„Der Skandal deckt auf, was längst bekannt war“

Eines der klassischen Kriterien für Staatlichkeit besteht im Vorhandensein eines staatlichen Gewaltmonopols. Der Krieg in Kolumbien erscheint von außen betrachtet äußerst unübersichtlich. Wer verfügt in dem Land eigentlich über das Gewaltmonopol?

Man kann in Kolumbien von einer Krise der Staatlichkeit sprechen, allerdings in einem anderen Sinn als der Begriff „gescheiterter Staat“ (failed state) nahelegt. Ich glaube nicht, dass die Krise in Kolumbien in erster Linie damit zu tun hat, dass sich der Staat nicht ausreichend entwickelt hat. Es ist vielmehr so gewesen, dass sich ein Teil der Bevölkerung seit zwei Jahrhunderten immer wieder gegen die Ordnung erhoben hat und die Eliten darauf fast ausschließlich mit Repression antworteten. Aus den Revolten sind deshalb lang andauernde bewaffnete Aufstände hervorgegangen, die aufgrund der Topographie Kolumbiens – ein bergiges, immer noch stark bewaldetes Land – militärisch nicht besiegt werden konnten.
Die bewaffneten Rebellen heben das Gewaltmonopol auf und agieren in manchen Landesteilen als Gegen-Staat. Diese Situation herrscht praktisch ununterbrochen seit 1948.

Aber es stehen sich doch nicht nur Armee und Guerillas gegenüber, sondern es gibt auch bewaffnete Gruppen der Drogenmafia und die Paramilitärs.

Die Ausbreitung des Drogenhandels in den Siebziger und Achtziger Jahren hatte mit der Krise des staatlichen Gewaltmonopols zu tun. Polizei und Justiz haben das Land nicht flächendeckend kontrolliert, andererseits waren sie käuflich. Auf diese Weise – und natürlich auch wegen Armut und ökonomischer Perspektiven – hat sich der Drogenhandel als Wirtschaftsbranche rasant entwickeln können.
Der Drogenhandel braucht jedoch wie alle anderen Branchen auch eine Instanz, die über die Erfüllung von Verträgen wacht. Normalerweise ist ja genau das die grundlegende Funktion eines bürgerlichen Staates: Er sorgt dafür, dass Geschäftspartner, die immer auch Konkurrenten und Gegner sind, sich aufeinander verlassen können. Der Staat sanktioniert den Bruch von Verträgen. Er wirkt als gesonderte Gewalt. Weil der Drogenhandel illegal ist, kann der Staat diese Funktion jedoch nicht ausüben. Deswegen entstehen im Umfeld von Kriminalität immer auch bewaffnete Strukturen. Die Gewaltstrukturen sorgen dafür, dass Absprachen eingehalten werden.
Die Illegalisierung des Drogenhandels befördert also das Entstehen bewaffneter Gruppen und lässt das staatliche Gewaltmonopol noch stärker erodieren.
Mit den paramilitärischen Gruppen ist es komplizierter. Sie sind in den Achtziger Jahren aus dem Staatsapparat hervor gegangen und von den ökonomischen Eliten finanziert worden. Ich würde in diesem Zusammenhang von einer Informalisierung der Sicherheitspolitik sprechen. Bestimmte Funktionen von Polizei, Justiz und Armee wurden aus dem Staat ausgelagert. Das staatliche Gewaltmonopol wurde dadurch noch weiter aufgeweicht, allerdings mit dem Ziel, das grundlegende Herrschaftsverhältnis zu verteidigen.

Im Zusammenhang des so genannten parapolítica-Skandals werden in Kolumbien gerade die Verbindungen zwischen Politik, Wirtschaft und paramilitärischen Gruppen aufgedeckt. Bislang wurden die Paramilitärs von Vielen als eigenständiger politischer Akteur gesehen. War das überhaupt jemals zutreffend?

Der Skandal deckt auf, was eigentlich längst bekannt war. In dem Zusammenhang wird das Problem vieler NRO deutlich. Viele Nichtregierungsorganisationen haben versucht, sich im kolumbianischen Konflikt zwischen Staat und der Linken nicht allzu deutlich zu positionieren. Sie haben also angefangen Mittelpositionen einzunehmen. Wenn die Linke sagte, der Paramilitarismus sei mit der Staatsmacht weitgehend identisch und der kolumbianische Staat erwiderte, „wir bekämpfen die Paramilitärs als Kriminelle“, dann entgegneten viele NRO: „Es gibt punktuelle, manchmal auch strukturelle Verbindungen zwischen Paramilitärs und Sicherheitskräften.“ Das Problem daran ist: Eine Mittelposition macht einen zwar oft zum begehrten Gesprächspartner, ist aber deswegen noch lange nicht inhaltlich richtig.
Mittlerweile ist klar, dass der Paramilitarismus in Kolumbien sich zu keinem Zeitpunkt vom Staat verselbständigt hatte. Er wurde auf Betreiben der Militärgeheimdienste mit ausländischer Unterstützung aufgebaut, von Teilen der politischen Eliten vorangetrieben und von wichtigen einheimischen und ausländischen Unternehmen finanziert. Darüber hinaus hat die Drogenmafia mit ihrem Personal und ihren Ressourcen eine Schlüsselrolle in diesem Projekt gespielt.
Diese Zusammenhänge sind jetzt öffentlich geworden, weil solche Verbindungen immer instabil, immer von gegenseitigem Misstrauen geprägt sind. Es hat Verrat gegeben und mittlerweile sitzen mehr als 20 Abgeordnete der Regierungskoalition im Gefängnis – und das obwohl die Justiz in Kolumbien wirklich käuflich ist! Der Kommandant des paramilitärischen Dachverbandes AUC, Salvatore Mancuso, hat hochrangige Militärs als Hintermänner benannt und sogar Francisco Santos, den Vizepräsidenten Kolumbiens, belastet. Santos, der von europäischen Regierungen gern als „Verteidiger der Menschenrechte“ bezeichnet wird und eine Organisation von Entführungsopfern leitet, habe ihn, so Mancuso, aufgefordert, auch in Bogotá stehende AUC-Verbände aufzubauen.
Der Paramilitarismus war und ist also eine Strategie der Eliten zur Kontrolle Kolumbiens.

Aber wenn Richter Paramilitärs ins Gefängnis stecken, kann man doch nicht von „dem Staat“ reden…

Staat ist natürlich auch in Kolumbien nichts Homogenes. Gesellschaftliche Konflikte spiegeln sich – in verzerrter Form – auch im Staat wider. Vielleicht könnte man es so beschreiben: Eine führende Gruppe der Eliten hat die Gründung des Paramilitarismus in den Achtziger Jahren vorangetrieben, um eine erstarkende Opposition – aus sozialen Bewegungen, Linksparteien und Guerilla – zurückzudrängen.
Ein Staat, der in Schwierigkeiten steckt, verhängt normalerweise den Ausnahmezustand. Das Recht wird also suspendiert, damit der Rechtsstaat mit nicht-rechtsstaatlichen Mitteln durchgesetzt werden kann. Oft werden solche Ausnahmezustände durch einen Putsch herbeigeführt, der den Staatsapparat vereinheitlicht.
In Kolumbien ist zwar auch ganz formal viel mit Ausnahmezustand regiert worden. Doch noch wichtiger ist die Tatsache, dass durch den Paramilitarismus inoffizielle, regionale Ausnahmezustände etabliert worden sind. Die Bekämpfung von Oppositionellen – und zwar nicht in erster Linie der Guerilla, sondern der sozialen Bewegungen – wurde in die Hände von illegalen, faktisch von den Staatsorganen jedoch gedeckten und unterstützten, Gruppen gelegt.

Welche Vorteile hat es denn, die Bekämpfung von Aufständischen in die Hände paramilitärischer Gruppen zu legen?

Der Vorteil liegt auf der Hand: Die politischen Kosten des Ausnahmezustands sind hoch. Man denke nur an Chile: Die Inhaftierung und Ermordung von einigen tausend Oppositionellen hat dem chilenischen Staat das Image eines Verbrecherregimes beschert. In Kolumbien sind in den vergangenen 25 Jahren sehr viel mehr Menschen ermordet worden, als während der Militärdiktatur in Chile. Die kolumbianische Regierung ist dadurch politisch jedoch nicht geschwächt worden. Im Gegenteil kann sie sich als Opfer der Gewalt von rechts und links präsentieren. Der Plan Colombia wurde sogar mit den Massakern des Paramilitarismus legitimiert. Diese Massaker wurden als Beleg für den Verfall des Gewaltmonopols herangezogen. Dabei haben die Streitkräfte, die vom Plan Colombia profitieren, diese Massaker bis auf wenige Ausnahmen immer gedeckt.
Aus diesem Grund wäre es im kolumbianischen Fall auch verhängnisvoll, die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols zu unterstützen. Kolumbien braucht in erster Linie Recht und nicht Gesetz, gesellschaftliche Gerechtigkeit und nicht Staat.

Du behauptest, der Paramilitarismus habe den Staat gestärkt. Aber die AUC haben doch dessen Gewaltmonopol noch weiter geschwächt.

Der Paramilitarismus hat die Gesellschaft verändert. Man kann das ein wenig mit einem normalen Ausnahmezustand vergleichen. Der Ausnahmezustand stärkt die Sicherheitsapparate und dadurch kommt es zu einer Verschiebung im Staat selbst. So ähnlich ist es auch mit dem Paramilitarismus. Wie ein schleichender Militärputsch hat er die autoritäre Rechte gestärkt und damit den klassischen Staat mit Gewaltenteilung und professioneller Bürokratie, von dem bei Max Weber die Rede ist, unterhöhlt.

Glaubst du, dass der gegenwärtige Politskandal weitergehende Folgen für den Krieg in Kolumbien haben wird?

Ich befürchte, dass wir den Skandal im Ausland überbewerten. Für uns sieht es ja fast schon so aus, als würde das Uribe-Regime kollabieren. Freunde in Kolumbien sehen das anders. Sie sind der Meinung, dass Uribe von dem Skandal profitiert. Er erscheint als derjenige, der den Paramilitarismus ins Gefängnis gebracht hat und arbeitet weiter an Strafbefreiung für seine bisherigen Weggefährten.

Uribe hat die AUC-Paramilitärs demobilisiert. Was ist davon zu halten?

Es ist ein Umbau. Die Paramilitärs sind keineswegs demobilisiert. Die AUC haben sich zwar offiziell aufgelöst, aber in den Regionen, wo Todesschwadronen benötigt werden, haben sich neue Gruppen formiert.
In anderen Landesteilen ist der Paramilitarismus zu subtileren Formen der Kontrolle übergegangen. In Urabá beispielsweise muss die Ultrarechte nicht mehr bewaffnet patroullieren. Die widerständigen Bauernorganisationen sind zerschlagen, die Gewerkschaft kooptiert, die Bevölkerung ist teilweise regelrecht ausgetauscht. Durch die Durchsetzung exportorientierter Entwicklungskonzepte – beispielsweise zur Ausbeutung von Bodenschätzen und zum großflächigen Anbau von Bananen, Ölpalmen und Schnittblumen – sind neue Sozialstrukturen und Abhängigkeiten entstanden.
Man darf nicht unterschätzen, welch bleibende Wirkung solche Terrorregime entfalten. Man denke nur an Deutschland, wo der NS die Gesellschaft noch Jahrzehnte nach seiner Niederlage stark geprägt hat. In Guatemala lässt sich beobachten, dass die Gebiete, die am stärksten unter der Militärdiktatur litten, heute zu den Bastionen der autoritären Rechten zählen.
Ich habe den Eindruck, dass der Paramilitarismus in Kolumbien militärisch „zurückgebaut“ worden ist. Die sozialen, politischen und ökonomischen Strukturen, die er etablierte, sind jedoch intakt und dienen als Fundament von Uribes neuer Staatlichkeit. Dazu kommt außerdem, dass die Gesetze im Rahmen des Demobilisierungsprogramms Justicia y Paz die Legalisierung geraubten Eigentums und eine weitgehende Straffreiheit für schwerste Kriegsverbrechen ermöglichen.

Uribe will den Krieg weiterhin mit militärischen Mitteln gewinnen. Wie lange wird er es sich noch leisten können auf Verhandlungen zu verzichten?

Mit Uribe wird es in Kolumbien keinen Friedensprozess geben. Die FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens, Anm. d. Red.) haben in dieser Hinsicht eine eindeutige Position. Und dass die ELN (Nationale Befreiungsarmee, Anm. d. Red.) mit ihm verhandelt, würde ich als Bemühung interpretieren, die Isolation zu durchbrechen und mit der gesellschaftlichen Linken ins Gespräch zu treten. Die ELN fordert als Gegenleistung für einen Waffenstillstand das Einfrieren des Freihandelsabkommens mit den USA. Das ist eine Forderung der Massenbewegung.
Wie lange sich die kolumbianische Rechte die Kriegsoption noch leisten kann, hängt von zwei Faktoren ab: Von der Unterstützung der USA, die möglicherweise im Zusammenhang mit dem Parapolitik-Skandal etwas zurückgehen könnte. Und von der Stärke der Opposition im Land selbst – und zwar sowohl der zivilen als auch der bewaffneten. Und da gibt es einerseits Ermutigendes: Gegen die Bildungsreform haben eine Million Menschen gestreikt, die Regierung hat wegen der Proteste die Universitäten schließen lassen. Und auch die Guerilla ist alles andere als geschlagen. Ihre militärische Stärke gehört zu den größten Problemen Uribes und wird die Eliten irgendwann wieder an einen Verhandlungstisch zwingen. Andererseits ist diese Perspektive auch wieder gar nicht ermutigend, denn das politische Projekt der FARC ist alles andere als emanzipatorisch. Ob bei Verhandlungen zwischen Staat und FARC etwas herauskäme, das auch den Menschen nützt, wäre also leider keineswegs sicher.

Im Westen nichts Neues

Der mexikanische Präsident Vicente Fox offenbarte auf dem Gipfel von Mar del Plata Schwierigkeiten mit dem Zählen. Als glühender Befürworter des gesamtamerikanischen Handelspaktes ALCA bilanzierte er: „Wir sind in der Mehrheit, nur drei oder vier Staaten sind nicht einverstanden!“ Was Fox nicht erwähnte: Diese Staaten, nämlich Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Venezuela, produzieren drei Viertel des Bruttoinlandsprodukts in Südamerika, und nach den Wahlen im Dezember könnte sich Bolivien als sechstes Land dem Bunde der ALCA-Gegner anschließen. Fox übersieht, dass in Südamerika nicht mehr der neoliberale Wind der 90er Jahre weht. Dennoch gibt es neben Kolumbien einen weiteren treuen Verbündeten der USA auf der südlichen Hälfte des Kontinents: Peru.
In der peruanischen Regierung steht an der Seite von Präsident Alejandro Toledo vor allem ein Mann dafür ein, dass es im Westen des Subkontinents nichts Neues gibt: Regierungschef Pedro Pablo Kuczynski, kurz PPK genannt. Kuczynski, der auch die US-Staatsbürgerschaft besitzt, gilt als Wirtschaftsexperte der Regierung. Als ehemaliger Topmanager großer Minen und Stromkonzerne, Vorstand diverser Betriebe und Ex-Direktor im Bankgewerbe besitzt er aus Unternehmersicht glänzende Referenzen. Aber offenbar auch aus Sicht der Politik. So berief der frühere Präsident Fernando Belaúnde den Lobbyisten der Minenindustrie 1980 als Bergbau- und Energieminister erstmals in eine Regierung. Und Alejandro Toledo, der fast monatlich seine MinisterInnen austauscht, vertraute Kuczynski schon zweimal die Führung des Wirtschafts- und Finanzministeriums an. Mit der Beförderung Kuczynskis zum Ministerpräsidenten im Juli stellte Toledo im letzten Jahr seiner Amtszeit unmissverständlich klar: Der seit 1990 anhaltende neoliberale Wirtschaftskurs wird beibehalten.

