„DIESER ORT SOLLTE UNSERER SEIN!”

 

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Besetzung als gemeinsamer Kampf und Ausdruck von SolidaritätStudentinnen der MOFE in ihrer besetzten Fakultät,  Foto: Andrea Murcia, Instagram: @usagii_ko

 

Ende August habt ihr nach sechsmonatiger Besetzung eine Einigung mit der Fakultätsleitung erzielt. Was habt ihr erreicht?
Wir konnten unsere wichtigsten Forderungen durchsetzen. Es wird eine Unidad de Género geben, in deren Rahmen Stellen für eine Anwältin, eine Psychologin und eine Sozialarbeiterin mit gendersensibler Perspektive geschaffen werden und Studentinnen auch gynäkologisch betreut werden können. Wir konnten eine Comisión de Género erreichen, in der Studentinnen und Dozent-*innen Workshops und Konferenzen mit feministischer Perspektive geben werden. Außerdem soll die Kommission Vorschläge ausarbeiten, um das Problem der sexualisierten Gewalt im Studienplan zu behandeln. Unser meistdiskutierter Punkt in den Verhandlungen war die Sanktionierung. Viele Dozenten und einige Studenten haben vielfach sexuelle Übergriffe in unterschiedlichsten Formen verübt. Anfangs haben wir gefordert, dass alle sofort aus der Fakultät geworfen werden. Das war allerdings nicht einfach, da kaum offizielle Verfahren liefen. Aber wir konnten durchsetzen, dass die Täter in zukünftigen Anklagen ihren Vergehen entsprechend bestraft werden. Durch den gemeinsamen Druck aller feministischen Besetzungen an der UNAM konnten drei Artikel des Generalstatuts der Universität erneuert werden.

Welche zum Beispiel?
Der erste Artikel besagte zwar schon früher, dass sexualisierte Gewalt ein grober Verstoß ist. Allerdings gab es noch keine Sanktionen für verschiedene Vergehen. Der Direktor einer jeden Fakultät der UNAM konnte sanktionieren, wie es ihm beliebte. In unserer Fakultät gab es Vergewaltigungsfälle, in denen der Aggressor lediglich für acht Tage suspendiert wurde. Das hat uns sehr wütend gemacht. Mit den Reformen ist es jetzt möglich, Übergriffe mit einer Suspension, dem Ausschluss oder der Kündigung des Arbeitsvertrages zu sanktionieren. Zum Beispiel konnten wir durchsetzen, dass der Professor Luis Arizmendi entlassen wurde. Er war viele Jahre lang der Kopf einer sexuellen Sekte an der Fakultät. Studentinnen, die das offenlegten, wurden systematisch eingeschüchtert und hatten ihre Anklagen daraufhin zurückgenommen.

In welchen Kontexten erlebt ihr sexualisierte Gewalt gegen Frauen an der Universität?
Wir erleben diese Gewalt und sexuelle Belästigung nicht nur im Kursraum. Sie bitten uns nicht nur um einen sexuellen Gefallen, damit wir bestehen, sondern wir müssen Zeit mit unserem Aggressor im selben Raum verbringen, was sehr unangenehm ist. Es geht hier nicht nur um die misogynen Witze der Dozenten. Uns haben sie zum Beispiel immer weismachen wollen, dass die Wirtschaftswissenschaften nur was für Männer sind. In unserer Fakultät sind 70 Prozent der Studierenden männlich, wir repräsentieren lediglich 30 Prozent. Diese numerischen Unterschiede haben auch die Atmosphäre in den Lehrveranstaltungen geprägt: Wir wurden immer zum Schweigen gebracht. Auch als wir uns organisieren wollten, ließen sie uns nicht in Ruhe und störten unsere Versammlungen. Wir sprechen hier über etwas, das seit Jahren Gang und Gäbe ist. In der naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Fakultät filmten sie Studentinnen auf den Toiletten und luden die Videos anschließend auf Pornoseiten hoch. Es geht nicht nur um die Gewalt, die wir erleben müssen, wenn wir uns von zu Hause in den öffentlichen Verkehrsmitteln an die Uni begeben. Auch die Uni umgibt eine misogyne Macho-Atmosphäre und auch hier wird uns Gewalt angetan. In Mexiko sind wir an keinem Ort sicher, manchmal nicht einmal in unserem Zuhause. Die Uni bemüht sich nicht, einen sicheren Ort für uns zu schaffen. Wir reden hier von etwas so Krassem wie dem Feminizid an Lesvy Berlín im Jahr 2017 in der Fakultät für Ingenieurwesen, den die UNAM vehement zu ver-*tuschen versuchte. Diese ganze Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit über den Mord einer Kommilitonin auf dem Campus zu sehen, ist einfach nur empörend. Auch der große Kontext macht Angst: Wir sind zehn Frauen, die täglich in Mexiko ermordet werden. Das alles haben wir satt!

Wie habt ihr es geschafft, euch für die Besetzung zu organisieren?
Es gab bereits eine Gruppe von Studentinnen an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften, die tendederos (öffentliches Aufhängen von informellen und formellen Anklagen gegen Aggressoren, Anm. d. Red.) organisierten. Diese haben ihren Ursprung in einem weiteren Fall sexualisierter Gewalt an der Fakultät vor zwei Jahren. Damals wurden drei Vergewaltigungen durch den stellvertretenden Direktor und damaligen Generalsekretär öffentlich und auch formal angeklagt. Wir begannen uns zu mobilisieren, da wir es unglaublich fanden, dass er nicht sanktioniert wurde. Seitdem kannten wir uns vom Sehen. Als im Januar mehr und mehr Fakultäten und Institutionen der UNAM besetzt wurden, organisierten auch wir uns an der Fakultät. Als spezifische Fälle von sexualisierter Gewalt an Studentinnen der verschiedenen Institutionen der UNAM öffentlich wurden, waren wir fassungslos. Uns wurde klar, dass wir, obwohl wir uns noch nicht so gut kannten, den gleichen Kampf gegen die Nachlässigkeit, Unterdrückung und Einschüchterung der Führungsriege der UNAM kämpften, die sich gegen uns und alle Frauen an der Uni richtet. Letztendlich haben wir nicht nur wegen der Fälle an unserer Fakultät, sondern auch in Unterstützung der anderen Gruppen an der UNAM mit der Besetzung begonnen.

Wie konntet ihr die Verhandlungen mit der Fakultätsleitung trotz der Pandemie weiterführen und den Druck aufrechterhalten?
Wir haben unser Forderungspapier am Wochenende vor dem landesweiten Lockdown eingereicht. Daraufhin teilte uns der Direktor der Fakultät mit, dass es wegen unserer gesellschaftlichen Verpflichtung im Pandemiekontext besser sei, den Prozess zu unterbrechen und die Einrichtung freizugeben. Er versprach, dass wir reden würden, sobald die Pandemie vorbei sei. Natürlich haben wir nein gesagt, denn unsere Belange waren schon seit den Protesten unserer Kommilitoninnen vor zwei Jahren aufgeschoben worden. Danach wurden wir mehr als zwei Monate lang komplett ignoriert, bis die UNAM eine Comisión de Género schuf – allerdings vor allem, um sagen zu können, dass etwas getan wurde. Die Koordinatorin richtete ein Kommuniqué an die Direktoren jeder Einrichtung, mit der Bitte, die Forderungen der Frauen möglichst schnell umzusetzen. In diesem Moment trafen wir die strategische Entscheidung, auch ein Kommuniqué zu veröffentlichen, das wir an die höheren Führungsebenen der UNAM richteten, um offenzulegen, wie lange wir schon ignoriert worden waren. Wir erhielten keine eindeutige Antwort, woraufhin wir den Direktor öffentlich zum Dialog einluden. Wir stellten klar, dass er mit einem Nichterscheinen ein eindeutiges Statement gegen die feministische Bewegung und ihre Belange abgeben würde. Er stand unter erheblichem Druck, auch weil immer mehr Besetzungen aufgelöst wurden. Schließlich konnten wir den Verhandlungstisch via Zoom (Videokonferenzsoftware, Anm. d. Red.) erst Mitte Mai beginnen. Die Fakultätsleitung hat also lange auf unsere Zermürbung gesetzt.

Haben die anderen Besetzungen ihre Forderungen genauso durchsetzen können wie ihr?
Natürlich waren die Kontexte der Besetzungen der einzelnen Fakultäten und Oberschulen ganz unterschiedlich, weil es verschiedene Arten von Repression gab. Die anderen Besetzungen wurden sehr stark bedrängt. Nachts verschafften sich Unbekannte Zutritt, Sachen wurden gestohlen oder die Einrichtungen mit Fäkalien beschmutzt. In der FES Acatlán (zur UNAM zugehörige Oberschule in der Peripherie, Anm. d. Red.) drangen bewaffnete Personen ein und taten den Studentinnen Gewalt an. Teile der Anlage wurden in Brand gesetzt. All das zielt offensichtlich auf psychische und physische Zermürbung und führte dazu, dass die Studentinnen keine Kraft mehr hatten, die Besetzungen weiterzuführen. So wurden viele ihrer Forderungen nur teilweise angenommen.

Habt ihr solche Angriffe auch erlebt?
Wir erhielten zunächst Drohungen von Dozenten und Kommilitonen. Als die Verhandlungen starteten, begann auch die Repression seitens der Fakultätsleitung und Personen drangen ein. Das versetzte uns in Alarmbereitschaft, weil wir die Sache in FES Acatlán im Hinterkopf hatten und nun die letzte Besetzung waren. Auch wenn nicht jede Forderung der einzelnen Besetzungen durchgesetzt werden konnte, wurde doch deutlich, dass keine einzige Einrichtung an der UNAM frei von der tagtäglichen sexualisierten Gewalt gegen Studentinnen ist. Und jetzt, wo die Besetzungen vorbei sind, geht es erst richtig los, denn viele Fakultäten konnten pandemiebedingt ihre Verhandlungen nicht weiterführen, die Forderungen werden ignoriert.

Hat die Digitalität in der Pandemie eure Bewegung ausgebremst?
Ja, dass die Kurse online weitergeführt wurden und das Semester beendet werden konnte hat uns ein bisschen gebremst. Unter anderen Umständen hätte die Besetzung mehr Druck aufbauen können, da das Semester auf dem Spiel gestanden hätte. Die Pandemie hat aber noch etwas offengelegt: Die Gewalt verschob sich von den Räumen der Fakultät in die Online-Kurse. Kommilitonen sind zum Beispiel vor laufender Kamera aufgestanden und haben ihren Penis ausgepackt. Und es gibt Dozenten, die die nun nötige engere Kommunikation mit uns ausnutzen und über E-Mail, Facebook oder WhatsApp Studentinnen belästigen. Also ja, wir wurden ausgebremst, aber gleichzeitig haben wir neue Beweise für diese Arten von Gewalt bekommen. Jetzt versuchen wir, auch die digitalen Räume zu besetzen und uns zu eigen zu machen. Wir versuchen die digitale Gewalt über unsere Kanäle sichtbar zu machen. Auf unserer Facebook-Seite veröffentlichen wir die Anklagen unserer Kommilitoninnen. Wenn wir den digitalen Raum schon nicht zu einem sicheren Ort machen können, dann wird hier zumindest sichtbar, dass wir immer noch Kurse mit Aggressoren belegen müssen. Die sind zwar hinter dem Bildschirm, aber immer noch da.

Wie habt ihr den Raum der Fakultät feministisch gestaltet?
Wir haben es geschafft, einen Raum, der für viele von uns mit Gewalt assoziiert wurde, mit neuer Bedeutung zu füllen. Während unserer Zeit in der Fakultät wurde uns klar, dass die Uni wirklich unser Ort sein sollte; ein Ort, an dem wir uns sicher und frei fühlen; ein Ort, an dem wir friedlich zusammenkommen und unter uns sein können. Das konnten wir erst bei der Besetzung erfahren, bei der wir sechs Monate lang nur mit Frauen zusammenlebten. Das Gefühl, das wir an diesem Ort gefunden haben, wollen wir an alle Frauen unserer Fakultät weitergeben. Uns diesen Ort anzueignen bedeutet, diese Erfahrung mit den Kommilitoninnen ohne Angst teilen zu können. Alle Frauen, denen Gewalt angetan wurde, wissen jetzt, dass wir da sind und uns hier einander anvertrauen können. Da draußen geben sie uns einen solchen Ort nicht. Und wenn wir ihn nicht aktiv suchen, dann werden wir ihn niemals für uns haben, oder?

