noboas angeführt, der ihm den Ruf eines progressiven und unkomplizierten „Mann des Volkes“ bescherte.
Doch schon wenige Monate nach seinem Amtsantritt überwarf sich Gutiérrez mit der indigenen Pachakutik-Partei, die erstmals Regierungsverantwortung für die indigene Bevölkerung Ecuadors übernahm, die mehr als 40 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Nachdem seine einstigen Koalitionspartner nun zur Opposition wurden, drehte Gutiérrez, um politisch zu überleben, seine Fahne nach dem Wind, der ihm am günstigsten erschien. Mehrere Versuche der parlamentarischen Opposition aus christlich-sozialer Partei (PSC), der Pachakutik und der Demokratischen Linken (ID), ihn abzusetzen und ein politisches Verfahren wegen Gefährdung der Staatssicherheit und Geldverschleuderung einzuleiten, konnte Gutiérrez abwenden, indem er ehemals gegnerische Parteien mit politischen Ämtern und Einfluss ausstattete.
Das Fass zum Überlaufen brachte er jedoch im Dezember vergangenen Jahres. Nachdem ihn Opposition und Oberster Gerichtshof als „Diktator” stigmatisiert hatten, ließ Gutiérrez am 8. Dezember 27 der 31 obersten Richter durch den Kongress auswechseln. Die nötigen Stimmen für diesen Schritt bekam er durch die Roldosisten-Partei (PRE) des Ex-Präsidenten Abdalá Bucaram, der sich so den Weg für seine Rückkehr nach Ecuador aus dem Exil in Panama erkaufte. Der 1997 wegen Unzurechnungsfähigkeit abgesetzte Bucaram reiste Anfang April in sein Heimatland ein, nachdem der Gerichtshof laufende Verfahren gegen ihn eingestellt hatte. Ihm folgte Ex-Präsident Gustavo Noboa, der sich ebenfalls entlastet sah.
Tausende MitarbeiterInnen der Justiz forderten daraufhin eine Wiedereingliederung der ausgewechselten Richter, da sonst die Justiz in der Macht des Präsidenten läge. Am 13. April begannen hunderttausende Menschen, gegen die Regierung auf die Straße zu gehen. Die DemonstrantInnen forderten Gutierrez´ Rücktritt. Ein kurzzeitiger Ausnahmezustand und die Einwilligung des Präsidenten, die Richter wieder einzusetzen, konnten das Ende von Gutiérrez nicht mehr aufhalten.

Autonome Rebellion

Proteste und Gewalt in Ecuador, die in den letzten Jahren kontinuierlich das vorzeitige Ende von Präsidenten besiegelten, sind nicht neu. Diesmal überraschte jedoch die unorganisierte Kraft auf der Straße. Hatten zuvor die gut organisierten Indígenas mit ihren Blockaden und Märschen das Geschick der Regierenden in der Hand, waren es diesmal hauptsächlich BürgerInnen der Mittelschicht vor allem aus der Hauptstadt Quito, die die Nase voll hatten vom politischen Geschacher ihres Präsidenten. Die unbescholtene Rückkehr von Bucaram und dessen unverhohlene Ankündigung, wieder in die Politik einzusteigen, gaben die Initialzündung zum offenen Zorn in der Bevölkerung.
„Was in unserem Land passiert ist einmalig in Lateinamerika”, meint dazu der Gouverneur der Demokratischen Linken der Provinz Pichincha, Ramiro González. „Die Bevölkerung hat eine autonome Rebellion ohne politische Struktur durchgeführt und dabei die Parteien beiseite gelassen”.
Der kolumbianische Politologe Carlos Patiño warnte dagegen vor einer Deinstitutionalisierung des Nachbarlandes. „Mit jedem Sturz eines Präsidenten, der durch die Straße erfolgt, verliert das Land immer weiter an parlamentarischer Glaubwürdigkeit und Stabilität”, so Patiño. Regierbarkeit und demokratische Auseinandersetzung würden so immer schwieriger.
Mit umso schärferen Tönen versucht deshalb nun der frisch eingesetzte Präsident Alfredo Palacio die Gemüter zu besänftigen. „Die Diktatur, die Morallosigkeit und die Angst haben ein Ende. Es wird kein Vergessen und Vergeben für diejenigen geben, die die Republik nicht respektiert haben”, so Palacio vor dem Parlament. Die provisorische Generalstaatsanwältin Cecilia Armas de Tobar ordnete die Festnahme von Gutiérrez an, der bei Redaktionsschluss – zwei Tage nach dem Sturz – noch in der brasilianischen Botschaft ausharrte.
Doch auch das politische Schicksal von Palacio, der laut Verfassung die Amtszeit bis 2007 weiterzuführen hat, steht in den Sternen. Denn auch wenn die Proteste der DemonstrantInnen vorerst abgeflaut sind, bleiben deren Forderungen weiter bestehen: Auflösung des Parlaments und Neuwahlen binnen kürzester Zeit.

Gladys Marín 1941 – 2005

Am 8. März 2005, dem Weltfrauentag, wurde Gladys Marín, die Präsidentin der Kommunistischen Partei Chiles (PCCH) in Santiago de Chile zu Grabe getragen. Hunderttausende Chileninnen und Chilenen, weit mehr als sie bei den Präsidentschaftswahlen 1999 gewählt hatten, säumten den Weg durch die Hauptstadt zum Friedhof. Am Vortag war „la Gladys“, wie sie von vielen genannt wurde, im Ehrensaal des ehemaligen Kongressgebäudes aufgebahrt worden. Die Präsidentschaftskandidatinnen der Sozialistischen Partei, Michelle Bachelet, und der Christlich-Demokratischen Partei, Soledad Alvear, erwiesen ihr ebenso feierlich die letzte Ehre wie der sozialistische Staatspräsident Ricardo Lagos, der – sichtlich bewegt – mit den Versammelten die Internationale, die Hymne der Arbeiterbewegung anstimmte. Zuvor hatte er zwei Tage Staatstrauer angeordnet, wodurch auch die Streitkräfte verpflichtet wurden, ihre Fahnen auf Halbmast zu setzen. Delegationen und Kondolenzschreiben aus aller Welt feierten die charismatische Politikerin – oft mit der legendären Pasionaria Spaniens verglichen – je nach politischem Standpunkt als standhafte Kommunistin, überzeugte Demokratin und furchtlose Kämpferin für die Menschenrechte.
Eines war Gladys Marín, die in den letzten beiden Jahren den Kampf gegen einen Gehirntumor trotz Operationen in Schweden und Kuba verloren hatte, gewiss: eine über jeden Selbstzweifel erhabene, überzeugte Kommunistin. Aufgewachsen als Tochter einer allein lebenden Grundschullehrerin auf dem Lande, ging sie 1952 mit nur 11 Jahren allein nach San- tiago und schloss mit nur 16 Jahren ihre Ausbildung zur Sonderschullehrerin ab. Auf der Schule war sie mit der Kommunistischen Jugend (JJCC) in Kontakt gekommen, die nach zehn Jahren des Verbots während des Kalten Krieges unter den Jugendlichen Santiagos viele Sympathien auf sich zog. Reisen in die Sowjetunion machten die Mitgliedschaft in dieser Organisation für viele Jugendliche sehr attraktiv und festigten die Gefühle der Verehrung für das „Vaterland aller Werktätigen“. Die junge Gladys ist unter den jungen Genossinnen und Genossen wegen ihrer Begeisterungsfähigkeit schnell sehr beliebt, steigt mit 19 Jahren ins Zentralkomitee der JJCC auf und wird vier Jahre später, kurz nach ihrer Heirat mit dem Genossen Jorge Muñoz, zur Generalsekretärin der Kommunistischen Jugend gewählt. Die sechziger Jahre sind die Zeit des allmählichen politischen Aufstiegs der chilenischen Linken, und die Führerin der KP-Jugend wird zu einer Art Ikone dieses Aufstiegs. Die führenden Köpfe der Partei, Luis Corvalán, Volodia Teitelboim, Pablo Neruda und andere, werden schnell auf sie aufmerksam und fördern ihren Aufstieg auch in der Partei. 1965 wird sie für die proletarischen Viertel Santiagos als Deputierte in den Kongress gewählt, in dem sie bis zum Militärputsch 1973 bleibt. In diesen Jahren wird sie zu einer Verfechterin einer eisernen Parteidisziplin. Abweichungen vom Weg, der von der Sowjetunion vorgezeichnet ist, können ihrer Meinung nach nur zur Fraktionsbildung führen und untergraben damit das höchste Gut der Partei, die Einheit und Geschlossenheit. In diesem Sinne hat sie ihr anfängliches Urteil über Fidel Castro, er sei ein kleinbürgerlicher Abenteurer, revidiert und – wie die gesamte Partei – die Politik der kubanischen Führung in allen ihren Wendungen stets ebenso in Treue fest gerechtfertigt wie die Niederschlagung des Prager Frühlings.

Regierung, Exil, Widerstand

Für den 1970 gewählten sozialistischen Staatspräsidenten Salvador Allende wird sie zu einer wichtigen Stütze, vor allem weil sie in der Regierungskoalition der Unidad Popular gemäß der herrschenden Linie ihrer Partei für Mäßigung eintritt und gegen die „Hitzköpfe“ in der Sozialistischen Partei und in der Linksradikalen Bewegung (MIR) zu Felde zieht. Bei den Berliner Weltjugendfestspielen im Sommer 1973 erhält sie Gelegenheit, vor aller Welt für die Unidad Popular in Chile zu werben. Ein Auftritt in Westberlin scheitert daran, dass das dort gebildete Solidaritätskomitee für Chile die Bedingung der Westberliner FDJ nicht akzeptiert, dass nach dem Auftritt der chilenischen Gäste jede Diskussion zu vermeiden sei. Dafür nimmt Gladys Marín an der Trauerfeier für Walter Ulbricht teil und schließt Freundschaft mit Egon Krenz und Erich Honecker, dem Chile später Asyl gewährt.
Zwei Tage vor dem Militärputsch vom 11. September 1973 kehrt sie nach Santiago zurück, trifft zum letzten Mal ihren Mann, der die Aufgabe erhält, an der Reorganisation der Parteiführung im Untergrund in Chile mitzuwirken, und muss sich auf Geheiß der Partei ohne ihre beiden Söhne in die niederländische Botschaft flüchten. Über Amsterdam und Ost-Berlin findet sie nach 1974 endlich nach Moskau, in die Stadt ihrer Träume. Aber trotz der vielen Reisen, die sie in alle Welt unternimmt, um den Terror der chilenischen Militärjunta anzuklagen, fühlt sie sich im Exil nicht wohl und entschließt sich 1978, nach Chile zurückzukehren, um dort im Untergrund zu arbeiten. Inzwischen hatten die Militärs ihren Mann verhaften und verschwinden lassen. Sie, die immer für Gewaltlosigkeit eingetreten war, ist jetzt maßgeblich daran beteiligt, dass ihre Partei beschließt, gegen die Militärjunta „alle Formen des Kampfes“ zu benutzen und die „Patriotische Front Manuel Rodríguez“ als ihren bewaffneten Arm zu gründen. Das ist, als die Militärdiktatur nach mehr als 16 Jahren 1990 endet und Gladys Marín endlich ins öffentliche Leben zurückkehren kann, wohl der wesentliche Grund, warum die anderen Parteien der chilenischen Linken keine Möglichkeit zur Zusammenarbeit mit der KP sehen und lieber das Bündnis mit den Christdemokraten suchen.

Generalsekretärin und Präsidentschaftskandidatin

Als 1994 der Posten des Generalsekretärs der Partei frei wird, gibt es nur eine denkbare Kandidatin: „la Gladys“. Seither hat sie die Partei mit fester Hand geleitet und keine Abweichungen von der Parteilinie geduldet. Der „Concertación“, der Regierungskoalition, in der Christdemokraten und Sozialisten seit 1990 die führende Rolle spielen, hat sie stets vorgehalten, sie tue nichts anderes, als „das von der Diktatur aufgezwungene politische, ökonomische und soziale Modell zu verwalten“. Schon deshalb kam auch von ihrer Seite keine Zusammenarbeit in Frage. Ihr Hauptziel war aber die Abrechnung mit den Militärs und insbesondere die Bestrafung des Diktators Augusto Pinochet. Als sich die Möglichkeit dafür eröffnete, war sie es, die als erste eine Anzeige wegen Mordes gegen Pinochet einreichte, die nicht gleich von vornherein unter Hinweis auf die von den Militärs verfügte Amnestie abgewiesen wurde.
Bei den Wahlen von 1999 kandidierte sie gegen den Sozialisten Ricardo Lagos und einen rechten Konservativen für die Präsidentschaft und erhielt magere 3,7 Prozent, obwohl sie als Leiter ihres Wahlkampfs den unabhängigen Soziologen und Bestsellerautor Tomás Moulián („Chile Actual. Anatomía de un mito“) erkoren hatte. Die KP schien zu einer Sekte geschrumpft.
Gegen Ende 2003 wurde bei Gladys Marín ein Gehirntumor entdeckt. Seither bestimmte der Kampf gegen die Krankheit den Rhythmus ihres Lebens. Zwei Entwicklungen haben ihr in dieser letzten Zeit noch eine gewisse Genugtuung verschafft: Erstens ist der jahrelange Kampf um eine Verurteilung Pinochets noch nicht verloren, im Gegenteil verliert der starrsinnige Diktator inzwischen auch bei seinen früheren Anhängern den letzten Respekt. Und zweitens hat das Bündnis „Gemeinsam schaffen wir’s“ (Juntos Podemos), an dem KP, MIR und Humanistische Partei beteiligt sind, bei den Gemeindewahlen 2004 fast zehn Prozent erreicht. Für die Präsidentenwahlen hat die KP jetzt Tomás Moulián, inzwischen Rektor einer linken privaten Universität, vorgeschlagen. Den Segen von Gladys Marín hat er. Einen – relativen – Erfolg wird er aber nur erzielen können, wenn der Respekt vor der Person und die politische Zustimmung zur Linie der Partei bei den Wählerinnen und Wählern weniger auseinanderklaffen als bei Gladys Marín, der Ikone des Widerstands.

Zwischen abgeschoben und aufgehoben

María.“ Sanft rüttelt Krankenschwester Mabel Múñoz die Schultern der Frau, die schmal in sich zusammengesunken am Tisch sitzt. „María, du weißt doch, heute wird nicht mehr gestorben. Das Leichenschauhaus hat schon zu.“ Wie unter großer Mühe hebt María den Kopf. Schwarzes Strubelhaar umrahmt das runde, faltige Gesicht. Sie schaut ungläubig, ertastet zögernd das Gesagte. Dann malt sich ein einfältiges Lächeln auf ihr Gesicht. In den erlöschten Augen glimmt es leicht. Ja, sie versteht. Sie ist gerettet. Heute wird nicht mehr gestorben.
Jeden Tag holt Schwester Mabel María vom Tod ab. Eine kleine Lebenslüge – das Leichenschauhaus hat schon zu. Allerdings weiß Schwester Mabel auch, dass die 40-jährige María mit jedem Tag, den sie hier drin ist, ein kleines Stückchen mehr stirbt. Ein Stückchen mehr abstumpft, ein Stückchen mehr dem Alltag draußen entrissen wird. Und doch ist gerade hier drin ihr Leben gerettet worden, als die Halluzinationen sie fast in den Selbstmord trieben. Eigentlich sollte María nun draußen das Leben leben können, das ihr hier drinnen zurückgegeben wurde. Aber draußen, wo keiner sie mehr will, wo die Familie die irre Mutter aufgegeben hat, würde sie nicht überleben. Hier drinnen aber bleibt vom Leben auf Dauer nur das Warten auf den Tod.
Es ist die ewige, die alte Geschichte. Seit 150 Jahren trägt das neuropsychiatrische Frauenkrankenhaus Braulio A. Moyano sie mit sich herum. Es war der erste Ort für psychisch kranke Menschen in Buenos Aires. Bis dahin liefen sie einfach durch die Stadt, wurden weder verstoßen, noch bekamen sie Hilfe. Dann aber kam das Krankenhaus, das den Wahn heilen sollte. Und wollte. Nur, dass die meisten Patientinnen nie wieder abgeholt wurden. Die Heil- wurde zur Abschiebeanstalt, das Kranken- zum Irrenhaus. Der Ruf hallt nach, der Ruf klingt weiter. Er ist nur schwer zu ändern. ÄrztInnen und PflegerInnen versuchen noch heute umzusetzen, was vor 150 Jahren der Ansatz war – den Patientinnen zu helfen, sie zu heilen. Doch fehlt ihnen, anders als damals, der Rückhalt der Regierung, die nur unzureichend Mittel zur Verfügung stellt. So bleibt dem Personal wenig mehr, als den Stumpfsinn zu verwalten. Die Öffentlichkeit jedoch sieht nur die Verwahrlosung und protestiert lautstark. Ein Ruf, der wiederum von denjenigen politischen und wirtschaftlichen Kräften genutzt und forciert wird, die mit dem wertvollen Grundstück des Krankenhauses spekulieren wollen oder Lobby für Privatkliniken machen und auf Schließung des Krankenhauses drängen. Und dazwischen die Patientinnen, deren Menschenrechte die Öffentlichkeit einfordert und die sie doch nicht haben will – abgeschoben von den Familien, aufgehoben im Moyano.

Das Draußen und Drinnen

Ein Hof. Einige Autos, ein Taxi. Das Leben draußen, das „normale“ Leben. Ein paar Stufen führen zum imposanten Eingang eines Gebäudes, dessen ehemaliger Glanz noch unter dem Grau der Fassade erahnbar ist. Menschen wimmeln herum. An einem Tresen ein Sicherheitsbeamter. Er winkt, ohne groß aufzuschauen, durch. Auf der dem Eingang gegenüberliegenden Seite ein ebenso imposanter Ausgang. Grünes, in Baumkronen gefiltertes Sonnenlicht fällt herein. Eine weitgeschwungene Granittreppe führt aufs Gelände.
„Wir haben hier 1.600 Patientinnen und 330 Schwestern für sechs Schichten. Die Rechnung ist einfach. Auf jedes Haus mit 60 bis 130 Frauen kommen selbst morgens, wenn gewaschen und angezogen werden muss, nur je drei Schwestern. Dann gibt es noch 150 Ärzte und ganze 25 Psychologen. Die Zahlen sprechen ja wohl für sich“, sagt Mario Múñoz und schweigt bedeutungsschwanger. Eingezwängt zwischen Tisch und Wand sitzt der massige Mann in dem engen Raum der Gewerkschaft ATE (Asociación de Trabajadores del Estado). In dem winzigen Kabuff stapeln sich Spruchbänder. Das Telefon klingelt ohne Unterlass. Von den Wänden blicken Juán Domingo Perón und seine Frau Evita, die Ikonen der argentinischen Arbeiterbewegung, über das weitläufige Krankenhausgelände.
„Wir bräuchten hier mindestens doppelt soviel Personal. Aber dieses Krankenhaus wird von der Regierung diskriminiert. Alle vergessen sie die Frauen. Bei psychisch kranken Männern haben sie Angst, dass es Aufstände wie im Gefängnis geben könnte. Drüben im Männerkrankenhaus“, Múñoz weist über die Schulter auf die andere Straßenseite, „haben sie weniger Patienten und mehr Personal. Und wir? Die kranken Frauen wehren sich nicht. Es ist leichter, sie ihrem Schicksal zu überlassen“, sagt der Mann, der seit 21 Jahren nicht nur als Klempner im Moyano zu reparieren sucht, was dringend erneuert werden müsste. Gemeinsam mit der Direktion kämpft Múñoz als Gewerkschaftsführer auch für die elementarsten Sachen, die doch eigentlich Selbstverständlichkeit sein sollten: Unterwäsche für die Patientinnen, Klopapier, Winterkleidung und Schuhe, die Reparatur undichter Dächer, neue Matrazen, genügend Medikamente und vor allem ausreichend Personal. Doch von Seiten der Regierung der Stadt Buenos Aires, verantwortlich für das Krankenhaus, passiert nur wenig. „Den Sekretär für Gesundheit interessiert das Moyano nicht. Es ist viel medienwirksamer, einen neuen Tomographieapparat zu kaufen als 5.000 BHs für neuropsychiatrische Patientinnen. Viele Frauen hier haben keine Schuhe. Würden sich nicht vom Direktor, dem Dr. Néstor Marchant, bis zum letzten Angestellten alle so für das Krankenhaus einsetzen, liefen die Patieninnen seit Jahren nackt herum. Und das Grundstück hatten sie sogar schon als Bauland ausgeschrieben“, sagt Mario Múñoz.

Grundsteinlegung 1854

Das Krankenhaus liegt nur zehn Minuten vom Zentrum von Buenos Aires entfernt. Als 1854 mit dem Patio de los Dementes, dem Hof der Wahnsinnigen, der Grundstein gelegt wurde, waren die psychisch Kranken dem Staat noch diese Erde wert. Auf 17 Hektar entstand auf den Hügeln von Belén eine Stadt innerhalb der Stadt. Frische „Höhenluft“, so der Glaube, sollte bei mentalen Problemen gut tun. In einer eigens angelegten Parklandschaft wurden nach französischem Vorbild 19 hochmoderne Bettenhäuser errichtet, mit Wintergärten, großen Sälen, Aufzügen und Tunneln von einem Haus zum anderen, damit PflegerInnen und Patientinnen bei Regen nicht durch den Garten rennen müssen.
„Dieser lateinische Spruch hier über der Kapelle neben dem Seziersaal zeigt, mit wieviel Respekt vor dem Patienten dieses Krankenhaus einst gebaut wurde. ‚Hier, wo der Tod wohnt, flüstert das Leben’, heißt es da. Es ist ein Dank an diejenigen Personen, deren Körper nach ihrem Tod der Wissenschaft dienten, damit die Lebenden besser behandelt werden konnten. Ihr Landsmann, der deutsche Arzt Christfried Jakob, hat von 1899 bis 1956 hier gearbeitet. Sein ‚Atlas des gesunden und kranken Nervensystems’ ist noch immer wichtiger Bestandteil der neurobiologischen Forschung“, erzählt der Psychiater Dr. Alejandro Palma, während er langsam durch die Schaffensräume Jakobs geht. Meterhohe Vitrinen aus dunklem, edlen Holz stehen voll mit Präparaten von Hirnschnitten. Ein wissenschaftliches Kleinod, das ÄrztInnen aus aller Welt anzieht, dem Verfall preisgegeben. Wellblech schützt notdürftig die Schränke vor eindringendem Regen.
Denn was vor 150 Jahren neuester Stand und nach damaliger Sicht das Beste für die Patientinnen war, erschrickt heute ob seiner heruntergekommenen Antiquiertheit. In den hohen Räumen der Häuser tüncht der Schimmel die Wände grün. Anonym ziehen sich die Bettenreihen durch die Säle. Es riecht durchdringend nach Urin. Irgendwo plärrt ein Fernseher, gekauft von den wenigen Spenden, die manchmal noch von Familienangehörigen kommen. Lange Steintische sind im Essensaal in den Boden gelassen. An den Wänden ringsum Waschbecken, die Wasserhähne verrostet. Geistesabwesend schlurfen die Frauen durch die Gänge. Schwestern und Pfleger sind nicht zu sehen. Und doch funktioniert dieses riesige Krankenhaus nur durch jene unsichtbaren Gemüter, die persönlich alles geben, um ein wenig das wettzumachen, was von Staat, Gesellschaft und Familie den Patientinnen vorenthalten wird. Sie nähen Laken und spenden Kleidung, sie fangen Läuse und malern die Wände, verschieben die Betten, wenn der Regen mal wieder die ganze Station unter Wasser setzt und erfinden da kleine Lebenslügen, wo Therapieprogramme helfen sollten.