Sparen in goldenen Zeiten

Dabei wäre der Moment für ein Umlenken günstig. Die peruanische Wirtschaft wächst seit über fünfzig Monaten ununterbrochen. Nach 4,2 Prozent Wachstum im letzten Jahr werden für 2005 sogar 5,8 Prozent erwartet. Das Land verdankt diese wunderbaren Zahlen in erster Linie der Exportindustrie, vor allem dem Bergbau. Die Minenindustrie konnte ihren Produktionswert zwischen 1992 und 2004 verdreifachen, ihr Exportvolumen liegt inzwischen bei 6,8 Milliarden US-Dollar jährlich. Das ist mehr als die Hälfte aller Exporte. Doch gleichzeitig bieten die transnationalen Konzerne, die im Lande Gold, Kupfer, Blei oder Quecksilber abbauen, nur etwa 80.000 Menschen unmittelbar einen Arbeitsplatz. Deshalb hat die große Mehrheit der Bevölkerung vom rasanten Wachstum des Bruttoinlandsprodukts nichts gespürt. Im Gegenteil: Selbst in der Hauptstadt Lima sind die durchschnittlichen Reallöhne der Bevölkerung nach Auskunft des Wirtschaftswissenschaftlers Jürgen Schuldt in den letzten drei Jahren gesunken. Die Arbeitslosenquote bleibt unverändert hoch, und die Zahl der an der Armutsgrenze lebenden Menschen ist seit der Amtsübernahme Toledos sogar um 380.000 gestiegen.
Der Wirtschaftsboom hat erst recht keine Auswirkungen auf die Ausgabenpolitik der Regierung. Denn der Wirtschaftsexperte Kuczynski hat seinem Kabinett einen rigiden Sparkurs auferlegt. Die Wahlversprechen seines Präsidenten, der die Ausgaben im Bildungssektor auf sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöhen wollte, stören den Ministerpräsidenten wenig. So schraubte er den Bildungsetat auf 3,1 Prozent zurück und kürzte ihn bei der Haushaltsplanung 2006 um fast 10 Prozent gegenüber 2005. Ungeachtet eines chronischen Defizits im Gesundheitsetat von rund 200 Millionen US-Dollar, setzte Kuczynski in diesem Ressort ebenfalls den Rotstift an. Das wird sich vermutlich auch auf das staatliche Gesundheitsprogramm SIS (Sistema Integral de Salud) auswirken, mit dem vor allem die ärmeren Bevölkerungsschichten versorgt werden.
Während Berater und hohe Beamte in den Ministerien Gehälter im Bereich von monatlich 8.500 US-Dollar verdienen, beziehen LehrerInnen, ProfessorInnen oder PolizistInnen zum Teil weniger als drei Prozent dieses Betrages. Präsident Toledos Versprechen aus dem Wahlkampf, die Gehälter der LehrerInnen bis zum Ende seiner Amtsperiode zu verdoppeln, ist längst vergessen. Die zwangsläufigen Folgen: Immer mehr Eltern schicken trotz hoher Kosten ihre Kinder auf eine Privatschule, talentierte WissenschaftlerInnen wandern scharenweise ins Ausland ab, und die Polizei bleibt korrupt. Nur wenn staatliche Angestellte streiken, wenn die Krankenversorgung in Gefahr ist oder die Schule ausfällt, schickt Kuczynski seine MinisterInnen zum Verhandeln, damit die Gehälterzuwächse so gering wie möglich ausfallen.

Vorwurf der Terrorismusförderung

Toledo und Kuczynski ist es mit ihrem Sparkurs gelungen, die Inflationsrate gering zu halten. Dennoch sind die Tarife für Telefon und Strom in Peru höher als irgendwo sonst in Südamerika. Die Gas- und Benzinpreise steigen wie überall, obwohl das Land selbst über Gas- und Ölvorkommen verfügt. Aber die Regierung plant, die Gasvorkommen aus dem Ort Camisea in der Region Cusco gewinnbringend in das südliche Nachbarland Chile umzuleiten, statt das eigene Land preisgünstig zu versorgen. Vor allem für die ärmere Bevölkerung werden auch die Auswirkungen des Handelsvertrages TLC (Tratado de Libre Comercio) mit den USA verheerend sein, den die peruanische Regierung demnächst gemeinsam mit Kolumbien und Ecuador unterzeichnen will. Einer Schätzung des Gesundheitsministeriums zufolge werden sich beispielsweise die Preise der Arzneimittel aufgrund der dann festgeschriebenen Patentrechte bei Medikamenten verdoppeln. Das Landwirtschaftsministerium hat leider noch keine Untersuchung darüber angestellt, wie sich die Einkommen von Dorfgemeinschaften oder einzelner Agrarsektoren entwickeln werden, die demnächst die zollfreie Konkurrenz von – möglicherweise subventionierten – US-Agrarprodukten zu fürchten haben. Doch die Regierung will den Vertrag um jeden Preis möglichst schnell unterzeichnen – notfalls auch ohne das zögerliche Ecuador. Die Kritiker des Abkommens sind für Handelsminister Ferrero schlicht Förderer von Terrorismus und Drogenhandel.

Die Wege des Geldes

Der sparsame Kuczynski braucht sein Geld für andere Ausgaben. Zum Beispiel für den Schuldendienst, der mit 25 Prozent des Staatshaushalts das Doppelte des Gesundheitsetats ausmacht. Hinzu kommt die mehr als zweifelhafte Rettungsaktion der maroden Bank Wiese, die 1999 vermutlich mit betrügerischer Absicht vom damaligen Diktator Fujimori beschlossen wurde und die den Fiskus im nächsten Jahr noch einmal 300 Millionen US-Dollar kosten wird. Allein 400 Millionen US-Dollar hat Kuczynski als Garantien veranschlagt, um die KonzessionärInnen privatisierter staatlicher Unternehmen vor Verlusten zu schützen. Offenbar will sich der Premier beeilen, in der ihm noch verbleibenden Zeit das letzte staatliche Tafelsilber abzustoßen. Gegen die beabsichtigte Privatisierung von Teilen des größten peruanischen Hafens in Callao gab es kürzlich bereits massive Proteste. Aber auch der Verkauf der Reste des bereits zerstückelten staatlichen Ölkonzerns Petroperú und der Wasserversorgung steht zur Debatte.
Den großen Bergbaukonzernen macht Kuczynski dagegen Steuergeschenke. Der Premier lässt ganz schlicht ein Steuergesetz unbeachtet, das erst vor zwei Jahren verabschiedet wurde und der Bergbaubranche eine Art Ressourcensteuer (regalías) für die verbrauchten Rohstoffe auferlegt. Die betroffenen Betriebe weigerten sich zunächst zu zahlen und klagten vor dem Verfassungsgericht. Doch obwohl dessen RichterInnen unlängst die Rechtmäßigkeit des Gesetzes bestätigten, gehen dem Staat Hunderte Millionen von Dollar verloren, weil die Regierung das Geld nicht einfordert. Ist erst einmal der Handelsvertrag mit den USA unterzeichnet, wird es für die Bergbaukonzerne noch komfortabler. Sollte die Regierung dann versuchen, Reparationen aufgrund von Umweltschäden zu reklamieren, so werden die Minenkonzerne internationale Schiedsgerichte anrufen können.
Insgesamt ist der Steueranteil am Bruttoinlandsprodukt in Peru deutlich geringer als in den Nachbarländern oder in Europa. Doch die Regierung macht nicht die geringsten Anstalten, mittels einer dringend nötigen Einkommenssteuerreform am Wirtschaftswachstum zu partizipieren. Hoch ist in Peru nur die Mehrwertsteuer, die bei 19 Prozent liegt.
Die Aussichten auf eine grundsätzliche Änderung der Wirtschaftspolitik nach der Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr sind gering. Denn in allen Umfragen führt bislang mit großem Vorsprung die konservative Kandidatin Lourdes Flores von der Unidad Nacional (UN). Flores trat schon bei den letzten Wahlen an und verpasste hinter Alejandro Toledo und dem Ex-Präsidenten Alan García nur knapp die Stichwahl. Aus der Niederlage hat sie offenbar gelernt und sich angeschaut, mit welchen Rezepten Präsident Toledo die letzten Wahlen gewann. So spricht sie von einer Bildungsreform und einer Verbesserung des Gesundheitssystems, ohne zu sagen, wie das finanziert werden soll. Im Zweifelsfalle legt sie sich einfach nicht fest. Über eine Steuerreform schweigt sie sich ebenso aus wie über die strikte Anwendung des Gesetzes zur Rohstoffsteuer. Dafür hat Flores neben den Unternehmensverbänden auch die Medien klar auf ihrer Seite. Die machen bereits mit Schlagzeilen und Prognosen wie „Lourdes ist schon Präsidentin“ oder „Lourdes hat bereits gewonnen“ auf. An zweiter Stelle in den Umfragen liegt zur Zeit Alan García, der Mann, der als Präsident in den 80er Jahren mit einer Rekordinflation von 7.800 Prozent einen wirtschaftlichen Scherbenhaufen hinterließ und damit den Weg zur Diktatur Fujimoris ebnete.
Wie es einem Präsidenten ergeht, der seine Versprechen nicht einhält, ist Alan García bekannt. Lourdes Flores kann das am Beispiel Alejandro Toledos studieren. Dessen Partei Perú Posible droht bei den Wahlen an der neu eingeführten Vierprozentklausel zu scheitern. Der voraussichtliche Kandidat der Partei, Toledos aktueller Vizepräsident David Waisman, wird in den Umfragen nur mit 1,7 Prozent gehandelt.

Zwischen Regierungsmacht und sozialen Bewegungen

Wie beurteilen Sie das Verhältnis zwischen der Bewegung zum Sozialismus und den sozialen Bewegungen? Unterstützt die MAS die aktuellen sozialen Proteste gegen die Erhöhung der Brennstoffpreise und die Privatisierung des Wassers in den Großstädten El Alto und La Paz?

Wir unterstützen diese Proteste ohne Einschränkungen. Wenn es darum geht, Druck auf die Regierung auszuüben, koordiniert sich die politische Leitung der MAS nach wie vor mit den sozialen Bewegungen. Aber unser Ziel ist es, bei den allgemeinen Wahlen 2007 an die Regierung zu kommen. Und in den städtischen Gegenden ist die MAS gegenüber den bürgerlichen Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen weniger einflussreich. Deshalb versuchen wir, die urbane Mittelschicht zu erreichen.

Der MAS wird von VertreterInnen sozialer Organisationen und Gewerkschaften vorgeworfen, sie stehe der Übergangsregierung von Carlos Mesa bereits näher als den sozialen Bewegungen.

Natürlich haben wir Verbindungen zur Regierung. Dort setzen wir uns für eine Politik ein, die der Bevölkerung zugute kommt und die Souveränität und Selbstbestimmung des bolivianischen Staates gegenüber den transnationalen Unternehmen und externen Akteuren begünstigt, die das Land unter Druck setzen. So haben wir uns beispielsweise für einen Gesetzesentwurf stark gemacht, der dem Staat gegenüber den ausländischen Konzernen mehr Einfluss bei der Förderung und Vermarktung der fossilen Brennstoffe ermöglicht.

Geht diese Politik der MAS auf Kosten der Sympathie der sozialen Bewegungen?

In vielen Fällen stehen die sozialen Bewegungen hinter uns, wenn wir mit der Regierung zusammen arbeiten, wie beispielsweise in der Frage um die Legalisierung des Kokaanbaus in der Region Chapare. Im Oktober des vergangenen Jahres erreichten wir ein Abkommen zwischen den Organisationen der Kokabauern und der Regierung, das erstmals eine legale Anbaufläche für Koka vorsieht und eine Entkriminalisierung der Kokabauern bedeutet. Aber ich gebe zu, dass die sozialen Bewegungen in anderen Fällen die Zusammenarbeit der MAS mit der Regierung kritisiert haben.

So sind bereits Stimmen laut geworden, die der MAS und insbesondere Evo Morales Verrat vorwerfen. Welches Gewicht hat diese Kritik?

Der Wahlerfolg der MAS bei den Kommunalwahlen im vergangenen Dezember zeigt, dass wir trotz kritischer Stimmen nicht an Popularität bei den sozialen Bewegungen eingebüßt haben. Im Gegenteil. Einer der wichtigsten Kritiker der MAS ist Roberto de la Cruz von der Regionalen Arbeiterzentrale COR in El Alto. Sein politischer Einfluss in der Stadt ist nicht zu unterschätzen. Trotzdem erhielt er dort weniger Stimmen als der Vertreter der MAS. Ein anderer Kritiker der MAS ist Felipe Quispe. Er vertritt die Vereinigung der Hochlandbauern CSTUB und zog nach den Wahlen 2002 für die indigenistische Partei MIP als Abgeordneter ins Parlament ein. Seither legt er jedoch eine höchst widersprüchliche Haltung an den Tag. Vergangenes Jahr ist er von seinem Posten als Abgeordneter zurück getreten. Er argumentierte, man müsse aus dem Schema der Parteipolitik ausbrechen und den Kampf in anderen Räumen und mit anderen Akteuren weiterführen. Trotzdem trat auch er zu den Kommunalwahlen an, die ja ebenfalls ein politisches Verfahren der bürgerlichen Demokratie sind. Seine Partei gewann jedoch nur in einem einzigen Bezirk im Departement von La Paz. Die Kritiker der MAS aus den Reihen der sozialen Bewegungen sind also entweder regionale Kräfte, wie die COR und die Vereinigung der Hochlandbauern, oder es sind radikale Vertreter von trotzkistischen Gruppen, die nur eine sehr marginale Bedeutung haben.

Bei den Kommunalwahlen im Dezember hat die MAS zwei Drittel der Sitze erzielt und ist damit die stärkste politische Kraft in den Gemeinden. Was bedeutet der Erfolg der MAS bei den Kommunalwahlen für die Wahlen 2007?