Anfang September haben feministische Kollektive die Nationale Menschenrechtskommission (CNDH) in Mexiko-Stadt besetzt (siehe Seite 13). Sind Besetzungen ein legitimes und nützliches Werkzeug für die Durchsetzung feministischer Anliegen?
Uns die Institutionen anzueignen, die uns für so lange Zeit ignoriert haben, ist absolut legitim und notwendig. In unserem Fall hat uns vor der Besetzung niemand beachtet. Es ist eine machtvolle Waffe, um zu sagen „Wir sind da und das gehört uns!“ So können wir sichtbar machen, dass wir Frauen in Mexiko jeden Tag aufs Neue das System, den Machismo, all die Gewalt und die Feminizide überleben müssen. Die Bewegung fängt in den Universitäten an und geht darüber hinaus, denn die Gewalt in Mexiko wird nicht nur hier ausgeübt, sondern im ganzen Land. In jedem Bundesstaat, in jeder Ecke, besonders in der Peripherie herrscht dieser erdrückende Kontext. Trotzdem haben wir einen Präsidenten, der sich dumm stellt und feministische Themen in seinen allmorgendlichen Konferenzen mit keinem Wort erwähnt. Also geht es auch darum, die Gleichgültigkeit der Führungsriege sichtbar zu machen. Eigentlich sollte die CNDH doch über unsere Rechte wachen, aber in Wirklichkeit ist sie total nachlässig. Wenn die Institutionen keine Lösungen finden, gibt es keine andere Möglichkeit als sie zu besetzen und mit ihnen das zu tun, wozu sie bestimmt sind – im Fall der Besetzung der CNDH ein Schutzraum für Frauen, die Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind und für angehörige Frauen der Opfer von Feminiziden.

IM KLASSENZIMMER ZU HAUSE

Fotos: Inés Ripari

Nur ein Schildchen hinter dem Eisengittertor weist darauf hin, dass sich in dem grauen Hochhaus eine Schule befindet. Ansonsten könnte man das sechsstöckige Gebäude auch für eine Bauruine halten. Hier am Bahnhof Chacarita in Buenos Aires befand sich früher die Hauptverwaltung der argentinischen Eisenbahngesellschaft. Als diese 2011 den Langstreckenverkehr einstellte, wurde das Gebäude besetzt. Noch im gleichen Jahr zog die „Mocha Celis“ ein, eine selbstorganisierte Schule für Erwachsenenbildung, gegründet von und für trans Personen und Travestis. Der Begriff Travesti wurde in den Neunzigern von Lohana Berkins als politische Identität und Kampfbegriff geprägt, der nicht nur eine Gender- sondern auch eine Klassenperspektive umfasst und die spezifische Lebensrealität von trans Personen in Lateinamerika beschreibt. Die prekären Lebensbedingungen und die ständige wirtschaftliche Krisensituation im Falle Argentiniens verschärfen die Gewalt, der Travestis im Bildungs- und Gesundheitssystem oder beim Wohnen und Arbeiten ausgesetzt sind.

„Wie viele Travestis sitzen mit euch im Psychologieseminar?“

Die Besetzung alter Fabrikgebäude für Klassenzimmer ging aus einer wirtschaftlichen Notsituation hervor: als staatliche Strukturen zusammenbrachen, organisierten sich Menschen in den Vierteln und entwickelten alternative Bildungsangebote. So entstand auch die Schule in Chacarita, in der Menschen innerhalb von drei Jahren ihren Sekundarschulabschluss, das Bachillerato, nachholen können. Der Name erinnert an die Travesti-Aktivistin Mocha Celis aus der argentinischen Provinz Tucumán, die 1996 von einem Polizisten ermordet wurde. Sie hatte nie lesen und schreiben gelernt.

Direktor Francisco Quiñones ist Gründungsmitglied der Mocha.

Ein enger Fahrstuhl voller Graffitis bringt mich in den fünften Stock. Die Tür des Aufzugs klemmt beim Öffnen. Dann stehe ich in der großen, lichtdurchfluteten Aula der „Mocha“. Es ist Samstagnachmittag, in der Aula sitzen Schüler*innen im Alter von 16 bis 40 zusammen an den Hausaufgaben. Auch außerhalb der Unterrichtszeit dient die Schule als Treffpunkt. Aus diesem Klassenzimmer hört man Tritte gegen Boxpratzen, aus jenem Stimmübungen und Tonleitern. Im dritten Raum empfängt der Direktor Francisco Quiñones zur Pressekonferenz. Seit es so viele Medienanfragen gibt, finden diese Treffen regelmäßig statt. Quiñones ist 35 Jahre alt und Gründungsmitglied der Mocha. „Warum habe ich euch alle zusammen eingeladen? Erstens, weil immer die gleichen Fragen gestellt werden. Zweitens, weil wir den akademischen Extraktivismus satt haben. Damit meine ich, dass Leute herkommen und auf der Grundlage der Erfahrungen der Schüler*innen ihre Masterarbeiten und Reportagen schreiben. Dafür bekommen sie akademische Titel oder Geld. Aber wir haben meist nichts davon. Wir kämpfen weiter jeden Monat damit, die Strom- und Wasserrechnungen zu bezahlen.“

Nach mehr als 30 Jahren zurück ins Klassenzimmer

Tatsächlich sitzen in der Runde Psychologie- und Soziologiestudierende und drei Journalist*innen, eine davon bin ich. Manche nicken, alle halten die Klappe. „Das heißt nicht, dass ihr nicht willkommen seid. Ich will nur auf strukturelle Probleme aufmerksam machen: Wie viele Travestis kennt ihr, die mit euch im Psychologieseminar sitzen? Wahrscheinlich keine. Das liegt nicht an mangelndem Interesse, sondern daran, dass bestimmte Menschen früh aus dem Schulsystem gekickt werden.“

Nicht mal zwei von zehn trans Frauen schließen in Argentinien die Schule ab, neun von zehn werden Sexarbeiter*innen. Das steht auf einem gemeinsamen Infoflyer des argentinischen Trans-Gedenkarchivs und der Mocha. Seit 2012 sammelt das Archiv Fotos, Briefe und Postkarten einer Community, deren Geschichten und Kämpfe sonst kaum dokumentiert sind. „90 Prozent werden Opfer von Gewalt, 85 Prozent von Missbrauch durch Polizisten“, heißt es weiter. Die Lebenserwartung einer trans Frau in Argentinien liegt bei 35 Jahren, nicht einmal halb so lang wie der Durchschnitt. Trans Frauen über 35 werden als Überlebende bezeichnet. „Wenn eine Travesti eine Universität betritt, dann verändert das das Leben dieser Travesti. Viele Travestis an der Universität verändern die Gesellschaft.“ Dieses Zitat von Lohana Berkins, einer der treibenden Kräfte bei der Konzeption der Schule, haben Schüler*innen in bunter Schrift auf die weiße Wand der Aula gemalt.

Quiñones macht eine kurze Pause. „Trotzdem gut, dass ihr da seid. Wir brauchen nämlich Unterstützung: Kauft und lest Bücher von Lohana und anderen Travesti-Aktivist*innen. Organisiert Screenings für den Dokumentarfilm* der Mocha, den Schüler*innen selbst gedreht haben. Esst hier in der Cafeteria statt bei McDonalds. Die Schüler*innen können das Geld gut gebrauchen. Fast alle sind seit Jahren vom klassischen Arbeitsmarkt ausgeschlossen.“

Erste legale Anstellung nach Jahren in der kriminalisierten Sexarbeit

Seit Juli 2018 gibt es in Argentinien ein Gesetzesprojekt, nach dem ein Prozent aller öffentlichen Stellen von trans Personen und Travestis besetzt werden soll. In den letzten Jahren gab es Fortschritte für LGBTIQ-Rechte mit weltweitem Alleinstellungscharakter, etwa 2012 das Gesetz zur Selbstbestimmung der Geschlechtsidentität. Aber Gesetze wie dieses werden oft nur halbherzig umgesetzt. Nur vier von 24 Provinzen haben legislative Schritte für die Quote eingeleitet, erfüllt wird sie nirgends.

Dass Quiñones, einer der wenigen cis Männer in der Mocha, den formellen Posten des Direktors besetzt, liegt an Ausschlüssen aufgrund von Klasse und Geschlecht. Er ist der Einzige mit dem notwendigen Studienabschluss und hofft, den Posten bald an eine*n der Schüler*innen abgeben zu können. Seit 2014 wird die Schule vom Bildungsministerium anerkannt. Die erste Zeugnisverleihung im Festsaal des Ministeriums nutzte Quiñones, um auf die prekäre Situation der Einrichtung aufmerksam zu machen. Der Staat bezahlt 72 Lehrstunden pro Woche und zusätzlich drei Verwaltungsstellen. Je 20.000 argentinische Pesos gibt es dafür, das sind umgerechnet etwa 330 Euro. Für Psycholog*innen oder Sozialarbeiter*innen gibt es kein Budget.

Für fast alle Dozent*innen handelt es sich um die erste legale Anstellung nach Jahren in der kriminalisierten Sexarbeit. Meist teilen sich mehrere Personen die Stellen und damit auch das Geld. „Von diesen Leuten kann man kaum verlangen, einen Teil ihres Gehalts für die Stromrechnung abzudrücken“, so Quiñones. Alle Schüler*innen der Mocha haben Anspruch auf ein städtisches Stipendium für Geringverdienende über 10.000 Pesos im Jahr, etwa 165 Euro. Trotz des expliziten Fokus auf Gender ist die Schule offen für alle, die Diskriminierung im Bildungssystem erfahren: alleinerziehende Mütter, Migrant*innen, alte Menschen.

Viviana González leitet die Selbstverteidigungskurse

Viviana González setzt sich auf einen Tisch im Klassenzimmer. Sie hat gerade den Selbstverteidigungskurs im Nebenraum gegeben und trägt noch ihr Sportoutfit. González hat 2018 ihren Abschluss gemacht und studiert nun Literaturwissenschaften – als erste und bislang einzige trans Frau am Institut. „Als Kind hatte ich wie jede arme Person nur einen Traum: Ich wollte, dass was aus mir wird, wenn ich groß bin. Ich wollte Lehrerin werden. Und ich liebte es, Gedichte zu schreiben.“

„Zum ersten Mal im Leben mache ich das, was mir gefällt.“

Dann erzählt González, wie sie mit zwölf auf keiner Sekundarschule aufgenommen wurde: „Sie schauten in meinen Pass und meinten: ,Du bist ein Junge, du kannst hier nicht verkleidet herkommen‘. Wir versuchten es bei 30 Schulen, überall das Gleiche. Das war das Ende meiner Schulkarriere und des Gedichteschreibens.“ Ab dann verdiente sie Geld auf dem Straßenstrich der Panamericana. „Das Einzige, was mir Halt gab, war der Kampfsport. Mit drei Jahren fing ich an, mit zwölf hatte ich den Schwarzen Gürtel in Karate. Gleichzeitig war das Nachtleben auf der Straße meine Realität. Das hieß Drogen, vor der Polizei wegrennen, verprügelt und vergewaltigt werden. Ich verlor viele Freund*innen in diesen Jahren.“

González spricht schnell, erzählt chronologisch von den Ereignissen ihrer Vergangenheit. „Beim Kampfsport trat ich weiter mit meinem männlichen Namen an und obwohl die Hormontherapie mich schwächte, gewann ich alle Turniere. Ich kämpfte mit der argentinischen Fahne auf meinem Trikot, gewann Medaillen für ein Land, das meine Identität nicht akzeptierte.“ Von der Mocha erfuhr González schließlich durch Bekannte aus Palermo. Im Stadtteil von Buenos Aires, den viele mit hippen Bars verbinden, befindet sich in einem unbeleuchteten Park auch einer der zentralen Straßenstriche. „Zuerst konnte ich mir nicht vorstellen, nach mehr als 30 Jahren zurück in ein Klassenzimmer zu gehen. Verrückt war, dass ich in der Schule viele Bekannte aus Palermo wiedertraf. Ich sah sie zum ersten Mal tagsüber und in Alltagskleidung, sprach mit ihnen und merkte, dass wir sehr ähnliche Geschichten hatten.“ Nachmittags saß sie im Unterricht, nachts verdiente sie weiter ihr Geld auf der Straße. „Es war anstrengend, ich schlief kaum. Ich wollte nicht weiter anschaffen gehen. Ich bin nicht gegen Sexarbeit, ich habe viele Jahre davon gelebt. Ich finde nur, dass Menschen die Möglichkeit haben sollten, sich frei dafür zu entscheiden.“

„Die Mocha ist mein Zuhause.“

Jetzt, mit 49, pendelt González zwischen Vorlesungen und Sportkursen. Für die Mocha gibt sie Selbstverteidigungskurse auf Spendenbasis, für Leute von draußen gegen Bezahlung – eine Idee ihrer Mitschüler*innen. Als Schüler*innenvertreterin setzt sie sich für eine emanzipatorische Sexualerziehung ein. Die Mocha wird Mitte 2020 ihren eigenen Sexualkunde-Kit herausgeben, mit pädagogischen Spielen und interaktiven Videos. Seit 2006 haben Schüler*innen in Argentinien ein Recht auf regelmäßigen Sexualkundeunterricht. Aber auch hier hapert es an der Umsetzung, vor allem während der Amtszeit Mauricio Macris von 2015 bis 2019 blieben emanzipatorische Gesetze in den konservativ besetzten Institutionen stecken. In die Verhandlungen mit der neuen Regierung unter Alberto Fernández werden deswegen große Hoffnungen gesetzt.