Vom Krankenhaus zum Asyl

Langsam schreitet sie mit einem Hündchen an der Leine über die immer gleichen Parkwege. Marta, der Engel der Hunde und Katzen im Moyano. Sie hat sich zurecht gemacht so gut es eben geht mit diesen Hosen, die ihr viel zu kurz sind. Marta versucht, würdevoll zu gehen, den Arm mit der Hundeleine steif angewinkelt. Auf ihrem Gesicht zuckt es manchmal. Marta will von der fremden Besucherin nur eins wissen. “Gibt es in Deutschland auch solche Irrenhäu…” – sie beisst sich auf die Zunge und guckt sich schnell um – “solche neuropsychiatrischen Kliniken, wo die Patienten von den Familien verlassen werden?”
Seit 1991 ist Marta hier. Depression. Sie hätte nicht lange bleiben müssen und versuchte den Schritt nach draußen über eine Tagesklinik. Und dann kam sie doch wieder zurück, “widerwillig, ohne Freude”, sagt sie. “Ohne Arbeit, ohne Wohnung – was hätte ich denn machen sollen? Ich wäre auf der Straße gelandet.” Gedankenvoll tätschelt die 43-jährige den kugelrunden Bauch des Hündchens. “Die bekommt bald Junge. Ich kümmer mich drum. Es macht ja sonst keiner. Weder bei den Tieren noch bei den Menschen.”
“Ich muss oft die traurige Erfahrung machen, eine Familie anzurufen und zu sagen: ‘Señora, ihrer Schwester geht es wieder gut. Sie kann das Krankenhaus verlassen.’ Und dann höre ich: ‘Ah, nein Doktor. Wozu sollen wir sie abholen? Wir haben ja nichteinmal Geld fürs Essen. Wie sollen wir da die Medikamente bezahlen? Behalten Sie sie lieber da’”, erzählt Dr. Alejandro Palma und liefert die Statistik gleich mit. 68 Prozent der Patientinnen verweilen aufgrund sozialer Härten in der Klinik, nicht jedoch, weil die Krankheit es erforderte. Davon sind 13 Prozent im Rentenalter. Dem Rest würde die Obdachlosigkeit drohen. “Wenn sie nicht sozial abgefangen werden, lassen wir die Patientinnen nicht gehen. Solange nicht ausreichend Übergangskliniken geschaffen werden, welche den Frauen die Rückkehr in die Gesellschaft ermöglichen, bleiben sie hier”, beschreibt Palma die Politik des Moyano.
Doch diese Haltung geht in der Öffentlichkeit unter. Was bleibt, ist die Wahrnehmung der Klinik als scheinbar verwahrlostes “Irrenhaus”. Es wird nicht gesehen, dass knapp 600 Patientinnen hier aufgrund ihrer Krankheit medizinisch versorgt werden und die ÄrztInnen nicht nur ein Asyl betreuen. Und dass rund 1.000 Studierende jährlich ihre Medizinerausbildung im Moyano absolvieren. Angeklagt wird nur der desaströse Zustand der Klinik. Als die Regierung der Stadt Buenos Aires nach italienischem Vorbild die psychiatrischen Krankenhäuser verbieten wollte, ging Direktor Néstor Marchant auf die Barrikaden. Die Funktionäre seien ja wohl die eigentlichen Idioten, rief er im Parlament. „Es ist Illusion, neuropsychiatrischen Krankheiten mit der Schließung von Kliniken beikommen zu wollen. Das Argument, dass erst das Krankenhaus die Patientinnen wirklich krank mache, ist doch nur ein Vorwand, an den Grund und Boden des Moyano ranzukommen.“
Mit diesen Worten fing sich Marchant den Ruf des ungehobelten Tyranns ein, der ihm bis heute in der Öffentlichkeit anhaftet. Im Moyano aber lässt das Personal nichts auf ihren Direktor kommen. Als Marchant vor 19 Jahren abgesetzt werden sollte, streikten seine MitarbeiterInnen einen Monat lang. “Ich habe mich oft mit ihm gestritten und angeschrien”, beschreibt Mario Múñoz sein Verhältnis zum jähzornigen Direktor. “Aber ich wünschte, das Krankenhaus hätte zehn solcher Männer, die kein Blatt vor den Mund nehmen”, fährt er fort.

Politik des Mangels

Denn im Moyano geht man davon aus, dass hinter dem Mangel im Krankenhaus eine gezielte Politik steckt, die den Ruf der Klinik derart schädigen will, dass sie geschlossen wird, damit die Immobilie kommerziell genutzt werden kann. Múñoz biegt einen Finger nach dem anderen um, während er aufzählt, wie das Moyano diskriminiert wird und was es in Verruf bringt. “Pro Patient erhalten wir 4,90 Pesos (1,40 Euro) täglich für das Essen, während in anderen Krankenhäusern der Satz bei 11 Pesos (3,15 Euro) liegt. Über Monate ist nicht einmal dieses Geld an die private Cateringfirma überwiesen worden, so dass sie irgendwann die Arbeit sein ließ und wir von einem Tag auf den anderen ohne Essen dastanden. Dann, wie sollen die Patientinnen draußen wieder zurechtkommen, wenn sie nicht einmal die grundlegensten Gebräuche beibehalten können? Die Regierung kauft weder Zahnbürsten noch Zahnpasta. Selbst Klopapier ist rar. Und seit 11 Jahren steht im Budget, dass eine Waschküche mit Waschmaschinen eingerichtet werden soll. Das Geld aber haben wir nie erhalten. Die Waschmaschinen, die es auf dem Gelände gibt, sind mit Spenden von Familienangehörigen gekauft worden. Als die Matrazen ausgewechselt werden mussten, weil sie schon verschimmelt waren, bekamen wir nur Geld für 700 Matrazen. Dann mussten wir unter den 1.600 Patientinnen aussuchen, wer eine neue bekommen durfte und hatten 700 VIP-Patientinnen. Die anderen mussten weiter auf den feuchten Matrazen schlafen …” Mario Múnoz holt Luft, hält inne und winkt resigniert ab.
Und wer trägt nun die Verantwortung, wer die Schuld an diesen Zuständen? Dr. Alejandro Palma sagt überzeugt: “Die ganze Gesellschaft. Erst an dem Tag, an dem sie sagen wird, die Priorität haben Gesundheit und Bildung, wird sich auch das Bewusstsein ändern und werden die Forderungen für die neuropsychiatrischen Patientinnen eine andere Richtung bekommen. Dann wird es nicht mehr darum gehen, sie loszuwerden, wegzusperren oder durch Schließung des Krankenhauses das Problem scheinbar verschwinden zu lassen, sondern dann wird hoffentlich alles daran gesetzt, ihnen den Weg zurück in die Gesellschaft zu ermöglichen.”
Schwester Mabel war weitergeeilt, nachdem sie María noch einmal über den Kopf gestrichen hatte. Die Betten mussten neu bezogen, die Wäsche gewaschen werden, eine Patientin schrie und warf etwas um und bald war ja auch das Mittagessen, das sie zu verteilen hatte. María lächelte noch einen Moment vor sich hin. Heute wird nicht mehr gestorben. Dann sank die Frau wieder in sich zusammen und wartete weiter.

Grenzenlose Terroristenjagd

Der Kampf des kolumbianischen Präsidenten Uribe gegen die Guerilla kennt keine Grenzen. Am 13. Dezember ließ die kolumbianische Polizei den „Außenminister“ der marxistischen FARC-Guerilla Rodrigo Granda verhaften. Nicht auf eigenem Territorium, sondern in der venezolanischen Hauptstadt Caracas. Ein Vorfall, der zu einer ausgewachsenen Krise zwischen beiden Ländern geführt hat. Venezuelas Präsident Hugo Chávez zog am 14. Januar seinen Botschafter aus Bogotá ab, einen Tag später folgte eine kurzzeitige Schließung der Grenzübergänge zum Nachbarland. Chávez kündigte zuletzt auch alle ökonomischen Beziehungen auf und forderte eine offizielle Entschuldigung Uribes. Nachdem dieser nicht bereit war, sich zu entschuldigen und in US-Manier die Rechtmäßigkeit internationaler Terrorbekämpfung reklamierte, ist die Verbesserung der strapazierten Beziehungen beider Länder zum Stillstand gekommen.

Kopfgeldjäger oder Polizeiaktion

Nach der Festnahme des an die USA ausgelieferten „Simón Trinidad“ gab die kolumbianische Polizei einen weiteren Durchbruch im Kampf gegen die FARC-Guerilla bekannt. Rodrigo Granda, der jahrelang die Rebellen im Ausland vertreten hatte, wurde den Medien in Handschellen präsentiert. Nur wenige Tage später wurden Zeugenaussagen laut, die auf eine Festnahme bzw. Entführung in Caracas deuteten. Zunächst beharrte der kolumbianische Verteidigungsminister Jorge Alberto Uribe noch auf der Version einer Festnahme in der kolumbianischen Grenzstadt Cucuta, während Präsident Alvaro Uribe Schweigen bewahrte. Doch ab dem 11. Januar war der Schwindel so offensichtlich, dass zumindest ein Teil der Umstände von der kolumbianischen Regierung eingeräumt wurde.
Demnach habe sie eine Gruppe von Kopfgeldjägern mit der Ergreifung des Guerilleros beauftragt. Diese verschleppten Granda, der sich in einem Café aufhielt, in einem Jeep und lieferten ihn an der Grenze an die kolumbianischen Behörden aus. Sehr wahrscheinlich scheint indes auch die direkte Beteiligung der kolumbianischen Sicherheitspolizei (DAS) sowie entsprechender venezolanischer Polizeieinheiten (DIZIP). Einseitig wird den Vorwürfen nachgegangen, was bisher zur Verhaftung von acht venezolanischen Offizieren geführt hat.

„Souveränität Venezuelas verletzt“

Die Reaktionen aus Caracas nehmen seitdem an Schärfe zu. Man zieht Vergleiche zu den ‘Verhaftungsmethoden’ südamerikanischer Diktaturen. „Kolumbien hat die Souveränität Venezuelas verletzt“, so die Anschuldigung des venezolanischen Vizepräsidenten José Rangel. In einer kurzen und trockenen Antwort legitimierte die Uribe-Regierung am 14. Januar ihr Vorgehen mit der UNO-Deklaration nach dem 11. September 2001, wonach die Mitgliedsstaaten ‘weder aktiv noch passiv’ Terroristen beherbergen dürfen. Laut dem venezolanischen Innen- und Justizminister Jesse Chacón habe Rodrigo Granda jedoch keine Vorstrafen gehabt und es habe kein Haftbefehl bei Interpol vorgelegen. Granda besaß einen venezolanischen Ausweis, den er jedoch durch gefälschte Papiere erworben hatte.
Auf den Vorwurf, dass Venezuela Terroristen Unterschlupf gewähre, reagierte Präsident Chávez mit dem Hinweis darauf, dass in Kolumbien venezolanische Straftäter leben. Pedro Carmona, der am 11. April 2002 kurzzeitig die Macht nach einem Staatsstreich gegen Chávez übernahm, jedoch nur zwei Tage später wieder aus dem Amt gejagt wurde, findet bis heute in Kolumbien Asyl. „Wenn solche Personen Venezuela betreten, verhaften wir sie, aber niemals werden wir die Souveränität eines anderen Landes verletzen. Man kann Verbrechen nicht mit Verbrechen bekämpfen“, so Chávez in Richtung Bogotá.
Seit Jahren herrscht zwischen Kolumbien und Venezuela ein spannungsreiches diplomatisches Verhältnis. Bogotá hat der linksorientierten Chávez-Regierung mehrfach vorgeworfen, Guerillagruppen auf eigenem Territorium zu tolerieren. Eine Anschuldigung, die der venezolanische Präsident weit von sich weist. „Ich bin eine ehrenwerte Person. Niemals werde ich eine subversive Gruppe unterstützen, die eine demokratische Regierung bekämpft“, versicherte er erst im November dem kolumbianischen Amtsinhaber Uribe auf einem Wirtschaftstreffen.

USA geben Uribe Rückendeckung

Für Chávez ungewöhnlich: Es sind Wochen vergangen, bis die venezolanische Regierung ihren Vorwurf der Entführung gegenüber Kolumbien formulierte. Dem Vorfall war eine Phase der Annäherung der beiden Länder, vor allem in Wirtschaftsfragen, vorausgegangen. Im November unterzeichneten beide Staaten den Bau einer Gaspipeline und Chávez distanzierte sich öffentlich von den kolumbianischen Guerillagruppen. „Kein Zweifel: Hugo Chávez ist ein anderer Präsident als wir ihn bisher kennen“, konstatierte das kolumbianische Wirtschaftsmagazin Portafolio. Dass Caracas nach anfänglichem Zögern nun die Untersuchung der Ereignisse vorantreibt, sei laut der Analystin Valentina Lares auf den innenpolitischen Druck zurückzuführen. Chávez-nahe und radikale venezolanische Gruppen wie Tupamaro haben öffentliche Erklärungen gefordert, denn die Zurückhaltung des Amtsinhabers deute auf eine Distanzierung zu den bolivarianischen Bewegungen hin, nur um die Beziehungen mit dem Nachbarland nicht zu beeinträchtigen.
Ein weiterer Auslöser für den Umschwung in Caracas könnte die mögliche Verwicklung von CIA-Agenten in die Entführung gewesen sein, auf die Innenminister Chacon hinwies. Diese hätten die Operation gemeinsam mit Vertretern der kolumbianischen Polizei geleitet. Washington, das sich durch seinen Botschafter William Wood in Bogotá wie zu erwarten „100-prozentig“ hinter Uribe stellte, fordert von Chávez eine offizielle Ächtung der Guerillagruppen als terroristische Organisationen. „Erstmals und wahrscheinlich zum letzten Mal vertreten wir die gleiche These wie die FARC in ihrer Deklaration vom 30. Dezember, dass sich die venezolanische Regierung in ihrer Haltung entscheiden muss“, so Wood. Um das diplomatische Gerangel zu lösen, aber gleichzeitig den Entscheidungsdruck auf die venezolanische Regierung zu erhöhen, schlug Uribe eine Debatte zur Terroristenbekämpfung zwischen allen Staatschefs des Kontinents vor. Das Kalkül: eine Legitimierung der Entführung und Kopfgeldpolitik, die Chávez als „Gesetz des Wilden Westens“ gebrandmarkt hatte und eine Verpflichtung Venezuelas zum Kampf gegen die Guerilla.

Eingeschränkter politischer Spielraum

Für die FARC-Guerilla bedeutet die Festnahme von Granda einen weiteren Schlag gegen ihre internationale politische Entfaltung. FARC-Vertreter, die sich in der Vergangenheit Gehör auf internationalen Foren verschaffen konnten, sind auf Grund Millionen schwerer Kopfgelder untergetaucht, um der Gefahr einer Verhaftung zu entkommen. Im April 2002 schloss Mexiko auf Druck Bogotás ein Büro, das jahrelang der politischen Arbeit der FARC diente. Jairo Lesmes Bulla, der für die politische Arbeit der FARC im Süden des Kontinents zuständig war, zog sich in den Neunziger Jahren in die kolumbianischen Berge zurück, nachdem die Menem-Regierung den Spielraum in Buenos Aires immer mehr eingeschränkt hatte. Um die Möglichkeit zu wahren, öffentlich zu arbeiten, konnten die FARC bisher auf die Unterstützung von Mitgliedern der kommunistischen Partei oder der in den achtziger Jahren durch Mordanschläge ausradierten Unión Patriotica zurückgreifen, die sich für die Ziele der Guerilla engagierten. Diesen Diplomaten der Guerilla konnte bisher nur die international nicht strafbare Rebellion vorgeworfen werden. Rodrigo Granda war einer von ihnen.

Ein Anschlag auf die Justiz

Am späten Abend des 18. November zerriss eine Bombe in Caracas das Auto des venezolanischen Staatsanwaltes Danilo Anderson. An einem politischen Hintergrund des Anschlags besteht kein Zweifel. Der 38jährige Anderson war Staatsanwalt für Umweltkriminalität und mit der Befugnis ausgestattet, auch in anderen Fragen auf nationaler Ebene Anklage zu erheben.
In der weitgehend von der rechten Opposition dominierten Justiz war der junge Staatsanwalt eine der wenigen mutigen Personen, die gegen die in den Putsch im April 2002 verwickelten Mächtigen aus Wirtschaft und Politik ermittelten. Er eröffnete ein Verfahren gegen die oppositionell geleitete Polizei der Hauptstadt, die beim Putsch das Feuer auf die Bevölkerung eröffnete und mehrere Personen tötete. Anderson klagte in diesem Zusammenhang den ehemaligen Bürgermeister und den Ex-Polizeichef an. Auf seine Initiative hin wurde auch das Verfahren gegen Capriles Radonksy, Bürgermeister des wohlhabenden Hauptstadtdistrikts Baruta, eröffnet. Er hatte im April 2002 den Sturm auf die kubanische Botschaft angeführt. Vor wenigen Wochen erst hatte Anderson begonnen, die 400 Unterzeichner des Selbstermächtigungsdekrets des Putschpräsidenten und damaligen Vorsitzenden des Unternehmerverbandes, Pedro Carmona Estanga, zu verhören.

Terrordrohungen
Anderson war in der Vergangenheit immer wieder Zielscheibe medialer Hetze gewesen. Einmal wurde er in einem Einkaufszentrum von mehreren Personen angegriffen. In einem Interview Ende September erklärte er, es sei versucht worden, ihn zu bestechen, und er habe Morddrohungen erhalten, da er es wage, gegen „die in Venezuela existierende Gesellschaft der Unberührbaren“ vorzugehen.
In den vergangenen Jahren wurden zwar etwa 130 AktivistInnen regierungsnaher Bewegungen, meist BauernführerInnen, ermordet, aber mit dem Bombenanschlag erlangt der Terror gegen den Transformationsprozess in Venezuela eine neue Qualität. Kommunikations- und Informationsminister Andrés Izarra erklärte, es handele sich um einen politischen Mord zur Einschüchterung der venezolanischen Justiz. Und er verlangte von der US-Regierung Aufklärung bezüglich diverser Gruppen mit Sitz in den USA, die offen verkünden, Terroranschläge in Venezuela vorzubereiten. Darunter auch das „Comando F4“, eine Terrororganisation von ExilkubanerInnen, die in Florida militärische Ausbildungslager unterhält und sich auf ihrer Webseite seit 2002 mit der Ausbildung venezolanischer Oppositioneller schmückt.
Am Tag nach dem Anschlag versammelten sich spontan Tausende vor dem Sitz der Staatsanwaltschaft, wo der Sarg von Danilo Anderson aufgebahrt wurde. In Sprechchören forderten sie immer wieder eine Neuordnungder Staatsanwaltschaft und Justiz. Am frühen Abend trug die Menge den Sarg zur Nationalversammlung. Tausende Menschen säumten die Straßen, klatschten Beifall, riefen Losungen, weinten und hielten Blumen in den Händen. Der Staatsanwalt war in der Bevölkerung sehr beliebt. Anderson erhielt post mortem den höchsten Orden der Republik und es wurde eine dreitägige Staatstrauer verordnet.
Der Anschlag wurde von allen politischen Parteien Venezuelas, der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und der US-Botschaft in Caracas verurteilt. Doch bei den Demonstrationen der Tage danach wurden auf zahlreichen Transparenten rechte Elemente der Opposition und der CIA als Urheber des Anschlags beschuldigt. Tatsächlich unterhalten die USA gute Beziehungen zu den „Comandos F4“. Im September 2002 brachten die ExilkubanerInnen eine Gruppe oppositioneller VenezolanerInnen, eingegliedert in Einheiten der US-Marines, zu Militärmanövern nach Argentinien in die Urwaldregion Mazaruca.

Die Familie Guevara
Die venezolanische Polizei handelte schnell und verhaftete in den darauf folgenden zwei Wochen mehrere Personen, die im Verdacht stehen, an dem Anschlag beteiligt gewesen zu sein. Als erster wurde Juan Bautista Guevara identifiziert. Er parkte am Abend des Anschlags sein Auto in der Nähe des Fahrzeugs des Staatsanwaltes. Als er den Ort verließ, kam es zu einem Unfall mit einem anderen Fahrzeug, Juan Bautista Guevara versuchte zu fliehen, wurde jedoch aufgehalten und gab dem Unfallopfer seine persönlichen Daten. Gemäß Zeugenaussagen befand sich ein weiterer Mann in unmittelbarer Nähe und bestieg das Auto von Juan Bautista nur wenige Meter vom Unfallort entfernt, nachdem dieser wieder losgefahren war. Nach der Personenbeschreibung verschiedener Zeugen identifizierte die Polizei diesen als Johan Peña.
Juan Bautista Guevara wurde am 28. November in einem Motel im Bundesstaat Portuguesa verhaftet und wird der Beteiligung an einem Mordkomplott verdächtigt. Im Zimmer des Ex-Kommissars der Gerichtspolizei PTJ wurden eine Handgranate, eine Pistole sowie 3000 US Dollar in bar gefunden. Johan Peña hingegen, der die Bombe unter Danilo Andersons Wagen angebracht haben soll, beantragte in der ersten Dezemberwoche Asyl in den USA. Er sei ein politisch Verfolgter, so der Freund kubanischer Exilantengruppen, in dessen Wohnung in Caracas bei einer Durchsuchung C-4-Sprengstoff, Armeeuniformen, 300 Tränengasgranaten und Schusswaffen gefunden wurden. Seine Ehefrau wurde wegen illegalen Waffenbesitzes in Caracas verhaftet.
Von Juan Bautista Guevara führte die Spur zu seinen Cousins Otoniel Guevara, ehemaliger Polizeikommissar der Mordkommission der Gerichtspolizei PTJ und der Kriminalpolizei CIPC sowie Rolando Guevara, Ex-Kommissar der Geheimpolizei Disip. Sie wurden bereits am 25. November südlich der Stadt Valencia im Bundesstaat Carabobo von einer Spezialeinheit der Nationalgarde verhaftet, nachdem AnwohnerInnen die Behörden auf den Aufenthaltsort der beiden hingewiesen hatten.
Gegen die Guevarabrüder beantragte die Staatsanwaltschaft Untersuchungshaft wegen des Verdachtes auf Mord und Bildung einer kriminellen Vereinigung. Darüber hinaus wird gegen beide auch wegen zweier Bomben ermittelt, die Ende Februar 2003 vor der spanischen und kolumbianischen Botschaft in Caracas detonierten. Untersuchungen laufen mittlerweile auch gegen die Ehefrau von Rolando Guevara, Jackeline Sandoval, die brisanter Weise einen Posten als Bezirksstaatsanwältin in Caracas inne hat.

Anschlagsplanung in Miami
Bei einer Durchsuchung verschiedener Immobilien der Brüder wurden Kriminalpolizei und Disip fündig. In Galerías Magnum, ein Schießplatz in Caracas, der Otoniel Guevara gehört, wurden Computer und Unterlagen beschlagnahmt. Guevara hatte den Schießplatz mit Geld erworben, das ihm der aus Peru geflüchtete Vladimir Montesinos bezahlt hatte, weil die Guevara-Brüder ihm im Jahr 2000 bei der Flucht nach Venezuela und dem Aufenthalt dort geholfen hatten. Montesinos, rechte Hand des ehemaligen peruanischen Präsidenten Fujimoris und Mastermind der Geheimoperationen und kriminellen Aktivitäten des Fujimori-Regimes, wurde schließlich im Jahr 2001 in Venezuela verhaftet und nach Peru abgeschoben. In den Fall Montesinos war auch José Agustín Guevara, ebenfalls Cousin der Guevarabrüder, verwickelt. Er befindet sich seit 2001 in Miami, wo er vom FBI verhaftet wurde, als er versuchte Geld von einem der Konten Montesinos abzuheben. Kurz danach wurde er wieder freigelassen und untersteht seitdem nach eigenen Angaben dem Zeugenschutzprogramm des FBI. In Miami und in Anwesenheit von José Agustín Guevara sei im September auch der Anschlag auf Anderson geplant worden. Dies sei laut Staatsanwaltschaft anhand von Telefongesprächen rekonstruiert worden.
In dem Sicherheitsunternehmen Python 357 (benannt nach einem Polizeicolt), das Rolando Guevara und dem Ex-Mitarbeiter der Gerichtspolizei Juan Carlos Sánchez gehört, fanden die Ermittler einen Stadtplan, auf dem die Fahrtroute von Danilo Anderson eingezeichnet war, Schutzkleidung, Sportwaffen, verschiedene Ausweise, ein Gewehr, eine Weste der Disip und eine einer US-amerikanischen Ausbildungsstätte für Sprengstoffspezialisten. Sie ähnelt einer anderen, die bei einer Durchsuchung des Hauses des am 23. November bei einem Feuergefecht getöteten Anwaltes Antonio López gefunden wurde. Ihm hatten die Guevarabrüder nach Aussagen der Ehefrau Rolando Guevaras wiederholt Waffen verkauft.
Rolando Guevaras Geschäftspartner, der 32jährige Juan Carlos Sánchez, kam wiederum am 25. November um, als er sich in einem Motel im Bundesstaat Lara seiner Verhaftung durch die Kriminalpolizei zu entziehen versuchte. Er schoss auf die Beamten und verletzte einen von ihnen schwer. In seinem Zimmer wurden Waffen, eine Splitterhandgranate, C-4-Sprengstoff, ein Pass sowie eine Million Bolivar und 5000 US-Dollar in bar gefunden, woraus die Polizei schloss, er habe sich ins Ausland begeben wollen. Laut Innenminister Jesse Chacón befand sich Juan Carlos Sánchez weit oben auf einer Liste mit acht Personen, gegen die wegen des Mordes an Staatsanwalt Anderson ermittelt wird.
Rechtsanwalt Antonio López kam bereits am 23. November bei einem Fluchtversuch um. Im Fahrzeug des Anwalts wurden Unterlagen und Namenslisten hoher Regierungsfunktionäre gefunden, auf denen handschriftlich das Wort “eliminieren” vermerkt war. Darüber hinaus befanden sich in dem Fahrzeug zwei Schusswaffen. Die ErmittlerInnen gehen davon aus, dass es sich bei Antonio López um den Kopf der Gruppe handelte, die das Attentat auf den Staatsanwalt durchführte.
Antonio López stand der oppositionellen Partei Primero Justicia nahe und ist ein Cousin von Leopoldo López, dem Bürgermeister des wohlhabenden Hauptstadtdistrikts Chacao. Nach Informationen des Innenministeriums hatte Antonio López in den vergangenen Jahren mehrere Kurse im Umgang mit Spezialwaffen in CIA-Einrichtungen in den USA absolviert, darunter im Jahr 2000 eine Ausbildung in der Handhabe von Sprengstoff.
Innenminister Chacón kündigte an, bald weitere Hintermänner des Anschlags präsentieren zu können. Nach seinen Angaben sei die Personengruppe, die für den Anschlag auf Danilo Anderson verantwortlich zeichne, auch in Waffen- und Drogenhandel sowie Erpressungsfälle verwickelt. Derweil wurde der Kriminalpolizei CIPC Anfang Dezember der Fall entzogen. Diese hatte scheinbar mehrfach ohne Absprache mit anderen ermittelnden Einheiten und vor allem ohne Einwilligung der Staatsanwaltschaft gehandelt. Zudem schien es auch unklare Verbindungen einiger Polizisten zu ihrem ehemaligen Vorgesetzten Otoniel Guevara gegeben zu haben.