Wir haben die bürgerlichen und neoliberalen Parteien aus den lokalen Regierungen verdrängt. Das bedeutet, dass wir ihre Macht beschneiden konnten, aber noch nicht, dass wir sie entmachtet haben. Das ist nun unsere Herausforderung. Wir sehen zwei wichtige Aufgaben auf uns zukommen: Erstens wollen wir eine weitere Dezentralisierung der Entscheidungsverfahren und mehr Möglichkeiten der Partizipation für die Bevölkerung erreichen. Und zweitens müssen wir daran arbeiten, von der öffentlichen Meinung als ernsthafte politische Option anerkannt zu werden – insbesondere von der Mittelschicht.

Zum ersten Mal durften neben den normalen Parteien auch Bürgerinitiativen und indigene Gruppen zur Wahl antreten. Wie hat sich diese gesetzliche Neuerung ausgewirkt?

Mit diesen Wahlen haben die traditionellen Parteien ihr Monopol auf politische Repräsentation offenkundig verloren. Zivile Organisationen mit sozialer Basis wie zum Beispiel die der Minenarbeiter, Landarbeiter oder indigenen Gruppen waren sehr erfolgreich mit ihren Kandidaturen. Da es sich hier um eine Kommunalwahl handelt, haben viele dieser der MAS nahe stehenden Gruppierungen alleine kandidiert. Bei nationalen Wahlen wäre dies anders. Für die Wahlen 2007 arbeiten wir daran, diese Bürgerinitiativen und indigenen Organisationen in der MAS zu bündeln.
Die veränderte Situation führte gleichzeitig auch zu einer Umorientierung vieler Politiker der traditionellen Parteien. Manche Politiker haben für die Wahlen ihre Partei verlassen, eine Bürgerinitiative auf dem Papier gegründet und dann für diese kandidiert, um die Wahlen trotz des Legitimitätsverlust der traditionellen Parteien zu gewinnen. Damit haben sie allerdings wenig Erfolg gehabt.

Im Juli diesen Jahres wird die Verfassungsgebende Versammlung zusammentreten, die ein Jahr lang tagen und eine neue Verfassung erarbeiten soll. Was ist die historische Dimension dieses Ereignisses?

Seit der Staatsgründung 1825 wird Bolivien von Kreolen und Mestizen regiert und repräsentiert. Die große Mehrheit des bolivianischen Volkes ist bis heute von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossen: die Aymaras, die Quechuas oder besser gesagt die ausgebeuteten Klassen insgesamt, unter ihnen auch die Frauen. Genau deswegen hat die Protestbewegung die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung gefordert, um dem Land unter Mitbestimmung aller sozialen Sektoren und unterschiedlichen Kulturen eine neue Verfassung zu geben, ohne irgendjemanden auszuschließen. Es ist aber nicht nur wichtig, wie der Verfassungstext lauten wird, sondern auch, welche Partei danach an die Macht kommen wird, um diesen Text eher links oder rechts auszulegen. Darum ist es so wichtig, dass MAS die Wahlen 2007 gewinnt.

Welches sind die wichtigsten Themen, die auf der Versammlung diskutiert werden?

Zwei Aspekte sind von zentraler Bedeutung. Zum einen geht es um die politisch-administrative Struktur des Landes, die nach Auffassung der MAS aus drei Gründen mangelhaft ist. Erstens ist die Aufteilung in Verwaltungseinheiten gemacht worden, ohne die kulturelle Identität der Bewohner zu berücksichtigen. In vielen Fällen sind ethnische Gruppen in mehrere Verwaltungseinheiten aufgegliedert worden. Zweitens gibt es Gemeinden, die formal zu einem bestimmten Department gehören, aber in der Realität mit der Hauptstadt des Departments in keinerlei Kontakt stehen. So sind einige Gemeinden nicht einmal durch einen Weg oder eine Straße mit ihrer entsprechenden Hauptstadt verbunden, während eine andere Hauptstadt viel besser angebunden wäre. Ein drittes Problem ist das große Armutsgefälle und die sehr ungleichen Entwicklungsgrade zwischen Stadt und Land, die durch die jetzigen Mechanismen der Mittelzuwendungen eher zementiert als reduziert wird.
Das andere große Thema der Versammlung ist die Demokratie. In Bolivien wurde ein westliches Demokratiemodell gewaltsam eingeführt, ohne zu berücksichtigen, dass Bolivien ein multikulturelles, multiethnisches Land ist. In den verschiedenen Kulturen existieren unterschiedliche Formen der Demokratie: Es gibt die Konsensdemokratie, es gibt die Demokratie der Ämterrotation und auch die Erbschaftsdemokratie bei den Guaranís. Die nationalen Eliten haben das alles ignoriert und Wahlen und eine repräsentative Demokratie nach westlichem Vorbild eingeführt. Funktioniert hat das nicht. Die offiziellen staatlichen Autoritäten genießen auf lokaler Ebene viel weniger Respekt als die traditionellen Autoritäten wie zum Beispiel der jilakata oder der capitán grande. Wir fordern, dass künftig die verschiedenen, in Bolivien praktizierten Formen der Demokratie respektiert werden. Sie sollten unserer Meinung nach auf lokaler Ebene koexistieren können.

Sie haben eben von einer Erbschaftsdemokratie gesprochen. Ist das nicht ein Widerspruch in sich?

Nehmen wir zum Beispiel eine Guaraní-Gemeinde in der Chiquitanía in Santa Cruz. Dort ist es üblich, dass der Sohn des verstorbenen capitán grande sein Nachfolger wird. Das ist für die Gemeinde rechtens. Wenn wir ihnen jetzt vorschreiben, dass sie stattdessen eine Wahl durchführen müssen, zwingen wir ihnen ein Verständnis von Demokratie auf, dass von außen kommt und nichts mit ihren Gewohnheiten zu tun hat. Solange ihre spezifische Regierungsform für die Mitglieder der Guaraní-Gemeinde allgemein gültig ist, finden wir es verkehrt zu intervenieren und ihnen einen angeblich richtigeren oder demokratischeren Regierungsstil aufzudrücken. Das wurde in Bolivien viel zu lange getan.

Orientiert sich die MAS an anderen sozialrevolutionären Projekten wie Venezuela oder Kuba?

Das Parteiprogramm der MAS stimmt in vieler, vor allem aber in makroökonomischer Hinsicht mit der kubanischen oder venezolanischen Politik überein. Wir wollen eine Wirtschaft, die den Menschen nutzt, nicht dem Kapital.
Der Unterschied zu Kuba oder Venezuela ist, dass wir einen Sozialismus mit eigener Identität entwickeln möchten. Anders als in Kuba oder Venezuela gibt es in Bolivien 36 Ethnien. Der indígena-Anteil liegt in Bolivien bei 62 Prozent. Wir wollen nicht nur soziale Gerechtigkeit zwischen den Menschen schaffen, sondern auch ein Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur. Die andine Weltsicht, dass der Mensch ein Teil und nicht Herrscher der Mutter Erde ist, ist ein wichtiger ideologischer Pfeiler der MAS. Wir müssen auch den kreolischen Monokulturalismus in der Bildung überwinden. Dazu gehört nicht nur die Einführung von bilingualem Unterricht in den Schulen, wie er im Rahmen einer Bildungsreform gerade vorangetrieben wird, sondern auch eine Vermittlung der Inhalte der indigenen Kulturen. In der Grundschule lernen die Kinder die Bedeutung der bolivianischen Flagge, aber nicht die Bedeutung der Wiphala, der Flagge der Aymaras. Im Geschichtsunterricht lernen sie, wer Simón Bolívar und Sucre waren, aber sie lernen nichts über die Helden der Aymaras und Quechuas, die die Kämpfe gegen die spanische Krone und die Kolonialherren anführten.

Die Kultur des Schweigens überwinden

Mehr als 30 Jahre nach dem Militärputsch in Chile gibt es noch immer keine von staatlichen Institutionen unterstützte Erinnerungsarbeit. Erst in diesem Jahr wurde das ehemalige Folterzentrum „Villa Grimaldi“ als öffentlicher Erinnerungsort anerkannt und eine pädagogische Begleitung der BesucherInnengruppen konzipiert. Auch die Medien verweigern weiterhin die Erinnerung an die Diktatur, was zur Folge hat, dass sich bis 2003 kaum eine breitere öffentliche Debatte über die jüngere Geschichte entwickeln konnte. Erst durch die Gedenkfeiern „30 Jahre Militärputsch“ im letzten Jahr konnte die Kultur des Schweigens durchbrochen werden. Seither ist die Diskussion nicht mehr abgebrochen. Dennoch ist die Zahl derer, die sich mit der Vergangenheit auseinandersetzten immer noch klein. Die Menschenrechtsgruppen, die die Erinnerungsarbeit vorangetrieben haben, werden noch immer als parteilich, linkslastig stigmatisiert und kämpfen heute um ihr Überleben. Und das alles, obwohl die Archive der Akten über Menschenrechtsverletzungen von der UNESCO im Jahre 2003 zum Weltkulturerbe erklärt wurden. Diese Akten waren von acht chilenischen Organisationen über Jahrzehnte zusammengetragen worden. (siehe auch das Interview mit Paz Rojas auf Seite 51.)

Kurze Vorgeschichte

1997 wurde dem Paulo Freire Institut in Berlin der Auftrag erteilt, für das chilenische Erziehungsministerium ein innovatives Curriculum für die Fortbildung chilenischer LehrerInnen zu entwerfen. In den Jahren 1997-2002 wurden nach und nach 100 chilenische LehrerInnen in 5-8-wöchigen Kursen in Berlin ausgebildet. Das Thema „Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte“ musste in den ersten Jahren unter dem Titel „Deutsche Bildungsgeschichte“ firmieren. Erst durch die Reaktionen der zurückgekehrten chilenischen LehrerInnen wurde deutlich, wie wichtig die Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit ist, um demokratische Bildungskultur zu fördern. Eine Verbindung wurde hergestellt zwischen der deutschen Gedenkstättenpädagogik und der Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen in Chile.
Auch bei den Berliner LehrerInnen, an deren Schulen die ChilenInnen ihre Praktika gemacht hatten, entstand ein großes Interesse, die Schulwirklichkeit ihrer Gäste näher kennen zu lernen. Darum koordiniert das Paulo Freire Institut den Austausch seit 1998 beidseitig. Jährlich macht sich eine Gruppe von 12 bis 15 deutschen LehrerInnen auf den Weg, um in Chile von der Bildungsreform zu lernen und sich mit Bildung und Schule unter Armuts- und Globalisierungsbedingungen auseinander zu setzen.
In den vergangenen sieben Jahren der Bildungsarbeit in Chile und Deutschland hat sich gezeigt, dass die KursteilnehmerInnen dem Thema Erinnerungsarbeit eine wachsende Bedeutung beimessen. Fragen entstehen, nach dem eigenen Selbstverständnis, nach der Verstrickung in die Geschichte oder nach der sich verändernden LehrerInnenrolle angesichts von Exklusion und Globalisierung. Eine Auseinandersetzung mit der ethischen Grundlage von Bildung und Demokratie wurde möglich.
Die Erinnerungsarbeit beschränkt sich nicht nur auf eine Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus. Das Ziel ist vielmehr eine kritische Reflexion der Vergangenheit im Hinblick auf eine wünschenswerte Zukunft. Durch die Dialektik von „Erinnerung braucht Zukunft. Zukunft braucht Erinnerung“ werden von den TeilnehmerInnen Fragen des eigenen Engagements und eigener Sehnsüchte angesprochen. Jeder Kurs besuchte die Gedenkstätte ‚Haus der Wannsee-Konferenz’, setzte sich mit der Aufarbeitung gewaltvoller Vergangenheit in Ost und West auseinander und näherte sich speziell in Buchenwald mit Hilfe einer konstruktivistischen Methodik der Geschichte an, die sich nicht einfach, sondern komplex und ambivalent darstellt. Themen waren auch die beiden Geschichten Buchenwalds, die des ehemaligen Konzentrationslagers und die des sowjetischen Speziallagers, und die staatlich verordnete Erinnerungskultur der DDR in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung. Dies führte oft zu Verunsicherungen bzw. ‚Verständigungsproblemen’, weil das herkömmliche Konzept von Geschichte als chronologischer Aufeinanderfolge von Ereignissen nicht mehr zutraf.
Da es in der chilenischen Geschichtsaufbearbeitung keinen vergleichbaren ambivalenten Erfahrungshintergrund gab, der zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit herausfordert, kam es bei vielen chilenischen KollegInnen zu einer Abwehr beziehungsweise zu einer deutlichen Identifizierung mit der einen oder der anderen Seite. In Deutschland ist eine mehrperspektivische, dekonstruktivistische Annäherung an Geschichte im Rahmen der Gedenkstättenpädagogik erst 50 Jahre nach Kriegsende möglich geworden. Ganz ähnlich zeigte sich bei den chilenischen Gästen häufig, dass die Annäherung an die eigene Geschichte zu schmerzhaft ist, zumal die „Vergangenheit“ erst 10 bis 20 Jahre zurückliegt. Aus Angst erneut mit der Gewalt konfrontiert zu werden, zogen es manche KollegInnen vor, zu verdrängen oder zu schweigen.

Kultur der Erinnerung

Heute weiß man, dass Erinnerungen nicht nur psychologische Phänomene sind, sie werden vielmehr entscheidend von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und der politischen Kultur geprägt. Letztere werden in Chile heute immer noch durch die fortwährende Straflosigkeit und die Kultur des Schweigens der politisch Verantwortlichen charakterisiert. Bis auf wenige Ausnahmen hat der Staat die Menschenrechtsorganisationen allein gelassen und die Strafverfolgung der Täter behindert. Die Verteidigung der Menschenrechte musste weit gehend von der Zivilgesellschaft getragen werden. Die Angehörigenorganisationen ringen noch immer um die gesellschaftliche Anerkennung der erlittenen Gewalt und haben bis heute keine Lobby für eine Strafverfolgung der Täter. Aus der Defensive heraus haben die Betroffenen oftmals ihre Blickrichtung auf die Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit gerichtet und sich auf die Anklage des persönlichen Leides reduziert. Gesellschaftliche Ursachen der Gewalt, deren Folgen sowie die Verbindung zu aktuellen Fragen der Gesellschaft, insbesondere der Jugendlichen, wurden oft vernachlässigt. Zu diesem Prozess, die Kontinuitäten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu leugnen, trugen die Massenmedien in ganz entscheidendem Maße bei. Auch heute ist eine Wende in absehbarer Zeit nicht in Sicht, denn noch immer sind alle chilenischen Tageszeitungen in Händen der militärfreundlichen Eliten.
Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die chilenischen KursteilnehmerInnen kaum eine Distanz zu ihrer jüngeren Geschichte haben. Erst durch die Anregungen in den Seminaren in Wannsee und Buchenwald begannen sie, ihre Selbstzensur aufzugeben, Erinnerungen zuzulassen und auszusprechen. Erst hier gelang es ihnen, die Komplexität und Ambivalenz der gesellschaftlichen Verhältnisse und ihre persönliche Verstricktheit zu erkennen. Sie mussten erst von zuhause weggehen, um einen neuen Blick auf sich selber und das eigene Land zu erhalten.