Vieles in der Mocha läuft anders als in den meisten Schulen. In Plena sprechen Dozierende und Schüler*innen über das Zusammenleben und treffen gemeinsam Entscheidungen. „Wir versuchen uns an die Lebensrealität der Schüler*innen anzupassen. Die meisten Schüler*innen verdienen abends und nachts ihr Geld, daher ist unser Unterricht nachmittags“, erklärt Quiñones. „Wir organisieren Lern- und Nachhilfegruppen, denn in jedem Jahrgang kommen Menschen mit unterschiedlichen Wissensständen zusammen.“

Die Mocha war weltweit die erste Schule, die die Situation von trans Personen und Travestis explizit in den Blick nahm. Mittlerweile gibt es ähnliche Schulen im argentinischen Tucumán, eine Grundschule in Santiago de Chile und Univorbereitungskurse für trans Personen und Travesti in Belo Horizonte in Brasilien.

Lautaro Rosa verdient mit der Cafeteria der Mocha sein Geld

Lautaro Rosa hat gerade die Cafeteria geschlossen und sich zu uns gesetzt. „Hier läuft es anders als in der Gesellschaft. Nicht wir müssen uns anpassen, sondern die Gesellschaft. Das ist unser Raum. Wir sind, wie wir sind. Wenn Leute nicht darauf klar kommen, einen trans Mann mit Titten zu sehen, dann sollen sie einfach gehen.“ Rosa ist 39 Jahre alt und seit drei Jahren an der Mocha, seitdem hat er schon zweimal abgebrochen und wieder angefangen: „Es ist nicht so, dass ich nicht lernen wollte. Ich musste mich mein ganzes Leben lang zwischen Geld und Bildung entscheiden. Ich bin alleinerziehender trans Vater, meine Tochter lebt bei mir, ich muss die Miete zahlen. Aber ich hatte immer im Hinterkopf, dass ich die Schule fertigmachen will.“ Seit einem Jahr verdient Rosa mit der Cafeteria sein Geld. Er schaut auf seine Hände und erzählt mit stockender Stimme weiter, mehrere Personen im Raum wischen sich dabei Tränen aus dem Gesicht. „Zum ersten Mal im Leben mache ich das, was mir gefällt. Ich will um sechs Uhr morgens aufstehen und zwei Stunden mit dem Bus hierherfahren. Ich will bis neun Uhr bleiben, denn die Mocha ist mein Zuhause. Ich hatte vorher nie ein Zuhause und auch keine Schule. So geht es den meisten hier.“ Nach dem Abschluss will er Soziale Arbeit studieren. „Ich weiß, was es heißt, arm zu sein, ausgegrenzt zu werden. Aber ich habe auch erfahren, dass man da rauskommt.“

Einige Wochen später findet in der Aula eine Fotoausstellung des Trans-Gedenkarchivs statt. Es ist brechend voll, viele Schüler*innen haben sich schick gemacht. Auf den schmalen Schultischen stapeln sich Fotoalben, teilweise stammen die Dokumente aus den 1940er-Jahren. Im Zentrum der Aula stehen Selbstporträts von Schüler*innen der Mocha. Lautaro Rosa lacht selbstbewusst in die Kamera.

Viviana González ist aufgeregt. Sie tritt ans Mikrofon: „Ich musste viel in meinem Gedächtnis kramen, um das aufschreiben zu können. Ich hoffe, ihr mögt es.“ In Stakkatosätzen reiht sie Momentaufnahmen aus ihrem Leben aneinander, malt Bilder aus dem Alltag des Straßenstrichs, gedenkt Freund*innen und Bekannten, die nicht mehr leben. Nur wenig später wird Vivianas Gedicht in einer argentinischen Online-Zeitung veröffentlicht. Als nächstes will sie ein Buch schreiben.

„BÜCHER JA, WAFFEN NEIN“

João Paulo da Silva „Ich bin der erste meiner Familie, der auf eine staatliche Universität geht und ich werde dafür kämpfen, nicht der letzte zu sein!“ // Foto: Beatriz Mota
In ein paar Tagen wird Julia De Souza Rodrigues auf eine Konferenz nach Italien fahren, doch bis dahin wird die Neurowissenschaftlerin weiter protestieren. Souza Rodrigues forscht für ihre Doktorarbeit an der Bundes-Universität UFABC im Süden von São Paulo zu dem Zusammenhang von muskulärer und neuronaler Aktivität. Möglich macht das auch ein Stipendium, das sie aus öffentlichen Geldern für vier Jahre erhält. Souza Rodrigues hat einen wissenschaftlichen Schnellstart hingelegt, sie ist erst 21 Jahre alt. Inzwischen hat sich auch Harvard bei ihr gemeldet und sie eingeladen. Es ist nicht so, dass es unter den linken Vorgängerregierungen keine Kürzungen gegeben hätte, sagt sie, „aber der große Unterschied sind die Rechtfertigungen. Unter Dilma hieß es, wir haben kein Geld, aber in keinem Augenblick wurden wir derartig angegriffen. Heute sehen wir, dass die Regierung die Leute nicht respektiert, die das Beste für ihr Land wollen“. Für Bildung und gegen die Regierung demonstrieren gehört für sie in diesen Tagen unbedingt zusammen.

„Er hat Geld für die Milizen, aber nicht für Bildung“

„Raus Bolsonaro!“, das steht wie ein einstimmiges Fazit auf den Bannern, schallt durch die Reihen der Protestierenden und findet immer wieder zustimmende Antworten von den Balkons der angrenzenden Hochhäuser und im Hupen vorbeifahrender Autos. Die Studierenden rufen „Er hat Geld für die Milizen, aber nicht für Bildung“ oder fordern „Bücher ja, Waffen nein“. Am 15. Mai haben sie schließlich die gesamte Avenida Paulista besetzt, die größte und wichtigste Straße in São Paulo. Gewerkschaften, Parteien und Studierendenvereinigungen hatten landesweit zum Nationalstreik an Universitäten aufgerufen, mehr als 1,5 Millionen Menschen sollen es am Ende gewesen sein, in über 170 Städten. Offizielle Zahlen der Polizei gibt es nicht.

Protest der philosophischen Fakultäten am 3. Mai 2019  // Foto: Lisa Pausch

Die Schwarzen-Bewegung hat die Quotenregelung erreicht, aber ohne passende Politiken können wir nicht an den Unis bleiben

Es ist die erste große Protestwelle seit dem Amtsantritt des rechtsextremen Jair Bolsonaro. Ende April nahm sie Fahrt auf, auch als Folge von fliegenden Personalwechseln und zweifelhaften Aussagen des Bildungsministers.
Abraham Weintraub, Ökonom mit Erfahrung im Finanzsektor, ist selbst erst seit Anfang April im Amt. Sein Vorgänger, Ricardo Vélez Rodríguez, hatte kurz vor seiner Entlassung in einem Interview gesagt, es habe 1964 keinen Putsch gegeben, „sondern einen souveränen Beschluss der brasilianischen Gesellschaft“ und er wolle entsprechende Änderungen in Lehrbüchern vornehmen. Dass er ein paar Tage später entlassen wurde, hing eher mit internen Streitigkeiten zusammen als mit inhaltlichen Unstimmigkeiten. Wie auch Vélez Rodríguez hat es sich sein Nachfolger Weintraub auf die Fahnen geschrieben, Universitäten von einem vermeintlichen „Kulturmarxismus“ zu befreien. Eine Regierungsmaxime ganz im Sinne von Bolsonaros Guru, dem rechten Philosophen Olavo de Carvalho, nach dem das größte Problem Brasiliens der „Kulturmarxismus“ sei, der von den Linken in allen Sektoren der Gesellschaft verbreitet werde.
Nachdem der Kampf gegen die Kulturszene schon im März rhetorische Auswüchse in sozialen Netzwerken getrieben hatte, folgte am 24. April eine Ankündigung Jair Bolsonaros auf Twitter. Ausgaben für Soziologie und Philosophie sollten gekürzt werden, hieß es da, man werde sich auf andere Bereiche konzentrieren, die einen „direkten Nutzen für den Steuerzahler“ hätten, wie „Ingenieurswissenschaften und Medizin“.
Am 29. April legte Caroline de Toni, Abgeordnete der Regierungspartei, einen Gesetzesentwurf vor, der vorsieht, Paulo Freire den Titel als „Patron der brasilianischen Bildung“ zu entziehen. Dieser war ihm unter der linksgerichteten Regierung von Dilma Rousseff 2012 zuerkannt worden. „Paulo Freire war Marxist und er hat sich mehr um Politik gekümmert“, erklärte de Toni. Die Abgeordnete gehört mit zu den Carvalho-Anhängern und ist Verteidigerin der Initiative „Escola Sem Partido“ (Schule ohne Partei), deren Ziel es ist, gegen die linke „Indoktrination“ von Schüler*innen vorzugehen. Der brasilianische Pädagoge und Philosoph Paulo Freire (1921-1997) wurde für sein Werk Die Pädagogik der Unterdrückten weltweit rezipiert, seine Schriften sind Teil des Weltdokumentenerbes der UNESCO.
Am 30. April kündigte das Bildungsministerium (MEC) an, zunächst 30 Prozent der Budgets an den bundesstaatlichen Universitäten UFBA (Bahia), UFF (Rio de Janeiro) und UnB (Brasília) zu streichen, mit der Begründung, sie hätten die Erwartungen an ihre akademische Arbeit nicht erfüllt, stattdessen verursachten die Studierenden „Durcheinander“ und „lächerliche Veranstaltungen“. Bildungsminister Weintraub nannte als Beispiel für diesen „Radau“ etwa „Ohne-Land- Aktivisten“ und „nackte Menschen“ auf dem Campus, ohne diese Angaben genauer zu spezifizieren. Inzwischen geht die regierungsunabhängige Bundesstaatsanwaltschaft juristisch gegen Weintraub vor und fordert eine Entschädigung über eine Million Euro als „kollektiven Moralschaden“. Nach heftiger Kritik wurde diese Kürzung auf alle bundesstaatlichen Universitäten ausgeweitet.
Gabriel Dias, 19, ist Geschichtsstudent an der bundesstaatlichen Universität UNIFESP in São Paulo. Er hatte bereits am 3. Mai den ersten Protest der philosophischen Fakultäten organisiert. An dem Tag waren etwa 200 Studierende in São Paulo auf der Straße. „Die UNIFESP hatte historisch gesehen schon immer ein Profil von vielen Schwarzen Studierenden und jenen aus der Arbeiterklasse“, betonte er, „Wir leiden am meisten unter dem Angriff auf die Maßnahmen, die uns den Verbleib an der Uni überhaupt ermöglichen. Die Schwarzen-Bewegung hat die Quotenregelung erreicht, aber ohne passende Politiken können wir nicht an den Unis bleiben.“

Brachiale Polizeipräsenz Bildungsprotest in São Paulo am 23. Mai // Foto: Lisa Pausch