Contra gegen Venezuela

Anfang April eröffnete die kolumbianische Politikerin Gloria Gaitán der venezolanischen Öffentlichkeit in der Interview-Sendung „La Lámpara de Diógenes“ überraschende Informationen. Die linksliberale Politikerin aus Bogotá erklärte erstens, dass der venezolanische Staat über die so genannten Mercal-Läden, in denen Lebensmittel zu Vorzugspreisen verkauft werden, ungewollt die kolumbianischen Paramilitärs mitfinanziere. Die dort angebotene importierte Milchmarke Colanta gehöre nämlich den rechten Todesschwadronen ihres Heimatlandes. Zweitens wies Gaitán darauf hin, dass es konkrete Interventionspläne der Regierung Uribe gegen Venezuela gebe. Die Grenzübertritte kolumbianischer Paramilitärs erfolgten mit Rückendeckung sowohl der kolumbianischen Armee als auch der US-Militärberater. Und drittens schließlich kündigte Gaitán an, nicht in ihr Heimatland zurückkehren, sondern in Venezuela politisches Asyl beantragen zu wollen. Auf Grund ihrer Äußerungen, so Gaitán, müsse sie in Kolumbien mit Verfolgung rechnen.
Nun ist Gloria Gaitán sicherlich nicht die beste Kronzeugin, die man sich vorstellen kann. Die Tochter des charismatischen liberalen Parteiführers Jorge Eliecer Gaitán, dessen Ermordung 1948 zum Ausbruch des kolumbianischen Bürgerkriegs führte, gilt in Oppositionskreisen als schwierig und profilierungssüchtig. Dass die Staatsanwaltschaft gegen sie wegen der Veruntreuung von Geldern ermittelt, kann man wahrscheinlich noch mit politischen Motiven erklären. Das politische Establishment Kolumbiens hat schon öfter Korruptionsvorwürfe gegen KritikerInnen lanciert, um auf diese Weise deren Glaubwürdigkeit zu unterminieren. Doch auch in der Linken wird über die Politikerin wegen ihres selbstverliebten Stils häufig geklagt. So schüttelte man in Bogotá nur den Kopf, als Gloria Gaitán beim „Solidaritätsforum mit der bolivarianischen Revolution“ im vergangenen Jahr in Caracas kurzerhand eine neue gaitanistische Massenbewegung gründete und sich selbst zu ihrer Sprecherin aufschwang.

Grenzübertritte
Dass Gaitáns Erklärungen in den kolumbianischen und internationalen Medien völlig unbeachtet blieben, muss dennoch überraschen. Denn dass sich das Klima zwischen beiden Ländern in letzter Zeit rapide verschlechtert hat, ist offensichtlich. Seit Jahren wirft die regierungsnahe kolumbianische Presse den Streitkräften Venezuelas vor, kolumbianisches Territorium zu verletzen. Die Berichte der Bäuerinnen und Bauern aus der Grenzregion besagen jedoch ziemlich genau das Gegenteil. Ihnen zufolge sei das Verhalten der venezolanischen Armee in der Grenzregion seit dem Amtsantritt von Chávez respektvoller geworden, Grenzübertritte nach Kolumbien fänden nicht mehr statt. Gefahr gehe vielmehr von den paramilitärischen Einheiten aus, die immer wieder Dörfer und Kooperativen im venezolanischen Bundesstaat Zulia überfielen, und BewohnerInnen oder Flüchtlinge ermordeten. So mussten im vergangenen Sommer Dutzende von Familien ihre Ortschaften verlassen, bis die venezolanische Armee die paramilitärischen Gruppen wieder aus dem Land vertrieb.
Mit ihrer Haltung gegen den Plan Colombia hat sich die Regierung Chávez 1999 die kolumbianische Rechte zum Feind gemacht. Seitdem hat sich die Situation an der Grenze grundlegend verändert. Während sich FARC- und ELN-Guerilla verpflichtet haben, die Souveränität Venezuelas zu respektieren und die Grenze nicht mehr mit ihren Einheiten zu überqueren, sind nun rechte kolumbianische Todesschwadrone in vielen Regionen im Westen Venezuelas aktiv. Ihre Aktionen konzentrieren sich bisher auf die Bundesstaaten Zulia und Táchira, wo die Paramilitärs in der Serranía de Perijá die Ausbreitung von Schlafmohnpflanzungen vorangetrieben haben. Zudem forcieren sie offensichtlich in Zusammenarbeit mit rechten venezolanischen Großgrundbesitzern den Aufbau paramilitärischer Gruppen im Nachbarland. Schon im Jahr 2002 hatte der Kommandant der kolumbianischen Paramilitärs, Carlos Castaño, die Unterstützung seiner Organisation beim Aufbau der so genannten Autodefensas Unidas de Venezuela verkündet. Wie weit diese Pläne fortgeschritten sind, lässt sich schwer beurteilen. Fest steht allerdings, dass ein Großteil der politischen Morde der letzten drei Jahre in Venezuela von rechten Todesschwadronen verübt worden sind. An die 100 Kleinbauernführer wurden Opfer der rechten Verbände.
Die Entwicklung, die sich in diesem Zusammenhang abzeichnet, deutet in Richtung einer Contra-Armee, wie sie in Nicaragua in den 1980er Jahren mit Unterstützung der US-Regierung von Honduras aus operierte. Die verstärkten Aktivitäten kolumbianischer Paramilitärs im Grenzgebiet sind nämlich tatsächlich nicht isoliert zu betrachten. Sie gehen einher mit einer zunehmend offen feindlichen Haltung des kolumbianischen Staates und der US-Administration. In Venezuela wird schon länger gemunkelt, der Plan Colombia ziele nicht nur auf die Bekämpfung der kolumbianischen Guerilla ab (und schon gar nicht auf Drogenbekämpfung), sondern diene vielmehr der geostrategischen Kontrolle der Anden- und Amazonasregion. Dass dem Erdölland Venezuela dabei eine besondere Rolle zukommt, liegt auf der Hand.

Militärhilfe aus den USA
So hat sich Kolumbien, das historisch Grenzstreitigkeiten mit Venezuela am Maracaibo-See unterhält, mit Hilfe von mittlerweile zwei Milliarden US-Dollar aus den USA, in die unangefochtene Militärmacht der Andenregion verwandelt. Weiter verschärft hat sich die Lage durch den Kauf von 40 spanischen AMX-30-Panzern durch das Uribe-Regime, die für ihren offiziellen Zweck, die Guerillabekämpfung, gänzlich ungeeignet sind. Und angeheizt wird der Konflikt schließlich auch durch PolitikerInnen beider Länder. Die venezolanische Linke Iris Valera, die im September 2002 einen Anschlag kolumbianischer Paramilitärs überlebte, bezeichnete die Regierung Uribe unlängst als Marionetten-Regime der USA, während der kolumbianische Vizepräsident Francisco Santos den venezolanischen Präsidenten Chávez als „größte Gefahr Lateinamerikas“ beschimpfte. Wie schlecht die Beziehungen sind, zeigte sich Mitte April diesen Jahres, als der kolumbianische Kongress ohne jeden sichtbaren Anlass eine Intervention der Organisation Amerikanischer Staaten im Nachbarland forderte. Gegen das Votum des Mitte-Links-Bündnisses Polo Democrático Independiente richtete das kolumbianische Parlament die Bitte an die Regierung Uribe, sich bei der OAS für die Anwendung der so genannten Carta Democrática einzusetzen. Diese besagt, dass die amerikanischen Staaten mit Hilfe von Sanktionen und Repressalien intervenieren müssen, wenn die Demokratie in einem der Mitgliedsländer in Gefahr ist. Der Beschluss des Parlaments in Bogotá kann nur absurd anmuten, wenn man berücksichtigt, dass das venezolanische Privatfernsehen Präsident Chávez täglich ungestraft als „Schwulen“, „Kommunisten“, „Guerilla-Unterstützer“ oder „Taliban“ bezeichnen kann, während gleichzeitig der kolumbianische Staat seit Anfang der 1980er Jahre eine gnadenlose Repressions- und Vernichtungspolitik gegen linke Oppositionsparteien, Gewerkschaften und soziale Organisationen zu verantworten hat.
Nicht ganz zu Unrecht wies deshalb der linkssozialdemokratische venezolanische Vize-Präsident José Vicente Rangel den Beschluss des kolumbianischen Parlaments als Unverschämtheit zurück. Rangel zufolge könne man die kolumbianische Initiative nur verstehen, wenn man sie im Zusammenhang mit dem wachsenden Druck Washingtons gegen das Reformprojekt in Venezuela betrachte. Tatsächlich wird der Ton der politischen Klasse der USA in den letzten Monaten wieder schärfer, wobei der demokratische Präsidentschaftskandidat John Kerry seinem Widersacher Bush in nichts nachsteht. Kerry warf Bush unlängst sogar vor, Chávez nicht genug zu bekämpfen.

Zerfall der
Anti-Chávez-Koalition
In Venezuela selbst hingegen sieht die Lage für die bürgerliche Opposition im Moment nicht besonders gut aus. Die Wahlaufsichtsbehörde CNE hat unlängst das offizielle Ergebnis des oppositionellen Referendumbegehrens (siehe LN 357) vorgelegt. Demnach kann die Rechte bislang nur auf 1,9 Millionen UnterstützerInnen zählen. Weitere 1,1 Millionen Unterschriften werden wegen Unklarheiten auf den Formularen im Verlauf der nächsten Wochen noch einmal zur Bestätigung ausgelegt. Zwar hat die CNE das Referendum bereits auf den 8. August terminiert, doch ob die fehlenden 560.000 Unterschriften bis dahin zusammenkommen werden, steht in den Sternen. Mehrere Parteien des Oppositionsbündnisses Coordinadora Democrática haben offensichtlich jede Hoffnung aufgegeben und wollen das Verfahren sabotieren. Aus diesem Grund hat die alte oligarchische Partei Acción Democrática, die sich gute Chancen bei den anstehenden Gouverneurswahlen ausrechnet, ihren Austritt aus der Oppositionskoalition verkündet. Damit zerfällt, wie es scheint, die Anti-Chávez-Koalition.

Raul Zelik ist Schriftsteller. Von ihm erschienen zuletzt made in venezuela. Notizen zur „bolivarianischen Revolution“ und der Roman bastard, beide bei Assoziation A

„Publizistische Kreativität“ – Plakate der Chile-Solidarität

Bislang existiert über die Plakate der Chile-Solidaritätsbewegung nicht einmal annäherungsweise ein Überblick, weder über Anzahl noch Qualität, weder im globalen noch im nationalem Rahmen. Bis heute wurden zu Plakaten der Chile-Solidarität in der BRD nur zwei Ausstellungskataloge publiziert. Die weit zurück liegenden Erscheinungsjahre 1976 und 1980 verweisen auf die ungeheuer große Lücke in der Dokumentation und Archivierung dieses außerordentlich attraktiven wie zugleich flüchtigen Mediums.
Bereits zur Zeit der Regierung Allende existierte in Chile eine hochentwickelte Kultur der aktiv kämpferischen politischen Wandmalerei. Als unmittelbare Gebrauchskunst hatte sie mit ihren starken Farben und Symbolen einen großen Einfluss auf die Gestaltung von Plakaten zur Unterstützung der Unidad Popular. Zu dieser Zeit waren die Herstellung und der Vertrieb politischer Plakate ein Teil des Versuches, gegen die konservativ dominierte Presse in diesem Land publizistische Gegenmedien zu etablieren. Auf nicht wenigen Plakaten zur Unterstützung der Unidad Popular finden sich sowohl in der Gestaltung als auch in den Bildmotiven Anklänge an die Typografie des Realen Sozialismus: durchweg sind optimistische, zum Teil lachende Menschen zu sehen, die hoffnungsfroh in die Zukunft blicken. Selbstredend wurde auch die Plakatkultur durch den mörderischen Putsch in Chile eliminiert. In einem Regime „wo es unmöglich geworden ist, Plakate herzustellen und zu verbreiten“, konnte „die Idee der Freiheit (nur noch) in Form der Zeichnung, als illegales Flugblatt und als Mauerschrift“ erscheinen, um mit den Worten des damaligen Kulturattachés der Botschaft Chiles zu sprechen. Die Folgen des Putsches sorgten aber dafür, dass Teile der chilenischen Plakatkultur in die Kultur der entstehenden globalen Solidaritätsbewegung einflossen.
Schon kurz nach dem Militärputsch erinnerte eine vom Centre pour la défense de la culture chilienne (Zentrum zur Verteidigung der chilenischen Kultur) in Paris organisierte Ausstellung von hundert Plakaten an den Typus von Plakaten aus der Allendezeit. Sie wurde 1974 auf der Bienale in Venedig und darüber hinaus in Frankreich, Polen und der Bundesrepublik gezeigt. In dem leider schwarz-weiß gehaltenen Ausstellungskatalog schreibt Becerra-Schmidt in der Einleitung, dass die 100 Plakate nur „ein sehr kleiner Bestandteil von dem (sind), was in Chile an Äußerungen publizistischer Kreativität während der Entwicklung der Bewegung der Volkseinheit“ entstanden sei. Und Norbert Schneider schreibt an anderer Stelle, dass die auf diesen Plakaten immer wieder vorkommenden Begriffe ‘Vaterland’ und ‘Nation’ „eine gänzlich andere Qualität und Bedeutung (besitzen) als in der Ideologie des reaktionären Nationalismus und Chauvinismus, wo sie aggressive Überheblichkeit und Friedensbedrohung bedeuten“. Dieser nationale Akzent wurde von der Chile-Solidaritätsbewegung immer wieder in der Gestaltung von Plakaten durch die Aufnahme der Nationalfarben blau-weiß-rot mit dem fünfzackigen Stern integriert. Dabei verweisen die aufwendig in bunt gedruckten Plakate, die mit den Nationalfarben und dem fünfzackigen Stern spielen, nicht nur auf größere Geldressourcen der Solibewegung selbst. Sie sind auch ein Hinweis auf das historische Glück der Chile-Solidaritäts-PlakatgestalterInnen auf der ganzen Welt, die sich den Umstand zu Nutze machen konnten, dass mit den wesentlichen grafischen Elementen in der Nationalflagge dieses Landes Assoziationen von internationaler und sozialer Befreiung in eins fielen.
1980 eröffnete ein vom Solidaritätskomitee der DDR publizierter Ausstellungskatalog mit 223 mehrfarbig gedruckten Plakaten einen Blick auf die Plakatkultur der globalen Solidaritätsbewegung. Dort finden sich Plakate aus rund 30 Ländern. Der Schwerpunkt liegt auf Europa, aber auch in Australien und Japan wurden Plakate für diese Sache in Umlauf gebracht. In einem von Heroismus nicht ganz freien Geleitwort würdigte der Präsident des Chile-Zentrums in der DDR Manfred Kossok die Plakate als „historische Dokumente (…), die Jahre ununterbrochenen Kampfes bezeugen“. Und in einer Einführung wusste einer der führenden DDR-Plakatkritiker Helmut Rademacher, mit für heute etwas ungewöhnlichem Ton, auf die „großartige Leistungsbilanz politischen Plakatschaffens in der Welt“ zu verweisen, die er als „eine Hymne auf die Fähigkeit des Plakates (ansah), immer an der aktuellen Situation orientierte Ausdrucksmöglichkeiten und Überzeugungsqualitäten zu gewinnen“.
Auch wenn die Chile-Solidarität in den 80er und 90er Jahren im Vergleich zu der Dekade der 70er Jahre abnahm, so ging sie doch weiter, und mit ihr wurden die Plakate hervorgebracht, in die sich der jeweilige Zeitgeist einschrieb. Auf vielen Plakaten der Chile-Solidarität in den 80er Jahren verschwanden nicht nur die noch in dem Jahrzehnt zuvor so beliebten Genossen- und Arbeiter-Fäuste, sondern auch die Menschen als lebendige liebens- oder hassenswerte Subjekte. Die aus den Dschungeln Mittelamerikas auf die Plakate der bundesdeutschen El Salvador- oder Nicaragua-Solidarität importierten sympathisch gutaussehenden Guerilleros – und zuweilen auch Guerilleras – ließen sich eben nicht auf die Wirklichkeit des chilenischen Widerstandes der 80er Jahre übertragen.

– Ausstellungskatalog Non a la sedicion (Nein zum Putsch) 100 Chilenische Plakate aus der Zeit der Allende-Regierung mit Beiträgen von Gustavo Beccerra-Schmidt, Norbert Schneider u.a., herausgegeben von der Vereinigung zur Förderung der demokratischen Kultur Chiles e.V., Münster 1976.
– Solidaritätskomitee der DDR (Hrg.) Chile en el corazón (Chile im Herzen) / Internationale Solidarität im Spiegel des Plakats, Ost-Berlin 1980.

Motiv 1: Das Volk im Kampf

Chiles gescheiterter Versuch, auf parlamentarischem Weg den Sozialismus einzuführen, ist untrennbar mit einem Namen verbunden: Salvador Allende. Nach zwei fehlgeschlagenen Versuchen gelang ihm 1970 der Einzug in den Präsidentenpalast La Moneda. Knapp drei Jahre später trug man ihn als prominentestes Opfer des Militärputsches tot wieder hinaus. Mythen rangten sich lange Jahre um den „heroischen Kampf“ des Volksfrontpräsidenten und seiner Getreuen. In ihnen wurde sein Heldentod im Kampf um die Moneda und die Freiheit gerühmt und damit ein Politiker posthum verklärt, der genau das gar nicht nötig gehabt hätte. „Die Geschichte gehört uns, es sind die Völker, die sie machen“, hatte Allende noch als einen seiner letzten Sätze gesagt. Dass auch Selbstmord in aussichtsloser Lage nichts ehrenrührerisches oder gar verachtenswertes ist, durfte die Welt erst viel später erfahren.
Der charismatische Arzt an der Spitze der damals noch nicht „renovierten“ und sozialdemokratisierten Sozialistischen Partei Chiles hatte beharrlich gesellschaftliche Veränderungen angestoßen, die seine politischen GegnerInnen wohl in dieser Konsequenz nicht erwartet hatten. Während die Zustimmung der Bevölkerung zu seiner Unidad-Popular-Regierung wuchs, formierte sich die Ablehnung bei der politischen Rechten und bei in- wie ausländischen Wirtschaftseliten.
Bei vielen PolitikerInnen in Lateinamerika genießen Allende und sein friedlicher Kampf um soziale Gerechtigkeit und Freiheit bis heute große Anerkennung. Auch Hugo Chávez bezieht sich gerne auf den chilenischen Ex-Kollegen. Vielleicht schwingt da etwas Neid mit, schließlich hat der Chilene in den drei Jahren erheblich mehr gesellschaftliche Umwälzungen in Gang setzen können als der venezolanische Ex-Obrist. In Anbetracht dessen hatte die Konterrevolution in Chile aus Sicht der Bourgeoisie mehr „Berechtigung“ als im Karibikstaat, und eine erheblich durchschlagendere Wirkung.

Motiv 2: Das Recht auf Freiheit

Kaum eine Gewaltherrschaft hat weltweit für ein solches Aufsehen gesorgt wie die Diktatur von General Augusto Pinochet. Der Militärputsch vom 11. September 1973 stoppte jäh den Versuch, einen „sanften“ Übergang zum Sozialismus zu schaffen, zudem den eines Entwicklungslandes. Nicht per Revolution, wie elf Jahre zuvor in Kuba oder neun Jahre später in Nicaragua, sondern im Rahmen des parlamentarischen Systems. Die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ durch die Sowjetarmee und die Niederlage der anderen Weltmacht in Vietnam lagen erst zwei Jahre zurück, als mit Salvador Allende ein Sozialist nach den demokratischen Gepflogenheiten des Landes in den Präsidentenpalast La Moneda in Santiago einzog.
Doch hatten die sozialistischen DemokratInnen (oder waren es demokratische SozialistInnen?) die Rechnung ohne zwei entscheidende Wirte gemacht. Das heimische Unternehmertum und die machtgewohnten Eliten machten böse Mine zum guten Spiel, als die Unidad Popular ihre angestammten Privilegien berührte. Und die Imperialmacht USA konnte nach der soeben erlittenen Schmach derartige Provokationen im selbst erklärten Hinterhof nicht widerstandslos hinnehmen. In Zeiten des Kalten Krieges war ein „dritter Weg“ in den Hirnen der imperialen Weltherrscher ebenso undenkbar wie heute bereits ein „zweiter Weg“.
Dabei hatte die internationale Öffentlichkeit Allendes parlamentarischen Weg zum Sozialismus lange Zeit kaum wahrgenommen. Doch nach dem blutigen Staatsstreich war die bundesdeutsche Linke auf einmal hellwach. Die Brutalität des Militärputsches vom 11. September 1973, mit dem die Armee die Unidad-Popular-Regierung stürzte und anschließend die AnhängerInnen der Volksfrontregierung rücksichtslos verfolgte, entfachte bis weit in bürgerliche Kreise Europas und Amerikas einen Sturm der Entrüstung. Zudem mussten tausende ChilenInnen ihre Heimat verlassen, um in Europa, Nordamerika und einigen lateinamerikanischen Ländern wie Mexiko und Venezuela Asyl zu suchen. Überall versuchten sie, Widerstand gegen die Junta in Chile zu organisieren. Die Chile-Solidaritätsbewegung spiegelte sehr genau das Spektrum der einzelnen chilenischen Oppositionsgruppen wider.