Von Chile lernen

Ähnliche Erkenntnis, wenn auch mit anderen Vorzeichen, machten viele deutsche KollegInnen bei ihren Begegnungen in chilenischen Schulen und mit dortigen Menschenrechtsgruppen. In gemeinsamen Workshops mit chilenischen KollegInnen, erfuhren sie Grenzen und Möglichkeiten partizipativen Arbeitens in interkulturellen Zusammenhängen. Am Beispiel der Mapuche wurde einmal mehr klar, wie notwendig es ist, den Lebenshintergrund der SchülerInnen in den Unterricht einzubeziehen: „Die zweisprachigen Unterrichtsmodelle für Mapuche-Kinder bleiben Lippenbekenntnisse, wenn nicht die Vertreibung und strukturelle Diskriminierung des Mapuche-Volkes mitthematisiert wird. Ansonsten werden die Kinder Opfer der unverarbeiteten Leiden der Eltern.“ Indem die KollegInnen aus einer anderen Perspektive über sich und ihre Arbeit reflektieren konnten und gleichzeitig in vielen Gesprächen die Differenzen zwischen Ost- und Westerfahrungen verglichen, wurde deutlich, wie der Schulalltag und seine Anforderungen das Denken konditioniert und pragmatisch reduziert. In den Seminaren entstand durch inhaltlich-biographische Gespräche ein geschützter Raum. Durch das gegenseitige Zuhören entstand eine vertrauensvolle Atmosphäre und auf beiden Seiten wurden Ängste abgebaut. Erst in dieser Vertrauensatmosphäre konnte beispielsweise die Witwe eines ermordeten Arztes ihre Einsamkeit beschreiben, die sie als Angehörige einer Opfergruppe stets gespürt habe, sich aber nicht erklären konnte: “Opfer, wenn sie denn überlebt hatten, wurden von der Gesellschaft gemieden, keiner interessierte sich für ihr Leid. Erst durch die Gespräche in Anwesenheit der Deutschen wurde mir bewusst, dass die Abwehr der Menschen in meiner Umwelt nicht mir persönlich galt, sondern in der Begegnung mit dem „Anderen“ dem Opfer lag.“ Durch Erinnerungs- und Menschenrechtsarbeit kann es wieder zur Verständigung und Begegnung zwischen dem Opfer und der Welt kommen.

Ausblick

Die Begegnungen in Chile mit Menschenrechts- und Angehörigenorganisationen von politisch Verfolgten oder Verschwundenen machen deutlich, wie notwendig die Rolle von politisch nicht festgelegten ‚Katalysatoren’ sein kann, um das Schweigen zu brechen. Die Erfahrungen des Austausches zeigen die Schwierigkeiten auf, die mit der Annäherung an die jüngere Geschichte einhergehen. So stehen die GedenkstättenpädagogInnen in Deutschland und viele ‚Memoria’-Ansätze in Chile in der Gefahr, die Vergangenheit nach eigenem Geschichtsbild und politischen Interessen festzuschreiben und hierbei nicht die Kontinuitäten in der Gegenwart sowie Zukunftshoffnungen zu reflektieren. Die thematische Einschränkung der Gedenkstätte ‚Haus der Wannsee-Konferenz’ auf den Antisemitismus und die jüdische Verfolgung, ohne dabei Bezug zu nehmen auf aktuelle Formen des Antisemitismus und Rassismus, die Fixierung auf die deutsche Aufarbeitung in Buchenwald und die geringe Auseinandersetzung mit Ansätzen der Menschenrechtsverletzung in anderen Ländern sind ein Ausdruck davon, dass auch 60 Jahre nach Auschwitz eine Begegnung mit den Opfern in einer offenen, zukunftsorientierten Wirklichkeit schwierig ist. Zwar ist es verständlich, dass sich jede Gedenkstätte dem Ort und dessen spezifischen Formen der Menschenrechtsverletzungen verpflichtet fühlt, dieses sollte jedoch nicht zur Begrenzung auf eine bestimmte Opfergruppe führen, geschweige denn die Debatte der aktuellen Fragen von Gewalt und Zukunft verhindern.
Um sich mit der gewaltvollen Vergangenheit einer Gesellschaft auseinanderzusetzen, bedarf es Strategien, die helfen, über den eigenen Tellerrand zu schauen. Der Einsatz von ‚Katalysatoren’ aus anderen Gesellschaften/Ländern kann einen hilfreichen Zugang darstellen. Pure Vergleiche von totalitären und diktatorischen Systemen, in denen es nur um die Aufrechnung der Gewalt geht, reichen nicht aus, sondern verstellen das Denken. Stattdessen müssen Strukturen von Ausgrenzung, Unsichtbarmachung und Diskriminierung in der jeweiligen Kultur und dem spezifischen historischen Kontext benannt werden. Es geht nicht um Analogien, sondern um die Schaffung der strukturellen und pädagogischen Voraussetzungen für eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der jüngeren Vergangenheit. Erinnerungsarbeit und Menschenrechtsarbeit gehören eng zusammen. Wenn es gelingt, auf die Gemeinsamkeiten und die Bezüge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu schauen, können ethnozentrische Begrenzungen transparent werden. „Erinnerung braucht Zukunft. Zukunft braucht Erinnerung.“

Kasten:

„Erinnerung braucht Zukunft. Zukunft braucht Erinnerung“

Unter diesem Titel führte das Paulo Freire Institut in Kooperation mit dem chilenischen Erziehungsministerium vom 6. bis 10. August 2004 in Concepción ein internationales Seminar durch. KunstlehrerInnen, GeschichtslehrerInnen und MitarbeiterInnen von Ministerien der Region Bio Bio sowie BäuerInnen aus Valdivia (Südchile) nahmen daran teil. Ziel war, chilenischen LehrerInnen und Nichtregierungsorganisationen (NGO) eine Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Geschichte mittels biographischer Methoden zu vermitteln, um so das seit der Diktatur fortwährende Schweigen über die Gewalt in der jüngeren Geschichte zu brechen. Im Rahmen des Seminars haben am dritten Tag die KursteilnehmerInnen eine Spurensuche vor Ort gemacht:
Eine der Seminarteilnehmerinnen war in ihre ehemalige Grundschule gegangen, wo sie sich vor 30 Jahren während der Diktatur angstvoll abgewandt hatte, als ein gefolterter Lehrer an die Schule zurückgekehrt war, sichtbar gezeichnet von Brandwunden und körperlicher Gewaltanwendung. Da sie damals geschwiegen hatte – sie ist die Tochter eines Polizisten und Pinochetunterstützers – hatte sie heute das Bedürfnis, die Atmosphäre ihrer Schule wahrzunehmen, um festzustellen, ob sich seitdem etwas geändert habe. Als sie am Schulgebäude ankam, war der Unterricht bereits im vollen Gange, so dass sie ungestört durch die leeren Flure gehen konnte. Es herrschte eine ‚ganz normale Stimmung’ von Ruhe und Ordnung, so wie damals auch. Die Stille um sie herum kannte sie nur zu gut von ihrer eigenen Schule. Sie wurde und wird autoritär von den LehrerInnnen hergestellt, die sich angesichts der überfüllten Klassenräume nicht anders zu helfen wissen, als den SchülerInnen mit scharfen Disziplinarmaßnahmen zu drohen. Ein demokratisches Miteinander von LehrerInnen und SchülerInnen gibt es in Chile auch heute kaum.
Es war diese Totenstille, die bei der Kollegin die Erinnerungen von damals wachriefen. Wie mag es dem gefolterten Lehrer wohl ergangen sein? Was war aus ihm geworden? Wie wird es ihm heute im Chile der allgemeinen Straflosigkeit gehen? Immer mehr Fragen rasten der Kollegin durch den Kopf, so dass sie voller Beklemmung zum Schulsekretariat ging, um nach dem Namen des Kollegen zu forschen. Sie erfuhr, dass der Lehrer noch immer an der Schule unterrichtete und in seinem letzten Jahr vor der Pensionierung stünde. Er sei im benachbarten Klassenraum zu finden.
Mit wachsendem Herzklopfen ging die Kollegin zu der besagten Klasse und wartete das Pausenzeichen ab. 30 Jahre sind eine lange Zeit. Was könnte sie ihrem alten Lehrer sagen? Würde er es verstehen, wenn sie ihn auf die damalige Zeit anspräche? Könnte sie ihm vermitteln, wie sehr sie die Tatsache belastet habe, damals geschwiegen zu haben? Als sie ihm kurz darauf gegenüberstand und sie sich gegenseitig erkannten, waren alle Bedenken vergessen. Von den Erinnerungen übermannt, erzählten sie sich, wie die gewaltvolle Vergangenheit auch heute noch ihr Leben bestimmte. Endlich konnte die Schülerin von damals ihrem Lehrer sagen, dass sie seinerzeit aus Angst geschwiegen habe und dass sie, heute Mutter von fünf Kindern, sich bemühe, die Kultur des Schweigens zu überwinden. Viele Jahre habe sie die Erinnerung an das Grauen erfolgreich verdrängt, habe sich um die Familie gekümmert und sei Lehrerin in einem Elendsviertel in Talca geworden. Erst vor zwei Jahren, als sie im Rahmen einer internationalen LehrerInnenfortbildung für fünf Wochen in Deutschland war, sei ihr, 16.000 Kilometer entfernt von Chile, in Buchenwald, zum ersten Mal bewusst geworden, dass sie selber Teil dieser Kultur des Schweigens sei. Wie die meisten ihrer chilenischen KollegInnen habe auch sie strikt vermieden, mit ihren SchülerInnen über die Diktaturzeit Chiles zu sprechen. Seitdem engagiere sie sich für Erinnerungsarbeit und habe seit zwei Jahren mit einer Gruppe von Gewerkschaftsfrauen in Talca eine Forschung begonnen, um SchülerInnen und LehrerInnen zu befragen, wie schulische Bildung und ethische Fragen im Hinblick auf die jüngste Vergangenheit zu verbinden seien. Mehr zu sagen blieb die Zeit nicht, denn das Pausenzeichen unterbrach ihr Gespräch schroff und der Lehrer musste wieder in den Unterricht zurück. Sie konnten nur noch die Adressen austauschen und sich versprechen, sich bald einmal zu besuchen und sich zukünftig gegenseitig zu unterstützten.

(Ilse Schimpf-Herken ist zusammen mit Ingrid Jung Herausgeberin des Buches „Das Fremde als Chance. Wie entstehen Lernprozesse?“; IKO-Verlag für interkulturelle Kommunikation)

Dehnübungen vor dem Endspurt

Über dieses Thema werde ich nicht sprechen“, antwortet der Vorsitzende des linken Parteienbündnisses Frente Amplio (FA) Tabaré Vázquez während eines Aufenthalts in der Provinzhauptstadt Minas Cecilia Manzione, als sie ihn um ein Gespräch über seine Bildungspolitik bittet. Die Lehrerin und langjährige Aktivistin wollte von ihm wissen, ob er nach einem Wahlsieg bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober bereit sei, eine von der FA abgelehnte Bildungsreform der konservativen Vorgängerregierung rückgängig zu machen. Derart abgewiesen, wendet sie sich an Tabarés Begleiter Pepe Mujica. Der war in den 60er Jahren Mitbegründer der uruguayischen Stadtguerrillabewegung Tupamaros, in den 70ern Gefangener der Militärdiktatur und in den 90ern als erster Ex-Guerrillero der FA Abgeordneter im Parlament. Heute ist er Senator, Liebling der Massen und Medienstar. „Die da oben werden schon wissen, was sie tun“, ist Mujicas Antwort. Cecilia Manzione ist enttäuscht. Seit vielen Jahren wählt sie Mujicas Organisation, die Movimiento de Participación Popular (MPP), die einst als Linksaußen der FA galt und inzwischen zum stärksten Sektor innerhalb des breiten Bündnisses avanciert ist. Der Erfolg der MPP beruht vor allem auf der Popularität Mujicas. Denn der genießt den Ruf, keine Rücksicht auf angebliche Sachzwänge der Politik zu nehmen und immer ein offenes Ohr für die Belange der Basis zu haben. Doch selbst bei der ehemaligen Fundamentalopposition sorgt die greifbar nahe erscheinende Regierungsübernahme für neue Töne.

Ein Land wartet auf den Wechsel
Uruguay hat sich bereits seit einiger Zeit auf einen Wechsel eingestellt. Knapp sechs Monate vor den Präsidentschaftswahlen im Oktober zweifelt niemand mehr ernsthaft daran, dass die Frente Amplio in diesem Jahr die nur durch eine Militärdiktatur (1973-1985) unterbrochene Herrschaft der beiden traditionellen Parteien, Partido Colorado (Colorados, PC) und Partido Nacional (Blancos, PN), beenden wird. Bereits beim letzten Urnengang 1999 hatte die FA mit 40 Prozent die Mehrheit der Stimmen im ersten Wahlgang auf sich vereinen können. Durch eine kurz zuvor beschlossene Verfassungsreform war jedoch ein Stichwahlsystem eingeführt worden, welches es Colorados und Blancos ermöglichte, in der zweiten Runde einen Sieg der Linken zu verhindern, indem sie gemeinsam den Präsidentschaftskandidaten Jorge Batlle (PC) unterstützten. Heute gilt ein Sieg der FA in der ersten Runde der Wahlen nicht mehr als ausgeschlossen: in den Umfragen liegt die Partei zwischen 50 und 60 Prozent. Die Regierung von Batlle ist weitestgehend diskreditiert. Die vergangenen vier Jahre an der Macht waren durch eine verheerende Bankenkrise im Jahr 2002, interne Streitigkeiten, Korruptionsskandale, verschiedene peinliche Auftritte des alternden Präsidenten und zunehmende Isolierung im von Lula und Kirchner dominierten Mercosur geprägt. Auch die Blancos konnten sich troz ihres Ausstiegs aus der Regierungskoalition im Jahr 2002 nicht von ihrem Image als Repräsentanten des alten Systems befreien.
Im Juni stehen in Uruguay die so genannten internas an, in denen alle Parteien in einer offenen landesweiten Abstimmung ihre Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen bestimmen. Bereits jetzt stehen zwei der drei wesentlichen Konkurrenten für die diesjährigen Wahlen so gut wie fest. Nachdem Danilo Astori von der Asamblea Uruguay – dem reformistischsten Sektor innerhalb des breiten politischen Spektrums, das die FA unter ihrem Dach vereint – angekündigt hat, dass er angesichts der zu erwartenden Niederlage nicht antreten wird, steht einer erneuten Kandidatur von Tabaré Vázquez nichts mehr im Wege.