In einem ersten Schritt hatte die Regierung zu verstehen gegeben, 30 Prozent aller Gelder für bundesstaatliche Universitäten einzufrieren, später revidierte sie diese Aussage, es gehe um die „nicht-obligatorischen“ Zahlungen und das auch nur „vorübergehend“. Sollte die Rentenreform durchgehen, so Weintraub, könnten auch die Zahlungen für die Bildung wieder freigegeben werden. Mehrere Gruppen sprachen sich auf den Bildungsprotesten ausdrücklich auch gegen die Rentenreform aus.
Hintergrund der Einsparungen ist auch ein Haushaltsdefizit von über 139 Milliarden Reais (derzeit umgerechnet 31 Milliarden Euro). Das Bildungsministerium soll dabei auf umgerechnet rund 1,7 Milliarden Euro seiner insgesamt bewilligten 34 Milliarden. Euro verzichten. Für die bundesstaatlichen Unis bedeutet das: Von den bewilligten 11,5 Milliarden Euro für die bundesstaatlichen Universitäten sollen 3,5 Prozent wegfallen, also mehr als 400 Millionen Euro. Das klingt wenig, bedeutet in der Praxis aber rund 30 Prozent weniger für all die Kostenpunkte, die nicht auf Löhne oder Renten entfallen. Allein die Personalkosten verschlingen mit umgerechnet 9,6 Milliarden. Euro mehr als 85 Prozent der Gesamtkosten an diesen Unis. Unter diese sogenannten nicht-obligatorischen Kosten fallen Neubauten, Renovierungen oder auch die Ausstattung für Labore, laufende Kosten für Wasser, Gas, Strom, Reinigungs- und Sicherheitspersonal, Mensen, Transport, Lehrmittel und vor allem Stipendien- und Projektmittel. Der Einschnitt ist an den Universitäten unterschiedlich, beläuft sich an den Universitäten im Süden der Bahia und Mato Grosso do Sul aber auf über 50 Prozent.
Ricardo Fonseca, Rektor der bundesstaatlichen Universität UFPR in Curitiba warnte vor einer Schließung der Universität, sollten die Kürzungen weiter bestehen bleiben. „Zu diesem Zeitpunkt werden sie die Aktivitäten im zweiten Semester unmöglich machen“. Die UFRJ in Rio de Janeiro beklagte, bereits jetzt mit einem Defizit von 170 Millionen Reais haushalten zu müssen, eine Folge vorheriger Kürzungen.
Gerade Stipendien haben es in den letzten Jahren Teilen der marginalisierten Bevölkerung erleichtert, Zugang zu höherer Bildung zu bekommen. Das bundesstaatliche Gesetz N.12711 wurde 2012 beschlossen, demnach müssen mindestens 50 Prozent der Studienplätze an Schüler*innen aus öffentlichen Schulen vergeben werden. Diese sind in Brasilien dafür bekannt, zwar kostenlos aber nur unzureichend auf die Aufnahmeprüfungen der Unis vorzubereiten. Dementsprechend niedrig war die Quote der Schüler*innen aus öffentlichen Schulen vor allem an den Exzellenzuniversitäten. Das Gesetz regelt auch die Quoten für Schwarze Menschen, People of Color (PoC) und Indigene, sie orientieren sich an dem jeweiligen Bevölkerungsanteil in den Bundesstaaten. Nach Angaben des nationalen Bildungsforschungsinstituts INEP sind in den ersten drei Jahren nach Gesetzesbeschluss die Zahlen der angenommenen Absolvent*innen aus öffentlichen Schulen von knapp 29.000 auf über 78.000 gestiegen, die Zahl der Studierenden, die sich als Schwarze oder PoC identifizieren, von knapp einer auf über zwei Millionen.
Parallel zu den Nachrichten aus dem Bildungsministerium stellten die Abgeordneten der Regierungspartei PSL Rodrigo Amorim in Rio de Janeiro und die Lehrerin Dayane Pimentel im Bundesstaat Bahia Gesetzesentwürfe vor, die das Quotensystem an den Universitäten beenden sollen.
Auch vor diesem Hintergrund kann das Foto des 20-jährigen João Paulo da Silva als ein Symbol gesehen werden. Die Journalistin Beatriz Mota fotografierte den Studenten während der Proteste am 15. Mai in Rio, er blickt entschlossen in die Kamera, auf seinem Schild steht: „Ich bin der erste meiner Familie, der auf eine staatliche Universität geht und ich werde dafür kämpfen, nicht der letzte zu sein!“ Sein Foto wird auf Facebook tausendfach geteilt. Er selbst habe nicht mit dieser Verbreitung gerechnet, schreibt da Silva später auf Twitter und: „Ein junger lebender Schwarzer Studierender in einer Zeitung, das ist, was zählt, nicht nur weil ich das bin. Zwischen all den Todesnachrichten über unsere Leute, glaube ich, ist das eine andere Schlagzeile.“
Präsident Jair Bolsonaro ist während der Proteste außer Landes auf Staatsbesuch in den USA. Die Proteste seien Werk von „nützlichen Idioten“, die nicht einmal die Formel von Wasser kannten, weiß er aus der Ferne zu kommentieren, „Schwachköpfe, die als Manövriermasse einer kleinen Gruppe von Schlaumeiern dienen, die den Kern unserer Bundesuniversitäten in Brasilien ausmachen“. Ein paar Tage später kündigte die Regierung an, rund 20 Prozent der Kürzungen zurückzunehmen – ob aus Angst vor weiteren Protesten, bleibt unklar.
Angesichts der zweiten großen Proteste am 30. Mai, teilte das Bildungsministerium mit, es sei Lehrer*innen, Mitarbeiter*innen, Schüler*innen und Eltern „nicht erlaubt, während der Unterrichtszeit Proteste zu verbreiten und anzuregen“. Minister Weintraub ermutigte in einer Videobotschaft dazu, entsprechende Personen direkt auf der Website des Ministeriums anzuzeigen.

DIE 120 TAGE VON SODOM IN BRASÍLIA

Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl

Seit dem Amtsantritt des Präsidenten Jair Bolsonaro verging kaum ein Tag, an dem nicht eine der zu einem demokratischen Gemeinwesen gehörenden Selbstverständlichkeiten von ihm oder seinen Regierungsmitgliedern erst unter Beschuss geriet, dann in schwerem Gewässer ohne Seenotrettung ausgesetzt und damit dem Untergang überlassen wurde. Schon in den ersten Tagen seiner Regierung setzte Bolsonaro mit der Erleichterung des Zugangs zu Feuerwaffen eines seiner Wahlversprechen um. Seit Januar dieses Jahres haben „Bewohner von städtischen Gebieten mit hoher Kriminalität“ sowie „Eigentümer von kommerziellen oder industriellen Geschäften“ die Erlaubnis, sich legal mit bis zu vier Feuerwaffen hochzurüsten. Flankiert wird diese Liberalisierung des Waffengesetzes von einer Lizenz zum Töten.

Die dahinter waltende Exzellenz ist Justizminister Moro, jener Richter, dessen Hauptmission es war, den ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva zu verhaften und ihn damit an der erneuten Kandidatur zum Präsidenten zu hindern, und der dafür mit einem Ministeramt beschenkt wurde. Moro hat rasch eine Justizreform ins Parlament gebracht. Zum Kern dieser „Reform“ gehört die Entkriminalisierung von Tötungsdelikten der Polizei in Fällen von „entschuldbarer Angst, Überraschung und heftigen Emotionen“, falls diese der Erschießung von Banditen (fast immer junge, schwarze Männer) vorausgegangen seien. Dazu soll es dem Gesetzentwurf zufolge ausreichen, wenn die Polizist*innen dies anschließend glaubhaft deutlich machen. Wahre Leidenschaft aus dem ersten der Höllenkreise.

Zeitgleich lässt der neugewählte faschistische Gouverneur von Rio de Janeiro, Wilson Witzel, mit Scharfschützen auf Favela-Bewohner*innen schießen, denen aus hunderten Metern Entfernung beim Blick durch das Zielfernrohr unterstellt wird, sie seien bewaffnet. Mehrere Fälle von Regenschirmen und Bohrmaschinen bezeugen deren Unschuld. Witzel beglückwünschte die Todesschützen. Fehlt nur noch der Orden aus dem Höllenkreis des Blutes.

Demokratisch verfasste Gemeinwesen brauchen eine lebendige Zivilgesellschaft, die Partizipation erkämpft und verteidigt, was der brasilianischen Zivilgesellschaft nach 1988 durchaus gelungen ist. Dem wurde nun de facto ein Ende gesetzt: Sämtliche der bestehenden Beiräte und Partizipationsorgane aller Ministerien wurden mit einem Federstrich abgeschafft, einschließlich staatlicher Organe, die in der Verfassung verankert sind oder durch völkerrechtlich verbindliche internationale Abkommen Rechtssicherheit genießen. Der Klageweg dagegen ist lang und steinig.

Wo die Bolsonaro-Truppe Widerstand mutmaßt, wird die Axt angesetzt. Der Kulturförderung wurde der Garaus gemacht, der Indigenenbehörde der Großteil ihres Etats genommen, und Philosophie und Soziologie sollten an Bundesuniversitäten gar nicht mehr gefördert werden. Bolsonaro will Fächer, die einen konkreten Nutzen haben. Ingenieur*innen haben sich schon immer angepasster an faschistische Systeme gezeigt als Geisteswissenschaftler*innen. Grundsätzlich sollen die Kids der Wohlhabenden die Universität wieder für sich alleine haben. „Die Universitäten sollen für eine intellektuelle Elite reserviert werden“, so der wegen interner Streitigkeiten inzwischen zurückgetretene Bildungsminister Ricardo Vélez Rodríguez. Der Minister ist gegangen, aber das Ziel bleibt: Arme sollen sich der Berufsausbildung widmen oder besser gleich malochen, sie haben an einer Hochschule im Brasilien des Haupt­manns Bolsonaro nichts zu suchen.

Bolsonaro liefert auch die Umsetzung weiterer Wahlkampfversprechen. Seine Hauptunterstützer – die Agrarlobby und die Industrie – rieben sich schon vor seiner Wahl die Hände, denn Bolsonaro will indigenes Land für das Agrobusiness und Bergbaukonzerne öffnen. Der tausendfache Protest der Indigenen, die Ende April das Acampamento Terra Livre, die größte indigene Versammlung zur Verteidigung des Amazonas­gebietes, in Brasília organisiert haben, wird von den militarisierten Bundestruppen der Força Nacional de Segurança Pública in Schach gehalten.

Die Aussortierung der Armen aus der Rentenversicherung, das ist der Plan der lange erwarteten Rentenreform seiner Durchlaucht, dem ultraneoliberalen Wirtschaftsminister Paulo Guedes. Alte Menschen aus dem ländlichen Raum gehören zu den großen Verlierern, die Privilegien bei der Rente der Militärs sind aber aus der Reform herausgenommen. Überhaupt soll die Rentenkasse de facto den Banken übertragen werden: Kapitalgedeckte Altervorsorge heißt der Renner, der schon in Chile die Massen unter das Existenzminimum brachte und den Banken explodierende Börsenwerte verschaffte.

Sollen die Arbeiter*innen im dritten Höllenkreis doch Scheiße fressen.

Brasiliens Arbeiter*innen müssten sich entscheiden, tönte Bolsonaro im Wahlkampf: „Arbeit oder Rechte?“ Die logische Konsequenz aus diesem scheinbaren Gegensatz ist die Schleifung der Gewerkschaften über geschickt angesetzte Rahmenänderungen bei der Gewerkschaftsfinanzierung. Hinzu kommt, dass die Firmen nun – über die Tarifverträge hinweg – individuell mit den Arbeiter*innen verhandeln. Nicht nur wegen dieser Maßnahme freut sich die Wirtschaft über die neue Regierung und deutsche Firmen fühlen sich in Brasiliens Sodom pudelwohl. So sagt zum Beispiel André Clark, CEO von Siemens in Brasilien: „Die Zusammenarbeit zwischen der Regierung und den Unternehmern läuft sehr gut und effizient“. Sollen die Arbeiter*innen im dritten Höllenkreis doch Scheiße fressen. Da schon unter der Temer-Regierung die Arbeitsjustiz dereguliert wurde, fehlte nur noch die logische Fortsetzung der Brutalo-Politik im Lohnbeutel: Der Stopp des Zuwachses des Mindestlohns. Die regelmäßige Erhöhung des Minimalbetrages über die Inflationsrate hinaus gehörte zu den wichtigsten Instrumenten der PT-Regierung zur Armutsbekämpfung und zum sozialen Ausgleich. Ab jetzt wird bei der Erhöhung höchstens die Inflation berücksichtigt und die bindende Kraft des gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohns erheblich eingeschränkt werden – anders ausgedrückt, er gilt nicht mehr in allen Bereichen und Regionen.

Bolsonaro erklärt, „Demokratie und Freiheit gibt es nur, wenn die Armee es so will“. Und erlaubte, dass der Militärputsch von 1964 auf „angemessene Weise“ in den Armeebaracken gefeiert wird – Demokratie als Gnade der Militärs, so versteht die Bolsonaro-Truppe das politische System.Die Ermittlungen um die vielfältigen Verstrickungen des Bolsonaro-Clans in die tiefen Staatsstrukturen der Mafiamilizen kommen nicht voran, wenn sie denn je ernsthaft von den zuständigen Ermittlungsbehörden aufgenommen wurden. „Wer hat Marielle Franco erschossen, und wer gab den Mordauftrag?“, fragen Brasilianer*innen auch ein Jahr nach dem Mord millionenfach. Obwohl die mehr als anrüchigen, direkten Verbindungen der ersten festgenommenen, mutmaßlichen Täter mit dem Bolsonaro-Clan zwar höchste mediale Klickzahlen erreichen, enden sie im juristischen Niemandsland.

Die brasilianische Demokratie und die ohnehin schwache, politische und staatliche Institutionenlandschaft sind täglich in Auflösung begriffen und das ist das eigentliche Programm: „Brasilien ist nicht das Feld, wo wir viele gute Sachen für unser Volk aufbauen wollen. Wir müssen eher viel dekonstruieren“, so Bolsonaro bei seinem Besuch in den USA. Bolsonaros Brasilien ist ein Land mit immer weniger „checks and balances“. Anders sieht das allerdings die Deutsche Bundesregierung: „Wir vertrauen in die Festigkeit der brasilianischen Institutionen“, erklärte jüngst ein über die Einschätzung des Deutschen Außenministeriums informierter Mitarbeiter. Und Außenminister Heiko Maas sieht „gemeinsame Werte“ am walten.