Motiv 3: Die Beteiligung der USA

Lange Zeit bestritten die MachthaberInnen in Washington jegliche Beteiligung am gewaltsamen Umsturz in Chile. Doch die Veröffentlichungen von CIA-Akten Ende 2000 bestätigten nachhaltig all jene Vorwürfe. Allen Lügen aus dem Weißen Haus und dem Pentagon zum Trotz, stand die maßgebliche Beteiligung der Weltmacht USA am Putsch für viele BeobachterInnen schon frühzeitig fest. Vor allem in Europa richtete sich die Kritik gegen die Einmischung der US-Regierung und führender nordamerikanischer Unternehmen – allen voran der US-amerikanischen Telefongesellschaft ITT.
Auslöser des Eingriffs war eine Maßnahme der Allende-Regierung, die heute dank Globalisierung und der einhergehenden gleichgeschalteten Denkweise undenkbar zu sein scheint: Die Nationalisierung, sprich Verstaatlichung, von Kupfer-, Kohle- und Salpeterminen, von Textil- und Zementfabriken und ITT. Die Umwidmung der Besitzverhältnisse im Kupferbergwerk El Teniente traf im Mai 1971 den US-Konzern Braden-Copper, zwei Monate später musste auch ITT seine Geschäftsinteressen in Chile begraben und mit Enteignungsentschädigungen aus dem chilenischen Staatssäckel vorlieb nehmen.
Dass mit derartigen Unverschämtheiten „undankbare“ Entwicklungsländer künftig nicht gewinnbringend eingesetztes Kapital einsacken, dafür sollen in unseren Tagen multilaterale Investitions- und andere WTO-Abkommen sorgen. Das chilenische Militär profitiert allerdings noch heute von den Enteignungen des ge(sc)hassten Sozialisten Allende: Ein Zehntel der Erlöse aus den chilenischen Kupferexporten fließt direkt in die Kassen des Verteidigungsministeriums. Doch das gilt nur für einen Teil der Bergwerke. Neue Kupferabbaustätten wie beispielsweise das Werk El Salvador in Nordchile sind heute wieder in der Hand internationaler Konsortien. In Zeiten der Globalisierung steckt hinter diesen nicht allein us-amerikanisches, sondern auch finnisches und australisches Kapital.

Motiv 4: Die Verfassung der Diktatur

Der Militärputsch in Chile war rücksichtslos, brutal und menschenverachtend. Doch anders als in den vielen Interims- und Kurzzeitdiktaturen im übrigen Lateinamerika hatten die uniformierten Herrscher und ihre zivilen Helfershelfer einen Plan: Die tradierten Dominanzverhältnisse fest zu zurren, jedwedem Systemwechsel grundsätzlich vorzubeugen und die Weichen in Richtung eines wahrlich „revolutionären“ Wirtschaftsmodells zu stellen. Schon wenige Monate nach der gewaltsamen Übernahme der Macht bemühten sie sich, der weltweit auf Ablehnung gestoßenen Diktatur einen formalen Rahmen zu geben. Mit maßgeblicher Hilfe des auch hierzulande berüchtigten Würzburger Staatsrechtlers Blumenwitz bastelten sich Pinochet und seine Mannen eine eigene Verfassung im Dienste des Machterhalts. Am 11. März 1981 trat das neue Grundgesetz nach einem fragwürdigen Plebiszit in Kraft. Zwar behielten die Militärs vorsichtshalber den Ausnahmezustand bei, aber die pseudodemokratische Tünche verfehlte nicht ihre Außenwirkung.
Parallel dazu änderte die Militärjunta eine Reihe anderer wichtiger Gesetze und unterhöhlte dabei systematisch soziale, gewerkschaftliche und andere Grundrechte. Immer unverkennbarer war dabei die marktradikale Handschrift der Chicago-Boys aus der Chicagoer Indoktrinationsschule von Milton Friedman zu erkennen. Das neue Arbeitsrecht schränkte die Gewerkschaftsrechte erheblich ein und hob das Streikrecht aus den Angeln. Die Sozialversicherungsgesetzgebung ersetzte die herkömmlichen Solidarstrukturen durch individuelle Privatsysteme. Das Wahlrecht der Pinochet-Diktatur sicherte der jeweils zweitstärksten Partei unverhältnismäßig viele Mandate zu – und das sind in Chile üblicherweise die rechten Parteien, die seither meistens überproportional repräsentiert sind. Dazu kommen noch die SenatorInnen auf Lebenszeit.
Die Liste ließe sich fortsetzen. Stück für Stück schuf das Regime die gesetzliche Grundlage für die „wahre“ Umkrempelung der Gesellschaft. So erfolgen die Umverteilung von unten nach oben, die Beschneidung demokratischer Freiheiten und vor allem kritischer Stimmen heute ganz legal, ganz „demokratisch“. Wobei ein wenig Genugtuung bleibt: Pinochet stürzte 1989 über seine eigenen Vorgaben, als er im anberaumten Plebiszit gegenüber den RegimekritikerInnen unterlag.

Motiv 5: Die Zeichen des Widerstands

Lange Zeit waren die arpilleras, jene gestickten Stoffbilder aus Chile, allgemein erkenntliches Markenzeichen des Widerstands gegen das Regime und der internationalen Chile-Solidarität. Keine Soli-Veranstaltung, kein Konzert, kein Basar ohne die handgefertigten bunten Wandteppiche, die mit einfachen Mitteln das noch einfachere Leben der Bevölkerungsmehrheit des südamerikanischen Landes darstellten. Außerdem wurden die tägliche Repression, die Razzien und andere Übergriffe der Staatsmacht, das Leben in den Kerkern und Gefängnissen gezeigt. Auch der politische Widerstand fand Eingang in die Motive der arpilleras, der sich gerade in den Anfangsjahren vielfach nur im Rahmen der Katholischen Kirche organisieren konnte.
So ist es kein Zufall, dass sich neben den Oppositionsparteien gerade das kirchliche Solidaritätsvikariat um die Verbreitung und den Vertrieb der Wandteppiche politischen Inhalts bemühte. Denn es ging nicht allein darum mitzuteilen, wie es im Chile Pinochets aussah, sondern auch darum, über die gemeinsame Handarbeit den Erfahrungsaustausch zu verbessern und vor allem Frauen politisch zu motivieren. Zusätzlich halfen die Stickereien der einen oder anderen armen Familie, sich in Zeiten allgemeiner Knappheit über Wasser zu halten.
Doch das ist Vergangenheit, die vorherrschende Ästhetik hat sich unübersehbar geändert. Heute bieten die wohlhabenderen Stadtteile Santiagos Designerläden und Einrichtungshäuser, in denen indische Räucherstäbchen und preisgünstige Importtextilien aus Indonesien und Thailand mit geschnitzten Holztieren oder Stühlen aus der Elfenbeinküste oder dem Senegal konkurrieren. Wer es sich leisten kann, nimmt bereitwillig die Konsum- und Einrichtungsgewohnheiten aus dem Norden an. Und zu nüchtern-klaren Möbeln und exotischen Ornamenten passen eben keine arpilleras. Vielleicht auch, weil mensch sich dann nicht immer an all die grauen Jahre erinnern muss, an das erlittene Schicksal, das Verschwinden von Angehörigen, die Armut, das “Schweigenmüssen”. Oder aber auch, um sich nicht immer wieder vor sich selber rechtfertigen zu müssen, wenn tief drinnen doch so etwas wie Verständnis oder gar Sympathie für das Durchgreifen der Militärs gegen die Aufrührer und Vaterlandsverräter steckt.

Motiv 6: Die Blutspende für das Volk

Blut war immer im Spiel, seit das chilenische Militär am 11. September 1973 mit preußischer Gründlichkeit und Härte die linke Volksfrontregierung wegputschte. Tausende starben in den ersten Monaten nach dem Staatsstreich eines unnatürlichen Todes, erschossen, erschlagen, zu Tode gefoltert. Blut klebte an den Händen von Pinochet und seinen willigen Helfershelfern. Dieses Bild ging in den ersten Jahren nach dem Putsch durch die ganze Welt.
An dieses Bild der Junta wurde später angeknüpft: Blut spenden aus Solidarität mit Chile. In etlichen deutschen Städten organisierten Gruppen kollektive Spendetermine, um über den Verkauf an das Rote Kreuz oder andere Dienste Geld für Aktionen und Unterstützung zu sammeln. Und von dem roten Lebenselixier konnten sich manche studierende Soli-Bewegte leichter trennen als von den knappen Märkern, die gerade für Miete, Essen und Bücher reichten. Jedenfalls kamen bei solchen Aktionen durchaus erkleckliche Beträge zusammen.
Blut ist immer in besonderer Weise symbolträchtig. Heute, ein Vierteljahrhundert später, mag manch einem/r ZeitgenossIn ein derartiges Unterfangen befremdlich vorkommen und mensch wäre eher geneigt, sich von einigen Euros als von dem kostbaren Spezialsaft zu trennen. „Kein Blut für Öl“ hieß es denn auch im Widerstand gegen den Irak-Krieg der Immer-Noch-Imperialmacht USA und ihrer willigen Verbündeten. Im Kampf gegen den Imperialismus in Chile gaben viele einen kleinen Teil des ihren noch bereitwillig hin. Und andere wunderten sich auch schon damals.

Motiv 7: Die Solidarität mit dem Kampf

Etwas über ein halbes Jahr nach dem mörderischen Putsch in Chile schien es notwendig zu sein, die Arbeit der national wie international verstreuten Soligruppen zentral zu vernetzen. Aus diesem Grund wurde mit einem entsprechenden Plakat aus dem Spektrum der Neuen Linken zu einer „internationalen Chile-Konferenz“ nach Frankfurt aufgerufen. Das Plakat zeigt ein Foto einer Chile-Solidaritätsdemo in Paris Anfang Dezember 1973. Deutlich erkennbar ist eine Kette von acht DemonstrantInnen. Von links aus gesehen tragen die beiden ersten militant wirkende Lederjacken, und ein weiterer ist mit einer Skimaske vermummt. So sahen also die Subjekte der Chile-Solidarität nicht in Lateinamerika, sondern in Westeuropa zu Beginn der 70er Jahre aus. Mit ihren aufgerissenen Mündern sprechen sie nicht miteinander, sondern skandieren in aggressiver Weise Parolen. Sie haben sich fahnenschwenkend hinter einem auf dem Leittransparent präsentierten erhobenen Arm mit Gewehr versammelt, und scheinen vom Betrachter aus gesehen schräg und geschlossen an ihm vorüberzumarschieren.

Motiv 8: Der deutsche Besuch

Im Herbst des Jahres 1977 ließ es sich der bayrische Ministerpräsident Strauss nicht nehmen, dem Massenmörder Pinochet in Chile seine Aufwartung zu machen. Der Besuch dieser Gallionsfigur der institutionellen militanten Rechten in der Bundesrepublik verkörperte die ganz spezielle Seite der gerade durch den mörderischen Putsch neu belebten deutsch-chilenischen Wirtschafts- und Kulturbeziehungen. Dabei entstand am 20.November 1977 das auf dem Plakat dokumentierte UPI-Pressefoto in Llanquihue (Südchile) anlässlich der Einweihung einer Gedenkstätte zur 125-Jahr-Feier der ersten Landung deutscher Siedler in Südchile. Es zeigt Strauss unmittelbar an der Seite Pinochets mit dessen Ehefrau Lucia.
Das Antiimperialistische Solidaritätskomitee aus Frankfurt kommentierte diesen skandalösen Besuch sofort mit der Verbreitung eines Plakates, das eine leichte Verfremdung des ursprünglichen Pressefotos in Form einer Fotomontage zeigt. Die auf dem Plakat visualisierte Ahnenreihe Hitler-Pinochet-Strauss bekundete das höchste Maß an Abscheu vor diesen Staatsmännern. Über drei Jahre nach der Publikation des Plakates wurden zwei Exemplare davon in Würzburg bei einer von dem Rentner Fritz Kröckel angemeldeten Demonstration mitgeführt. Als der diese Demonstration „begutachtende“ Dritte Bürgermeister der Stadt Erich Felgenhauer (CSU) diese Plakate entdeckte, fotografierte er sie mit einer Polaroid-Kamera und schickte die Fotos direkt an Strauss. Der ließ postwendend eine Anzeige wegen Beleidigung und der „Verwendung nationalsozialistischer Symbole“ gegen den Demonstrationsanmelder Kröckel stellen, da auch das Zeigen eines Hitler-Kopfes zu dieser Deliktgruppe gezählt wird. Im Juli 1981 wurde vom Schöffengericht Würzburg die Verhandlung gegen Krökel eröffnet.
Obwohl das Gericht während der Verhandlung eine Reihe von Beweisanträgen der Verteidigung, so beispielsweise das auf dem Plakat dokumentierte Strauss-Zitat, als „wahr unterstellte“, wurde Fritz Kröckel wegen „Beleidigung“ des bayrischen Ministerpräsidenten zu 200 D-Mark Geldstrafe verurteilt. Allerdings wies das Gericht den Anklagepunkt der „Verbreitung nationalsozialistischer Kennzeichen“, mit dem die Staatsanwaltschaft eine Strafhöhe von 600 D-Mark gefordert hatte, zurück. Dem vorsitzenden Richter fehlte die zur Verurteilung in diesem Punkt notwendige Phantasie, dem Angeklagten zu unterstellen, dass er mit dem Zeigen dieses Plakates den Nationalsozialismus habe „verherrlichen“ wollen.
Dem Antifaschisten Kröckel kam bei dieser vielleicht als „mild“ erscheinenden Entscheidung zu Gute, dass er 1945 als KZ-Insasse zum Tode verurteilt worden war.

Motiv 9: Der deutsche Rüstungsexport

In den 80er Jahren verschwanden auf vielen Plakaten der Chile-Solidarität nicht nur die noch ein Jahrzehnt zuvor so beliebten Genossen-Fäuste, sondern auch die Menschen als lebendige liebens- oder hassenswerte Subjekte. Dieses Plakat kann als ein Beispiel dafür gelesen werden. Im oberen Drittel ist die Silhouette eines sinnigerweise auf der Wasseroberfläche fahrenden und visuell nicht sehr bedrohlich wirkenden U-Bootes gut erkennbar und deutlich mit zwei roten Strichen ausgekreuzt. Was allerdings mit der optischen Präsenz der Farbe Rot auf weißem Hintergrund nicht das geringste Problem darstellt, wird auf schwarzem Hintergrund zu einem grafischen Fauxpas allererster Güte: Der in der gleichen Farbe gehaltene Slogan wird trotz der weißen Unterstreichung von der schwarzen Hintergrundfläche für den neugierigen, gleichwohl als ahnungslos vorauszusetzenden, Betrachter fast – wie ein U-Boot – verschluckt.
Das Plakat war ein integraler Bestandteil der länger anhaltenden Kampagne der Chile-Solibewegung gegen die Lieferung von U-Booten an die Militärjunta. Sie setzte unmittelbar nach dem Beschluss der sozialliberalen Bundesregierung im Jahre 1980 ein, nach dem zwei U-Boote inklusive Torpedos für 300 Millionen D-Mark an die Junta geliefert werden sollten. Am Ort des U-Boot-Baus, der Werft HDW in Kiel, kam es zu einer Reihe von politischen Aktionen durch den dortigen Chile-Arbeitskreis. Den aktivistischen Höhepunkt erreichte das Engagement des Chile-Arbeitskreises Anfang September 1982, als etwa zwei Dutzend DemonstrantInnen die U-Boot-Schwimmdocks der Howaldtwerke für ungefähr eine Stunde mit ihren Transparenten besetzten. Auf ihnen stand der heute noch richtige Gedanke zu lesen: „Rüstungsexport / Beihilfe zum Mord“. Auch wenn die Polizei nicht mehr, wie noch im Sommer 1981, zulangte, so wollte die HDW-Werftleitung nicht auf eine Anzeige, ausgerechnet wegen Hausfriedensbruch, gegen alle Teilnehmer der Schwimmdockbesetzung verzichten. Dazu bemerkte der Chile AK treffend: „In diesem ‘Haus’ werden Kriegsgeräte hergestellt, aber wenn man ein Transparent dranhängt, soll der Frieden gestört sein.“

Motiv 10: Das Recht auf Rückkehr

Die Militärjunta, die sich mit dem Putsch von 1973 an die Macht katapultiert hatte, leitete eine Säuberungswelle unbekannten Ausmaßes ein. Das vorhergehende „kommunistische“ Regime wollten die uniformierten MachthaberInnen mit Haut und Haar ausrotten und alle Spuren von ihm tilgen. Damit verfolgten sie das Ziel, jedes Wiederaufkeimen derartiger politischer „Exzesse“ zu verhindern.
In den ersten Tagen flohen hunderte ChilenInnen in ausländische Botschaften in Santiago, in den folgenden Monaten verließen tausende ihre Heimat und fanden Asyl in Europa, Nordamerika und einigen lateinamerikanischen Ländern wie Mexiko und Venezuela. Überall versuchten sie, Widerstand gegen die Junta in Chile zu organisieren. Die breite Ablehnung, die das gewaltsame Vorgehen der chilenischen Armee weltweit ausgelöst hatte, schuf vielerorts eine überraschend große Bereitschaft, die Opfer des Regimes aufzunehmen und ihnen politisches Asyl zu gewähren.
Ihre im Vergleich zu anderen Flüchtlingen oftmals freundliche Aufnahme ließ allerdings nur einen Teil von ihnen in den Gastländern glücklich werden. Die ExilchilenInnen träumten lange Jahre ihren Traum von der Heimat weiter, indem sie sich in einer der zahlreichen Soligruppen und -komitees engagierten. So hielten sie die Erinnerung an den politischen Prozess, den sie dort miterlebt hatten, in nicht selten verklärter Form wach.
Die Nachfahren, ob als Kleinkinder mit den Eltern geflohen oder erst im Exil geboren, erlebten das typische Schicksal der Zweitgenerationsflüchtlinge. Sie hingen zwischen zwei verschiedenen Kulturen. Der familiäre Zusammenhalt war vielfach auseinandergebrochen, Ehen wurden im Exil geschieden, Verwandte hatten sich unterschiedlich im Exilland assimiliert.
Als sich in Chile nach 15 Jahren Diktatur allmählich eine Demokratisierung abzeichnete, wuchs in vielen ehemaligen Flüchtlingen der Wunsch, in die Heimat zurückzukehren.
Auch in Deutschland entstanden Rückkehrkomitees, die den Exilierten die Heimkehr erleichtern sollten. Die Bundesregierung legte ein Förderprogramm auf, um den Menschen einen Neustart in Chile zu ermöglichen. Allerdings überforderten die Kreditbedingungen nicht wenige der RückkehrerInnen, die sich zudem in einer völlig veränderten Welt wieder fanden. Etliche kehrten freiwillig wieder in ihre Gastländer zurück, andere taumeln weiter irgendwo zwischen zwei Welten.

Motiv 11: Das Weichen der Angst

Mehr als ein Jahrzehnt zweifelte niemand daran, dass Putschgeneral Augusto Pinochet mit seiner Behauptung Recht hatte, in Chile bewege sich kein Blatt, ohne dass er es wüsste. Was nur den Anschein regimekritischer Inhalte hatte oder gar erkennbar oppositionell war, konnte allenfalls unter dem damals weit gespannten Dach der Katholischen Kirche stattfinden.
Wer sich Ende der 70er oder Anfang der 80er Jahre etwas aus dem geistlichen Deckmantel hervorwagte, spürte sofort den langen Arm der offenen und geheimen Polizeiorgane. GewerkschafterInnen, PolitikerInnen und JournalistInnen fanden oft unter mehr oder weniger mysteriösen Umständen den Tod, andere mussten immer wieder ins Gefängnis. Lange Jahre traute sich niemand offen zu reden, und jedes Mal, wenn das Gespräch auf politische Themen kam, blickten sich die ChilenInnen erst einmal verstohlen um. Die Geheimdienste DINA beziehungsweise CNI waren allgegenwärtig.
Doch die fortschreitende Institutionalisierung des Regimes und seiner Ideologie passte irgendwann immer schlechter zur anhaltenden Repression. Zudem war das Hauptziel der Gewaltepisode mit der Etablierung der Herrschaftsverhältnisse erreicht. Als sich Pinochet dann auch noch auf seinem illegitimen Posten absegnen lassen wollte, kamen erste Brisen der Veränderung auf, die sich später zu Fallstricken entwickelten.
Symbolträchtig war der Fingerzeig auf den bis dahin unantastbar erscheinenden Pinochet, mit dem der heutige Präsident und ehemalige Redenschreiber Allendes, Ricardo Lagos, im Fernsehen das Bild des Putschgenerals erstmals in der Öffentlichkeit ankratzte. Damals fanden sich immer wieder Menschengruppen spontan zusammen, um „Y va caer, y va caer, y va caer“ zu skandieren: Er wird stürzen. Die Menschen in Bussen und U-Bahnen flüsterten immer weniger, wenn sie Kritik am Militärregime äußerten. Die allgemeine Angst, die jahrelang wie ein dunkler Schleier über dem südamerikanischen Land gelegen hatte, wich allmählich der Zuversicht und dem Mut, nach anderthalb Jahrzehnten der Unterdrückung doch etwas ändern zu können.

Motiv 12: Die Vorreiterrolle

Anfang der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts war Chile das erste außereuropäische Land, das umfangreiche Sozialversicherungsgesetze erließ und ArbeiterInnen wie Angestellten Rente und Gesundheitsversorgung sicherte. 60 Jahre später machten die Militärmachthaber und ihre willigen HelferInnen von der Chicagoer Wirtschaftsfakultät das Land erneut zum Vorreiter sozialpolitischer Reformen. Ebenso begierig wie begehrlich beobachteten die Reagans und Thatchers, die Weltbank und der IWF die Entwicklung in Chile, wo im Rahmen einer marktradikalen Strukturanpassung der gesamten Volkswirtschaft ab 1981 eine partielle Privatisierung des Sozialversicherungswesens erfolgte.
Die Rentenreform zwang die ChilenInnen in ein individuelles Kapitalisierungssystem, das wesentlich höhere Kosten verursachte als jemals zugegeben und die Rente keineswegs nachhaltig sichert. Parallel dazu feierten Marktprinzipien fröhliche Urzustände im Gesundheitswesen und wiesen eindrücklich nach, dass ein Wettbewerb zwischen solidarischen und privaten Krankenkassen nicht funktionieren kann. Doch um solchen sozialen „Schnickschnack“ machten sich die Chicago-Boys damals nicht den geringsten Gedanken.
Heute bemüht sich die Regierung, das mittlerweile in Verruf geratene System, für dessen „Vorbildfunktion“ sich vor Kurzem der chilenische Gesundheitsminister in aller Öffentlichkeit entschuldigte, nachzubessern. Doch die hohen sozialen Kosten der sozialen Konterrevolution sind heute immer unübersehbarer und durch die nachholenden Korrekturen kaum zu senken. Diesen eindeutigen Erfahrungen zum Trotz fordern allerorts die alte Rechte und die neue Mitte, die unablässig von der Krise des Sozialstaates sprechen, mehr „Effizienz“ und bieten im globalisierten Mainstream marktwirtschaftliche Rezepte als Allheilmittel. Dabei könnte die genaue Analyse chilenischer Erfahrungen viele derartige Hirngespinste nachhaltig vertreiben.

Zwölf Tage Arbeitslager

Zwölf Tage lang habe ich in einer Fabrik in der freien Produktionszone Las Mercedes in Managua gearbeitet. Obwohl mein Aufenthalt nur kurz war, im Vergleich zu dem von tausenden Männern und Frauen, hatte ich eine ebenso einmalige wie strapaziöse Gelegenheit, diese für Nicaragua charakteristische „Welt” kennen zu lernen.
Von Montag bis Mittwoch herrscht größtes Gedränge vor den Toren zur Produktionszone. Es sind viele, die Arbeit suchen, doch nur wenige haben das Glück ausgewählt zu werden. Ich wurde mit dreißig anderen angenommen. Obwohl ich eine Empfehlung hatte und mir sicher war, eine Stelle zu erhalten, steckte mich die allgemeine Nervosität an. Wir begaben uns vor die Fabrikhalle. Alles war dort eingezäunt und mit Stacheldraht abgesichert.
Um 7.05 Uhr befanden sich alle ArbeiterInnen auf ihren Posten und die Fabriktore wurden geschlossen. Wir mussten fünf Reihen bilden und wurden von einer jungen Frau instruiert, die in einer Art zu uns sprach, die an die Durchsagen auf einem Flughafen erinnerte. Sie war ständig in Bewegung, wiederholte sich permanent und wich jedem Blickkontakt aus.Sie informierte uns über die Arbeitszeit und ermahnte uns, pünktlich zu sein und immer unsere Karte abzustempeln: „Wenn die Stempelkarte verloren geht, ist das nicht das Problem des Unternehmens, sondern des/r Arbeiters/in. Wenn ihr arbeitet und nicht stempelt, wird der Arbeitstag nicht bezahlt. Stempelkarten werden nicht ersetzt. Mehrmals forderte sie, dass wir dem nicaraguanischen und dem taiwanesischen Aufseher absoluten Respekt zu zollen hätten.
In einer Reihe ging es dann unter den kritischen Blicken der anderen ArbeiterInnen in die Fabrik. Im zweiten Stock wurden wir in einen Raum mit alten Maschinen und Ventilatoren geführt, Schnittmuster und Übungsanleitungen zur Evaluation unserer Geschicklichkeit an der Wand. In leierndem Tonfall erzählte uns die Aufseherin nochmal dasselbe, was sie uns vor einigen Minuten schon gesagt hatte.
Untereinander sprachen die Verantwortlichen in normaler Lautstärke, uns dagegen schrien sie nur an und gaben uns so zu verstehen, dass wir ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren.