Wer traut sich gegen Tabaré?
Für die Colorados wird nicht wie erwartet der ehemalige Präsident Julio María Sanguinetti (1985-1990 und 1995-2000) antreten. Ende vergangenen Jahres hatte er sich vor einem Referendum über die Zukunft des staatlichen Brennstoffunternehmens ANCAP für dessen Privatisierung stark gemacht, die mit großer Mehrheit abgelehnt wurde. Der Ausgang des Referendums wurde nicht nur als richtungsweisender Triumph der FA, die als einzige der großen Parteien gegen eine Privatisierung war, sondern auch als persönliche Niederlage Sanguinettis gewertet. Die Parteistrategen haben wohl registriert, dass sein polemisierender antikommunistischer Diskurs, der in altbewährter Manier das Schreckgespenst eines drohenden totalitären Regimes bei einer Machtübernahme der FA bedient, nicht mehr der Stimmung in der Bevölkerung entspricht. Aus diesen Gründen wird der Kandidat der Colorados aller Voraussicht nach der jetzige Innenminister Guillermo Stirling sein. Der ist weitaus gemäßigter und integrativer als der Ex-Präsident. Bis jetzt hat kein weiterer Colorado-Politiker Ansprüche angemeldet, die undankbare Aufgabe zu übernehmen.
Bei den Blancos ist das Rennen noch nicht entschieden. Auch in dieser Partei könnte es zu einer Überraschung kommen. Das Vorhaben des Partei-Patriarchen Luis Alberto Lacalle, der zwischen 1990 und 1995 Präsident war, erneut für seine Partei zu kandidieren, ist in Gefahr. Der jüngere, vorteilhafterweise an keiner vorherigen Regierung beteiligte Senator Jorge Larrañaga wird von einem großen Teil der Parteiprominenz unterstützt und hat gute Chancen, die internas für sich zu entscheiden. Larrañaga produziert sich als Erneuerer und pflegt eine oppositionelle Rhetorik, die die Mitverantwortung der Blancos für die gegenwärtige Krise vergessen machen soll. In Bezug auf die Sozialpolitik und die Stärkung der nationalen Produktion ähneln seine Positionen teilweise denen der Linken.
Sollten sich also nach den Colorados auch die Blancos an Stelle eines ehemaligen Präsidenten für einen Kandidaten der Mitte entscheiden, so wird der FA ihre Wahlkampfstrategie ändern müssen, die darauf ausgerichtet war, Tabaré Vázquez als linken Hoffnungsträger zwei verbrauchten Figuren der uruguayischen Rechten gegenüberzustellen. Der Sieg von Tabaré ist jedoch selbst unter diesen Bedingungen nicht wirklich in Gefahr.

Kröten schlucken oder untergehen
Innerhalb der Linken ist aus der Hoffnung, 33 Jahre nach der Gründung der Frente Amplio endlich den Machtwechsel herbeizuführen, bereits eine Gewissheit geworden. Die internen Auseinandersetzungen um Posten und Prinzipien sind bereits in vollem Gange. Selbst Mujica und seine MPP, die in der Vergangenheit als vehementeste Gegner von Zugeständnissen an die herrschende Gesellschaftsordnung galten, ordnen mittlerweile ihre Programmatik dem strategischen Ziel des Regierungswechsels unter. Die Nachfolgeorganisation der Movimiento de Liberación Nacional/Tupamaros (MLN/T) passt sich diesem Trend nicht nur an, sondern übernimmt durch ihre ideologische Öffnung eine Vorreiterrolle, die alte Genossen schlucken lässt. Mujica erklärte kürzlich in einem Interview mit der Wochenzeitung Brecha die neue Strategie seiner Organisation: „Wir haben ein klares Motiv: Wir wollen im Oktober die Wahlen gewinnen. Wenn wir sie verlieren, bricht die Linke auseinander. Deswegen können wir nicht auf unseren revolutionären Positionen beharren und das Bürgertum verschrecken. Wir müssen alle Sektoren der Gesellschaft mit einbeziehen, auch wenn wir dabei die eine oder andere Kröte zu schlucken haben.“ Dieser neuen Orientierung entsprechend hat die MPP zu Beginn des Jahres den so genannten Espacio 609 gegründet – ein ideologisch offenes Auffangbecken für unabhängige Linke und enttäuschte Colorados und Blancos. Diese Organisation erschließt mit zunehmendem Erfolg neue Wählerschichten für die FA.

Der sozialistische Baum
Leicht fällt es den Basismitgliedern der MPP nicht, dem von ihrer Ikone eingeschlagenen Weg in die Mitte und an die Macht zu folgen. Doch die Mehrheit steht weiter hinter Mujica.
Hebert Clavijo, in den 60er und 70er Jahren Führungsmitglied der Tupamaros in Minas und lange Jahre politischer Gefangener, ist heute im Basiskomitee der MPP aktiv. Er wird nachdenklich bei der Frage, ob seine Organisation ihre revolutionäre Identität dem übergeordneten Ziel des Wahlsiegs geopfert habe.
Doch dann greift er zu Papier und Stift und skizziert einen Baum. Die Wurzeln sollen die MLN/T symbolisieren, die Baumkrone steht für den neu gegründeten Espacio 609. Sie besteht aus vielen Blättern, den neu gewonnenen Verbündeten von Colorados und Blancos. Den Baumstamm als verbindendes Element zwischen den beiden Ebenen soll die MPP darstellen.
Clavijo erläutert: „Der gemeinsame Ausgangspunkt ist für alle Teile des Baumes das Ziel der nationalen Befreiung von Ausbeutung und ausländischer Dominaz. Dort holen wir die neu gewonnenen Mitstreiter ab, denen wir in der Zusammenarbeit unser marxistisches Denken nahe bringen. Dann beschreiten wir gemeinsam den Weg zum Sozialismus. Um dieses Projekt zu verwirklichen, müssen wir die Wahlen gewinnen.“ So einfach ist der Weg zu einer Gesellschaft ohne Ausbeuter und Ausgebeutete.
Doch auch Clavijo merkt man sein Unwohlsein über den atemberaubenden Wandel der MPP an, die in Abkehr von basisdemokratischen Prinzipien den Verlautbarungen ihres Vorsitzenden Mujica hinterher galoppiert. Bereits sechs Monate vor der Wahl plagen die Frente Amplio die Probleme aller emanzipatorischen Bewegungen, die innerhalb des vorgegebenen institutionellen Rahmens die herrschenden Verhältnisse grundlegend verändern wollen.
Pepe Mujica und die MPP, Tabaré Vázquez und die FA machen sich schon jetzt daran, den von Lula vorgeführten Spagat zwischen ökonomischen Sachzwängen und ideologischen Überzeugungen einzustudieren. Das Vorbild im Norden zeigt, wie schmerzhaft eine solche Dehnübung werden kann.

„Zu viel Blut ist geflossen, Aristide muss weg“

Die Straßen rund um den pittoresken Eisenmarkt im Stadt-zentrum von Port-au-Prince wirken im Vergleich zu der drückenden und lärmenden Enge, die normalerweise hier herrscht, wie ausgestorben. Nur wenige tap-tap, die buntbemalten Busse, machen mit lautem Gehupe auf der Suche nach Passagieren auf sich aufmerksam. Banken und Geschäfte haben ihre Eisenrollos heruntergelassen. In der haitianischen Hauptstadt wurde der Generalstreik am 8. und 9. Januar weitgehend befolgt. Auch in anderen Städten des acht Millionen EinwohnerInnen zählenden Armenhauses Lateinamerikas war das öffentliche Leben weitgehend gelähmt. Mit dem zweitägigen landesweiten Ausstand wollte die Opposition den derzeitigen Staatspräsidenten Jean-Bertrand Aristide aus dem Amt zwingen.
Nur wenige Gehminuten vom Marché du Fer, auf dem Champs du Mars, dem Marsfeld, patrouillieren derweil schwer bewaffnete Polizeieinheiten. Der Präsidentenpalast, den Aristide erst am 7. Februar 2006, nach dem offiziellen Ende seiner Amtszeit verlassen will, ist hermetisch von Spezialeinheiten der Polizei abgeriegelt. Die Umgebung des weiß getünchten Palais mit der Freikuppel, die so sehr dem Capitol in Washington ähnelt, ist seit Anfang Dezember des Vorjahres beinahe täglich Ziel studentischer Demonstrationen. In den letzten vier Monaten sind mindestens 50 Personen bei Protesten gegen die Regierung des früheren Salesianerpriesters umgekommen.
Die studentischen Forderungen nach einer Bildungsreform aus dem Dezember sind längst verstummt, seit Aristide-AnhängerInnen auf die friedlichen Proteste mit brutaler Gewalt reagierten. Die im Volksmund Chimères (Schimären) genannten stürmten das Universitätsgelände, steckten Fakultätsgebäude in Brand und verwüsteten Vorlesungssäle. Fünf Studenten starben bei den Gewaltakten, Dutzende wurden zum Teil schwer verletzt. Dem Rektor der Universität, Pierre Pacquiot, zertrümmerten die Schimären mit Eisenstangen beide Beine. Seitdem skandieren die StudentInnen im Stadtzentrum fast täglich in der Landessprache Kreol „trop sang coulé, fok Aristide alé“ – „Zu viel Blut ist geflossen, Aristide muss weg.“ Vier MinisterInnen legten aus Protest gegen das brutale Vorgehen der Aristide-Anhänger gegen die StudentInnen ihr Amt nieder.

Haiti am Rande des Bürgerkriegs?
200 Jahre nach der Befreiung von der französischen Kolonialmacht steht die erste freie Republik Lateinamerikas am Rande eines Bürgerkrieges. In Gonaïves, in der am 1. Januar 1804 die Unabhängigkeit ausgerufen wurde, „regiert“ inzwischen eine Anti-Aristide-Front, die sich seit September immer wieder blutige Gefechte mit der Polizei liefert. Als Staatschef Aristide zusammen mit dem südafrikanischen Amtskollegen Thabo Mbeki am Neujahrstag zu den offiziellen Gedenkfeiern anreiste, wurde die Fahrzeugkarawane unter Gewehrfeuer genommen. Nach nur einer halben Stunde suchte Aristide mit seinem Staatsgast das Weite. Im Bergland nahe der Grenze zur Dominikanischen Republik, hat sich eine Guerillatruppe etabliert. Die aus Ex-Militärs rekrutierte „Armee ohne Mutter“ erregt seit knapp einem Jahr immer wieder durch brutale Überfälle Aufsehen, bei denen vornehmlich Regierungsangestellte regelrecht massakriert werden. Zusätzlich wächst das Bündniss aus der Convergence Démocratique und der aus Nichtregierungsorganisationen bestehenden „Groupe 184“ und fordert bei Demonstrationen und Mahnwachen den Rücktritt von Aristide.

Vom Hoffnungsträger zum Gewaltherrscher
Vor vierzehn Jahren war Jean-Bertrand Aristide noch der Hoffnungsträger des Landes. Lavalas nannte er seine Partei, in Kreol bedeutet dies Erdrutsch oder Lawine. Mit seiner Losung „Frieden im Geist und im Magen“, überzeugte er vor allem die Besitzlosen in den Bidonvilles, den Armenvierteln der Städte und auf dem Land, die ihren Hunger stillen und – ein weiteres Versprechen – „in Würde“ leben wollten. Der Anhänger der Befreiungstheologie verbuchte mit zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen einen wahren Erdrutschsieg.
Neun Monate später war „Titid“, der kleine Aristide, wie er von seinen AnhängerInnen liebevoll genannt wird, aus dem Amt geputscht. Als der ehemalige Salesianerpriester 1994 aus dem Exil mit US-amerikanischer Truppenunterstützung zurückkehrte, agierte er nach der Devise, wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Kritiker erlebten die geballte Volkswut der militanten Aristide-Anhänger, zahlreiche Oppositionelle wurden ermordet. Die Liste der Anschuldigen gegen Staatspräsident Aristide ist lang: Das Land sei Dreh- und Angelpunkt der internationalen Drogenhandels, die Korruption innerhalb der Verwaltung offensichtlich und internationale Hilfsgelder seien in private Taschen geflossen.
Während sich Aristide, wie seine Kritiker behaupten, längst zum reichsten Mannes des Landes gemausert habe, sucht der ehemalige Armenpriester die Schuldigen der wirtschaftlichen Misere in ausländischen Mächten. „Ihr habt die gleiche Hauptfarbe, die gleichen kleinkrausen Haare wie ich“, rief „Titid“ Bauern im Norden des Landes zu, „wenn sie den Willen des Volkes nicht akzeptieren, dann hat das damit zu tun, dass sie viele Vorurteile gegen euch haben. Es gibt kein Komplott gegen den Präsidenten Aristide, sondern gegen das haitianische Volk, das sie nicht mögen.“
Der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich hat Aristide vor drei Monaten die Rechnung aufgemacht. Die Unabhängigkeit vor 200 Jahren musste sich die junge Nation teuer erkaufen. 90 Millionen Goldfranken erhielten die Siedler aus dem alten Kontinent als Entschädigung, nach heutigem Umrechnungskurs rund 17 Milliarden Euro. Die Opposition sieht in der medienwirksam vorgetragen Wiedergutmachungsforderung lediglich eine Ablenkung von der wirtschaftlichen Situation des Landes und der Proteste gegen Aristide.

Kein Licht im „Land der Weisheit“
Die Lebenssituation der Armen hat sich seit dem Amtsantritt von Aristide wenig geändert. Die Preise für Grundnahrungsmittel haben sich zum Teil verdreifacht. Das durchschnittliche Monatseinkommen eines Haitianers beträgt nur umgerechnet rund 20 Euro. Fast 70 Prozent der Bevölkerung ist dennoch arbeitslos. Ohne die jährlichen Überweisungen der im Ausland lebenden etwa drei Millionen HaitianerInnen in Höhe von rund 600 Millionen US-Dollar könnten im Armenhaus Lateinamerikas die Menschen nicht mehr überleben.
Die Staatskasse ist leer. Das Land ist dringend auf Internationale Hilfsgelder und Kredite der Weltbank angewiesen, um Reformen zu finanzieren. Aber diese Gelder, rund 500 Millionen US-Dollar, sowie mehrere hundert Millionen Euro aus der Europäischen Union sind seit den Präsidentschaftswahlen im November 2000, bei der Aristide zum zweiten Mal kandidierte, eingefroren. Die Opposition boykottierte den von Manipulationsvorwürfen begleiteten Urnengang.
Bevor der 50-jährige Aristide am 12. Januar, drei Tage nach dem Generalstreik, zum Gipfeltreffen der amerikanischen Staatschefs in der mexikanischen Stadt Monterrey aufbrach, mahnte er die politischen Akteure im Lande, den Frieden zu wahren.
„Lasst Licht und Frieden überall im Land mit Weisheit scheinen“, wünschte der ehemalige römisch-katholische Priester den Zurückgebliebenen. Sein Wunsch blieb bisher unerhört – auf beiden Seiten. Wenige Stunden später griffen Schimären wieder die demonstrierenden StudentInnen mit Steinen an. In dem nördlich der Hauptstadt gelegenen Ort Miragoane wurde ein Sympathisant der Regierungspartei Fanmi-Lavalas, der Lavalas-Familie, bei einer Protestkundgebung der Opposition erschossen. Aus Rache übergossen daraufhin Parteigänger Aristides einen der Demonstranten mit Benzin und steckten ihn in Brand. Wenige Tage später zertrümmerten bewaffnete Männer mit Vorschlaghämmern und Macheten die Sendeanlagen von acht der Opposition nahe stehenden Radiosendern. Politische Kommentatoren fühlen sich inzwischen an das Jahr 1986 erinnert. Damals starben bei Protesten in Gonaïves zwei Studenten. Kurze Zeit später floh Diktator „Baby Doc“ aus dem „Land der Berge“ Richtung Frankreich.