Als Dekonstrukteur stellt sich Bolsonaro auch als Anti-Präsident dar: Er demontiert seine Minister*innen und lässt seinen Guru, den selbst ernannten Philosophen Olavo de Carvalho aus den USA, gegen die Militärs wettern (zuletzt beschimpfte er diese als „Hosenscheißer”). Mal interveniert Bolsonaro im halbstaatlichen Mineralölunternehmen Petrobras, um eine Dieselerhöhung zu verhindern. Mal beugt er sich dem Rat seines Wirtschaftsministers und verspricht, dies nie wieder zu tun. „Ich verstehe ja nichts von diesen wirtschaftlichen Prozessen“, erklärte er. Dann wieder hetzt er seinen jüngeren Sohn Carlos, den Monsignore, gegen seinen Vize-Präsidenten, einen General.

„Ich verstehe ja nichts von diesen wirtschaftlichen Prozessen“

Bolsonaros Partei PSL, aufgefüllt mit politischen Parvenüs und Abenteurern, agiert im Parlament völlig orientierungslos. Bolsonaro lässt sie nicht an die Fleischtöpfe der Macht. Und so vergeht kaum ein Tag ohne ein Verwirrspiel, das keines ist, weil es mit dem klaren Ziel geschieht, die Institutionen allmählich zu zersetzen und in diesem Chaos eine Atmosphäre der Angst zu erzeugen. Parlament und Justiz geben völlig widersprüchliche Signale und die obersten Richter*innen begehen elementare Fehler. Die etablierten Medien distanzieren sich von Bolsonaro aus Furcht, dass dieser Mann am Ende für die Herrschaft der Elite doch zu dysfunktional sein könnte. Bolsonaro schimpft über den größten Fernsehsender des Landes: „Rede Globo ist der Feind“. Und die Opposition schweigt: Die rechte Opposition der PSDB ist im Nichts verschwunden und die Linke verbleibt in der Schockstarre. Noch einmal die Journalistin Eliane Brum: „Bolsonaro ist Regierung und Opposition zugleich.”

Flankiert wird das ganze Schmierentheater durch den Auftritt der Signora in Brasiliens Sodom, der Ministerin für Frauen, Familie und Menschenrechte, Damares Alves, der wir die Erkenntnis verdanken, dass in den Niederlanden Eltern ihre Babys sexuell stimulieren, und dass Touristen nach Brasilien reisen, um dort in den Motels Sodomie zu begehen. Woraufhin der Präsident selbst diese Einsichten durch die Aufforderung ergänzte, die Ausländer sollten ruhig nach Brasilien reisen, um dort mit den schönen Frauen zu schlafen, aber die Schwulen sollten das nicht tun, in Brasilien gälten schließlich familiäre Werte. Werte aus den Höllenkreisen der Leidenschaft, des Blutes und der Scheiße.

 

“AUFBEGEHREN GEGEN DAS SYSTEM”

Was hat Sie dazu bewegt, den schwierigen Weg der Gründung einer freien Schule zu gehen – in einer ländlichen Gemeinde mit nur 4.000 Einwohner*innen?
Ich arbeitete an einer staatlichen Sekundarschule in Erandique, im Regierungsbezirk Lempira. Nach dem Putsch 2009 hat sich die Situation an der Schule grundlegend geändert. Der Schuldirektor, Mitglied der Nationalen Partei, führte die Schule sehr autoritär. Mit der Regierungspartei im Rücken fühlte er sich bestärkt, Posten nach Parteizugehörigkeit zu besetzen. Ich selbst verlor dadurch meine Position.
Zudem verbreitete er eine Atmosphäre der Angst, er schrie uns Lehrkräfte an, erniedrigte und beleidigte uns – teilweise auch vor den Schülern. Kritische Äußerungen wurden weder von Lehrkräften noch von Schülern geduldet. Kritische Jugendliche wurden sofort als schlecht erzogen dargestellt, als frustrierte junge Menschen. Einige Schüler bekamen gravierende psychische Probleme und niemand auf Leitungsebene interessierte sich dafür.
In dieser Situation begannen einige Kollegen und ich von einer anderen Art von Schule zu träumen. Wir trafen uns und überlegten, wie wir uns die ideale Schule vorstellen und welche Art von Bildung und Erziehung wir für die Schüler am liebsten hätten. Aber erstmal war alles nur ein Traum.

Wie wurde dieser Traum Realität?
Wir erzählten unseren Freunden, anderen Lehrkräften im Dorf und den Leuten von der katholischen Kirche von der Situation und unserer Idee einer freien Schule und einer anderen Art von Bildung. Eine freie Schule in Honduras zu gründen bedeutet ein langwieriges Zulassungsverfahren durch verschiedene Instanzen oder eine hohe Ablösesumme, falls man eine bereits bestehende Privatschule übernehmen möchte. Aufgrund der politischen Situation und des Konfliktes an der alten Schule war uns klar, dass wir keine Zulassung bekommen würden. Geld hatten wir auch nicht¸ aber wir hatten Glück: Eine Person, die vor einigen Jahren eine Privatschule in Erandique gegründet hatte, diese aber schließen musste, übertrug uns die Zulassung kostenlos. Und plötzlich ging alles sehr schnell.

Die Schule funktioniert nun schon im dritten Jahr. Wie haben Sie das erreicht?
Wir haben einen gemeinnützigen Verein gegründet. Die Schule finanziert sich über Gebühren von Eltern, die etwas zahlen können. Andere Eltern unterstützen uns mit handwerklichen Arbeiten in den Schulräumen. Es gibt auch Eltern, die für Kinder aus ärmeren Verhältnissen zahlen. Wenn Eltern die Gebühr einmal nicht aufbringen können, dann behalten wir deren Kinder natürlich trotzdem. Wir haben derzeit über 70 Schüler, in der Mehrheit Kinder alleinerziehender Mütter. Wir unterrichten alle Jahrgänge von der Vorschule bis zum Abitur.
Im Kollegium sind wir sechs, die nur an dieser Schule arbeiten. Wir erhalten Unterstützung von Lehrkräften, die woanders ihr Geld verdienen und bei uns ein paar Stunden unterrichten. Es gibt auch Lehrkräfte, die bei uns unterrichten, weil sie wegen der politischen Situation an staatlichen Schulen keine Anstellung erhalten. Es herrscht an vielen Schulen der Druck, die regierende Nationale Partei zu unterstützen.
Ich habe von meiner festen Stelle an der staatlichen Schule eine Freistellung für zwei Jahre. Es ist eine Umgewöhnung. Vorher hatte ich ein regelmäßiges Gehalt, auch während der Ferien. Jetzt werde ich nur während der Schulmonate bezahlt.

Was zeichnet die Bildung an Ihrer Schule besonders aus?
Damit Kinder und Jugendliche lernen können, muss eine vertrauensvolle und angenehme Atmosphäre geschaffen werden. Deshalb haben wir mit einfachen Dingen begonnen, wie einer farbenfrohen Raumgestaltung und Bepflanzung des Innenhofes. Wir fördern eine Kultur des Dialogs und setzen uns für Konflikttransformation ein. Auf unsere Umgebung, die von Gewalt, Drogenhandel und Repression geprägt ist, haben wir nur bedingt Einfluss, aber ich als Lehrkraft muss mit den Erfahrungen und Emotionen meiner Schüler*innen verantwortungsvoll umgehen. Wir bieten Kindern und Jugendlichen einen sicheren Raum und eine Gemeinschaft.
Für uns ist es wichtig, dass unsere Schüler und deren Eltern verstehen, dass Bildung nicht bedeutet, zu zeigen, wer der oder die Beste ist. Uns geht es vor allem darum, die Freude am Lernen zu wecken.

Gab es keine größeren Schwierigkeiten nach der Schulgründung?
Wir standen und stehen verschiedenen Herausforderungen gegenüber: Uns gegen Verleumdung zu wehren, gute Lehrkräfte zu finden, die offen für Freire-Pädagogik sind, und natürlich die finanzielle Situation.
In den ersten Monaten unserer Arbeit mussten sowohl wir Lehrkräfte als auch die Schüler mit Verleumdungskampagnen gegen uns kämpfen. Der Direktor meiner früheren Schule zeigte uns wegen nicht genehmigten Schulbetriebes an. Es hat uns mehrere Monate gekostet, um die Anzeige aus dem Weg zu räumen. In der Gemeinde wurden unsere Schüler oft abwertend als „reiche Privatschüler“ bezeichnet. Damit umzugehen, ist für Kinder und Jugendliche aus armen Verhältnissen schwer.
Mit der Schulgründung haben wir nicht nur gegen den Direktor der einzigen Sekundarschule im Dorf rebelliert, sondern es war ein Aufbegehren gegen das System.

Was gibt Ihnen die Kraft weiterzumachen?
Ich stand vor der Entscheidung, die neue Schule zu gründen oder so weiter zu machen wie bisher. Die Situation an der staatlichen Schule hat mich krank gemacht. Jetzt fühle ich eine große Zufriedenheit bei der Arbeit und bin wieder gesund geworden. Durch die Freire-Pädagogik habe ich neue Wege in der Bildung kennen gelernt und bin vielen Menschen begegnet, die mir Mut gemacht haben. Und das Netzwerk ehemaliger Stipendiaten des „Procalidad“ – Kurses gibt mir Halt.
Die Möglichkeiten an unserer Schule, den Unterricht gemeinsam mit den Schülern zu gestalten, sind sehr schön. Natürlich gibt es staatliche Kontrollen, aber wir haben Freiheiten. Zum Beispiel begehen wir den 15. September, den Tag der Unabhängigkeit, nicht wie der Staat es wünscht – in Uniformen und mit einem militärischen Aufmarsch. Im letzten Jahr haben wir am Feiertag selbst nichts gemacht und einen Tag später gab es einen Umzug in der traditionellen Kleidung der Lenca. Die Idee kam von Schülern und zeigt uns, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

 

“VENEZUELA IST EIN AUSWANDERUNGSLAND”

Die Situation in Venezuela scheint prekär und bedrückend. Wie haben Sie die vergangenen Monate erlebt?
Wenn Sie in so einem Land länger leben, dann verändern sich auch die Maßstäbe. Das, was nach deutschem Maßstab ganz fürchterlich erscheint, das wird irgendwo ein Stück Normalität.

Zum Beispiel?
Wir waren häufig sehr kurzfristigen Entscheidungen der Regierung ausgesetzt. Über einen sehr langen Zeitraum hinweg ist, angeblich um Strom zu sparen, der Freitag als Schultag gecancelt worden, sodass wir nur vier Tage Schule machen konnten. Wir haben Notstundenpläne gemacht und versucht, das abzuarbeiten, was man normalerweise an fünf Tagen abarbeiten kann. Wir haben parallel eigentlich mit mehreren Stundenplänen gearbeitet und Woche für Woche entschieden.

Hat das funktioniert?
Im Nachhinein kann ich sagen: Ja. In Caracas hat es dieses Jahr wieder ein Abitur gegeben. Alle, die in die Prüfung gegangen sind, haben diese Prüfung bestanden. Die Schule hat mit 15 bis 30 Schülern immer noch relativ viele, die jedes Jahr das Abitur bestehen. Wer es im bilingualen Zweig bis zur zwölften Klasse geschafft hat, der macht meist auch den Abschluss.

Wie ist es aus Ihrer Sicht zur Schieflage im Land gekommen?
Venezuela hat mal sehr viel Geld eingenommen, als der Ölpreis bei 100 US-Dollar pro Barrel lag. Man hat dieses Geld verteilt, auch in Sozialprojekte. Aber nicht in eine nachhaltige Entwicklung investiert. Man hat so ein Alimentationssystem aufgebaut und den Menschen die Verantwortung für ihr eigenes Leben genommen. Jetzt liegt der Ölpreis bei 40 bis 50 US-Dollar. Der Staat finanziert seinen Haushalt zu 90 Prozent aus den Öleinnahmen. Er hat die gesamte industrielle und landwirtschaftliche Infrastruktur vergammeln lassen. Sie finden große Latifundien, wo keine müde Kuh rumläuft, weil es keine Anreize mehr gibt. Staatliche Lenkungsmechanismen haben überhaupt nicht funktioniert.

In einem Zeitungsbeitrag haben Sie beschrieben, dass der Weg zur Schule zum Teil sehr gefährlich ist. Wenn Sicherheit für junge Menschen so eine besondere Bedeutung bekommt, was macht das mit den Kindern?
Wir haben eine ähnliche Situation wie jetzt schon 2014 gehabt. Da gab es auch über mehrere Wochen Demonstrationen, auch die sogenannten guarimbas, die Straßensperren. Im Prinzip ist das, was sich jetzt abspielt, ganz ähnlich. Aber dieses Mal hält der Protest an. Damals ist er wieder eingeschlafen. Natürlich macht das etwas mit den Jugendlichen, weil sie mitbekommen, was passiert.