Erste Eindrücke

Doña Fidelina, die Personalchefin, ließ nach mir rufen und fragte mich nach meinem Sozialversicherungsausweis. „Ich habe keinen, da ich noch nie gearbeitet habe.“ „Da haben wir ein Problem“, sagte sie und erklärte dann: „Die einzige Möglichkeit besteht darin, deine Anstellung der Sozialversicherung nicht mitzuteilen mit der Verpflichtung deinerseits, dies niemandem zu erzählen und in der Fabrik und auf dem Weg hierhin vorsichtig zu sein. Denn falls dir was passiert, wird die Firma keinerlei Verantwortung tragen.“
Ich sollte in der Verpackungsabteilung arbeiten, der am wenigsten gefährlichen, laut Doña Fidelina. Ich unterschrieb meinen Arbeitsvertrag nach dem ich monatlich 960 Córdobas (rund 80 Euro) verdienen würde, plus Überstunden, zahlbar jeden 15. und 30. des Monats. Insgesamt wurden 28 der 34 BewerberInnen aus meiner Gruppe eingestellt. Es waren die jüngsten, die, die noch am wenigsten Erfahrung hatten. Die Mehrheit in meiner Abteilung war zwischen 17 und 18, die Älteste 25 und seit sechs oder sieben Jahren in der Fabrik. Fast alle müssen für ihre Familien aufkommen. Frauen, die mit 22 Jahren bereits drei oder vier Kinder haben sind keine Seltenheit.
Nun wurden wir an den jeweiligen Arbeitsstellen abgeliefert. Wir sechs der Packungsabteilung durchliefen die ganze Fabrik. Wir wurden Leoncio, dem nicaraguanischen Aufseher, vorgestellt, der uns erneut die Normen und Gebote herunterleierte. Für ihn war das Wichtigste, dass wir damit einverstanden wären, länger zu arbeiten. „In der Verpackungsabteilung arbeiten wir bis 19.15 Uhr (statt 17.15 Uhr) und manchmal auch länger. Das sind zwei Überstunden pro Tag, Samstag und Sonntagsarbeit werden auch wie Überstunden bezahlt.“
Laut Arbeitsgesetz sind maximal neun Überstunden pro Woche zulässig – in einer Woche haben wir 36 Überstunden angesammelt. Das Arbeitsministerium kennt die Verhältnisse und Gesetzesübertretungen in der Fabrik. Anstatt die Rechte der ArbeiterInnen zu garantieren, hat sich das Ministerium zum Verbündeten der Arbeitgeber gemacht. „Die Busfahrt vom Ministerium zurück in die Fabrik dauert länger als die Benachrichtigung vom Ministerium an die Arbeitgeber. Wenn Du dort hinfährst, erwarten sie Dich hinterher mit der Kündigung in der Hand.”

Zwischen Chlorbleiche und Wasserdampf

Nach dem Mittagessen schickten sie uns in die Wäscherei. Wir mussten die angezeichneten schmutzigen Stellen der zurückgewiesenen Hemden waschen. Die weißen Hemden wurden mit Chlor und Aceton gebleicht. Nach zwei Tagen waren die Hände rissig und Pilze hatten sich um die Nägel eingenistet. Die Hitze neben den Dampfmaschinen und der Lärm waren für die 28 Frauen unerträglich. Wir wurden nach Produktion bezahlt und mussten täglich mindestens 700 Hemden waschen, um den Bonus zu erhalten. Hat man eine bestimmte Zahl gewaschen, wird die Nummer von einer Aufseherin notiert. Ein anscheinend gerechter Mechanismus, nur wird die Zahl abgerundet, falls die Aufseherin aus irgendeinem Grund schlecht auf einen zu sprechen ist, was nicht nur bei mir eindeutig der Fall war. Wenn es regnete, wurden wir klitschnass, da das Dach der Wäscherei nicht gedeckt war und so der Regen in Strömen eindrang.
Die Arbeitszeitvorgabe ist von 7.00 bis 17.15 Uhr, zusätzliche Arbeitszeit wird je nach Auftragslage der KundInnen aus dem Norden verlangt. Wir arbeiteten von 7 bis 19 Uhr in der Wäscherei und anschließend bis 22 Uhr in der Verpackung.
Diese Fünfzehnstundentage verschleißen den Körper der ArbeiterInnen im Nu. Nur insgesamt 40 Minuten werden für das Mittag- und Abendessen eingeräumt. Gegen Abend werden die Schmerzen immer schlimmer, die Klagen lauter. Der Kopf schmerzt und die aufgedunsenen Füße tragen kaum mehr den eigenen Körper. Es gab ArbeiterInnen die um ein Uhr morgens nach Hause kamen und um vier oder fünf Uhr wieder aufstanden. Um dies zu ertragen nehmen viele Schmerzmittel und Amphetamine.
In der Fabrik gibt es drei Gruppen: die Aufseher, darunter taiwanesische und nicaraguanische, und die ArbeiterInnen, unterteilt in alteingesessene und neu hinzugekommene. Konflikte entstehen hauptsächlich um Arbeitsangelegenheiten, oft aber auch wegen Liebesgeschichten. Viele Frauen beginnen in der Fabrik eine Beziehung und werden kurz darauf schwanger. Das Verhältnis zwischen den neuen und den alten Angestellten ist schwierig: die Ankömmlinge versuchen, sich einen Platz zu erkämpfen und die Alteingesessenen wollen ihren nicht abgeben.
Während der ersten Tage erklären einem die ArbeiterInnen die Aufgaben solange der Aufseher hinschaut. Dreht er einem aber den Rücken zu, wird man am Rand stehen gelassen. Will man etwas tun, sagen sie einem, man solle sich raushalten, um Fehler und somit Sanktionen zu vermeiden. Da man nichts tun kann, steht man blöd rum. Dann aber beginnen sie einem Angst zu machen: „Es ist nicht ratsam untätig rumzustehen, wenn der Aufseher dich so sieht wird er dich ganz schnell rauswerfen.“ Nicht alles was sie einem sagen ist wahr, aber die Angst schleicht sich ein.

Das WC als Zufluchtsort

Die häufigen Zurechtweisungen haben unterschiedlichste Gründe: Arbeitsrückstand, zu spät kommen, sich vom Arbeitsplatz entfernen, mit einer Kollegin reden. Man wird angeschrien, damit es auch alle hören und Respekt und Furcht empfinden. Oft geht es bei den Ermahnungen nicht um eine Verbesserung der Arbeitsleistung sondern um Beleidigung und Erniedrigung der ArbeiterInnen.
Als letzter Rückzugsort bleibt oft nur die Toilette. Hier wird gegessen, geraucht oder auch nur eine Minute ausgeruht. Es ist ein kleines Asyl vor den allmächtigen AufseherInnen, trotz katastrophaler hygienischer Bedingungen. Rund um die Kloschüsseln, deren ursprüngliche Farbe unter einer dicken Schicht kaum mehr zu erkennen ist, türmen sich Klopapier, Binden und Stofffetzen. Der Ort ist feucht und scheint seit Jahren nicht mehr gestrichen worden zu sein, die Wände sind bekritzelt.
Einmal sah ich eine Frau bei der Toilettenreinigung. „Wer weiß, wer zu Besuch kommt“, meinte eine Arbeiterin dazu. Noch am selben Tag besuchte Gilberto Wong, Verantwortlicher für die freien Produktionszonen der Regierung die Fabrik, von den Fabrikbesitzern eifrig hofiert.
Eine Arbeiterin, die mit mir in der Verpackungsabteilung begann, wollte angesichts der Belastung nach einigen Tagen ihre Kündigung in der Personalabteilung vorlegen. Eine dortige Angestellte riet ihr, noch einige Tage auszuhalten, denn die Personalchefin suche eine Assistentin mit Bildungsniveau und sie war die Kandidatin.
Am kommenden Tag tauchte diese Frau nicht mehr an ihrem Arbeitsplatz auf und wir gingen davon aus, dass sie gekündigt hatte. Erst am Mittag sahen wir sie mit der Firmenelite an dem für diese reservierten Tisch sitzen. Wir grüßten sie erfreut, sie jedoch lief nur mit eine trockenen ´Hallo´ an uns vorbei. „So schnell ist es ihr in den Kopf gestiegen“, kommentierten die Umstehenden.
Kurz danach konnte ich mir ihr sprechen: „Sie haben mir verboten mit euch Kontakt zu halten und mir eingebläut, dass ich nun etwas Besseres sei.“
Am frühen Abend ist die Morgenfrische aus den Gesichtern verschwunden, der Glanz in den Augen erloschen und die Gemüter vom Stress und den Auseinandersetzungen erhitzt. Viele hadern mit ihrem Schicksal. Andere träumen von solch einfachen wie unmöglichen Dingen wie: „nach Hause kommen, die Mahlzeit warm auf dem Tisch vorfinden und ein gemachtes Bett mit sauberen Decken.“ Andere haben höhere Ziele: „Könnte ich doch an die Universität und studieren.“

Maquilas als Sackgasse

Tatsächlich kommen viele in die Maquila mit der Idee aufzusteigen, aber dies ist unmöglich. Laut Eigenwerbung der Firma können die Leute mit einfacher Arbeit gutes Geld verdienen. Doch bald wird die Jagd nach Überstunden zwecks höheren Lohns zur Sucht. Danach, Jahre danach, verstehen viele, dass der Aufstieg unmöglich ist und düstere Routine und ein verschlissener Körper das Einzige sind, was bleibt.
Viele müssen um vier Uhr aufstehen, um Frühstück für sich und die Familie zu machen und nicht selten das Essen für den ganzen Tag vorzubereiten. Zwischen neun und zehn Uhr beginnt der Hunger im Magen zu bohren, aber es wird ohne Pause bis zum Mittagessen um zwölf Uhr durch gearbeitet. Um dies durchzustehen, nehmen die Leute Süßigkeiten mit. Sowohl der Konsum, als auch der Vertrieb erfordern Vorsicht und Geschick. Wird man erwischt, ist man seinen Job los.
Die AufseherInnen bestrafen den Handel, obwohl sie selbst darin verwickelt sind. Unser Aufseher verkaufte zum Beispiel Pflaster und eine Pomade gegen Kopfweh. So ist Handel in der Fabrik eine wichtige Form zwischenmenschlicher Beziehungen. Heimlich werden Kekse, Süßigkeiten, Schmuck, Kaugummis, Schmerztabletten oder auch Pflaster verkauft. Dieser Handel ist inoffiziell, da es eigentlich verboten ist, jedwede Artikel in die Fabrik mitzunehmen oder während der Arbeitszeit an den Kiosks zu kaufen.

Abtasten nach Feierabend

Um die Fabrik zu verlassen, muss nicht nur die Karte abgestempelt, sondern auch die Körperkontrolle passiert werden. Ein Wachmann tastet die Männer ab, eine Angestellte und eine Taiwanesin die Frauen. Am ersten Tag verließ ich die Fabrik um 17.15 Uhr, stempelte ab und lief in der Schlange weiter. Eine Taiwanesin, die mir allenfalls bis zur Schulter reichte, durchsuchte uns. Ausführlich tastete sie zwischen meinen Beinen herum. Ich fühlte Ekel und hatte den starken Drang, sie zu schlagen und loszuschreien.
Auch wenn die Durchsuchung für die ArbeiterInnen zur Routine gehört, konnte ich mich während meiner zwölf Arbeitstage daran nicht gewöhnen. Sobald ich die Glocke hörte begann mein Magen beim Gedanken an diese Prozedur zu schmerzen. Wirklich notwendig war die Abtasterei nicht, wie sollte ich auch unter meinen engen Jeans ein langärmliges Hemd verstecken können?
Die Kontrollen sind Teil eines Managementstils, der auf Erniedrigung aufbaut. Diese müssen Tausende NicaraguanerInnen in den mittlerweile über vierzig Weltmarktfabriken, die als Motor für den Fortschritt und die Entwicklung des Landes angepriesen werden, täglich durchstehen.

Überlebenskünstler, ganz groß in Mode

Argentinische Schauspieler, spanische Stars“, titelte eine Kulturbeilage der spanischen Zeitung El País im August vergangenen Jahres. Einer, dessen Name bei solchen Gelegenheiten immer fällt, ist Ricardo Darín, der Hauptdarsteller von Juan José Campanellas El hijo de la novia (Der Sohn der Braut, siehe LN 343) und Fabian Bielinskys Gaunerkomödie Nueve reinas (Neun Königinnen), zwei Filmen, die sich in Spanien heimlich, still und leise zu regelrechten Kultfilmen entwickelt haben. Binnen 15 Monaten kamen noch drei weitere Filme mit Darín in der Hauptrolle in die spanischen Kinos. Zum einen ein älterer Film von Campanella, El mismo amor, la misma lluvia (Die gleiche Liebe, der gleiche Regen). In diesem Film, der einen zeitlichen Bogen von 20 Jahren schlägt, verkörpert Darín einen Autor, der sich trotz großer Ambitionen beruflich und privat durchlaviert. In Un tipo corriente (Ein Alltagstyp) schlüpft Darín in die Rolle eines von chronischem Pessimismus befallenen Möchtegernschriftstellers. Fast scheint es, als arbeite Ricardo Darín daran, so etwas wie einen Charakterkosmos argentinischer Stadtneurotiker zu erstellen. Als letztes kam von ihm im November Kamtschatka von Marcelo Piñeyro in die Kinos (siehe S.38). El País widmete dem Filmstart binnen weniger Tage drei Artikel – davon kann man in der deutschen Presse nur träumen.

Neurotische Galane aus Argentinien als Leinwandhelden

Auch wenn Daríns Rollen alles andere als klassische Starvehikel sind und er auch nicht gerade als großer Verführer daherkommt, wird er in der spanischen Presse immer wieder als „actor de moda“ (Modeschauspieler) oder gar „galán de moda“ tituliert, Bezeichnungen, die ihm gar nicht gefallen.
Darín führt, ebenso wie seine Kollegen Darío Grandinetti und Leonardo Sbaraglia, den Erfolg der argentinischen Mimen darauf zurück, dass sie ihr Handwerk beim Theater gelernt haben – und auf ihr Training in Flexibilität und Überlebenskunst. So meint Darío Grandinetti gegenüber El País: „Ich bin überzeugt, dass wir argentinischen Schauspieler eine Ausbildung haben, die Produkt der Notwendigkeit zu überleben ist und welche bewirkt, dass wir simultan Theater, Film, Fernsehen und Tourneen machen. Das gibt uns ein Training, das es uns erlaubt, uns leicht an verschiedene Umstände anzupassen.“
Darío Grandinetti war einem internationalen Publikum lange Zeit höchstens als Lieblingsschauspieler von Eliseo Subiela bekannt: Unvergessen ist seine Darstellung des liebeskranken Poeten Oliverio in El lado oscuro del corazón (Die dunkle Seite des Herzens) aus dem Jahre 1992. Als Subiela und Grandinetti zehn Jahre später in Barcelona den Folgefilm El lado oscuro del corazón 2 drehten, ergab es sich, dass Pedro Almodóvar gerade einen Hauptdarsteller für sein neues Projekt Hable con ella (Sprich mit ihr) suchte. Almodóvar war so berührt von Grandinettis melancholischen Blick, dass er ihm die Rolle des Marcos anvertraute, eines durch die Welt irrenden und an seinen Liebesgeschichten verzweifelnden argentinischen Schriftstellers. Mittlerweile wird Grandinetti mit Arbeitsangeboten aus Spanien überhäuft.

Hin und her über den Atlantik

Eine der langjährigen Lieblingsdarstellerinnen Almodóvars ist ebenfalls argentinischer Herkunft: Cecilia Roth, zuletzt in Todo sobre mi madre (Alles über meine Mutter). Zum Almodóvar-Clan stieß die Roth allerdings bereits als ganz junge Frau Ende der Siebziger, als die legendäre Künstlerbewegung Movida mit ihren provozierenden und freizügigen Werken das gerade demokratisch gewordene Spanien umkrempelte. Roth gehörte zu den argentinischen KünstlerInnen, die nach dem Militärputsch nach Spanien emigrierten.
Auch die Schauspielerin Norma Aleandro packte 1977 überstürzt die Koffer. 1986 wurde Aleandro durch die Hauptrolle in dem beeindruckenden, Oscar-prämierten argentinischen Film über die Folgen der Diktatur, La historia oficial (Die offizielle Geschichte) von Luis Puenzos, international bekannt. Weitere Schauspieler, die seit Jahren auf beiden Seiten des Atlantiks hohes Ansehen genießen und sowohl in Argentinien als auch in Spanien arbeiten, sind Miguel Angel Sol (Sur) sowie Federico Luppi (Un lugar del mundo).
Gleichzeitig gibt es mittlerweile eine Nachwuchsgeneration an SchauspielerInnen im Alter von Mitte zwanzig bis Mitte dreißig, die als Kinder nach Spanien kamen und sowohl in spanischen als auch in argentinischen Filmen zu sehen sind. Während die älteren Schauspieler wie Luppi dann, wenn sie in spanischen Produktionen auftreten, fast immer argentinische Charaktere verkörpern, wechseln die Jungen je nach Rollenprofil den Akzent. Zum Beispiel Juan Diego Botto: Er beeindruckte 1997 durch seine Hauptrolle in Aristarains Martin H., wo er einen jungen Mann aus Buenos Aires verkörpert, der seinen in Madrid lebenden Vater (Federico Luppi) besucht und plötzlich nicht mehr weiß, wo er eigentlich hingehört. Mittlerweile verkörpert Botto allerdings auch ganz „bodenständige“ spanische Charaktere wie einen in den Bergen lebenden Widerstandskämpfer während der Franco-Diktatur in Montxo Armendáriz’ El silencio roto (Das gebrochene Schweigen) oder einen pathologischen Serienmörder in einer spanischen Provinzstadt in Imanol Uribes Thriller Plenilunio (Vollmond). Bei Bedarf schlüpft Botto auch in die Haut eines peruanischen Polizeikommissars und spricht seine Rolle auf Englisch, so geschehen bei der US-amerikanisch-spanischen Produktion „Der Obrist und die Tänzerin“ von John Malkovich (siehe S.35).
Der 1975 in Argentinien geborenen Natalia Verbeke, die mit 11 Jahren nach Spanien kam, gelingt es zur Zeit, gleich mit zwei ganz großen Erfolgen auf den spanischen Leinwänden präsent zu sein: Zum einen spielt sie die junge, hingebungsvolle Freundin des gehetzten Protagonisten in El hijo de la novia. Zum anderen verkörpert sie, neben Ernesto Alterio, dem Sohn des Altstars Hector Alterio, eine der Hauptpersonen in der amourösen Viereckskomödie El otro lado de la cama (Die andere Seite des Bettes) von Emilio Martínez Lázaro, dem größten spanischen Kinoerfolg des letzten Jahres.
In vereinzelten spanischen Filmen sind zur Zeit sogar fast sämtliche Hauptrollen mit ArgentinierInnen besetzt. So verkörpern Leonardo Sbaraglia, Cecilia Roth und Norma Aleandro in Deseo (Begierde) von Gerardo Vera, einem recht klischeehaften Film, der im Franco-Spanien der vierziger Jahre spielt, Mitglieder einer argentinischen Faschistenbande, die ins Land einsickern, um die Fluchtroute für deutsche Nazis vorzubereiten.
Im vergangenen Herbst kam das neueste Gemeinschaftswerk von Aristarain und Luppi ins Kino: Lugares comunes (Allgemeinplätze), die bewegende Geschichte eines argentinischen Ehepaares der linken intellektuellen Mittelschicht, die sich aufgrund der Krise des Landes plötzlich entscheiden müssen: Entweder ziehen sie nach Spanien, wo sie die Zeit der Diktatur (über-)lebten oder sie gehen irgendwo in Argentinien aufs Land. Sie entscheiden sich für die zweite Lösung. Die Qual der Wahl zwischen einem Leben in Argentinien mit all seinen eingestürzten Hoffnungen und einem wesentlich komfortableren, aber seiner Wurzeln beraubten Leben in Spanien zieht sich als Leitmotiv durch viele der Werke von Adolfo Aristarain.

Die Melancholie des „Zwischen-den-Stühlen-Sitzens“

Die Melancholie, das Zwischen-den-Stühlen-Sitzen hat bei ihm wie bei allen seiner KollegInnen auch einen biographischen Hintergrund: Waren es in den Siebzigern und frühen Achtzigern die Diktaturen in Lateinamerika, welche die Künstler und andere kritische Geister reihenweise ins Exil trieben, ist es mittlerweile die ökonomische Misere. Schauspielern und Schauspielerinnen fällt der Ortswechsel, trotz der Herausforderung, den Akzent zu wechseln, noch relativ leicht, ebenso den Kameraleuten. Schwieriger ist es allerdings für DrehbuchautorInnen oder RegisseurInnen, denn schließlich lebt ihre Arbeit von der tiefen Durchdringung und genauen Darstellung des Ambientes. Das Fremdsein war schon zu Zeiten des Exils während der Militärdiktaturen für viele Filmemacher ein ganz großes Problem. Eine Form, mit der Situation umzugehen, ist, gerade diese Situation der Entwurzelung zum Thema zu machen. Der Argentinier Fernando E. Solanas tat dies während seines Pariser Exils mit einem Film wie Tangos – El exilio de Gardel, Aristarain tut es heute auf seine Weise mit Filmen wie Martín H. und Lugares comunes. Die Mehrzahl der argentinischen FilmemacherInnen entscheidet sich trotzdem dafür, im Land zu bleiben. So meinte beispielsweise Lucrecia Martel, der vor zwei Jahren ein internationaler Erfolg mit La Ciénaga gelang, im August letzten Jahres zur Autorin dieses Artikels: „Ich weiß, dass viele Leute weg wollen, aber darunter sind nicht viele Regisseure. Ich glaube, dass, was das Bedürfnis hervorbringt, etwas zu erzählen, so viel mit intimen Fragen unserer Kultur und unserer Sprache zu tun hat, dass ich es mir schwer vorstellen kann, im Ausland glücklicher zu sein.“

Spanien als Drehscheibe für Koproduktionen mit Lateinamerika

Ein Umstand, der es den lateinamerikanischen Filmleuten zunehmend ermöglicht, den Spagat zwischen den Kontinenten auszuhalten, ist die zunehmende Zahl internationaler Koproduktionen. Und auch da nimmt Spanien, eine herausgehobene Position ein. So übersteigt die Zahl der Koproduktionen mit Lateinamerika die derjenigen mit anderen europäischen Ländern, wobei sich sowohl unabhängige Filmfirmen als auch das Staatsfernsehen TVE und das Pay-TV „Canal +“ engagieren. Die Tatsache, dass es in Spanien viel leichter ist als hierzulande, einen Markt für lateinamerikanische Filme zu finden, hat natürlich eine Vielzahl gewichtiger Gründe. Hierzu gehören nicht nur die gemeinsame Sprache, sondern auch die historischen Verbindungslinien, die einen ständigen kulturellen Austausch gewährleisteten. Eine Zeit lang führten die Wege der Emigration von Spanien nach Lateinamerika. So fand nach dem Sieg der Faschisten ein so bedeutender spanischer Regisseur wie Luís Buñuel in Mexiko Asyl. Mittlerweile haben sich die Rahmenbedingungen verändert und aus ehemaligen Einwanderungsländern wie Argentinien oder Kuba sind Auswanderungsländer geworden.
Neben der Präsenz des argentinischen Films bzw. argentinischer KünstlerInnen in der spanischen Kinolandschaft erscheinen die Kontakte zu anderen lateinamerikanischen Ländern regelrecht mickrig. Wenn ein namhafter mexikanischer Regisseur wie Carlos Carrera seinen neuesten Film ins Kino bringt, wird dies durchaus ausführlich rezensiert. Zumal, wenn dieser in seinem Herkunftsland so viel Staub aufgewirbelt hat wie Carreras El crimen del padre Amaro (Das Verbrechen des Pater Amaro), der die sexuelle Doppelmoral der katholischen Kirche geißelt und sie in Kontakte mit der Drogenmafia verwickelt zeigt. Die im Vergleich zum argentinischen Kino geringere Präsenz des mexikanischen hat sicher damit zu tun, dass Mexiko und seine Filmindustrie vergleichsweise stabil und weniger auf Koproduktionen angewiesen ist. Ebenso wichtig ist aber auch der Umstand, dass viele MexikanerInnen bevorzugt Richtung Norden schauen und gegebenenfalls lieber in die USA ziehen, wo die Hispanics mittlerweile einen enormen Kreativitätspool sowie einen wachsenden Markt darstellen.
Dagegen orientieren sich die meisten kubanischen Filmleute ebenso wie ihre KollegInnen in Südamerika eher Richtung Europa, insbesondere Spanien – und das nicht nur aus Gründen des US-Embargos, sondern auch aus historischer Verbundenheit. Etliche der insgesamt wenigen Filme, welche die von der Wirtschaftsmisere gebeutelte kubanische Filmindustrie in den letzten Jahren realisieren konnte, waren Koproduktionen mit Spanien. Hervorzuheben wären Fresa y chocolate (Erdbeer und Schokolade) und Guantanamera von dem Regieduo Tomás Gutiérrez Alea und Juan Carlos Tabío sowie Lista de espera (Kubanisch reisen), den Tabío nach Aleas Tod alleine realisierte. Dem kubanischen Schauspieler Jorge Perugorría, der in Fresa y chocolate den schwulen Dissidenten Diego verkörperte, ermöglichte seine brillante Leistung in diesem Film den Zugang ins spanische Filmbusiness. Dort wirkt er seit Anfang der Neunziger in vielen Filmen mit, wobei die Palette von Liebeskomödien über kubanische Emigranten in Madrid (Cosas que dejé en Habana / Dinge, die ich in Havanna ließ) bis hin zu Charakterrollen als Maler Francisco Goya (Volaverunt) oder sexueller Psychopath (Bámbola) in Filmen des Regieexzentrikers Bigas Luna reicht.