Der lecke Ölhahn im Hinterhof

Dumm gelaufen. Mit einem auf das Herz Venezuelas konzentrierten Streik sollte Hugo Chávez zu einem schnellen Rücktritt getrieben werden. Aber auch acht Wochen massiv eingeschränkte Produktion der staatlichen Erdölgesellschaft PDVSA brachten den Präsidenten nicht zum Nachgeben. Und mit jedem Tag Ausstand mehr trifft die scharfe Waffe Erdöl nicht nur die venezolanische Wirtschaft und Gesellschaft, sondern eben auch den wichtigsten Verbündeten der Opposition, die USA. Die Hälfte des venezolanischen Erdöls fließt in normalen Zeiten in die Vereinigten Staaten und Chávez hatte seit seinem Amtsantritt 1998 immer alle Lieferverträge geradezu pedantisch erfüllt. Nur die Zeiten sind derzeit nicht normal, nicht in Venezuela und nicht in der Welt. Ausfälle, wie derzeit beim fünftgrößten Erdölexporteur der Welt werden in ruhigen Zeiten über die Organisation Erdöl exportierender Länder (OPEC) mehr oder weniger problemlos aufgefangen. Im Falle eines Kriegs gegen Irak indes käme der zeitgleiche Ausfall zweier wichtiger Lieferanten die Erdöl importierenden Länder über kräftige Preiserhöhungen teuer zu stehen – der Ölpreisanstieg in den letzten Wochen gibt einen Vorgeschmack davon. Ein unkalkulierbares Risiko für die dahindümpelnde Weltwirtschaft.
Fünf Millionen Barrel würden dem globalen Erdölmarkt täglich fehlen, wenn Venezuela und Irak gleichzeitig ausfallen würden. Kein Zweifel, dass in Washington gerechnet wird. Denn der bisherige Hauptersatzlieferant für das venezolanische Erdöl heißt ausgerechnet Irak. In Vorkriegszeiten eine zuverlässige Quelle, denn das Öl stammt aus dem vor sechs Jahren aufgenommen UNO-Programm „Öl für Lebensmittel“. Saddam Hussein ist außen vor. Seit Dezember haben die USA ihre Erdölimporte aus Irak bereits verdoppelt – mit steigender Tendenz. Ob die USA mit einem Irak-Feldzug warten müssen, bis die venezolanische Krise gelöst ist, wie der venezolanische Professor und Sicherheitsexperte Aníbal Romero mutmaßt, ist eher unwahrscheinlich. Doch wenn auch nicht militärisch, so wird ein Irak-Krieg wirtschaflich bei weitem riskanter, wenn der südamerikanische Hinterhof als zuverlässiger Öllieferant entfällt. Anders als im zweiten Weltkrieg, in der Nachkriegszeit, während der Eskalation des Nahostkonfliktes und im ersten Irak-Krieg 1991 ist Venezuela erstmals Teil des Problems und nicht mehr Teil der Lösung. Und Bush junior weiß, dass sein Vater trotz gewonnenen Golfkriegs ein Jahr später wegen der Konjunkturkrise in den USA von den Wählern schmählich aus dem Amt getrieben wurde. Die Strategen im Weißen Haus haben inzwischen die Venezuelakrise ins Kriegskalkül einbezogen. Das zeigt sich schon daran, dass die noch im Dezember erhobene Forderung nach nicht verfassungsgemäßen vorgezogenen Neuwahlen von den USA wieder zurückgenommen wurde – im Gegensatz zur venezoelanischen Opposition. Die USA rudern moderat zurück und sprechen sich für eine verfassungsgemäße Lösung aus, wie auch Vermittler Jimmy Carter und der brasilianische Präsident Lula, der die Gruppe der Freunde Venezuelas (Brasilien, Mexiko, Chile, USA, Spanien, Portugal) auf die Bahn brachte.
Hugo Chávez pochte übrigens von Anfang an auf eine Verfassung, die unter anderem die schon seit Oktober auf dem Plaza Francia offen opponierenden Teile des Militärs vor Strafverfolgung schützt. Unter der alten Verfassung wäre das so undenkbar wie ein Referendum gewesen. Gegen ein Referendum ab August 2003 hatte Chávez nie einen Einwand, und warum die Opposition keine sechs Monate warten kann, bleibt ihr Geheimnis. Nach einer Niederlage bei einem verfassungsgemäßen Referendum wäre dem Präsidenten sogar eine neue Kandidatur verwehrt. Nicht so bei vorgezogenen Neuwahlen. Die Opposition steht nun im Abseits, zumal das Oberste Gericht in Sachen Referendum für die Position von Chávez entschieden hat. Der Generalstreik hat keine Zukunft mehr. Wieviel Zukunft die boliviarianische Revolution von Hugo Chávez hat, steht auf einem anderen Blatt. Sein Projekt steht schon spätetestens seit dem Putsch im April auf dünnem Fundament. Und bei aller berechtigten Kritik an seinem autokratischen Regierungstil: Chávez hat als erster Staatspräsident des Landes die Staatsmacht für die Armen eingesetzt, ob mit dem Fischereigesetz, einer Land- und Bildungsreform. An der Armut der Massen hat dies freilich kaum etwas geändert. Für ein breiteres Fundament muss Chávez den kooperationsbereiten Teil der Eliten und Mittelschicht gewinnen. Bisher hat er ihn verprellt – leider.

“Einsturzgefahr!“

Ende Oktober 1999 ging das linke Bündnis Encuentro Progresista-Frente Amplio (EP-FA) mit 39, 5 Prozent der Stimmen erstmals als stärkste Partei aus den nationalen Wahlen hervor. Tabaré Vázquez, ehemaliger Bürgermeister von Montevideo und Präsidentschaftskandidat der EP-FA, hatte gute Chancen auch die Stichwahlen vom 28. November desselben Jahres zu gewinnen. Doch ein Bündnis des zweitplatzierten Kandidaten der Liberalen Colorado-Partei Jorge Batlle mit den deutlich unterlegenen konservativen “Blancas” verhinderte schließlich einen Wahlsieg der Linken und Batlle wurde zum neuen Präsidenten Uruguays gewählt.
Ein Jahr später hält eine massive Streik- und Protestwelle, getragen von SchülerInnen und Studierenden, das Land in Atem. Es geht den Protestierenden nicht etwa um eine weitergehende Erhöhung des Bildungsbudgets auf die von der UNESCO empfohlenen 6 Prozent, sondern schlicht und einfach um die Einhaltung der von der Regierung eingegangenen Verpflichtungen. Der Zustand der Schulen und die allgemeinen Lernbedingungen sind miserabel. Die Proteste nahmen ihren Anfang, als am 29. August in Montevideo das Liceo Zorrilla von SekundarschülerInnen besetzt wurde. Sie forderten außer den erwähnten 4,5 Prozent die Zurücknahme einer Reihe von neuen Schulgesetzen, die unter anderem ein verschärftes Verhaltensreglement sowie die Einschränkung der Versammlungsfreiheit der SchülerInnen beinhalten. Im Oktober 2000 folgten weitere Schulbesetzungen in der Hauptstadt und erstmals auch im Landesinneren. Und am 24. Oktober schloss sich die zentrale Vertretung der StudentInnen der staatlichen Universidad de la República den Protesten an. Der unbefristete Generalstreik wurde beschlossen und mehrere Institute besetzt.

Neue Formen des Widerstandes

Der November war geprägt von einer Ausweitung der Aktionen auf die großen Gewerkschaften Uruguays. Unter dem Motto “Alle für die Universität” gingen Mitglieder der Universitäten, StudentInnen und SchülerInnen zusammen mit GewerkschafterInnen, ArbeiterInnen und PolitikerInnen im Rahmen einer Massendemonstration auf die Straße. Der Dachverband der Gewerkschaften PIT-CNT führte am 10. November einen Generalstreik durch, und bis jetzt ist ein Ende der Protestaktionen nicht absehbar.
Der seit fast drei Monaten andauernde Konflikt beschäftigt die uruguayanische Öffentlichkeit nicht nur wegen seiner dramatischen Ausweitung, sondern auch wegen des Auftretens völlig neuer Formen des Widerstandes. Die Bewegung der SchülerInnen des Jahres 2000 hebt sich von den altbekannten Organisationsformen des StudentInnenprotestes in grundlegenden Fragen deutlich ab. Große Teile der etablierten Gesellschaft reagieren mit Ratlosigkeit und Unverständnis auf eine neue Generation von Jugendlichen, die die hierarchische Ausrichtung der Erwachsenenwelt prinzipiell in Frage stellt.
Der Soziologe Gustavo Leal beobachtet seit einigen Jahren das Verhältnis zwischen SchülerInnen und Behörden. Er arbeitet bei der Nichtregierungsorganisation El Abrojo und ist außerdem Berater des Interamerikanischen Institutes des Kindes. Leal spricht in seiner Analyse der Vorkommnisse bewusst nicht von einer Schülerbewegung, sondern von „SchülerInnen in Bewegung“, und meint damit die Vielfalt der gestellten Forderungen. Jede einzelne Schule definiert ihre eigene Plattform und bewahrt trotz der notwendigen Koordination mit den anderen Instituten ein großes Maß an Autonomie. Diesen Wechsel von dem Modell einer zentralisierten Führungsebene zu den weitaus horizontaleren Organisationsformen der neuen Jugendbewegung führt der Soziologe auf die politische Entwicklung der letzten 15 Jahre zurück.
Die StudentInnenbewegung der 60er Jahre hatte auf einige wenige Schlüsselfiguren gesetzt, die eine bestimmte Haltung repräsentierten. Nach dem Ende der Militärdiktatur in Uruguay im Jahr 1985 bis zum Anfang der 90er Jahre hatte dieses Modell der starken Führungspersönlichkeiten, die als Identifikationsfiguren für die Massen zu dienen hatten, in den sozialen Bewegungen seine maximale Ausprägung gefunden. Im Verlauf der 90-er Jahre hatten diese Organisationen jedoch verstärkt einen Verlust an Mitgliedern und politischem Gewicht zu verzeichnen. Viele lösten sich auf, was unter anderem auf den Untergang des sozialistischen Blockes nach dem Ende des kalten Krieges zurückzuführen ist.

Bruch mit alten Formen

Als Antwort auf diese Entwicklung kam dann ein verstärktes Streben nach mehr Demokratie und Autonomie, sowie eine größere Flexibilität in den Protestbewegungen. Dieser Bruch mit den alten Formen äußert sich vor allem in dem Prinzip der kollektiven Führung, welches die SchülerInnen praktizieren. Gustavo Leal vergleicht das Phänomen mit einer Rückkehr zu den griechischen Versammlungen, bei der die Mitsprache von unten das Hauptanliegen war. Es gibt weder allgemein akzeptierte Führungsgremien noch fest definierte VertreterInnen. Alles funktioniert nach den Regeln der Rotation. Die SprecherInnen, die die Verhandlungen mit den Behörden führen und der Presse gegenübertreten, wechseln täglich.
Die Weigerung der Jugendlichen der Forderung der Erwachsenen nach traditionellen Repräsentationsformen nachzukommen, verunsichert diese zutiefst. JournalistInnen und Beamte suchen vergeblich nach soliden Organisationen mit bekannten Gesichtern, so wie sie es von früher gewöhnt waren. Das führt zu einem akutem Kommunikationsproblem. Eine Gesellschaft, die auf neue Erscheinungen im Allgemeinen und die Jugend im Speziellen mit genereller Skepsis reagiert, ist mit Schülern konfrontiert, die gegenüber den Schulbehörden, den Medien und der Polizei tiefes Misstrauen empfinden.
Dieses Misstrauen hat viele Ursachen. Viele Aktivisten mussten schlechte Erfahrungen machen, nachdem sie ihre Identität bekannt gegeben hatten. Teil des reformierten Schulgesetzes ist die Einführung eines Strafkataloges, der die Bildung einer politischen Organisation und die Besetzung einer Schule als schwere Vergehen einstuft und entsprechend harte Sanktionen festschreibt. Politische Aktivität an der Schule kann sehr schnell Verweise und mehrmonatige Schulausschlüsse nach sich ziehen. Die mit der im Jahr 1996 verabschiedeten Bildungsreform eingeführten Gesetze sind Ausdruck einer autoritären Bildungspolitik, die vom ehemaligen Präsidenten Sanguinetti initiiert wurde und nun unter seinem Nachfolger und innerparteilichen Konkurrenten Batlle ihre Kontinuität findet. Der Bildungsminister Antonio Mercader vertritt im Umgang mit den Protestierenden die harte Linie, die seine Partei, die Blancos, in der Öffentlichkeit propagiert.
Journalisten sind in der Berichterstattung über die Proteste mit offener Feindseligkeit konfrontiert. Nur selten und ungerne werden Interviews gegeben. Man wirft der nationalen Presse mangelnde Objektivität und die systematische Verfälschung der von den Schülern gemachten Aussagen vor. Auch die Polizei hat bis jetzt weitgehend auf vertrauensbildende Maßnahmen verzichtet und sich auf die „filmische Dokumentation“ der Proteste konzentriert.
Diese Umstände brachten viele Jugendliche dazu, sich in der Öffentlichkeit nur noch vermummt zu zeigen, was einen weiteren Schrei der Empörung in der Erwachsenenwelt verursachte. Die Behörden verlangen zu wissen, mit wem sie sprechen, da sonst ein Dialog unmöglich sei, während die Schüler ihre Anonymität mit einem Mangel an Garantien für eine Nicht-Sanktionierung rechtfertigen.
Trotzdem beteuern sowohl Bildungsbehörden als auch die Regierung immer wieder ihr Verständnis und ihre Dialogbereitschaft. Selbst der Präsident sagt: „Mit den Schülern muss man reden.“ Auch das ist ein Novum: 1996 hatte es anlässlich der der anstehenden Bildungsreform ebenfalls zahlreiche Streiks und Schulbesetzungen gegeben. Damals war die Haltung der offiziellen Seite vollkommen kompromisslos, an einen Dialog war nicht einmal zu denken. Nach den ersten Besetzungen diesen Jahres wurde auf Initiative des Rates der Sekundarstufe eine Kommission einberufen, die zusammengesetzt aus Inspektoren, Lehrern und Schülern die Möglichkeiten einer eventuellen Änderung der umstrittenen Gesetze ausloten sollte. Jedoch bereits die Forderung der Schüler nach Beschlussfähigkeit der Kommission überspannte die Kompromissbereitschaft der Behörden und verhinderte von Anfang an die erhofften Verhandlungserfolge. Leal konstatiert hier im Vergleich zur Protestbewegung des Jahres 96 eine weitaus pragmatischere Ausrichtung der Schüler, die viel stärker auf konkrete Verhandlungsergebnisse fixiert seien.
Die breite Solidarisierung mit den Belangen der Sekundarschüler von Seiten der Studierenden und der Gewerkschaften ist auf den grundsätzlichen Charakter ihrer Forderungen zurückzuführen. Gustavo Leal verweist auf den Bruch der Konvention über die Rechte des Kindes, den die Beschneidung ihrer Meinungsfreiheit darstellt. Er fordert eine grundsätzliche Demokratisierung des Bildungssystems. Die Gewerkschaften nahmen die Auseinandersetzungen der letzten Wochen zum Anlass für eine Generalmobilisierung gegen die neoliberale Politik der neuen Regierung. Trotz völlig unterschiedlicher Geschichte und teilweise anderen Motiven verfügen auch StudentInnenbewegung und „SchülerInnen in Bewegung“ über eine gemeinsame Basis. Sie teilen die Forderung nach einer spürbaren Erhöhung des Bildungshaushaltes, der mit 2,9 Prozent des Bruttoinlandproduktes der niedrigste aller Länder Lateinamerikas ist. Der Ruf Uruguays als eine Hochburg der demokratischen Bildung ist damit längst nicht mehr gerechtfertigt.
Am 4. Dezember bestimmte eine Vielzahl von leuchtend gelben Bauhelmen das Bild von Montevideos zentraler Verkehrsader Avenida 18 de Julio. Hunderte Studenten hatten das Hauptgebäude der größten staatlichen Universität in eine riesige Baustelle verwandelt. Auf ihren Schildern stand: “Achtung, Einsturzgefahr!“

Der Autor dankt dem Instituto Cuesta Duarte, Montevideo, dessen Unterstützung bei der Recherche für den Beitrag unersetzlich war.