Wie hoch sind die Schulgebühren?
Das ist kaum aussagekräftig. Wir haben in Venezuela mehrere Wechselkurse. Als ich gegangen bin, mussten die Gebühren alle zwei, drei Monate angepasst werden, weil die Inflation sich zwischen 500 und 1.000 Prozent bewegt. Zuletzt lagen sie bei 130.000 Bolívares. Nach dem offiziellen Kurs sind das 13.000 Euro, das bezahlt kein Mensch. Zum Schwarzmarktkurs bekommen sie die Schule fast geschenkt. Am Geld kann man es schlecht festmachen. Ob jemand gut oder schlecht lebt, liegt daran, ob er über Devisen verfügt. Man muss sagen, dass die Kinder, die die deutsche Schule besuchen, immer noch Kinder aus privilegierten Schichten sind. Obwohl die Eltern nicht unbedingt aus der Oberschicht stammen, sondern sich auch stark aus dem Mittelstand rekrutieren.

Welche Konflikte gab es unter den Schüler*innen?
Die Mehrheit der Eltern ist sicher nicht der Regierungsseite zuzuordnen. Aber wir haben auch Kinder gehabt von Eltern aus der PSUV (der sozialistischen Regierungspartei; Anm. der Red.), aus der chavistischen Bewegung oder von hochrangigen Regierungsmitgliedern und Funktionären. Wir hatten auch Kinder von Leuten, die politisch verfolgt waren. Das hat sich in der Schule aber nicht gezeigt.

Politisieren sich die Kinder früher als anderswo?
Die Kinder setzen sich schon mit der politischen Lage auseinander. Sie haben auch eine Meinung zu diesen Dingen. Sie blenden es aber in der Schule weitgehend aus. Das ist vielleicht so ein Verdrängungsmechanismus.

Was machen sie sonst?
Sie bewegen sich in Teilgesellschaften: Sie gehen in die Schule, sind am Wochenende in ihren Klubs, bei ihren Familien und Freunden. In Südamerika generell stellen wir fest, dass die Kinder der Mittel- und Oberschicht wenig über die gesellschaftliche Realitäten in den Ländern wissen und viel weniger Erfahrung damit haben, weil sie sich in Parallelwelten bewegen. Hier gibt es 18-, 19-, 20-Jährige, die noch nie mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren sind und bestimmte Stadtteile noch nie gesehen haben.

Wie lassen sich an der Schule – ohne von der Regierung gemaßregelt zu werden – demokratische Maßstäbe vermitteln?
Die Schule ist eine Privatschule und passt damit nicht in die Bildungsideologie der Regierung. Nach deren Vorstellung sollte man mit Bildung kein Geld verdienen. Das bedeutet, dass die Regierung die Privatschule sehr genau beobachtet. Da wird Druck ausgeübt. Einerseits passt man nicht in die bildungspolitischen Vorstellungen, andererseits schicken aber auch hochrangige Regierungsmitglieder ihre Kinder gerne in solche Schulen. Also Wasser predigen, Wein trinken.

Mit welchen Einschränkungen muss die Schule zurechtkommen?
Jahrelang war die Erhöhung der Schulgelder gedeckelt. Als die Inflation „nur“ 30 bis 100 Prozent betrug, durfte die Schule die Gebühr nur um zehn Prozent erhöhen. Die Gehälter inflationsausgleichend anzuheben, kriege ich dann irgendwann nicht mehr hin. Da entsteht ein erheblicher wirtschaftlicher Druck. Auch werden Supervisoren geschickt, wenn Eltern Anzeigen erheben.. Oder wenn denunziert wird, hat man ganz schnell einen Supervisor im Haus, der sämtliche Bücher kontrolliert und ganz bestimmte Anweisungen gibt.
Denunziert, gegen die Schule oder auch persönlich?
Primär gegen die Einrichtung. Das sind Dinge, die aber auch indirekt gegen Personen gehen. Beispielsweise könnte die venezolanische Schulleiterin durch einen Staatskommissar ersetzt werden. Das wäre die Spitze der Repression. Generell können solche Maßnahmen diese Leute sehr hart treffen, weil sie im öffentlichen Bereich keine Arbeit finden.

Hat es das schon gegeben?
Das hat es in anderen Schulen gegeben, bei uns nicht. Aber als Drohung hat es im Raum gestanden.

Sie meinen, in anderen Schulen in Venezuela?
Ja. Das gibt es vielleicht in anderen Ländern auch, aber nicht in dieser Form. Die Kollegen in Quito empfinden das auch so, aber das ist viel weniger ausgeprägt als in Venezuela. Man hat den Eindruck, das ist ein Stück Klassenkampf auf einem Nebenkriegsschauplatz.

Wie sehr kann der deutsche Staat Einfluss nehmen? Gibt es da Kommunikationskanäle?
Es gibt ein bilaterales Kulturabkommen zwischen Venezuela und Deutschland, das den Status dieser Schule regelt und internationalem Recht unterliegt. Aber dieses Abkommen hat die Regierung weitgehend ignoriert. Das hat auch damit zu tun, dass es in Venezuela üblich geworden ist, Rechtsnormen so auszulegen, wie man sie gerade braucht. Fakt ist, dass der politische Einfluss Deutschlands gegen Null geht. Da gibt es eine relativ große Indifferenz. Die deutschen Diplomaten müssen sich ziemlich abstrampeln, um Termine zu bekommen.

Wollen die Kinder ins Ausland? Was sind deren Träume?
Viele suchen den Weg ins Ausland. Die Schule hat letzthin in jedem Jahr 100 bis 150 Schüler verloren nur durch Abwanderung von Familien. Das sind mehr als zehn Prozent der Schüler. Venezuela ist ein Auswanderungsland, gerade der Mittelstand emigriert. In der Oberschicht hat sich die private Lebenssituation wirtschaftlich betrachtet nicht fürchterlich verändert. Der Mittelstand hat schon erheblich gelitten.

Was sind die Zielländer der Auswanderer*innen?
Die Familien gehen sehr häufig nach Kolumbien, nach Panama, in die USA, nach Europa in die Länder, aus denen zugewandert wurde. Wir hatten im vergangenen Jahr 25 erfolgreiche Abiturienten und von denen sind 22 zum Studium in Deutschland gelandet. Das machen sie aber nicht nur, weil der Studienstandort inzwischen so attraktiv ist, sondern auch weil sie das Land verlassen wollen. Die Perspektive zurückzukehren, ist gar nicht mehr da.

Sie arbeiten jetzt seit gut einem Monat in São Paulo. Wie nehmen sie das Bildungssystem und Brasilien selbst wahr?
Ich kann zum Bildungssystem noch wenig sagen. Ich nehme Brasilien als ein Land wahr, das funktioniert. Brasilien hat zurzeit die Diskussion über Korruption, die alle politischen Richtungen betrifft. Was Brasilien auszeichnet, ist die Tatsache, dass diese Diskussion geführt wird und es offensichtlich so etwas wie eine Gewaltenteilung gibt, bei der die Judikative weitgehend unabhängig agiert. Die Instanzen in Venezuela funktionieren nicht mehr. Der Oberste Gerichtshof trifft die absurdesten Entscheidungen, die mit der Verfassung des Landes kaum noch etwas zu tun haben.

BESETZEN FÜR BILDUNG

Tijuca, ein Mittelklassestadtteil im Norden Rio de Janeiros, weitab der Postkartenmotive, für welche die Stadt bekannt ist. Die Nachmittagssonne knallt unbarmherzig auf das Schulgebäude, ein heruntergekommener Plattenbau aus den Zeiten der Militärdiktatur. Eine Gruppe Jugendlicher hat sich vor dem Eingang der Schule versammelt und hält tapfer der Hitze stand. Die Jugendlichen sind in eine angeregte Diskussion vertieft. Andere Schüler*innen haben sich in den Schatten geflüchtet und tippen konzentriert auf ihren Smartphones. Auf einer Mauer versucht ein einsamer Gitarrenspieler auf mehr oder weniger subtile Arte die Aufmerksamkeit seiner Mitschüler*innen auf sich zu ziehen. Eine völlig normale Szene, so sollte man meinen, die sich auf fast jedem Schulhof der Welt abspielen könnte. Doch einige Details passen nicht ins Bild: Ein Schüler*innenkomitee am Eingang nimmt penibel alle Personaldaten der Besucher*innen auf. Andere Schüler*innen kümmern sich um die Reinigung des baufälligen Gebäudes. In der Schulküche dampfen die Kochtöpfe auf dem Herd und eifrige Hände schmieren Butterbrote und schenken Getränke ein. An einer Wand hängt ein Aktivitätenkalender. Nicht der Lehrplan der brasilianischen Bundesregierung, sondern eine täglich abgehaltene Vollversammlung bestimmt die Schulagenda.

Sie meinen es ernst: Für eine inklusivere Schulbildung (Fotos: Thiago Cury Andries)