Festivals als Schaufenster des lateinamerikanischen Kinos

Die dauerhafte Präsenz des lateinamerikanischen Kinos in Spanien hat in erster Linie mit Strukturen zu tun, die den Austausch fördern. Dazu gehören neben der bereits genannten wachsenden Zahl von Koproduktionen auch die Festivals. Eines davon, das im katalanischen Lleida, widmet sich ausschließlich dem lateinamerikanischen Film. Dagegen bieten die Festspiele im andalusischen Huelva eine Palette von Filmen aus dem ganzen iberoamerikanischen Raum, also inklusive Spanien und Portugal. Aber auch bei dem wichtigsten internationalem Festival auf spanischen Boden, das im baskischen San Sebastián stattfindet, spielen lateinamerikanische Produktionen eine wichtige Rolle. So gelingt, trotz beträchtlicher internationaler Konkurrenz, mit schöner Regelmäßigkeit südamerikanischen Filmen wie etwa Aristarains Martín H., Alejandro Agrestis El viento se llevó lo que (Was der Wind verwehte) oder Taxi para tres (Taxi für drei), einem Film des Chilenen Orlando Lübbert, den Hauptpreis, die „Concha de Oro“ (Goldene Muschel), mit nach Hause zu nehmen.
Natürlich ist es müßig, permanent Deutschland und Spanien zu vergleichen. Schließlich verfügt die iberische Halbinsel über weitaus intensivere, historisch gewachsene kulturelle und sprachliche Gemeinsamkeiten mit Lateinamerika, was sich auch in Vermarktungspotentialen für das lateinamerikanische Kino niederschlägt. Gleichzeitig hilft ein Blick in die Programme der spanischen Festivals, um das fadenscheinige Argument mancher deutscher Festivalbetreiber, Filmvertriebe oder Fernsehredakteure zu entkräften, es gäbe nicht genügend gute lateinamerikanische Filme. Leider wird die Tatsache, dass im nahe gelegenen Spanien das lateinamerikanische Kino weitaus präsenter ist als hierzulande, von der deutschen Medienbranche kaum zum Informationstransfer genutzt. So akkreditieren sich jährlich nur wenige deutsche Journalisten oder Vertreter von Verleihfirmen beim Festival in San Sebastián.
Die so lebendige lateinamerikanische Kinoszene in Spanien hat allerdings einen großen toten Winkel: Brasilien. Dieses Land, eines der wichtigsten des Kontinentes, gerade auch in Bezug auf Film, ist jenseits von Festivals so gut wie gar nicht vertreten. Fast nie läuft ein brasilianischer Film im spanischen Kino, vom Fernsehen ganz zu schweigen. Was zeigt, dass die enge Verbundenheit mit dem spanischsprachigen Lateinamerika nicht unbedingt Ausdruck von prinzipieller Neugierde und Weltoffenheit sein muss. Sie hat sicher auch manches mit der bequemen Pflege postkolonialer Verbindungslinien zu tun.

Wer der Folter erlag, wird nicht mehr heimisch in der Welt“*

Lateinamerika ist voller Heimatloser, welche durch Folter erlittene Verletzungen in sich tragen und durch die mehr oder weniger demokratischen Demokratien auf dem Kontinent irren. Sind ihre Wunden heilbar? Ist es für sie möglich, das Erlebte zu verarbeiten, wenn sie wissen, dass ihre Peiniger nie bestraft wurden? Wie lebt es sich mit so einer Last, wo kann man sie abladen? Wie beeinflusst die Traumatisierung eines großen Teils der Bevölkerung die Gesellschaft eines Landes?
Fragen, die nicht nur im Zusammenhang mit Straflosigkeit wichtig sind. Die Art und Weise, wie mit Folteropfern umgegangen wird, sagt viel über den Zustand einer Demokratie und über den Stellenwert der Vergangenheit in der Gegenwart aus. Benedettis Satz „Das Vergessen ist voller Erinnerung“ ist für viele, die Folter erlebt haben, ein wichtiger Wahlspruch. Sie wehren sich gegen Stigmatisierung und eine Politik der Versöhnung, die ihre Leidensgeschichte für beendet erklärt.
Dieser Schwerpunkt versucht, einige der oben gestellten Fragen zu beantworten und so seinen Teil zum Erinnern und Verstehen beizutragen.
Horacio Riquelme erklärt in dem einleitenden Interview, was Folter für Folgen hinterlassen kann und wie sie in den Cono Sur- Staaten und Chile behandelt wurde. Er ist Herausgeber eines Buches, das sowohl PatientInnen als auch PsychotherapeutInnen zu Wort kommen lässt. Die persönlichen Schicksale und die psychologischen Analysen sollen dem Leser ein Bild von der psychosozialen Verfassung der Gesellschaft in Argentinien, Chile und Uruguay geben. Die Rezension von Dinah Stratenwerth, welche dem Interview folgt, fasst die wichtigsten Aussagen des Buches zusammen, die zeigen, wie Folteropfer ihre Heimat in der Welt verlieren.
Patricio Bustos, der während der chilenischen Militärdiktatur im Gefängnis war und gefoltert wurde, beschreibt seine Gefühle im Bezug auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Durch das Erinnern an die Vergangenheit soll in der Gegenwart für Gerechtigkeit gekämpft werden, die eine bessere Zukunft möglich macht. Die Hoffnung, die aus seinen Worten spricht, wird getrübt, wenn man bedenkt, dass die Folter nicht nur ein Auswuchs der finsteren Zeiten des kalten Krieges ist. Arturo Requesens Artikel zeigt, wie in Mexiko Menschen auch heute noch systematisch gefoltert werden. Meistens trauen die Opfer sich nicht, Hilfe zu suchen, denn sie haben Angst vor weiterer Repression oder schämen sich. Wenn sich die Betroffenen aber an Gerichte wenden, um gegen ihre Folterer zu klagen, so deckt die Staatsanwaltschaft häufig die Täter, die Interessen der Opfer werden unzulänglich vertreten. Hier sind nicht nur PsychologInnen und PsychotherapeutInnen, sondern der mexikanische Staat und letztlich auch die internationale Gemeinschaft gefragt, der Zerstörung von Menschenleben Einhalt zu gebieten.
Diese Zerstörung führt häufig zu Flucht und der Suche nach Asyl. Dabei muss die schmerzhafte Geschichte wieder aufgerollt werden, da Folteropfer höhere Chancen haben, dass ihr Asylantrag angenommen wird. Mechthild Wenk-Ansohn vom Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin erklärt, was das für die Asylsuchenden bedeutet und wie ihnen geholfen wird.
Das was ihnen geschehen ist, ist für uns schwer vorstellbar – und doch gibt es AutorInnen, die versuchen, das Unvorstellbare der Öffentlichkeit näher zu bringen und das Thema Folter in Literatur zu verarbeiten und sogar auf die Bühne zu bringen. Helga Dressel stellt im abschließenden Artikel einige Stücke vor, die auf sehr verschiedene Art das Thema Folter behandeln.

*Jean Améry

Ein Paradies verliert seinen Reiz

“Wenn mir etwas passiert, dann fragt Blanco.“ Diese Worte hatte Zelmar Michelini, Gründungsmitglied und Abgeordneter des Frente Amplio im Mai 1976, wenige Wochen vor seiner Entführung und Ermordung im argentinischen Exil niedergeschrieben. Juan Carlos Blanco war der Außenminister der uruguayischen Militärdiktatur zwischen 1973 und 1985. Er war einer der wichtigsten Zivilisten in der Junta, die vornehmlich aus Mitgliedern der Streitkräfte bestand, und galt zeitweise als aussichtsreicher Kandidat für die Präsidentschaft. Blanco verteidigte die Diktatur in der Weltöffentlichkeit und kümmerte sich um eine positive Außendarstellung des Regimes, indem er Morde und Entführungen der Militärs in zahlreichen Kommentaren vertuschte. Er koordinierte die Repression und Verfolgung von Oppositionellen mit den Machthabern der Nachbarländer und nahm als Mitglied des Nationalen Sicherheitsrates (Consejo de Seguridad Nacional, COSENA) entscheidenden Einfluss auf die Geschicke des Landes. Er ist auch heute noch Mitglied des rechtsradikalen katholischen Geheimbundes Opus Dei. Wie alle anderen für die während der Diktatur begangenen Menschenrechtsverbrechen Verantwortlichen fühlte auch er sich nach der Rückkehr zur Demokratie durch ein umfassendes Amnestiegesetz (ley de caducidad) vor jeglicher Strafverfolgung sicher. Im Gegensatz zu Chile und Argentinien hatte es auf Grund dieses Gesetzes in Uruguay in den 17 Jahren seit dem Ende der Diktatur kein einziges Verfahren gegen die damaligen Machthaber gegeben, was dem Land auch den Ruf eines „Paradieses der Straflosigkeit“ eingebracht hat. Dies hat sich nun geändert. Am 18. Oktober wurde Blanco festgenommen, da er nach Ansicht eines neu eingesetzten Richters und der Staatsanwaltschaft an der Entführung der seit 1976 vermissten Lehrerin Elena Quinteros maßgeblich beteiligt war und die ley de caducidad nur Angehörige der Streitkräfte von der Strafverfolgung ausnehme, nicht jedoch Zivilisten.

Wo ist Elena?

Die Grundschullehrerin Elena Quinteros wurde im Juni 1976 auf dem Gelände der venezolanischen Botschaft in Montevideo, wo sie politisches Asyl beantragt hatte, von Agenten des uruguayischen Informationsministeriums und der Polizeibehörde entführt. Die Proteste der venezolanischen Regierung, die die Freilassung der Lehrerin forderte, um ihr das beantragte Asyl zu gewähren, blieben ohne Wirkung. Einer Dokumentation von venezolanischen Diplomaten zufolge wurde vom Außenminister Blanco eine Sitzung des COSENA einberufen, in der über die Auslieferung und die „Endbestimmung“ von Elena Quinteros abgestimmt wurde. Nachdem das Auslieferungsgesuch abgelehnt worden war, beendete Venezuela seine diplomatischen Beziehungen zu Uruguay. Über das weitere Schicksal der Lehrerin gibt es keine gesicherten Angaben. Nachdem der erste demokratisch gewählte Präsident nach den Jahren der Militärherrschaft, Julio María Sanguinetti, im Jahr seines Amtsantritts 1985 nach Venezuela reiste und dem Premierminister Jaime Lusinchi versicherte, dass er die Verantwortlichen für die Entführung der Lehrerin finden werde, wurden die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern wieder aufgenommen.
1990 tauchte ein geheimes Dokument auf, dass auf die Verantwortung des damaligen Außenministers Juan Carlos Blanco hinwies. Ihm wurde unter anderem Mittäterschaft bei der illegalen Freiheitsberaubung von Quinteros sowie Verschleierung der Vorgänge vorgeworfen. In einer vom Parlament eingesetzten Untersuchungskommission stimmten jedoch die Abgeordneten der konservativen Colorados und Blancos gegen eine Strafverfolgung des ehemaligen Außenministers, da es nicht genügend Beweise gebe. Trotzdem wurde von zwei Abgeordneten des Frente Amplio Anzeige gegen Blanco erstattet. Was darauf folgte, ist ein Paradebeispiel für die Verzögerungstaktik der uruguayischen Justiz bei der Aufklärung von Verbrechen der Militärdiktatur. Das entsprechende Dokument galt über mehrere Jahre als „verschwunden“. Nachdem das Dokument wie durch ein Wunder im Büro der zuständigen Richterin María Rosario del Berro wieder aufgetaucht war und sich weitere Vorwürfe wegen Strafvereitelung häuften, wurde sie im September diesen Jahres des Amtes enthoben. Als ihr Nachfolger wurde der Richter Eduardo Cavalli eingesetzt. In weniger als einem Monat schaffte er, was seine VorgängerInnen in zwölf Jahren nicht fertig gebracht hatten. Am 18. Oktober gab er der Staatsanwältin Mirtha Guianze grünes Licht für das Verfahren gegen Blanco und ließ ihn auf Grund des Vorwurfs der gewaltsamen Freiheitsberaubung von Elena Quinteros festnehmen.

Gefährdung des nationalen Friedens durch die Justiz?

Heftige Reaktionen auf die Festnahme Blancos ließen nicht lange auf sich warten. Der Innenminister Guillermo Stirling und der Verteidigungsminister Yamandú Fau verurteilten den Richter Cavalli für sein Vorgehen aufs Schärfste und beschuldigten ihn den „nationalen Frieden zu gefährden“. Er reiße alte Wunden wieder auf und stärke so jene politischen Gruppen, deren einziges Motiv die Konfrontation und die Radikalisierung sei. Der Verteidigungsminister ging sogar so weit, vor möglichen Reaktionen der Streitkräfte zu warnen. Derselbe Minister hatte wenige Wochen zuvor öffentlich erörtert, dass man zur Sicherung des inneren Friedens, der durch die angespannte soziale Lage gefährdet sei, auf die Unterstützung der Streitkräfte zurückgreifen könnte. Mit ihren Drohgebärden, die stark an die angeblich überwundenen Zeiten erinnerten, in denen die Militärs sowohl Politik als auch Justiz des Landes bestimmten, waren die Minister dem Präsidenten Batlle zu weit gegangen und handelten sich einen Rüffel ein. Batlle, weit davon entfernt ein Verfechter der Aufklärung des dunkelsten Kapitels in der Geschichte Uruguays zu sein, setzt auf eine andere Strategie, um der drohenden Prozessflut beizukommen.
Die sich allgemein durchsetzende Rechtsauffassung, dass es sich bei den Fällen der entführten Menschen, die bis heute als vermisst gelten, um permanente Verbrechen handelt, ist auch Grundlage der Festnahme von Blanco. Permanente Verbrechen gelten als Straftatbestände, solange die Schicksale der Opfer nicht zweifelsfrei aufgeklärt sind. Die von Batlle eingesetzte so genannte Friedenskommission, verfolgt deswegen das Ziel, den Tod der Verschwundenen festzustellen. Die Staatsanwältin Mirtha Guianze stellte indes klar, dass sie Zweifel an der Beweiskraft der Erkenntnisse der Friedenskommission habe, da diese ausschließlich auf den Aussagen anonymer Zeugen beruhe. Javier Miranda, Sprecher der Angehörigengruppe Madres y Familiares de Detenidos-Desaparecidos drückte es so aus: „Um jemanden für tot zu erklären, muss es einen Körper geben.“ Auch die Hoffnung der Verteidiger Blancos, der Vorwurf der fortdauernden Entführung könne entkräftet werden, wenn man den Tod von Elena Quinteros nachweisen könnte, wurde von Richter Cavalli enttäuscht. Er betonte, dass in diesem Falle Anklage wegen gemeinschaftlichen Mordes erhoben werden würde. Die nach 20 Jahren eintretende Verjährung, auf die die Verteidigung abzielte, trete erst im Jahr 2005 in Kraft, da man vor dem 1. März 1985 keine Möglichkeit für eine rechtmäßige Anzeigeerstattung gehabt habe. Unter den Bedingungen der Diktatur sei dies undenkbar gewesen.

Unerwartete Probleme für ehemalige Befehlshaber

Nach der Festnahme Blancos sahen sich Richter Cavalli und Staatsanwältin Guianze massivem Druck von Seiten der Regierung ausgesetzt. Die vom Verteidigungsminister Fau angedrohte Rebellion der Militärs blieb jedoch aus. Nach einer Besprechung Faus mit den führenden Generälen der Streitkräfte stellte sich heraus, dass diese keine Bedenken wegen der Festnahme ihres ehemaligen Außenministers hatten, da sie sich auf Grund des Amnestiegesetzes, welches alle von Angehörigen der Sicherheitskräfte begangenen Menschenrechtsverbrechen zwischen 1976 und 1985 betrifft, auf der sicheren Seite wähnten. Doch auch dies könnte sich bald ändern. Sowohl die Verfolgung des „permanenten Delikts“ der Entführung als auch eine weitere in der ley de caducidad enthaltene Klausel, könnte ihnen einige Probleme bereiten. Diese Klausel besagt, dass alle Verbrechen, die während der Diktatur in Ausführung von Befehlen begangen wurden, nicht zu verfolgen seien. Doch was geschieht mit denen, die diese Befehle gaben?
Diese Frage ist die Grundlage für eine weitere Untersuchung der Staatsanwaltschaft, die sich mit den Morden an den oppositionellen Politikern Zelmar Michelini und Hector Gutiérrez Ruiz im Mai 1976 in Buenos Aires beschäftigt. Nach neuesten Erkenntnissen fand sich auch in diesem Zusammenhang der Nationale Sicherheitsrat zusammen, um über das Schicksal von Michelini und Gutiérrez Ruiz zu entscheiden. Vier der sechs Mitglieder des COSENA stimmten für die Eliminierung der Parlamentarier, die wenig später vollstreckt wurde. Da es sich bei den Entscheidungsträgern um die obersten Autoritäten des Staates handelte, können sie sich nicht darauf berufen, nur Befehle ausgeführt zu haben. Der Sohn Michelinis, der Senator Rafael Michelini, hat nun Anzeige gegen die Verantwortlichen erstattet, woraufhin von Staatsanwalt Óscar Peri Valdéz die Untersuchung eingeleitet wurde.

Angst und Drohgebärden der „Unberührbaren“

Der Festnahme Blancos, der auch in diesem Fall verhört werden soll, könnte nun bald die Strafverfolgung weiterer Funktionäre des Militärregimes folgen, die als Mitglieder der Streitkräfte bisher als „unberührbar“ galten. Während viele auf das Ende der uruguayischen Straflosigkeit hoffen, muss die Justiz ihre Unabhängigkeit gegen die Einflussnahme durch die Politik verteidigen und ihre Staatsanwälte und Richter vor den Vorwürfen der ideologischen Rechtssprechung in Schutz nehmen. Die im Fall Blanco geübte Zurückhaltung der Militärs wurde inzwischen aufgegeben. Die Angst greift um sich in den Kasernen, in denen die meisten Entführer, Folterer und Mörder weiterhin das Sagen haben. Wie gut sie das altbekannte Spiel der Machtdemonstrationen und Drohgebärden noch beherrschen, lässt sich Tag für Tag in den Medien verfolgen. Der General Iván Paulós tönte kürzlich im Radio: „Wenn sie so weitermachen, dann lassen wir Taten sprechen.“ Es dürfte also ungemütlich werden im ehemaligen „Paradies der Straflosigkeit“.

Das Ende des Arnoldo Alemán

Die plötzliche Abreise von María Dolores Alemán am 18. Juli wurde in Managua als Zeichen des bevorstehenden Zusammenbruchs ihres Vaters Arnoldo gedeutet. Über Costa Rica reiste sie in die Dominikanische Republik, wo Daddy sich einen Palast als Alterssitz gebaut hat. Wenige Tage später folgte ihr die Ehefrau María Fernanda mit den beiden Stiefsöhnen. Ob Arnoldo Alemán, dem vorgeworfen wird, während seiner Präsidentschaft ein Vermögen zusammengestohlen zu haben, bald nachkommt oder doch einen Prozess in Nicaragua riskiert, ist Gegenstand von Wetten und Spekulationen. Entscheiden muss er sich bald.
Am 19. September wurde er als Parlamentspräsident abgesetzt. Seine Auslieferung an die Justiz ist nur mehr eine Frage der Zeit. Hipólito Mejía, der Präsident der Dominikanischen Republik, hat jedenfalls bereits wissen lassen, er würde seinem alten Freund gerne Asyl gewähren.
Es war nie ein Geheimnis, dass die wundersame Reichtumsmehrung des cholerischen Kaffeepflanzers nicht nur legale Wurzeln hat. Arnoldo Alemán soll vor seiner Wahl zum Bürgermeister von Managua im Jahre 1990 nichts weiter besessen haben als eine sieben Hektar große Kaffeeplantage und einen auf Pump gekauften Pritschenwagen. Vor seiner Angelobung als Präsident im Januar 1997 deklarierte er eine Million US-Dollar Privatvermögen. Fünf Jahre später wurde es auf 240 bis 250 Millionen US-Dollar geschätzt. Nur die konservative Unternehmerfamilie Pellas ist noch reicher. Allerdings wuchs bei ihr das Vermögen über mehrere Generationen.

Alemán glaubte sich abgesichert zu haben

Alemán wusste, dass man früher oder später auf die Idee kommen würde, seine Geschäfte zu untersuchen. Aber er hatte ja vorgesorgt. Dank eines politischen Paktes mit seinem Erzrivalen Daniel Ortega erfreut er sich eines lebenslangen Abgeordnetenmandats und daher immer währender Immunität. Auch in Nicaragua kann die Nationalversammlung allerdings die Immunität ihrer Abgeordneten aufheben, wenn diese dringend verdächtig sind, Straftaten begangen zu haben, die nichts mit ihrer Amtsführung zu tun haben. Auch dagegen meinte sich Alemán versichert zu haben. Die Mandatsträger der Liberalen Allianz sind fast ausnahmslos enge Vertraute oder Verwandte, die mehrheitlich selbst im Korruptionssumpf stecken und daher persönliches Interesse haben, einen Prozess zu verhindern.

Blau-weiß-blaue Dissidenten

Die liberalen Abgeordneten wählten ihren Chef auftragsgemäß zum Parlamentspräsidenten und blockierten jede Initiative zu dessen Auslieferung an die Justiz. Eine kleine Gruppe von fünf Dissidenten, die sich bald als blau-weiß-blaue (nach den Nationalfarben) Fraktion formierte und zur Politik von Präsident Enrique Bolaños bekannte, reichte nicht aus, um gemeinsam mit den oppositionellen Sandinisten eine neue Mehrheit zu schaffen. Bolaños, der Alemán jahrelang als Vizepräsident zur Seite gestanden hatte und als Vorsitzender einer Antikorruptionskommission wenig Initiative gezeigt hatte, wurde als Präsident plötzlich zum Saubermann. Schon in seiner Antrittsrede sagte er der Korruption den Kampf an und tatsächlich unternahm er in der Folge nichts, um die Ermittlungen der Justiz zu behindern. Applaus erntete er dafür von den Organisationen der Zivilgesellschaft und der internationalen Gemeinschaft, die sich erleichtert zeigte, dass Wirtschaftshilfe nun ohne Zehnten an die Privatschatulle des Staatschefs geleistet werden konnte. Selbst die USA entzogen Alemán ihre schützende Hand. Zuletzt hielten nur noch die Katholische Kirchenhierarchie unter Kardinal Obando y Bravo, die an den abgezweigten Staatsgeldern mitnaschen durfte, und die Parlamentsfraktion zu Alemán. Und die erodiert zusehends unter dem öffentlichen Druck.