Schlauer Fox oder Luftikus?

Bill Clinton nannte Fox bei seinem Besuch in den USA einen Luftikus. Denn über dessen überraschenden Vorschlag, die Grenzen zwischen beiden Ländern zu öffnen und die Nafta zu einer Währungsunion zu erweitern, konnten seine nordamerikanischen Kollegen nur halb belustigt, halb empört den Kopf schütteln. Als mexikanische Journalisten daraufhin Fox‘ Rundreise als einen Reinfall bezeichneten, wurden sie von seinem Beauftragten für internationale Beziehungen Jorge Castañeda prompt als „ignorantes und schlecht informiertes Pack“ beschimpft, dem man sich „besser nicht anvertrauen sollte“. Diese Anekdote verrät zweierlei: erstens, dass sich Fox gerne überschätzt, und zweitens, dass die neuen Mächtigen des Landes eine fragwürdige Auffassung von Meinungs- und Pressefreiheit haben, die dem viel propagierten Beginn einer Ära der „Toleranz, Pluralität und Diversität“ widersprechen.

Repression und Diskriminierung

Vor allem auf regionaler Ebene ist von Toleranz heute weniger zu spüren denn je. Durch den Wahlsieg ermutigt, haben die Partei der Nationalen Aktion PAN und die ihr nahe stehenden erzkonservativen Kreise der katholischen Kirche wie Opus Dei, Legionäre Christi und Organisationen wie PROVIDA eine sexistische Kampagne gegen Homosexuelle und Frauen initiiert. Ausschlaggebend war eine Gesetzesänderung im nördlichen Bundesstaat Guanajuato Anfang August. Dort hatte die PAN-Mehrheit im Kongress beschlossen, Abtreibung auch im Falle einer Vergewaltigung mit bis zu acht Jahren Gefängnis zu bestrafen. Die Abtreibungsregelungen variieren in Mexiko von Bundesstaat zu Bundesstaat. Gegenwärtig gibt es drei Fälle in den Abtreibungen erlaubt sind: wenn die Gesundheit der Mutter oder des Embryos stark gefährdet ist, oder wenn die Frau vergewaltigt wurde. Guanajuato ist ausgerechnet der Bundesstaat, in dem Fox als Gouverneur Frauen das Tragen von Miniröcken in staatlichen Einrichtungen verboten hatte. Fox versichert nun zwar, die Abtreibungsregelung aus Guanajato nicht auf Bundesebene zu übernehmen, macht aber gleichzeitig deutlich, dass auch er für das „Recht auf Leben“ stehe.
Nachdem die Partei der Demokratischen Revolution PRD in Mexiko-Stadt den Bürgermeisterposten zwar wieder gewonnen, die Mehrheit im Abgeordnetenhaus aber an die PAN verloren hat, brachte die scheidende Bürgermeisterin Rosario Robles Ende August noch eine Gesetzesreform ein, die die legalen Gründe für einen Schwangerschaftsabbruch in Mexiko-Stadt erweitern. Prompt meldeten sich Abtreibungsgegner zu Wort. So sagte ein PAN-Politiker vor Journalisten, dass die Anzahl von zehn Frauen, die in Mexiko laut Statistiken wöchentlich durch illegalisierte und schlecht durchgeführte Abtreibungen stürben, nicht alarmierend sei. Seitens der katholischen Kirche wird den Frauen nahe gelegt, Vergewaltigungen durch dezentere Kleidung vorzubeugen. Für den Fall einer Abtreibung wird ihnen mit Exkommunikation gedroht.
Auch der Fall Paulinas, eines dreizehnjährigen Mädchens, das durch eine Vergewaltigung schwanger geworden war, ist bezeichnend. Hier waren es der PAN-Politiker Carlos Astorga, die Staatsanwaltschaft (PAN) und die Kirche in Baja California, die zusammen mit PROVIDA und den Ärzten des örtlichen Krankenhauses das Mädchen gegen ihren Willen und die geltenden Gesetze zwangen, das Kind auszutragen. Bevor der Fall in die Medien kam, wollte Fox Astorga in die Gesundheitskommision seiner Regierung aufnehmen. Davon musste er zwar abrücken, doch die PAN zeichnete kürzlich die Ärzte aus, die sich weigerten, die Abtreibung vorzunehmen.
Im Bundesstaat Aguascalientes sind es zur Zeit die Homosexuellen, die öffentlich diskriminiert werden. Dort hat ein Mitglied der örtlichen Regierung ein Schild an einem Schwimmbad anbringen lassen, das „Hunden und Homosexuellen“ den Zutritt verbietet.
Die Repression macht auch vor KünstlerInnen nicht Halt. In Guadalajara wurden vor kurzem dreizehn Bilder einer Ausstellung zum Thema Erotik zensiert. Nach landesweiten Protesten mussten die örtlichen Behörden die Bilder zwar wieder in die Ausstellung zurück bringen, eines der Kunstwerke wurde jedoch von zwei Jugendlichen wegen seines „Angriffs auf die Jungfrau von Guadalupe“ zerstört. Das Bußgeld, das ihnen auferlegt wurde, zahlte daraufhin ein Bischof.
Vor diesem Hintergrund erscheint es mehr als zynisch, wenn Fox zur selben Zeit ankündigt, den verschiedenen Glaubensgemeinschaften offizielle Sendezeit in Radio und Fernsehen gratis zur Verfügung zu stellen, damit sie der Gesellschaft ihre „hoch wertvollen moralischen und ethischen Werte“ näher bringen können. Fox’ Verpflichtungen gegenüber der Kirche scheinen erheblich zu sein, auch wenn er innerhalb der PAN in den wirtschaftsliberalen und nicht in den reaktionär klerikalen Kreisen anzusiedeln ist.
Bestimmten Kreisen der PAN ist Fox aber nicht nur zu liberal, sie ärgern sich auch über seinen Protagonismus. Schon einen Tag nach den Wahlen hatte Fox zu verstehen gegeben, dass nicht die PAN, sondern er regieren würde. Auch im Wahlkampf wurde er weniger von seiner Partei unterstützt als von dem Zusammenschluss „Freunde von Fox“, der heute unter dem Namen „Freunde von Mexiko“ als GmbH weiter existiert. Die Mitglieder sind zum größten Teil anonym geblieben. Es handelt sich wahrscheinlich um Großindustrielle und Unternehmer aus dem Norden Mexikos und dem republikanischen Süden der USA.
Der PAN missfällt es, wie Fox bei der Zusammenstellung der themenbezogenen Arbeitskreise für den politischen Übergang vorgeht. Es handelt sich nicht nur fast ausschließlich um außerparlamentarische Personen aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Auch übernehmen diese Funktionen, die der Legislativen vorbehalten ist. So erarbeiten die Übergangskommissionen weit reichende Reformvorschläge, die sich auf Fox’ 150- Punkte-Vorschlag zur Verfassungsreform stützen, bevor dessen Präsidentschaft überhaupt begonnen und das Parlament auch nur eine Debatte geführt hat. Fox und Porfirio Múñoz Ledo, einem Politiker, der in den letzen Jahren dreimal die Partei gewechselt hat und nun die Kommission zur Staatsreform leitet hatte der Kongress jedoch schließlich einen Strich durch die Rechnung gemacht. Denn die Legislative ernannte parallel eine parlamentarische Kommission und sprach Múñoz Ledo und seinen Kollegen jede Kompetenz ab.
Im Großen und Ganzen haben Fox’ Stellungnahmen zu seinen politischen Plänen seine wahlkampftypische Widersprüchlichkeit noch nicht verloren. Einen regelrechten Skandal auch in den Reihen der eigenen Partei seine Ankündigung ausgelöst, in Zukunft eine Mehrwertsteuer von zehn bis 15 Prozent auf Lebensmittel und Medikamente zu erheben. Und das, obwohl unter dem scheidenden Präsidenten Zedillo die Zahl der unterhalb der Armutsgrenze lebenden MexikanerInnen bei gleichzeitigem Wirtschaftswachstum weiter gestiegen ist.
Im Vorschlag zur Bildungsreform ist vor allem davon die Rede, über ein komplexes Stipendienprogramm für zumeist private Bildungseinrichtungen die Bildungschancen anzugleichen.

Chiapas-Konflikt von “lokaler Natur”

Von den Wahlversprechen, den Energiesektor nicht zu privatisieren und den Konflikt in Chiapas zu lösen, ist nicht viel übrig geblieben. Die Öffnung des Energiesektors für private Investoren ist für Fox beschlossene Sache und den Konflikt in Chiapas nannte er vor kurzem „lokaler Natur“. Eine graduelle Entmilitarisierung der Zone soll es zwar geben, Voraussetzung für die Rückkehr zum Dialog mit der EZLN kann sie aber nicht sein. Der Wahlsieg des unabhängigen Oppositionskandidaten und Ex-PRI-Mitgliedes Pablo Salazar Mendiguchía eröffnet zwar neue Hoffnungen für einen Friedensprozess, die Zuständigkeit des Bundes in militärischen Fragen beschränkten die Möglichkeiten des neuen Gouverneurs jedoch erheblich.

Konsens und Kontinuität

In seinen Reden spricht Fox lieber von nationalen als von politischen Interessen, behauptet von sich, gleichzeitig links und rechts zu sein und verbreitet das Credo einer „Politik des Konsenses“. Dahinter verbirgt sich nicht nur die Idee, sich möglichst wenig Feinde zu machen. Vielmehr sind es die realen Machtverhältnisse im Kongress, die ihn zu dieser Politik zwingen, zumal auch die Parteiführung der PAN deutlich gemacht hat, dass ihre und Fox’ Interessen nur bedingt übereinstimmen. Gemäß der endgültigen Sitzverteilung stellt die Partei der Institutionalisierten Revolution PRI im Kongress 211 von 500 Abgeordneten und ist damit die größte Fraktion vor der PAN mit 206, den konservativen Grünen mit 17 und der PRD mit 50 Sitzen. Im Senat schneidet die PRI sogar noch besser ab, auf sie entfallen 60 Sitze, auf die PAN 46, auf die Grünen fünf und auf die PRD 15. Hinzu kommt, dass die PRI in 18 von 32 lokalen Kongressen die Mehrheit hat. Alle Reformvorhaben können von der PRI blockiert werden, da für sie Zweidrittelmehrheiten notwendig sind. Auch im Fall von einfachen Mehrheitsentscheidungen ist Fox auf die Stimmen anderer Parteien angewiesen. Zusätzlich muss er sich mit einer PAN arrangieren, in der die reaktionären und klerikalen Kreise deutlich im Vormarsch sind. An Stelle von Wechsel und Veränderungen ist also vor allem mit einer Kontinuität der Politik zu rechnen.
Alarmierend ist zudem, dass Fox auf Grund seiner demokratischen Legitimation und dem Nimbus des Wechsels und Sieges über 71 Jahre autoritäre und korrupte PRI-Herrschaft leicht das Bild eines demokratischen Mexikos verkaufen kann.

Der Foxbonus

Vertreter der Menschenrechtsorganisation Pro Juárez und der Entwicklungshilfeorganisitaion Servicio, Desarrollo y Paz fürchten, dass für Fox die Organisationen der Zivilgesellschaft lediglich darum wichtig sind, weil sie ihm zum Bild einer pluralen und inklusiven Regierung verhelfen. Fox werde vor allem NGO’s mit unpolitischem Charakter fördern und anhören, glaubt Emma Maza von Pro Juárez. Dadurch entstehe die Gefahr, dass sich die NGO-Landschaft entpolitisiert, wie es zum Beispiel in Chile in den letzten Jahren passiert sei. „Der Wechsel an sich ist wichtig, aber Fox und die PAN machen mir trotzdem Angst”, sagt sie.
Bis Fox sein Kabinett zusammengestellt hat und am 1. Dezember sein Amt antritt, bleibt Mexikos politische Zukunft ungewiss. Eines aber ist sicher: Fox mag Mexiko am liebsten modern. So gibt es neuerdings eine extra Internetseite, die Regierungsvorschläge der Bevölkerung entgegennimmt. Nur schade, dass alle die, die nicht wissen, wie sie zehn bis fünfzehn Prozent mehr für Lebensmittel und Medikamente bezahlen sollen, auch keinen Internetzugang haben.