Die Pedro II-Schule ist in diesen Tagen keine normale Schule. Seit Anfang November wird sie besetzt gehalten und seither in Eigenregie von den Schüler*innen verwaltet. „Wir sind eine Bewegung der Schüler für die Schüler“, erklärt die 17-jährige Isabela Melo. „Wir sind hier, weil wir an eine andere, demokratischere und inklusivere Schulbildung glauben.“
Auf dem schmählichen 58. Platz der von der PISA-Studie evaluierten Länder, ist das brasilianische Bildungssystem als eines der schlechtesten unter den Schwellenländern bekannt. Große Teile der Mittel- und Oberschicht schicken ihre Kinder auf teure Privatschulen, um den strukturellen Defiziten der öffentlichen Bildung zu entgehen. Sozialschwachen Brasilianer*innen steht diese Option in der Regel nicht zur Verfügung. Ihre Kinder müssen sich mit den oft prekär ausgestatteten öffentlichen Schulen abfinden. Die fehlenden Mittel und die schlechte Bezahlung der Lehrer*innen machen eine gute Schulausbildung und damit auch Aufstiegschancen praktisch unmöglich.
So verzeichnet Brasilien eine landesweite Besetzungswelle öffentlicher Schulen und Universitäten – wieder einmal. Bereits im vergangenen Jahr besetzen in São Paulo die secundaristas – die 14- bis 17-jährigen Schüler*innen – hunderte Bildungseinrichtungen. Auslöser damals war eine geplante „Reorganisierung“ des Bildungssektors. Zahlreichen Schulen drohte die Schließung. Die Schüler*innen wehrten sich – auf der Straße und in ihren Schulen. Aufgrund des massiven Widerstandes nahm São Paulos Gouverneur Geraldo Alckmin die umstrittene Reform letztendlich zurück.
Mehr als 1000 Schulen werden momentan im ganzen Land besetzt gehalten. Die Besetzungen haben hohe Wellen geschlagen. Nicht wenige politische Analyst*innen bezeichnen sie als derzeit wichtigste soziale Bewegung Brasiliens. „Wie jede andere Besetzungsbewegung haben wir Anliegen, die unsere eigene Schule und ihre Verwaltung betreffen. Unsere Kernforderungen richten sich aber gegen die Bildungspolitik der Bundesregierung. Wir stehen hier nicht nur für uns und unsere eigene Schule ein, sondern für alle Schüler Brasiliens. Alle Schüler der jetzigen und der zukünftigen Generationen, die die Konsequenzen der prekären Bildungspolitik der Regierung tragen müssen“, erklärt Isabela.
Der Zorn der Besetzer*innen richtet sich vor allem gegen die neue konservative Regierung. Nach einem juristisch fragwürdigen Amtsenthebungsprozess hat Michel Temer im Oktober endgültig das Regierungsamt übernommen, das seit 2002 von der Arbeiter*innenpartei PT besetzt war. Die politische Rechtskurve macht vielen Staatsangestellten, Intellektuellen und sozialen Aktivist*innen Angst. Auch viele Schüler*innen befürchten massive Einschnitte im Bildungsbereich. So richten sich von den drei Hauptforderungen der Schulbesetzer*innen zwei explizit gegen die von der Regierung initiierten Maßnahmen: die Verfassungsreform PEC 241/55 (siehe LN 510), die öffentliche Ausgaben und somit auch den Bildungsetat für 20 Jahre einzufrieren droht, sowie einen Präsidentenerlass, der eine Verringerung der Pflichtschulfächer zur Folge hat.
Die dritte Hauptforderung der Schüler*innen richtet sich gegen die unter dem Programm Escola Sem Partido (Parteilose Schule) zusammengefassten Gesetzesvorschläge. Das Programm stammt aus der Feder eines Parteienbündnisses, das Präsident Temer nahe steht, und hat zum Ziel, eine vermeintliche „politische und ideologische Indoktrination“ der Schüler*innen im Unterricht zu bekämpfen. So soll verboten werden über Themen zu diskutieren, die mit den „religiösen oder moralischen Überzeugungen der Eltern oder Erziehungsberechtigten der Schüler in Konflikt stehen können“. Eine Verabschiedung des Programmes könnte eine kritische Diskussion zu Themen wie Geschlechterrollen, Homophobie, Feminismus sowie indigenen und afro-brasilianischen Religionen im Unterricht untersagen und unter Umständen sogar strafbar machen.
„Schüler sind keine unbeschriebenen Blätter“, kommentieren die Schulbesetzer*innen der Pedro II-Schule das Programm Escola Sem Partido in einer Pressemitteilung. „Wir bilden uns Meinungen und Positionen mithilfe der verschiedenen Informationen, die wir sowohl von Lehrern, als auch von der Familie und Freunden vermittelt bekommen. Politische Debatten in der Schule sind wichtig, damit wir mit anderen Ideen und Gedanken in Berührung kommen können. Dies ist fundamental für die Entwicklung unserer Persönlichkeit und Menschlichkeit.“
Doch nicht nur die Bildungspolitik der Regierung steht im Fokus der Schulbesetzer*innen. Vielmehr lassen sich die Proteste auch als Ausdruck einer allgemeinen Unzufriedenheit und fehlenden Identifikation mit der regierenden politischen Klasse deuten. „Die Regierung hat Angst vor Jugendlichen, die für sich selbst denken, vor Jugendlichen, die noch Träume haben, und vor allem vor Jugendlichen, die nicht diese veraltete und antiquierte Zukunft wollen, welche die Regierung uns vorlegt“, erklärt die Schülerin Erika Thimoteo vor Eltern, Aktivist*innen und Medienvertreter*innen in einer feurigen Rede vor dem besetzten Schulgebäude.
Ein Blick auf Temers Kabinett zeigt, von welcher „antiquierten Zukunft“ Erika spricht. Nach dem kontroversen Amtsenthebungsverfahren von Dilma Rousseff hat sich das Gesicht der brasilianischen Regierung stark verändert: Nicht eine einzige Frau oder person of color ist in Temers Regierung zu finden – und das in einem Land, in dem sich laut der offiziellen Statistik mehr als die Hälfte der Bevölkerung als Schwarz oder farbig identifiziert. „Diese Regierung repräsentiert uns nicht“, erklärt die 17-jährige Ananda Neves, ebenfalls Schülerin am Pedro II. „Michel Temers Kabinett besteht ausnahmslos aus Männern weißer Hautfarbe, meistens der älteren Generation. Sie stehen für eine politische Klasse, in der wir und unsere Anliegen keinen Platz haben.“
Welche Art von Politik die junge Generation im Blick hat, wird deutlich, wenn man ihre Organisation und Entscheidungsstrukturen betrachtet. In der Pedro II-Schule in Rio de Janeiro zirkulieren täglich etwa 300 der rund 2000 eingeschriebenen Schüler*innen. Etwa 100 von ihnen verbringen dort sogar regelmäßig die Nacht. Alle Entscheidungen werden basisdemokratisch getroffen. „Wir halten hier jeden Tag eine Vollversammlung der Schülerinnen und Schüler ab, in der wir nicht nur über administrative und organisatorische, sondern auch über die inhaltliche Ausrichtung der Besetzung unserer Schule diskutieren und abstimmen“, erklärt Ananda.
Die Besetzung ist straff organisiert. Sieben verschiedene Kommissionen regeln den Alltag in der Besetzung. Auf Sauberkeit wird penibel geachtet und das Gebäude wird mehrmals am Tag geputzt. Dank der Verpflegungskommission gibt drei Mahlzeiten am Tag für die hungrigen Besetzer*innen, dazwischen Pausenbrote und Snacks. Die Aktivitätenkommission organisiert Seminare mit bekannten Künstler*innen,  Akademiker*innen und Aktivist*innen. Auch die Pressearbeit, Budgetverwaltung und Sicherheit der Besetzung wird innerhalb der Schüler*innen+kommissionen gemanagt. Finanziert wird die Besetzung ausschließlich über Spenden, vornehmlich von Eltern und Ehrenamtlichen. Die Kommissionen haben eine hohen Frauenanteil: „Frauen haben eine Schlüsselrolle hier bei uns in der Besetzung im Pedro II“, sagt die 16-jährige Carolina Gomes. „Einige zeichnen sich durch eine explizite Führungsrolle aus, andere bringen sich in den Kommissionen und Arbeitsgruppen ein. Und dank des Misch- und Rotationsprinzips in den Kommissionen sorgen wir dafür, dass die notwendigen Dinge effizient erledigt werden und keine Geschlechterstereotype bei der Aufgabenvergabe reproduziert werden.“
Unterstützung erhalten die jungen Besetzer*innen auch von vielen Lehrer*innen. So auch von Leandro Climaco: „Ich stehe absolut hinter der Entscheidung der Schüler, ihre Schule zu besetzen. Für mich sind die Schüler soziale Akteure, die in der Lage sind, sich politisch zu positionieren, insbesondere im Zusammenhang mit Themen, die sie und ihren Schulalltag direkt betreffen. Die Schüler haben beschlossen, selbstständig Politik zu betreiben und die Regierung zu Verhandlungen aufzurufen. Das müssen wir respektieren“, erklärt der Geschichtslehrer, der seit zwei Jahren an der Pedro II-Schule unterrichtet.
Auch die Portugiesischlehrerin Silvia Barros unterstützt die Besetzung. Sie sorgt sich um die Zukunft des öffentlichen Schulsystems: „Es ist beängstigend, sich die Schule der Zukunft vorzustellen: finanziell noch prekärer, als sie jetzt schon ist und nicht mehr in der Lage, ein Umfeld sicherzustellen, in dem Schüler und Lehrer frei über Ideen diskutieren können, ohne Repressalien oder gar Verhaftung fürchten zu müssen.“
Allerdings findet die Besetzung nicht nur Zuspruch. Christine Melo, die Mutter der redegewandten Isabela, steht der Schulbesetzung eher kritisch gegenüber: „Ich verstehe die Wut der Schüler über die Bildungspolitik der Regierung. Aber ich finde, die Schüler hätten auch auf eine andere Art und Weise protestieren können. Durch die Schulbesetzung riskieren die Schüler, das Schuljahr nicht im vorgesehenen Zeitrahmen beenden zu können. Außerdem sorge ich mich täglich um die Sicherheit meiner Tochter in der Besetzung. Was passiert, wenn sie geräumt werden?“
Die Schüler*innen geben sich indes weiter kämpferisch und planen die Besetzung fortzuführen, bis ihre Forderungen gehört werden. Für sie stellt die Reifung ihres zivilen und politischen Bewusstseins die größte Lernerfahrung der Schulbesetzung dar: „Die Besetzung hat mir die Gelegenheit gegeben, ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln und die Schule als ein Projekt zu begreifen, das uns allen gehört und zu dem wir alle beitragen. Jeder auf seine Art und Weise“, argumentiert Isabela. „In den zwei Wochen der Besetzung haben wir mehr über Politik gelernt, als in 13 Jahren Schule“. Ihre Freundin Ananda ergänzt: „Wir verwalten uns hier komplett selbst und kümmern uns neben der Gebäudereinigung und Verpflegung um fast alle verwaltungstechnischen Belange. Eine Schule zu verwalten ist eine schwierige Aufgabe und sie liegt jetzt in der Hand von 15-, 16- und 17-jährigen Jugendlichen.“ Lachend fügt sie hinzu: “Und was mir am meisten Angst macht: wir kriegen es hin!“
Wie lange die Regierung die Besetzungen in den Schulen noch dulden wird, ist unklar. Ein Ende scheint jedenfalls nicht in Sicht. Im Gegenteil: immer mehr Schulen schließen ihre Pforten. Inspiriert durch die Schüler*innen haben auch Studierende begonnen, ihre Universitäten zu besetzen. Mehr als 80 öffentliche Universitäten sind mittlerweile unter der Besetzung der Studierenden. Auch hier steht Temers Sparpolitik und der allgemeine Bildungsnotstand im Fokus der Kritik. Die Besetzer*innen stehen im krisengebeutelten Brasilien vor einer großen Aufgabe. Eine Bildungsreform steht nicht auf der Tagesordnung der Regierung. Allerdings haben die Besetzer*innen ihren jugendlichen Kampfgeist und Optimismus auf ihrer Seite: „Der Sinn der Schulbesetzung ist etwas an uns zu nehmen, was uns rechtmäßig zusteht, und daraus die Schule unserer Träume zu machen“, erklärt Isabela. „Das einzige was wir brauchen, ist eine Stimme. Wir haben viel zu sagen und viel beizutragen, aber niemand wollte uns zuhören. Diese Tage sind jetzt vorbei.“

DER PROTEST IST UNGEBROCHEN

Macht und Gewalt sind in Mexiko nicht zu trennen. Während der viermonatige Streik der Lehrer*innengewerkschaft CNTE ebenso beendet wurde wie die gewaltsame Repression der Regierung gegen die streikenden Lehrer*innen, geht der Kampf um die Deutungshoheit über die Anliegen und Methoden der bereits 2013 vom Parlament beschlossenen Bildungsreform weiter. Beide Seiten halten die Überarbeitung des veralteten Bildungssystems für notwendig, doch eben aus unterschiedlichen Perspektiven. Dass mexikanische Schüler*innen bei Pisa-Umfragen regelmäßig sehr schlecht abschneiden ist dabei kein Streitpunkt. Die enorme Ungleichheit bei der Verteilung von Geldern zwischen sozioökonomisch starken und schwachen Teilen des Landes – wobei den jahrgangsübergreifenden Schulen in armen ländlichen Gemeinden die geringsten Mittel zur Verfügung stehen – bemängeln die benachteiligten Schulen. Diese konzentrieren sich vor allem im Süden Mexikos, wo die CNTE die meisten Mitglieder hat.
Ein Dorn im Auge der Regierung ist vor allem der traditionell starke Einfluss der Gewerkschaft unter anderem bei der Vergabe von Arbeitsplätzen, die oft nicht nach objektiven Kriterien, sondern nach klientelistischen Motiven vergeben werden. Dem soll eine regelmäßige Evaluation der Lehrkräfte entgegenwirken, die Lehrer*innen bei Nichtbestehen den Beruf kosten würden. Gegen eine solche „bestrafende Evaluierung“ wehrt sich die CNTE seit Jahren, nicht aber gegen eine Bewertung ihrer Arbeit als solcher. Sie argumentiert, dass mit einer Sanktionierung nicht die strukturellen Probleme beseitigt, sondern durch die Unsicherheit des Arbeitsplatzes sogar verschärft würden. Außerdem sei die Bewertung einseitig, da es in den ländlichen Gemeinden Mexikos neben der Wissensvermittlung auch um die ergänzende soziale Arbeit der Lehrer*innen gehe. Laut CNTE haben bereits 25.000 Beschäftigte im Bildungswesen ihren Arbeitsplatz verloren. Die Protestierenden werfen der Regierung darüber hinaus die Deregulierung des Bildungssystems vor, wodurch dessen Privatisierung ermöglicht würde.
Als am 15. Mai die Lehrer*innen mit einer Mahnwache vor dem Innenministerium in Mexiko-Stadt ihren Protest begannen und in mehreren Bundesstaaten Schulen geschlossen blieben, war noch nicht abzusehen, wie weit der Streit eskalieren würde. Dass dieses Thema großes Potenzial für Mobilisierung und anschließende Repression birgt, wurde allerdings schon im Vorjahr bewiesen (LN 495/496). Der Streik dieses Jahr kostete im Verlauf der vier Monate mindestens elf Menschen das Leben und einigen Gewerkschaftsfunktionär*innen die Freiheit. Im Juni erreichte die Auseinandersetzung ihren traurigen Höhepunkt als die Regierung mit Hilfe der Bundespolizei versuchte, den Streik zu beenden und strategisch wichtige Straßen und Orte im Bundesstaat Oaxaca von Streikposten und Barrikaden zu räumen (LN 505/506). Zwischenzeitlich begonnene Gespräche der Konfliktparteien wurden ergebnislos abgebrochen. Die Regierung hat das Ende des Streiks erreicht, nicht jedoch das der Proteste, da die CNTE ein Mitspracherecht bei der Reform fordert. Die von Bildungsminister Nuño Anfang Oktober angekündigten Gespräche bergen mit der bisherigen Kompromisslosigkeit damit auch den Zündstoff für kommende Auseinandersetzungen.