Shoppen mit der Kreditkarte der Zentralbank

Im August ging Bolaños in die Offensive und machte öffentlich, wie sein Vorgänger gewirtschaftet hatte. Gemeinsam mit 13 Angehörigen, von den Brüdern über die Tochter bis zu den Schwägern und Neffen, soll Alemán mindestens 97 Millionen US-Dollar aus öffentlichen Geldern veruntreut und über ausländische Banken reingewaschen haben. Dazu kamen noch Enthüllungen über die Repräsentationsspesen: sein Verlobungsfest in Miami, das stolze 46.000 US-Dollar kostete, die Shopping Liste der First Lady in Ägypten samt Parfums und Teppichen – immerhin 22.530 US-Dollar, eine Rechnung vom Hotel Taj Mahal in Indien – 30.878 US-Dollar und Kleinigkeiten wie 12.549 US-Dollar für Juwelen oder 6749 US-Dollar für eine Schneiderin wurden mit der Kreditkarte der Zentralbank beglichen.
Kurz nachdem die Presse derartige Details genüsslich ausgebreitet hatte, wuchs die blau-weiß-blaue Fraktion schließlich auf neun Abgeordnete an. Darunter Jaime Morales Carazo, der Patenonkel und langjährige Vertraute von Arnoldo Alemán. Dieser sah sich gezwungen, einer Forderung der Opposition nachzugeben und eine Untersuchungskommission einzusetzen. Allerdings sorgte er gleichzeitig für deren Scheitern indem er sieben Vertrauensleute in das elfköpfige Gremium entsandte. Das war selbst einigen Freunden unter den Abgeordneten zu viel und erstmals gab es im Parlament eine knappe Mehrheit gegen den umstrittenen Caudillo. Da der Parlamentspräsident die Aufhebung seiner Immunität auch gegen eine Mehrheit mit taktischen Manövern verhindern könnte, führte der einzig erfolgversprechende Weg über den Austausch des Vorsitzes. Dem versuchten sich die Alemánisten mit immer groteskeren Mitteln zu widersetzen. Sie boykottierten nicht nur die Plenarsitzung am 19. September sondern verriegelten auch das Parlamentsgebäude. Die zur entscheidenden Abstimmung erschienenen Abgeordneten mussten einen Schlosser kommen lassen. Das Parlament fanden sie dann ohne Wasser und Strom vor. Die Klos waren verriegelt. Ohne Klimaanlage und mit einem einzigen Saalmikrophon wählten sie Alemán und seine Getreuen wegen Gesetzesbruchs und verfassungswidriger Akte ab und besetzten den Vorsitz durch sandinistische und regierungsloyale Mitglieder. Auch der einzige konservative Abgeordnete bekam einen Sekretärsposten.
Anschließend wurde eine neue Untersuchungskommission eingesetzt. Alemán selbst blieb der Sitzung fern. Einigen Abgeordneten soll er Reisen in die Schweiz oder ganze Liegenschaften in Nicaragua versprochen haben, um sie umzustimmen. Für ihn handelte es sich um einen „nichtigen und terroristischen Akt“, gegen den er den Obersten Gerichtshof anrufen wolle.
Vor dem Parlament hatte sich inzwischen im strömenden Regen eine Menschenmasse angesammelt, die die Debatte live im Radio verfolgte und schließlich in Jubel ausbrach. Der 19. September glich einem 19. Juli der sandinistischen Zeit, als der Jahrestag des siegreichen Volksaufstandes gegen Diktator Somoza begangen wurde. Angeführt wurde die Menge von Sandinistenchef Daniel Ortega, der durch seinen Pakt mit Alemán, dessen lebenslange Immunität als Abgeordneter erst ermöglicht hatte. Die Abstimmung in der Nationalversammlung wird als großer Sieg im Kampf gegen Korruption und Straflosigkeit betrachtet. Nichtregierungsorganisationen hatten mehr als 900.000 Unterschriften gesammelt und am Tag vor der Abstimmung besetzten Demonstranten die Kathedrale von Managua, um die Auslieferung Alemáns zu erzwingen.

Alte Seilschaften

Ob die Demokratie durch den Sturz Alemáns nachhaltig gestärkt wird, bleibt abzuwarten. Denn wenn es um politische Posten geht, werden Alemán und sein sandinistisches Pendant Daniel Ortega immer noch handelseins. Anfang Oktober einigten sie sich gemeinsam mit Kardinal Obando y Bravo auf den umstritttenen Roberto Rivas als Vorsitzenden des Zentralen Wahlrats. Rivas, von den Medien höflich als „Schützling des Kardinals“ tituliert, laut vox populi aber ein leiblicher Sohn des Kirchenfürsten, war maßgeblich am Fluss von Schwarzgeldern an die Bischöfe beteiligt. Aus dem Kriminaldelikt machten die drei starken Männer einvernehmlich ein Verwaltungsvergehen womit der Ernennung nichts im Wege steht. Die Sandinisten wurden mit anderen Schlüsselposten und einer Reorganisation des Wahlrats belohnt.
Für Präsident Enrique Bolaños ist die bevorstehende Auslieferung seines Vorgängers ein wichtiger Etappensieg. Denn seine hohen Popularitätswerte trotz wirtschaftlicher Misere hat er fast ausschließlich der Korruptionsbekämpfung zu verdanken. Bolaños hofft, dass diese Politik auch Investoren anlocken kann. Denn er erbte ein Land am Rande des Bankrotts. Die Hälfte der Bevölkerung lebt in einem Korridor der Trockenheit, wie das Welternährungsprogramm jene Zonen definiert, „die immer wieder Naturkatstastrophen ausgesetzt sind und in denen große Teile der Bevölkerung regelmäßig Hunger leiden.“ Gegenwärtig sind etwa 6000 Kleinkinder am Verhungern. Allein 15 Kinder verhungerten während der jüngsten Blockaden arbeitsloser Kaffeearbeiter. Davon unbeeindruckt bleibt der Internationale Währungsfonds, der im jüngsten Sanierungspaket verfügte, dass Nicaragua fast zwei Drittel seiner Einnahmen – internationale Wirtschaftshilfe eingeschlossen – zur Schuldentilgung aufwenden muss. Für den Wirtschaftswissenschaftler Adolfo Acevedo sind das unhaltbare Zustände, die eine wirkliche Entwicklung des Landes nicht zulassen.

In revolutionärer Mission

In dem Prozess wegen des Überfalls auf die Kaserne von Moncada, äußerte der spätere Revolutionsführer Fidel Castro in seiner Verteidigungsrede erstmals öffentlich seine Vorstellungen über die Beziehungen eines revolutionären Kubas zum Rest der Welt: “Die Unterdrückten und Verfolgten dieser Erde sollen im Land Martís immer Asyl, Brüderlichkeit und Brot finden.“ Nach Übernahme der Macht im Jahr 1959 hatten die barbudos die Chance, den Worten Taten folgen zu lassen. Und so geschah es: angetrieben und inspiriert durch den leidenschaftlichen Internationalisten Che Guevara wurde die Solidarität mit der Dritten Welt Leitmotiv der kubanischen Außenpolitik. In den sechziger Jahren begann eine Epoche, in der revolutionäre Bewegungen und Regierungen in Asien, Afrika und Lateinamerika mit massiver Unterstützung aus Havanna rechnen konnten. Afrika, das sich im Prozess der Entkolonialisierung befand, wurde dabei als zentrales Schlachtfeld im Kampf für einen internationalen Sozialismus und gegen den Imperialismus ausgemacht.
Im Dezember 1964 hielt der damalige kubanische Industrieminister Guevara in New York eine Rede vor der UNO-Vollversammlung. Umfassend ging er auf die neokoloniale Intervention im Kongo und die Ermordung des Ministerpräsidenten und Revolutionärs Patrice Lumumba ein. „Alle freien Menschen auf der Welt müssen dazu beitragen, das Verbrechen im Kongo zu rächen“, apellierte er an die UN-Delegierten aus aller Welt.

Das wichtigste Schlachtfeld

Nach seiner Rede reiste er nach Algerien, wo zwei Jahre zuvor die Nationale Befreiungsfront FLN unter Ben Bella die Unabhängigkeit von der französischen Kolonialmacht erkämpft hatte. Algerien war das erste afrikanische Land, welches von der Solidarität der neuen Machthaber in Kuba profitieren konnte. Bereits im Jahr 1960 war eine Hilfssendung mit Waffen und Medizin bei den Nordafrikanern eingegangen. In Algier traf sich Che mit der Witwe von Frantz Fanon, der mit seinem Buch Die Verdammten dieser Erde eine der theoretischen Grundlagen für den Befreiungskampf der Dritten Welt geschaffen hatte und bei afrikanischen Revolutionären großen Einfluss genoss. Während ihrer Unterhaltung ließ Che eine Bemerkung fallen, die auf seine geheimen „Pläne“ hindeutete. „Afrika stellt ein, wenn nicht sogar das wichtigste Schlachtfeld dar. Es liegen große Erfolgsmöglichkeiten in Afrika, aber auch viele Gefahren.“ In den darauffolgenden drei Monaten besuchte Che verschiedene Länder Afrikas. Dort traf er mit den führenden Vertretern der afrikanischen Befreiungsbewegungen zusammen, die teilweise bereits an die Macht gelangt waren, so wie Ben Bella in Algerien, Alphonse Massemba Debat in der Volksrepublik Kongo, Kwame Nkrumah in Ghana und Julius Nyerere in Tansania. Bei den Gesprächen ging es hauptsächlich um Möglichkeiten für die Unterstützung der jungen, unabhängigen Staaten durch Kuba. Die Reise ermöglichte ihm auch ein Treffen mit dem Führer der angolanischen Revolution, Agostinho Neto. Im Auftrag Castros bot er ihm die Entsendung kubanischer Guerilla-Ausbilder an und überreichte eine handsignierte Ausgabe seines Buches Der Guerilla-Krieg.
Während seines Aufenthaltes in Tansania traf er auch Laurent Kabila, der als Anführer der kongolesischen Volksbefreiungsarmee (Armeé Populaire de Libération) das Marionettenregime von Tchombé stürzen wollte, um so den Kampf des ermordeten Lumumba fortzusetzen.

Das afrikanische Vietnam

Als Che Guevara nach Kuba zurückkehrte, stand sein Entschluss bereits fest. Er wollte unbedingt in den Kongo zurückkehren, um den Aufbau einer Guerilla zu unterstützen. Da die politische Situation in seinem Heimatland Argentinien, wo die Diktatur durch eine zivile Regierung abgelöst worden war, und auch in anderen Ländern Lateinamerikas zu dieser Zeit keinerlei Anhaltspunkte für die Schaffung eines „revolutionären Fokus“ boten, fiel seine Wahl auf Afrika. Castro unterstützte ihn bei diesem Vorhaben. Nicht etwa weil er so begeistert von Ches revolutionärem Elan war, sondern weil er verhindern wollte, dass die Situation durch ein unbedachtes Abenteuer in Lateinamerika außer Kontrolle geraten würde. Che, der sich nicht unbedingt durch seine Fähigkeit zur rationalen Abschätzung von Gefahren und Erfolgsaussichten einer militärischen Operation auszeichnete, war nicht der Einzige, dem das damalige Zaire als eine günstige Wahl erschien. Die linke Regierung der benachbarten Volksrepublik Kongo in Brazzaville hatte Kuba um Hilfe gegen das reaktionäre Regime in Kinshasa gebeten. Es existierte bereits ein ausgedehntes Gebiet, das von der Guerilla kontrolliert wurde, Waffen waren durch massive chinesische und sowjetische Lieferungen keine Mangelware und die strategische Lage im Zentrum Afrikas hätte besser nicht sein können. Die Vorrausetzungen für ein „afrikanisches Vietnam“, wie es Che gerne nannte, waren scheinbar gegeben. Auch auf die Warnung des ägyptischen Präsidenten Nasser, als Weißer einen schwarzen Befreiungskampf anführen zu wollen, versuchte Che einzugehen. Der schwarze Revolutionsveteran Víctor Dreke wurde damit beauftragt, eine afrokubanische Kampftruppe zusammenzustellen und auszubilden. Dreke wurde auf Ches Wunsch auch der Anführer der hochgeheimen Operation, während sich der Initiator derselben mit dem dritten Rang in der Hierarchie begnügte. Daher rührte auch der Deckname von Che in Afrika: „Tatu” bedeutet „Drei“ auf Suaheli. Am 2. April 1965 begann die erste internationalistische Mission, die von Kuba ausging. Schnell mussten die Kubaner feststellen, dass die kongolesische Befreiungsbewegung sehr zerstritten war und es keine besondere Kampfbereitschaft seitens der einheimischen Bevölkerung gab. Zudem bekam es die Truppe, nachdem ihre Anwesenheit in Afrika bekannt geworden war, mit einer massiven Intervention der US-Regierung zu tun.

Hauptquartier der Rebellion

Nach der missglückten Operation im Kongo nahm Fidel Castro etwas Abstand von allzu waghalsigen militärischen Interventionen in anderen Ländern. Nichtsdestotrotz wurden in derselben Zeit tausende kubanische Freiwillige nach Guinea-Bissau geschickt, um dort die Befreiungsbewegung PAIGC (Partido Africano da Independência da Guiné e de Cabo Verde) durch Militär- und Zivilberatung zu unterstützen. Durch maßgebliches kubanisches Engagement konnte die PAIGC unter Amílcar Cabral große Teile des Landes erobern. Cabral wurde 1973 ermordet, der Sieg über die Kolonialmacht Portugal, das zu dieser Zeit vom faschistischen Diktator Salazar regiert wurde, war jedoch nicht mehr aufzuhalten: im Jahr 1974 wurde Guinea-Bissau unabhängig.
Kurz nach Ches Rückkehr aus Afrika tat Kuba einen weiteren entscheidenden Schritt hin zu einem Hauptquartier der internationalen Rebellion. Im Januar 1966 wurde in Havanna die „Erste Konferenz der afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Völker“ eröffnet, die allgemein als die Trikontinentale bekannt ist. An der Konferenz nahmen 83 Delegationen aus den meisten Ländern der Dritten Welt teil, die als gemeinsamen Nenner die Opposition zum „Yankee-Imperialismus“ verband. Nicht ganz zu Unrecht wurde die Konferenz in einer US-Studie als „größtes Zusammentreffen pro-kommunistischer und anti-amerikanischer Kräfte in der Geschichte der westlichen Hemisphäre“ eingestuft. Die Passivität der Moskau-orientierten Kommunistischen Internationale wurde beklagt und für eine aktive Unterstützung aller Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt votiert. In der Abschlussresolution wurde mit breiter Mehrheit eine massive und sofortige Intensivierung der Guerillaaktivitäten in Asien, Afrika und Lateinamerika beschlossen. Die anwesenden Delegationen verpflichteten sich, den Kampf gegen jede Form von Diskriminierung und des Rassismus voranzutreiben und dementsprechend alle Aktionen gegen Apartheid und Segregation in Afrika und den USA zu unterstützen. Revolutionäre Gewalt wurde als Mittel zur Durchsetzung der gesteckten Ziele explizit befürwortet. Man setzte viele Hoffnungen in die radikale Schwarzenbewegung, die sich in den USA formierte, da man sich von ihr eine Destabilisierung des US-Imperialismus von innen versprach. Die Black Panther Party bezog sich neben Malcolm X auch auf Frantz Fanon und Che Guevara und ihre Thesen zur Revolution der kolonialisierten Völker. Die African Americans wurden als innere Kolonie definiert. So wurde der Bezug zu den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt geschaffen. Nach einem wahren Vernichtungsfeldzug des FBI stellte Kuba neben den unabhängigen Staaten Afrikas einen wichtigen Rückzugsort des Black Liberation Movement dar.
Während der schwarze Widerstand in den USA Anfang der siebziger Jahre gebrochen wurde, hatte Kuba die Phase, in der es um das Überleben der Revolution ging, überstanden und sich stabilisiert. Dies hatte zur Folge, dass man sich wieder verstärkt in Afrika engagierte. Man griff nun auf die von Che geknüpften Kontakte mit den afrikanischen Revolutionären zurück. Das Hauptaugenmerk Kubas verlagerte sich auf das südliche Afrika, denn dort befanden sich mit Rhodesien (das spätere Simbabwe), Mosambik, Angola, Südwest-Afrika (später Namibia) und dem Apartheid-Staat Südafrika die letzten Bastionen weißer Vorherrschaft auf dem Kontinent. Konkreter Anlass für die größte militärische Intervention in der Geschichte der kubanischen Fuerzas Armadas Revolucionarias (FAR) war ein Hilferuf Agostinho Netos, des Vorsitzenden der Volksbewegung für die Befreiung Angolas (MPLA). Im Januar 1975 hatte Neto ein Abkommen mit den beiden anderen Konfliktparteien in Angola verabschiedet: der Nationalen Befreiungsfront von Angola (FNLA), die vom Norden aus agierte, und vom Mobutu-Regime und den USA unterstützt wurde, und der UNITA (Nationalunion für die totale Unabhängigkeit Angolas), die ebenfalls durch die USA, sowie Südafrika massive Unterstützung erhielt. In dem Friedensabkommen von Alvor wurde ein Fahrplan bis zur Unabhängigkeit des Landes festgelegt, die Ende des selben Jahres begangen werden sollte. Kurz nach Ende der Verhandlungen starteten FNLA und UNITA eine gemeinsame Initiative, um die absehbare Machtübernahme der sozialistischen MPLA zu verhindern. Kuba sagte der marxistischen MPLA direkte Hilfe zu, da es Netos Ansicht teilte, dass es sich beim Kampf um Angola um eine entscheidende Auseinandersetzung zwischen Imperialismus und Sozialismus handelte. Die Sowjetunion, über deren mangelnde Unterstützung sich Neto bitter beklagt hatte, betrachtete die MPLA und das kubanische Engagement mit unverhohlenem Misstrauen.
Im Oktober 1975, ein Monat vor der geplanten Machtübernahme der angolanischen Unabhängigkeitsbewegung griff die Armee des rassistischen Apartheidregimes Südafrika direkt in den Konflikt ein. Gemeinsam mit den Truppen der UNITA wurde vom Süden aus eine militärische Großoffensive gestartet, der die MPLA wenig entgegenzusetzen hatte. Das war der Moment, in dem Castro sich entschied, die Unterstützung der MPLA, die sich bis dahin auf Militärberater, Waffen und Ausbilder beschränkt hatte, um die massive Entsendung kubanischer Truppen zu erweitern. US-Präsident Ford und sein damaliger Staatssekretär Henry Kissinger, hatten stets behauptet, dass die kubanischen Truppen bereits vor der südafrikanischen Invasion in Angola gelandet seien.

Henrys Masterplan

Der US-Forscher Piero Gleijese hat nachgewiesen, dass beide bei der entsprechenden Befragung im Kongress gelogen hatten. In seinem neuesten Buch Conflicting Missions. Havanna, Washington, and Africa, 1959-1976, das auf kürzlich deklassifizierten Geheimdaten der CIA basiert, beweist Gleijese, dass Kissinger lange vor der südafrikanischen Invasion die entsprechenden Pläne kannte und diese finanziell und militärisch unterstützte. Kissinger hatte bereits ein Jahr zuvor eine seiner „covert actions“ in Angola gestartet, um eine Machtübernahme der MPLA zu verhindern. Die UNITA fungierte in Kissingers Masterplan als angolanische Befreiungsbewegung, die der Operation den Anstrich politischer Legitimation geben sollte. Die Machtübernahme einer komplett weißen Armee wäre wohl doch etwas schwer vermittelbar gewesen.
Doch was waren die Gründe für die militärische Intervention eines kleinen Inselstaates, der sich nicht unbedingt in der günstigsten Position befand, um sich in die Auseinandersetzung zweier Supermächte um die Weltherrschaft einzumischen? Die offizielle Version ist klar: proletarischer Internationalismus, Vereinigung der Welt unter dem Sozialismus, die selbstlose und bedingungslose Solidarität mit nationalen Befreiungsbewegungen und progressiven Regierungen, wie es Che immer gefordert hatte.
Es gab aber auch weitaus pragmatischere Gründe für ein internationales Engagement Kubas. Kuba strebte eine Führungsrolle in der Dritten Welt an und wollte das Ende der totalen Moskau-Abhängigkeit einleiten. Man erhoffte sich eine Aufwertung zum gleichberechtigten Partner der Sowjetunion. Es ging also auch um globalen Einfluss und Autonomie. Innenpolitisch sollte die heroische Afrika-Mission das Nationalgefühl der Kubaner stärken und so interne Probleme vergessen machen. Was auch immer den Ausschlag für die Entscheidung Castros zur Entsendung der kubanischen Streitkräfte gegeben hat, wirtschaftliche Vorteile für Kuba ergaben sich daraus nicht. Ganz im Gegenteil, unter anderem als Folge des langen militärischen Engagements sank das wirtschaftliche Wachstum der Insel von 16,3 Prozent im Jahr 1976 auf 4,1 Prozent im Jahr 1980.
Die Motivation der Kubaner sich massenweise freiwillig für den Einsatz in Afrika zu melden ist vielschichtig. Öfter als von so manchem Skeptiker erwartet, werden „die revolutionäre Verpflichtung“ und der „Stolz auf die Rolle Kubas als Befreier des südlichen Afrika“ als Gründe angeführt. Andere, nicht weniger triftige Motivationen waren die „einmalige Chance, Kuba für einige Zeit zu verlassen“ und „die Aussicht auf gute Bezahlung und bevorzugte Behandlung nach der Rückkehr“.
Ein großer Verdienst des bereits erwähnten Buches Conflicting Missions ist es, mehr Licht auf die entscheidende Rolle geworfen zu haben, die Kuba bei der Befreiung des südlichen Afrika gespielt hat. Eine der großen Propagandalügen Washingtons bestand darin, Kuba als den verlängerten Arm Moskaus darzustellen. Gleijese zeigt anhand von kubanischen Dokumenten, dass die Unterstützung für die MPLA auf eigenes Risiko geschah. Erst nach der Unabhängigkeitserklärung und Machtergreifung der MPLA, die nur auf Grund der massiven militärischen Präsenz kubanischer Freiwilliger stattfinden konnte, begannen sich die Sowjetunion und andere Länder des sozialistischen Blocks verstärkt in Angola zu engagieren. Die DDR sandte 5000 Lkw´s und technisches Personal, um diese in Stand zu halten und Angolaner auszubilden.

Sieg in Cuito Canvale

Am 27. März 1976 konnten die vereinigten Truppen der MPLA und der FAR den Invasoren eine empfindliche Niederlage zufügen, die sie zum vorübergehenden Rückzug aus Angola zwang. In seiner Rede zum 15. Jahrestag der erfolgreichen Zurückschlagung der Schweinebucht-Invasion konnte Castro ein zweites, ein „afrikanisches Girón“ feiern. Und er zog eine weitere Verbindung: „Die, die vor 400 Jahren die Afrikaner versklavten, hätten wohl nie erwartet, dass eines der Völker, das zum großen Teil aus den Nachfahren dieser Sklaven besteht, nun seine Kämpfer nach Afrika schickt, damit sie dort für die Befreiung kämpfen.“ In dieser Zeit herrschte ununterbrochen Krieg, da die UNITA mit US-amerikanischer und südafrikanischer Unterstützung einen zermürbenden und blutigen Guerillakrieg gegen die sozialistische Regierung und die Zivilbevölkerung führte. Insgesamt kämpften in den 16 Jahren kubanischer Präsenz 300.000 Kubaner in Angola, von denen mehrere Tausend ihr Leben ließen. Eine genaue Zahl wurde von der kubanischen Regierung nie preisgegeben. Castro hatte den Abzug der Truppen an ein Ende der Apartheid in Südafrika und Unabhängigkeit für das völkerrechtswidrig von Südafrika besetzte Namibia, geknüpft. Ende 1987 bot sich die Chance, durch einen entscheidenden Sieg die Vorrausetzung für einen Rückzug ohne Gesichtsverlust zu schaffen. In der südangolanischen Stadt Cuito Canvale lieferten sich die vereinigten Streitkräfte der MPLA, der namibischen Befreiungsbewegung South Western People´s Organization (SWAPO) und der Kubaner eine monatelange Schlacht mit der südafrikanischen Armee und der UNITA. Zumindest politisch konnte die afrokubanische Allianz einen überwältigenden Sieg feiern, denn Südafrika musste sich erneut aus Angola zurückziehen.