LITERATUR ALS FLASCHENPOST

ANTONIO ORTUÑO
Geboren 1976 in Guadalajara, Mexiko. Seit 2006 veröffentlicht er Romane und Kurzgeschichten und arbeitet für verschiedene Zeitungen und Kulturmagazine in Mexiko und Spanien. Sein Roman Die Verbrannten ist 2015 auf Deutsch erschienen (siehe LN 499), im September 2016 war er beim Internationalen Literaturfestival in Berlin zu Gast.
(Foto: Álvaro Moreno)

In Ihren Romanen behandeln Sie sozialkritische Themen, die für die mexikanische Gesellschaft bedeutend sind. Welche Rolle spielt Literatur heutzutage?
Ich finde es schwierig, mich mit dem orthodoxen Konzept der engagierten Literatur zu identifizieren, ohne politisch militant zu wirken. Ich habe politische Ideen, doch leider habe ich im mexikanischen Kontext keinerlei Hoffnungen, mit meiner Literatur irgendetwas zu bewirken. Nur wenige Mexikaner lesen Literatur, sie ist kein Teil des Alltagslebens der meisten Menschen mit geringem Einkommen und geringem Bildungsniveau. Schriftsteller haben die Möglichkeit, das „hässliche“ Mexiko zum Thema zu machen, oder sich eben dagegen zu entscheiden. Für mich selbst sind die Gewalt, die Misere, die Ungerechtigkeit immer wieder ein Schlag ins Gesicht, sie sind überwältigend und allgegenwärtig. Ich neige dazu, die Dinge negativ zu definieren: Ich schreibe über Mexiko, weil ich es nicht lassen kann, nicht weil ich denke, dass ich damit etwas bewirke. In Mexiko spielt die Literatur momentan einfach keine Rolle im Leben der großen Bevölkerungsmehrheit. Zu hoffen, dass sie eine Art Motor für Veränderung sein könnte, ist illusorisch. Andererseits ist es schon so, dass diejenigen, die sich in den intellektuellen oder künstlerischen Kreisen bewegen, die sozialen Probleme Mexikos reflektieren. Leider existiert jedoch kein Konsens darüber, wie diese Veränderungen herbeigeführt werden könnten. Unsere Gesellschaft ist furchtbar individualistisch. Hinzu kommt, dass die meisten Literaturschaffenden in Mexiko selbst der Elite angehören, auch wenn sie progressive Auffassungen vertreten. Die meisten von ihnen haben kein Interesse daran, explizit politisch zu sein. Was mich persönlich interessiert, ist der Dialog mit den Lesern, mich mit ihnen konstruktiv auszutauschen. Aber es ist unmöglich, Literatur zum Gewissen einer Gesellschaft zu stilisieren, wenn diese Gesellschaft nicht liest. Die mexikanische Gesellschaft ist zutiefst anti-intellektuell. Schriftsteller sein in Mexiko bedeutet, auf gut Glück eine Flaschenpost ins Meer zu werfen und zu schauen, ob sich jemand dafür interessiert.

Die mexikanische Gesellschaft war nicht immer so anti-intellektuell.
Es gab in Mexiko immer eine gebildete Elite und vereinzelt andere Bevölkerungsteile, die Literatur konsumiert haben. An den Universitäten gab es ein offenes Klima, das der Diskussion von Ideen zugute kam. Ich denke nicht, dass es eine goldene Ära der Literatur gab, obwohl es zu gewissen Zeiten viele politisch engagierte Intellektuelle gab. Carlos Fuentes und Octavio Paz wurden von den institutionellen Mächten gleichzeitig respektiert und gefürchtet. Sie bewegten sich jedoch selbst in diesen elitären Zirkeln, waren mit Senatoren und Abgeordneten befreundet. Ich kann mir nicht vorstellen, von einem Abgeordneten zum Essen eingeladen zu werden, aber ich gehöre diesen Eliten auch nicht an. Es stimmt, dass es früher ein umfangreiches öffentliches Bildungsprojekt gab, das von der Grundschule bis hin zur Universität umgesetzt wurde und zudem laizistisch veranlagt war, was für ein so katholisches und konservatives Land wie Mexiko schon sehr erstaunlich ist. Die Geschichte wurde mexikanisch, lateinamerikanistisch interpretiert, in Opposition zum Kolonialismus. Leider starb ein Großteil dieses öffentlichen Bildungssystems in den 1990er Jahren, weil die Regierung selbst es auflöste. Geschichtsbücher wurden verändert, die Gewerkschaft der Lehrer bis ins letzte Glied unterwandert. Die PRI (Partei der institutionellen Revolution, Anm. d. Red.), die ursprünglich Erfinderin des öffentlichen Gesundheits- und Bildungssystems war, siedelte zum Neoliberalismus über. Und die einzige Alternative war die Rechte, die von Anfang an gegen dieses öffentliche System war. Es gab also keine politischen Kräfte, die das System hätten verteidigen können, denn die mexikanische Linke ist in Wahrheit nur ein verkleideter Ast der PRI.

Die Schilderung von extremer Gewalt ist nicht unüblich für Autor*innen Ihrer Generation. Wie positionieren Sie sich in der aktuellen Literaturszene Mexikos, haben Schriftsteller wie Roberto Bolaño Sie beeinflusst?
Offen gestanden: nein. Ich habe Bolaño erst gelesen, als ich selbst schon als Schriftsteller tätig war und meinen eigenen Stil entwickelt hatte. Und Bolaño hat die Literatur der extremen Gewalt auch nicht erfunden. Mich hat besonders ein brasilianischer Autor beeinflusst, Rubem Fonseca, der der erste war, der mich durch seine Schilderungen ungleicher Gesellschaften und der infolgedessen grassierenden Gewalt beeindruckt hat. Bolaño selbst hat für seinen Roman 2666 ganz sicher sehr aufmerksam Sergio González Rodríguez gelesen, einen der großen mexikanischen Gewaltforscher. Bolaño hat lange in Mexiko-Stadt gelebt, doch von der mexikanischen Provinz und von Ciudad Juárez (unter dem Namen Santa Teresa einer der Schauplätze des Romans und Ort der Frauenmorde, Anm. d. Red.) hatte er keine Ahnung. Es ist kein schlechtes Buch, mich haben jedoch andere Autoren stärker beeinflusst. Jorge Ibargüengoitia zum Beispiel, der für mich umso relevanter war, da ich durch seine Bücher lernte, dass die Sprache, die ich sprach, auch Literatur sein konnte. Ich bin in einer spanischen Migrantenfamilie und mit spanischer Literatur aufgewachsen. Durch Ibargüengoitia lernte ich, dass auch nicht-iberisches Spanisch Träger von Literatur sein kann. Andere große mexikanische Autoren wie Juan Rulfo, Salvador Elizondo oder Elena Garro bewundere ich sehr, doch ich fühle mich durch sie nicht repräsentiert. Deshalb versuche ich, eine eigene Stimme zu schaffen.

Sie klagen in Ihrem Buch Die Verbrannten die mexikanische Gesellschaft an, indem Sie deren Umgang mit zentralamerikanischen Migrant*innen als ein Zerquetschen von Fliegen beschreiben. Wie wurde das aufgefasst?
Erstaunlicherweise ziemlich positiv. Der Roman hat sich außergewöhnlich gut verkauft, ich habe viele Interviewanfragen bekommen und mir wurde von allen Seiten gratuliert. Kurios ist, dass die Glückwünsche nicht über den ästhetischen Aspekt hinausgingen. Es wurde innerhalb Mexikos kein oder nur vereinzelt ein Dialog zum Thema der zentralamerikanischen Migration angeregt. Die interessantesten Gespräche diesbezüglich habe ich mit Journalisten, Schriftstellern oder in Universitäten geführt. Mir scheint es, dass es heutzutage in Mexiko unschick ist, über politische Themen zu schreiben. Dein Buch wird gelobt, aber kein politischer Diskurs angestoßen.

Haben Sie während der Recherchen auch selbst mit Migrant*innen gesprochen?
Es sollte keine Reportage werden, gezielt habe ich also keine Interviews geführt. Journalistisches Material gibt es ja zuhauf. Mein erster Berührungspunkt ergab sich dadurch, dass sich mein Viertel in Guadalajara auf einmal mit Migranten füllte. Nach dem Massaker von San Fernando (Massenmord an zentralamerikanischen Migrant*innen im Bundesstaat Tamaulipas im Jahr 2011, Anm. d. Red.), und anderen Vorfällen begannen sie, ihre Route zu ändern. Tatsächlich ist es Wahnsinn, von Zentralamerika aus in die USA zu reisen und dabei die Pazifikroute zu nutzen, die so viel länger ist als die Golfroute, und dabei auch noch die Wüste von Sonora zu durchqueren. Aber sie sahen sich praktisch gezwungen, sowohl vom organisierten Verbrechen als auch vom Staat – wobei die Grenzen hier bekannterweise fließend sind. Guadalajara ist weit entfernt von der Grenze, die Leute dort hatten nie zentralamerikanische Migranten gesehen. Dann sahen wir sie durch das Viertel laufen, auf den Parkbänken schlafen, um Wasser bitten. Die erste Herberge für Migranten befand sich nur vier Straßen von meinem Haus entfernt. Also sprach ich mit einigen von ihnen, sie erzählten mir, was sie zu dem Zeitpunkt beschäftigte, was sie erlebt hatten.

Einer der interessantesten Charaktere des Romans ist ein Mann, der in einer Transitzone lebt und sich eine Migrantin als Haussklavin hält. Wie macht sich dieser Rassismus, der tief in der mexikanischen Gesellschaft verankert ist, bemerkbar?
Der Roman konzentriert sich darauf, etwas aufzudecken, was der Journalismus nur schwer aufdecken kann: den unterschwelligen Rassismus und Klassismus in Mexiko. Wenn du einem Mexikaner ein Diktiergerät vor die Nase hältst, wird er dir wahrscheinlich nicht seine wahre Meinung sagen. Wenn ich allerdings als Schriftsteller Zugang zu privaten Gesprächen bekomme, sieht es oft ganz anders aus. Ich kann im fiktionalen Kontext reale Begebenheiten zur Sprache bringen, mich fragen, warum in aller Welt ein Land, dass Abermillionen von Migranten in die USA geschickt hat und das sich schrecklich über die dortige Diskriminierung aufregt, den Zentralamerikanern mit noch gewaltsamerer Diskriminierung begegnet. Die Figur dieses Mannes fasziniert mich, und auf gewisse Weise kann ich nachvollziehen, wie er diesen Jagdwahn entwickeln konnte. Rassismus ist Teil der mexikanischen Gesellschaft, seit es sie gibt. Wir waren schon immer in Menschen erster, zweiter und dritter Klasse unterteilt. Interessant ist, dass es eine Zeit gab, in der Mexiko sich damit brüstete, ein Einwanderungsland zu sein. Es gab Einwanderungswellen von Spaniern, Argentiniern, Chilenen und vielen mehr. Während der Diktaturen in Südamerika und Spanien hat Mexiko viele Menschen aufgenommen, unter ihnen meine Familie. Und das Bemerkenswerte ist, dass die meisten von ihnen gekommen sind, um zu bleiben. Die zentralamerikanischen Migranten wollen nicht bleiben, sie durchqueren Mexiko weil sie keine andere Möglichkeit haben. Alles worum sie bitten ist, nicht umgebracht zu werden. Ich denke, dass wir Mexikaner den Zentralamerikanern zu sehr ähneln, wir hassen es, dass sie uns an uns selbst erinnern. Dieselben Codes der Diskriminierung, die in klassistischen Mustern denkende Mexikaner auf sich selbst anwenden, wenden sie auf Zentralamerikaner an. Doch diese haben keinen juristischen Schutz, niemand sucht nach ihnen, Verbrechen bleiben straflos.

Auch in Deutschland wird momentan viel über einen „gesellschaftsfähigen Rassismus“ gesprochen. Ist Die Verbrannten auch auf andere Migrationskontexte übertragbar?
Ich denke, dass es mehr Gemeinsamkeiten gibt, als man denkt. Eine der Möglichkeiten der Literatur ist es, spezielle Kontexte in universale Kontexte zu transformieren. Ich denke, dass in vielen Gesellschaften dieselben Probleme bezüglich rassistischen Gedankenguts herrschen, dieselben Codes der Diskriminierung und Menschenverachtung aufzufinden sind. Der Umgang mit diesen ist jedoch unterschiedlich. In Deutschland wachsen Parteien, die das Thema Migration zum Hauptthema ihrer politischen Agenda erheben. In Mexiko existiert so etwas nicht, der Migrant wird auch nicht zum öffentlichen Feind erklärt, man begeht lediglich Gräueltaten und geht mit aller Kraft der Autoritäten gegen sie vor. Entweder werden sie von staatlichen Funktionären selbst misshandelt, oder diese tun nichts, um ihnen Schutz zu gewähren. Sie werden entführt, versklavt, totgeschlagen. Das ist der größte Unterschied.

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