Castro macht´s möglich

Für Kuba bedeutete der Sieg in Cuito Convale die Möglichkeit zum ehrvollen Abgang, der im Jahr 1991 nach einem Friedensvertrag mit dem Abzug der letzten verbliebenen Truppen vollendet wurde. In der Dritten Welt erreichte die Popularität Kubas auf Grund seines aufopferungsvollen Engagements ungekannte Ausmaße. Die Insel hatte in der internationalen Politik ein politisches Gewicht gewonnen, welches in keinem Verhältnis zu ihrer wahren Größe stand. Nach 1991 hatte Kuba Botschaften in 30 afrikanischen Ländern, mehr als jedes andere lateinamerikanische Land.
Die Niederlage der südafrikanischen Armee gilt als entscheidender Wendepunkt im Befreiungskampf des südlichen Afrika. Cuito Canvale erlaubte die Konsolidierung der MPLA in Angola, führte zur Unabhängigkeit Namibias von südafrikanischer Kolonialherrschaft und hatte weit reichende Auswirkungen auf die soziale Situation innerhalb Südafrikas. Das Apartheidregime wurde in seinen Grundfesten erschüttert, da die Niederlage gegen eine farbige Dritt-Welt-Armee das Selbstverständnis der white supremacists durcheinanderbrachte und die schwarze Bevölkerungsmehrheit ermutigte, die Unterdrücker herauszufordern. Die kurze Zeit später folgende Legalisierung des ANC, die Freilassung Nelson Mandelas im Jahr 1990 aus jahrzehntelanger Haft, und letztendlich das Ende der Apartheid nach den ersten freien Wahlen im Jahr 1994 werden von den meisten südafrikanischen Freiheitskämpfern als direkte Folgen des Sieges der antikolonialen Armee in Cuito Canvale angesehen. Bei der Amtseinführung des ersten schwarzen Präsidenten Südafrikas wurde Fidel Castro von den versammelten Veteranen der afrikanischen Revolution überschwenglich gefeiert. Während Al Gore, der in Vertretung des „leider verhinderten“ Bill Clinton der Zeremonie beiwohnte, etwas verlassen in der Ecke stand, musste er zähneknirschend beobachten, wie Castro vom neuen Präsidenten Mandela innig umarmt wurde. Laut genug, so dass es alle im Raum verstehen konnten, flüsterte er dem Kubaner ins Ohr: „Du hast das möglich gemacht.“

Miami oder Tod

Auf einer Dachterrasse von Miami lässt sich der kubanische Zahnarzt Stalin Martínez versteckt hinter einem Bretterzaun von der Sonne versengen. Auch Nahrung und Flüssigkeit nimmt er kaum zu sich, um auf Anweisung seines älteren Bruders das Aussehen eines kubanischen Bootsflüchtlings zu erlangen. Ein Verrückter? Nein. Stalin Martínez ist soeben über Mexiko illegal in die USA eingereist und hat seinen Jahre zuvor geflüchteten Bruder in Miami aufgesucht. Da er über einen Drittstaat und nicht direkt aus Kuba in die USA gelangt ist, befürchtet er, als illegaler Einwanderer abgeschoben statt als politischer Flüchtling aufgenommen zu werden. Nun darbt und schmort er in der unbarmherzigen Sonne Floridas in der Hoffnung, die amerikanischen Behörden an der Nase herumführen zu können. Während sich die ersten Brandblasen auf der Haut zu bilden beginnen, lässt Stalin, um die Zeit totzuschlagen, sein Leben Revue passieren. Dies ist einer der Hauptstränge in Jesús Díaz Roman Erzähl mir von Kuba.

Immer die Nummer zwei

Eigentlich wollte Stalin Martínez, Sohn eines galizischen Einwanderers, der aus revolutionärem Eifer seine drei Kinder mit den Vornamen Lenin, Stalin und Stalina in den sozialistischen Alltag Kubas entließ, nie ins gelobte Land der Yankees flüchten. Nicht dass sich compañero Stalin trotz revolutionärem Sendungsbewusstsein nie nach einem gut versorgten Leben im amerikanischen Paradies gesehnt hätte. Nein. Stalin entscheidet sich dafür, in Havanna zu bleiben, weil schon der bloße Gedanke an die mit einem Fluchtversuch verbundenen Gefahren schreckliche Angstzustände in ihm auslöst. Stalin Martínez ist eben ein waschechter Feigling. Sein Name ist daher auch sein groteskes Omen: Er ist ein ewig Zukurzgekommener, der verzweifelt versucht, aus dem Schatten der Zweitrangigkeit zu springen. Er ist ein Muttersöhnchen, dessen fehlende männliche Ausstrahlung ihm nicht nur Hörner, sondern ein ganzes Geweih einbringt, denn seine bildhübsche Frau, von Beruf Kabarett-Tänzerin, gibt sich natürlich nicht mit nur einem Partner zufrieden.
Als sein älterer Bruder Lenin, Generaldirektor im Justizministerium, in die Botschaft von Peru flüchtet und über den Hafen von Mariel nach Miami abhaut, bricht zwar die revolutionäre Familienidylle zusammen, doch hofft Stalin endlich aus dem unliebsamen und erdrückenden Schatten des großen Bruders zu treten und in der Familie das Steuerruder übernehmen zu können. Leider will auch dies nicht so recht gelingen. Seine Schwester und seine Mutter eröffnen ein Dollar-Restaurant für ausländische TouristInnen, in dem er zum Kellner degradiert wird. Auch beruflich bleibt ihm der Aufstieg verwehrt: Die herausragende fachliche Kompetenz seiner Vorgesetzten verurteilt den begabten Zahnarzt zu einer untergeordneten Funktion in der zahnmedizinischen Klinik.

Ein Held der Revolution zu sein…

Die Zügel des Lebens scheinen ihm vollends aus den Händen zu gleiten, als eine groteske Wendung des Schicksals ihn unverhofft einmal ins ersehnte Rampenlicht bringt. Die waghalsige Entführung der Fähre, mit der er eigentlich zur Arbeit fahren wollte, verschlägt ihn gegen seinen Willen nach Key West. Von Heimweh und innigster Liebe zu seiner Frau ergriffen, weigert sich Stalin Martínez als einziger Schiffbrüchiger, die USA um politisches Asyl zu bitten. Auch die Ermahnungen seines in Windeseile herangereisten Bruders Lenin, der sich aus Gründen der political correctness sowie aus Angst vor militanten AntikommunistInnen nun Leo nennt, bewirken keinen Umschwung in seinem Vorhaben, in die Heimat zurückzukehren. So wird er mit der nächsten Maschine nach Kuba zurücktransportiert, wo ihn unter dem wachsamen Auge des staatlichen Sicherheitsdienstes Radio- und FernsehreporterInnen in Empfang nehmen. Nur seine Familienangehörigen lassen sich auf dem Flughafen weit und breit nicht blicken: Niemand hat ihn wirklich für so dumm gehalten, nach Kuba zurückkehren zu wollen.

…ist eine zweifelhafte Ehre mit bitterem Nachgeschmack

So schaut keiner hin, als für Stalin Martínez endlich der Traum in Erfüllung geht, im Fernsehen und im Radio als Held gefeiert zu werden. Und da in seinem Leben alles, was er anpackt, schief gehen muss, findet er bei seiner Rückkehr schließlich auch noch einen fremden Mann in seinem Bett. Doch nicht einmal sein darauf folgender Wutanfall wird wirklich ernst genommen. Idalya, seine Frau, hatte einfach nicht damit gerechnet, ihn jemals wieder zu sehen, und hatte es deshalb nicht mehr für nötig befunden, ihre Seitensprünge zu verbergen.
Dass ein Heldendasein gerade in Kuba noch andere Schattenseiten hat, bekommt Stalin Martínez zu spüren, als der staatliche Sicherheitsdienst das Restaurant seiner Familie schließen lässt, weil es sich für einen Vorzeigekubaner wie ihn nicht geziemt, ein Lokal dieser Art zu führen. In der Familie ist er nun zwar endgültig als Versager abgestempelt, doch eröffnet sich ihm dank seines revolutionären Vorbildcharakters zum ersten Mal die Möglichkeit einer offiziellen Auslandreise: Martínez darf seine Chefin bei einem angesehenen internationalen Zahnmedizinkongress vertreten. Doch auch diesmal spielt ihm das Schicksal einen Streich, denn Martínez verfügt trotz aller fachlicher Qualifikation nicht über jene Fähigkeiten, die sich aus dem Referat ergeben, das seine Chefin für ihn vorbereitet hat. So muss Martínez nun, um die Reste seiner Ehre noch zu retten, Mexiko fluchtartig verlassen und sich auf Gedeih und Verderb seinem gehassten älteren Bruder in Miami ausliefern. Der mexikanische Fluchthelfer entpuppt sich dabei als ehemaliger „Kunde“ seiner Schwester Stalina, die für ein paar Dollar Touristen sexuell befriedigte, um das Restaurant finanziell zu unterstützen…

Die märchenhafte Retterin des müden Anti-Helden

Einziger Lichtblick für seine durch all diese Erlebnisse und Erfahrungen geschundene Seele ist die bildschöne, zärtliche und mitfühlende Miriam, von Beruf Delphintrainerin, die ihn gelegentlich auf der Dachterrasse besucht und verwöhnt. Mit ihr versucht er sich in bruchstückhaftem Englisch, über sein Leben in Kuba und die Gründe seiner Flucht zu unterhalten. Trotz der fehlenden gemeinsamen Sprache, scheinen sich die beiden ausgezeichnet zu verstehen. Dennoch bleibt unklar, inwieweit es sich bei der märchenhaften Miriam um einen realen Menschen handelt — und wie viel sein armes, von der Sonne versengtes Gehirn noch dazu erfindet.
Über das Leben in Kuba, vor dessen Kulisse sich der Roman abspielt, erfahren wir nur aus der Perspektive Martínez’, der sich nichts anderes vom Leben erhofft, als endlich die ihm zustehende Anerkennung zu finden. Politsche Ziele verfolgt er keine, und er strebt auch nicht nach teuren materiellen Gütern; ein besseres Fahrrad und ein funktionierender Ventilator würden eigentlich schon genügen, um ihn zufrieden zu stellen. Wir erfahren beispielsweise einiges über die Güterknappheit oder den ökonomischen Zwang, Touristen sexuelle Dienstleistungen anzubieten oder sie auszutricksen. Für Martínez sind diese Beschränkungen und Notwendigkeiten nur weitere Demütigungen, die er in seinem traurigen Schattendasein erleiden muss.

Die Dachterrasse als Fegefeuer

Die Tage auf der Terrasse in Miami führen bei ihm schließlich zu einer Art Läuterungsprozess. Durch die endlosen Tage hat er genügend Zeit, über sich und sein Leben nachzudenken und sich mit seinem Bruder auszusöhnen. Schließlich war Stalin Martínez unter den Ersten, die nach der Flucht seines Bruders, dessen Haus mit Eiern bewarfen, um an sozialem Prestige zu gewinnen. So verwandelt sich die Dachterrasse langsam zu einem reinigenden Fegefeuer, in dem im Protagonisten der Entschluss heranreift, sein Leben endlich selbst in die Hand zu nehmen und in Miami nochmal ganz von vorne anzufangen. Als er nach einer Woche völlig versengt und dehydriert von seinem Bruder wie vereinbart auf offener See ausgesetzt wird, muss er sich zum ersten Mal im Leben selbst behaupten und aus eigener Kraft ans Ufer zurückfinden. Ob ihm dies gelingt, bleibt bis zum Schluss offen, denn das Buch endet mit einer leeren Seite.

Eine spannende, tragikomische und hintergründige Lektüre

Das Buch liest sich sehr schnell, denn wer es einmal aufgeschlagen hat, legt es nicht mehr so rasch aus der Hand. Die humorvolle, reichhaltige und zuweilen recht unverblümte, mit sexuellen Anspielungen nicht geizende Sprache Díaz’ entlockt einem beim Lesen mehr als einmal ein Lachen. Nicht zuletzt lacht man über den tragikomischen, ungeschickten Protagonisten, für den man bald große Sympathie empfindet. Dem Übersetzer ist es sehr gut gelungen, die lebendige Sprache des Autors ins Deutsche zu übertragen. Der 1941 geborene Jesús Díaz gehört zu den bedeutendsten zeitgenössischen SchriftstellerInnen Kubas. Er lebt und schreibt heute in Madrid und ist Herausgeber der kubanischen Exilzeitschrift encuentro.

Jesús Díaz: Erzähl mir von Kuba.. Aus dem Spanischen von Klaus Laabs. Piper Verlag, München, 1998.
Titel der Originalausgabe: Díme algo sobre Cuba.

Zurück ins Land der Großväter

Aus meiner Familie muss irgendjemand Italiener gewesen sein“, erzählt Julio Gómez aus Buenos Aires. „Meine Mutter heißt Santucho mit Nachnamen. Das kommt eigentlich vom italienischen Santucchi. Aber das reicht noch nicht für einen Pass.“ Der 25-Jährige zuckt resigniert die Achseln. Julio ist einer der vielen Argentinier, denen plötzlich die Herkunft ihrer Groß- und Urgroßeltern am Herzen liegt. War sie bisher nur Anekdote und Familiengeschichte, der keine Bedeutung beigemessen wurde, ist sie heute eine Hoffnung. Glücklich schätzt sich, wer nachweisen kann, dass der Opa oder die Oma damals um die Jahrhundertwende aus Europa nach Argentinien kam. Sie flohen vor wirtschaftlicher Misere in dieses viel versprechende südamerikanische Land. Heute erhoffen sich die Enkel ihrerseits wirtschaftlicher Misere zu entrinnen, argentinischer Misere. Denn mit europäischen Vorfahren kommt man an europäische Pässe. „Rückauswanderung“ nennt sich das Phänomen. Laut Umfragen tragen sich dreissig Prozent der ArgentinierInnen mit Auswanderungsgedanken.
Das Land stagniert politisch und wirtschaftlich. Verpufft ist der Elan und Enthusiasmus des Aufbruchs der achtziger Jahre nach dem Ende einer der grausamsten Diktaturen Lateinamerikas. Hoffnungslosigkeit und Resignation machen sich breit. Die Korruption im Land lässt sich scheinbar nicht ausrotten. Auch die neue Regierung von Fernando de la Rúa verstrickte sich im Oktober 2000 derart in einen Bestechungsskandal, dass die Regierungsallianz nach nicht einmal einem Jahr Amtszeit zu scheitern drohte. Die Kriminalität, hat sich in den letzten zehn Jahren verdreifacht. Und die Arbeitslosigkeit erreicht fast 16 Prozent, nicht eingerechnet die Dunkelziffer derer, die sich mit Strassenhandel und kleinen Geschäften irgendwie über Wasser halten. „An meinen Umsätzen sehe ich, wie schlecht es uns Argentiniern geht“, erzählt Alejandro Carrizo, einer der vierzigtausend Taxifahrer der Hauptstadt, die täglich ums Überleben kämpfen. „Habe ich vor vier Jahren im Schnitt 100 Pesos in zwölf Stunden verdient, komme ich jetzt mit Glück gerade mal auf 70.“ Alejandros Beobachtung wird vom Meinungsforschungsinstitut Gallup Argentina bestätigt. Ihrer Statistik zufolge finden 72 Prozent der ArgentinierInnen, dass sich Ihre wirtschaftliche Situation im letzten Jahr verschlechtert hat, und 65 Prozent der Befragten beurteilen das erste Amtsjahr der Regierung von Fernando de la Rúa als negativ. Jugendliche suchen deshalb ihr Glück ausserhalb Argentiniens. Egal, auf welchem Weg.

Lieber illegal als arbeitslos

Julio Gómez kam lediglich über die Weihnachtsfeiertage zurück nach Buenos Aires. Ursprünglich hatte er vor anderthalb Jahren nur durch Europa reisen wollen. Jetzt ist Spanien seine zweite Heimat geworden, auch ohne Pass. „Ich ziehe die Illegalität dort allemal der Aussichtslosigkeit Argentiniens vor. Hier habe ich trotz Studium keine Chancen, und dort geht es mir selbst als Kellner besser.“ Wie viele ArgentinierInnen ohne Aufenthaltsgenehmigung in Europa leben, ist unbekannt.
Lange Schlangen bilden sich täglich vor allem vor der spanischen und der italienischen Botschaft in Buenos Aires. Ab drei Uhr früh stehen ganze Familien an, um Pässe zu beantragen oder Fragen nach Ausreisemöglichkeiten zu stellen. Die grösste Vertretung Spaniens in der Welt steht kurz vor dem Kollaps. Mehr als 1000 Personen kommen jeden Tag in der Hoffnung auf Hilfe, Hunderte senden ihre Anliegen per E-Mail. In nur zwei Jahren hat sich die Zahl der ausgestellten Pässe auf 20 000 im Jahr nahezu verdoppelt. 253 000 ArgentinierInnen konnten ihre spanische Abstammung mittlerweile nachweisen und besitzen das begehrte Dokument. Schätzungsweise 250 000 hätten nach Angaben des Konsulats noch ein Anrecht darauf. Ähnliches ist aus der italienischen Botschaft zu hören. Auch hier wurden in der letzten Zeit deutlich mehr Pässe ausgegeben als noch Mitte der neunziger Jahre. Tendenz weiter steigend. Schon das erste Halbjahr 2000 übertraf mit insgesamt 6835 Pässen fast das gesamte Jahr 1999. Die Einreisevisa in die USA stiegen ebenfalls um 42 Prozent, auch wenn das Land längst nicht mehr als Wunschland Nummer Eins gilt. Europa hat ihm den Rang abgelaufen, nicht zuletzt weil der Pass eines europäischen Landes Schlüssel zur Europäische Union ist.

Geschäft mit der Hoffnung

Der sehnliche Wunsch, der Tristesse Argentiniens zu entkommen, hat bereits auch diejenigen auf den Plan gerufen, die mit Hoffnungen ihr Geschäft machen. Im Oktober wurde eine eigenartige Fluchtwelle aus der Provinz Mendoza nach Kanada bekannt. Nach Angaben der argentinischen Tageszeitung „Página/12“ suchten in nur drei Monaten 2500 Argentinier in Kanada Asyl. Sie katapultierten damit Argentinien noch vor Sri Lanka auf Platz eins in der kanadischen Liste der politischen Asylantragsteller. Die Ursache für dieses Phänomen liegt in der kanadischen Verfassung. Sie gewährt jedem Flüchtling ein Jahr Aufenthalt zur Prüfung des Asylantrags. Zudem hatte Kanada in den letzten Jahren einigen Argentiniern als Opfer polizeilicher Übergriffe und Willkür politisches Asyl zugesprochen. Diese Umstände machten sich jetzt Menschenschmuggler zu Nutze, um verzweifelten ArgentinierInnen das Blaue vom Himmel zu versprechen. Bis zu 5000 US-Dollar Vermittlungsgebühr zahlten die Ausreisewilligen und verkauften zumeist alles, was sie besaßen. Doch ist es sehr unwahrscheinlich, dass ihre Asylanträge durchkommen. Zu offensichtlich ist, dass sie nicht vor politischer Verfolgung aus Argentinien flohen.

Spanisch-argentinische Dörfer

Andere hatten mehr Glück. Sie wurden sogar gezielt angeworben. So suchte der Bürgermeister des spanischen Dörfchens Aguaviva in Aragón im Sommer 2000 dringend Einwanderer aus Argentinien, um seine völlig überalterte Gemeinde vor dem Aussterben zu bewahren. Wie die Madrider Tageszeitung „El País“ berichtete, wandte sich Luis Bricio mit einem Aufruf an einen argentinischen Radiosender. Er versprach Arbeit in der Landwirtschaft, dem Baugewerbe, in einer Schinkenräucherei und einer Textilfabrik. Interessierte sollten zunächst einen Dreimonatsvertrag erhalten, um sich im Ort umsehen zu können. Wer dann bleiben wolle, könne seine Familie nachholen und mit verbilligten Krediten ein Haus kaufen. Die Bedingungen: Die Bewerber müssen Nachkommen von Spaniern und jünger als vierzig Jahre alt sein sowie zwei Kinder im Schulalter und eine Berufsausbildung haben. Sie müssen sich zu dem verpflichten, mindestens fünf Jahre in Aguaviva zu leben. Das Dorf schiesst die Reisekosten vor, die dann vom Gehalt zurückgezahlt werden können. Aus ganz Argentinien bewarben sich mehr als 5000 Personen, vierundzwanzig Familien wurden ausgewählt.
Die Ausreisewelle ist inzwischen in ganz Argentinien zu spüren. „Jeder hat jemanden in der Familie oder im Bekanntenkreis oder weiß von Leuten, die weggegangen sind“, sagt Oscar Suárez, ein Studienkollege von Julio Gómez und einer der wenigen aus seinem Jahrgang, der Arbeit gefunden hat. Und Julio selbst wird von all seinen Freunden über seine Erfahrungen in Europa befragt. Denn es sind vor allem die Jüngeren mit einem Universitätsabschluss, die gehen. „Ich habe nicht studiert, um als Taxifahrer zu enden“, erklärt Gabriel Walerko, der sich gerade nach einem Aufbaustudium in Spanien umsieht – mit spanischem Pass, dem Grossvater sei Dank. Claudia Lucca, die zusammen mit Julio, Oscar und Gabriel Tourismus studiert hat, lebt mehr schlecht als recht von ihrem Job in einem Reisebüro. An sechs Tagen in der Woche arbeitet sie zehn Stunden täglich. Aber die Kaufkraft der Kunden lässt immer mehr nach. Damit schwinden die Provisionen, die ihr mageres Gehalt von 500 Pesos ein wenig aufbesserten. Sie möchte nicht fort aus Argentinien, sie hängt am Land und an ihrer Familie. „Doch wenn mein Chef, der selbst italienische Vorfahren hat, es sich anders überlegt und das Reisebüro zumacht, um nach Europa zu gehen, dann werde wohl auch ich darüber nachdenken müssen“, sagt sie. Denn in der Tourismusbranche eine Arbeit zu finden, ist wie in fast jedem Bereich nahezu aussichtlos. „Wer hier arbeitslos wird“, erklärt Claudia, „wird nur in Ausnahmefällen noch einmal einen ähnlich guten Job finden. Meist beginnt dann der Abstieg.“
Fernando de la Rúa beklagt, nicht ganz zu Unrecht, die Rezession sei ein Resultat der Politik seines Vorgängers Carlos Menem. Die „Wanderungsbewegung“ aber, so De la Rúa, sei nichts anderes als ein Ausdruck der Bewegungsfreiheit in der Welt, normal im Zeitalter der Globalisierung und Flexibilität.

Einwanderung nach Argentinien

Trotz Rückwanderung hat Argentinien seinen Reiz als Einwandererland auch heute noch nicht verloren. Allerdings zieht es schon lange nicht mehr die EuropäerInnen nach Südamerika. Dafür kommen die NachbarInnen aus Peru, Bolivien, Paraguay und Ecuador. Oder sie kommen aus Korea, Russland und der Ukraine. Im Vergleich zur Armut und Hoffnungslosigkeit in diesen Ländern weckt Argentinien trotz Rezession Hoffnung. Die Pesos, die sie hier zu verdienen hoffen, sind dem Dollar gleichgestellt. Aber die neu Einwandernden sind nicht gerne gesehen. Viele ArgentinierInnen, suchen bei den ImmigrantInnen die „Schuldigen“ für ihre eigene Misere. Eine erste Welle des Fremdenhasses überzog das Land Anfang 1999, als die damalige Regierung von Carlos Menem, der selbst aus einer syrischen Einwandererfamilie stammt, mitten im Wahlkampf um den Präsidentenstuhl einen Vorschlag zur Änderung des Immigrationsgesetzes vorlegte. Neue Kontrollen an den Grenzen sollten vor illegalen Einwanderern schützen, denen 60 Prozent aller in Argentinien begangenen Delikte zugeschoben wurden. Die Medien griffen diese Polemik sofort auf und untermalten sie mit täglichen Bildern von Schiessereien, Raubüberfällen und Razzien. Die Polizei kontrollierte mit Vorliebe indigen aussehende Passanten. An dieser Situation hat sich nicht allzu viel geändert. Immer mehr in Argentinien lebende AusländerInnen suchen inzwischen einen Weg, ihrerseits wieder dem Land zu entrinnen. Vor allem in der mexikanischen Botschaft in Buenos Aires gehen verstärkt Visaanträge von KoreanerInnen, BolivianerInnen oder PeruanerInnen ein, die hoffen, über Mexiko in die USA zu gelangen.

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