Nach 19 Jahren wieder ganz oben

Gerade einmal gut 22 Prozent der Stimmen hat der 70-jährige General auf sich und seine Partei ADN vereinigen können, aber es reichte für den ersten Platz. Die Wähler und Wählerinnen haben ihre Sympathien so gleichmäßig auf fünf Parteien verteilt, daß sogar ein Anteil von nur 17,7 Prozent dem Kandidaten der jet­zigen Regierungspartei MNR, Juan Carlos Durán, für den zweiten Platz reichte. In Bolivien muß das Parlament bei der Wahl des Präsidenten zwischen den beiden stärksten Kandidaten ent­scheiden, es gibt – anders als in den meisten lateinamerikani­schen Ländern – keine Stichwahl.
Die notwenigen Koalitionsge­spräche waren schnell beendet, schon kurz nach der Wahl hatte Bánzer die Mehrheit beieinander. Gleich drei Parteien werden ne­ben ADN die Regierung stützen: Die MIR von Ex-Präsident Jaime Paz Zamora, CONDEPA, die in La Paz führende Partei, und UCS, die schon in der bisherigen Regierung Juniorpartner war (zu CONDEPA siehe LN 274). Für Bánzer geht damit zweifellos ein Traum in Erfüllung: Nachdem er schon 1985 – 1989 unter Víctor Paz Estenssoro und 1989 – 1993 unter Jaime Paz Zamora Junior­partner in der Regierung gewe­sen war, wird er am 6. August als demokratisch legitimierter Prä­sident sein Amt antreten.

Wieso ein Ex-Diktator?

Nur scheinbar ist es überra­schend, daß mit Hugo Bánzer ein ehemaliger Militärdiktator, der durch Menschenrechtsverletzun­gen während seiner früheren Re­gierungszeit belastet ist, nun de­mokratisch gewählt wird. Zum einen liegen die sieben Jahre der Präsidentschaft Bánzer von 1971 bis 1978 schon weit zurück, die jüngeren WählerInnen haben kei­ne persönliche Erinnerung mehr daran, wofür der Präsident Bánzer einmal gestanden hat. Ihr Bild von Hugo Bánzer ist viel­mehr davon geprägt, daß er mit seiner ADN seit 1985 bei jeder Präsidentschaftswahl einen der vorderen Plätze belegt hat und acht Jahre lang in der Regie­rungskoalition war – eine ziem­lich normale bolivianische Partei mit einem Caudillo, wie ihn auch andere Parteien besitzen. Aber auch diejenigen, die die Zeit der Bánzer-Diktatur noch erlebt ha­ben, verbinden damit nicht un­bedingt negative Erinnerungen. Das Land war in den 70er Jahren vergleichsweise stabil, und nicht selten ist in Bolivien die Ein­schätzung zu hören “Als Bánzer Präsident war, ging es uns bes­ser”.
Wozu also in der Vergangne­heit wühlen, so scheint es nahe­zuliegen, wenn doch heute von einem Präsidenten Bánzer kein Rückfall in alte Zeiten, sondern – ganz im Gegenteil – Kontinuität zu erwarten ist, so wie auch von allen anderen wichtigen Kandi­daten. Der Wahlkampf war langweilig, denn alle größeren Parteien standen mehr oder we­niger für die gleich Linie: Siche­rung von Stabilität und unspek­takuläre Verwaltung des alterna­tivlos herrschenden neoliberalen Wirtschaftsmodells. Eine Aus­nahme bildete lediglich CON­DE­PA mit dem vagen Schlag­wort von “endogener Ent­wick­lung”. Der Einstieg CONDEPAs in die Regierungs­koalition be­stä­tigt allerdings die Vermutung, daß es mit dem dif­fus-anti­im­pe­ri­alistischen Diskurs nicht weit her ist. Die Teilhabe an der Macht und damit der Zu­gang zu Po­sten und Pfründen ist allemal at­traktiver als die Aus­sicht, wei­ter auf den Oppositi­onsbänken sit­zen zu müssen.

Da weiß man, was man hat…

Wenn Bánzer mit knappem Vorsprung auf dem ersten Platz gelandet ist, dann vor allem weil er aus der Sicht vieler Wähler und Wählerinnen als bester Ga­rant für Stabilität auftreten konnte. Die MNR mit Juan Carlos Durán? Eine zerstrittene Partei, beschäftigt damit, sich selbst zu demontieren. Jaime Paz Zamora vom MIR? Als Präsident möglicherweise ein Risiko in Sa­chen internationale Kredite, seit die USA ihm wegen vermuteter Kontakte zum Kokainbusiness das Visum entzogen haben. Re­medios Loza von CONDEPA? In Symbolik und Diskurs zu sehr festgelegt auf die Aymaras des Altiplano. Und schließlich Ivo Kuljis von UCS? Ein relativ un­beschriebenes Blatt. Sie alle ha­ben sich Stimmenanteile in fast gleicher Höhe sichern können. Bánzer – da weiß man, was man hat – bot die solideste Aussicht auf risikolose Verwaltung des Staates in den nächsten fünf Jah­ren und schaffte damit die ent­scheidenden paar Prozent mehr.

Verdrängt im Hintergrund: der Reformprozeß

Voraussetzungen für einen interessanten, programmatischen Wahl­kampf waren gegeben. In den letzten Jahren war Bolivien ein vielbeachtetes Modell für ge­sell­schaftliche Reformen. De­zen­tra­lisierung und participación po­pular sollten für Machtvertei­lung von oben nach unten sor­gen, die Bildungsreform steht, zum Beispiel mit zweisprachiger Grund­schulbildung für Kinder, deren Muttersprache nicht Spa­nisch ist, für eine Aufwertung des indigenen Bolivien (siehe. LN 254/255 und 266/267). Die Frage ist, warum es nicht zu einem polarisierten Wahlkampf zwi­schen dem Reformlager – der jet­zigen Regierung – einerseits und der Opposition andererseits kam.
Die Antwort liegt in den in­ternen Auseinandersetzungen der größten Regierungspartei, der MNR. Diese sorgten dafür, daß das Reformlager überhaupt nicht mit Aussicht auf Erfolg zur Wahl stand. Der Parteiapparat hatte nie wirklich hinter den Reformen gestanden. An der Sptize der MNR steht seit 1985 eine Grup­pe von Unternehmern, allen vor­an der noch amtierende Prä­sident Gonzalo Sánchez de Lozada, die das Projekt eines ka­pitalistisch-mo­dernen Bolivien verfolgt und dazu die MNR sei­nerzeit “über­nom­men” hatte. Diese Un­ter­neh­mer, von denen viele nicht ein­mal in die Partei eintraten, blie­ben für den Partei­apparat ein Fremd­körper, gedul­det, weil Ga­ran­ten für Wahler­folg (und für Geld in der Partei­kasse), aber nie ge­liebt.
Die Auseinandersetzung um die Zu­kunft der MNR wurde vor der Wahl vorläufig ent­schie­den. Kurze Zeit durfte Ju­stiz­mi­ni­ster René Blattmann, ein Ver­trau­ter des Präsidenten, als Kan­di­dat auftreten, aber schon nach we­ni­gen Wochen trat er von der Kan­didatur zurück. Viel deutet dar­auf hin, daß er MNR-intern “ab­geschossen” wurde von den eta­blierten Platzhirschen der Par­tei­hierarchie, die endlich ih­ren Ein­fluß geltend machen wollten. An seine Stelle trat der farblose Juan Carlos Durán, der nicht ge­ra­de als vehementer Vertreter der Re­formen bekannt ist.
Das Problem der gonistas, der Mo­dernisierer um “Goni” Sán­chez de Lozada war, daß sie die Erwartungen der Parteibasis nicht erfüllen wollten. Der MNR-Apparat in seiner kliente­listischen Tradition wollte von der Macht profitieren. Wenn schon Dezentralisierung auf dem Pro­gramm stand, wollten die Par­teisodaten die dadurch neu ge­schaffenen Posten einnehmen – ein Wunsch, der unvereinbar bleiben mußte mit dem Anliegen der gonistas, tatsächlich Ent­scheidungen über Geld und Po­sten auf die lokale Ebene zu verlagern und damit zu demo­kratisieren.
Für die WählerInnen war so schon vor dem 1. Juni klar, daß von denjenigen politischen Kräften, die die Reformen durchgesetzt hatten, mit der go­nista-Fraktion in der MNR der wichtigste Pfeiler weggebrochen war. Die Oppositionsparteien ih­rerseits waren klug genug, im Wahlkampf nicht offen gegen die Reformen Front zu machen. Das Spektrum reichte von Jaime Paz Zamora, der sich selbst die Urheberschaft der Reformen zu­schrieb bis zu Hugo Bánzer, der vage davon sprach, die Refor­men mit sozialen Elementen an­reichern zu wollen. So ist von Seiten der neuen Regierung kaum ein Frontalangriff auf par­ticipación popular und Dezen­tralisierung zu erwarten, eben­sowenig allerdings eine gezielte Politik, um diese demokratisie­renden Reformen weiterzube­treiben. In den nächsten fünf Jah­ren wird sich auf lokaler Ebene zeigen müssen, ob der Reform­prozeß aus sich selbst heraus schon tragkräftig ist und ob rele­vante soziale Kräfte vorhanden sind, die darauf bestehen, daß der Sinn der Reformen nicht ausgehöhlt wird.
Von Ort zu Ort ist die Situation dabei sehr unter­schielich. So sorgen sich in nicht wenigen Kommunen einzelne etablierte lokale Machtgrupen um ihren Einfluß, beispielsweise die katholische Kirche in Teilen des Departements Santa Cruz oder Gewerkschaften in vielen Orten des Hochlandes. Die parti­cipación popular ist für sie eine Bedrohung, die durch Blockade oder Instrumentalisierung zu neu­tralisieren ist. Andernorts ist schon eine Eigendynamik in Gang gekommen. Nicht zuletzt werden sich die Kommunalver­waltungen gegen Versuche weh-ren, ihnen ihr neu gewon­nenes Privileg zu nehmen: die eigenständige Verfügungsgewalt über Mittel aus dem Staatshaus­halt.
In der bisherigen Regierungs­koalition galt sie oft als treueste Stütze des Präsidenten: die kleine Partei MBL, die im NGO-Spektrum und bei links-liberalen Intellektuellen auf Sympathie rechnen kann und dazu im süd­bolivianischen Chuquisaca, rund um die offizielle Hauptstadt Su­cre, auch eine gewisse ländliche Basis hatte. Das Wahlergebnis ist katastrophal, nur 2,5 Prozent der Stimmen kann die MBL ver­buchen. Es bleibt ein schwacher Trost, vier Direktkandidaten ha­ben über Siege in ihren Wahl­kreisen den Einzug in den Kon­greß geschafft. Darunter ist mit Juan del Granado einer der Spit­zenpolitiker der MBL, profiliert in Sachen Menschenrechten.

Die MBL als große Verliererin

Die MBL dürfte am meisten darunter gelitten haben, daß sich die Mo­dernisiererfraktion in der MNR nicht durchsetzen konnte. Zwar steht die MBL eindeutig für den Reformprozeß der letzten Jahre, aber sie vermittelt so stark das Image einer Partei von NGO-In­tellektuellen und sie ist mit Aus­nahme von Chuquisaca so wenig in größeren ge­sell­schaft­lichen Gruppen verankert, daß der Weg zur Massenpartei nahezu ausge­schlossen schien. Wer MBL wählte, wußte, daß es sich mit größter Wahr­schein­lich­keit mehr um eine symbolische Stimme gegen Bánzer handeln würde als um ein Votum für eine politische Option mit Aussichten auf die Macht. Daran konnte auch die Vizepräsident­schafts­kan­didatur von Marcial Fabri­cano nichts ändern, dem pro­mi­nenten Indí­genaführer aus dem östlichen Tiefland. Seine eigene Basis, die im Dachverband CIDOB organi­sierten Indígenas des oriente, ist numerisch sehr klein, und von den Indígenas des Hochlandes trennen Fabricano politische und kulturelle Welten.
Mit rund 3,7 Prozent stärker als die MBL wurde Izquierda Unida, das Sammelbecken unter­schiedlicher linker Parteien und Gruppierungen jenseits des unter den größeren Parteien herr­schenden Konsenses. IU hat ih­ren relativen Erfolg allerdings vor allem einem Faktor zu verdan­ken, der der Partei kaum zugute kommen dürfte: Evo Morales, der Vorsitzende der Kokabau­erngewerschaft aus der zentral­bolivianischen Tief­land­pro­vinz Chapare, kandidierte dort und siegte mit dem höchsten Stim­menanteil aller Direkt­kan­dida­ten. Er hat kaum einen Zweifel daran gelassen, daß die Kandi­datur auf der Liste der IU für ihn lediglich Vehikel für den Weg auf die parlamentarische Büh­ne war. In Bezug auf sein Verhält­nis zu seiner Basis im Chapare wird ihm eine aus­ge­prägte Nei­gung zu Selbst­dar­stel­lung und autoritärem Politikstil nachge­sagt – trotz aller radikaler Rheto­rik eher traditionelle Merk­male des bolivianischen Poli­ti­ker­da­seins. Er wird wohl Wortführer der kleinen, zumin­dest verbalra­dikal “system­kri­ti­schen” Oppo­stition im Parlament werden.

Fünf Jahre Warten

Auch die gonistas gehören auf die Liste der Verlierer, aber vermutlich hält sich die Trauer über das Wahlergebnis bei ihnen in Grenzen. Um weiter regieren zu können, waren sie auf die MNR angewiesen. Nachdem diese sich vorerst für einen ande­ren Weg entschieden hat, bleibt den gonistas das Warten auf die nächste Wahl im Jahr 2002. Zwar sind fünf Jahre eine poli­tisch sehr lange Zeit, aber warum sollte Sánchez de Lozada nicht eine zweite Amtszeit ansteuern? Die Verfassung verbietet nur zwei direkt aufeinander folgende Amtszeiten eines Präsindenten, für 2002 ist der Weg für ihn ver­fassungsrechtlich frei. Bis zu ei­ner Entscheidung über die MNR-Kandidatur 2002 werden noch Jahre vergehen, und auch andere Aspiranten werden eine gute Startposition suchen. Aber die politische Option des gonismo ist nach dieser Wahl nicht tot. Nach – soweit gegenwärtig ab­sehbar – möglicherweise un­sepktakulären fünf Jahren unter Hugo Bánzer könnte der jetzt wohl erst einmal auf Eis gelegte Reformprozeß dann wieder an Dynamik gewin­nen.

Es gibt kein Zurück

Das Ende des Krieges hat den An­stoß zu einer Dis­kussion ge­ge­ben, die von den Maya-Organisa­tio­nen vehement ein­ge­for­dert wird. Erstmalig in der gua­temaltekischen Ge­schichte wird in dem im März 1995 von URNG und Regierung un­ter­zeich­neten “Ab­kommen über Rechte und Identität der in­di­ge­nen Bevölkerung” (Indígena-Abkommen) die rassisti­sche Dis­kri­minierung der indianischen Be­völkerung aner­kannt und für die Zu­kunft die Vision einer mul­tiethnischen, plurikulturel­len und vielsprachi­gen Na­tion Gua­te­mala gezeich­net. Die in den ver­gangenen ein­hundert Jahren do­minie­rende ge­sellschaftliche Grup­pe der La­dino/as scheint dabei zusehens in die Defensive zu geraten. Dies kann kaum ver­wun­dern, denn ein Blick in die Ge­schichte zeigt, daß die Ent­wick­lung des gua­temaltekischen Na­tional­staates und die pro­pa­gier­te nationale Identität in en­gem Zusammen­hang mit den Herr­schaftsinteres­sen der La­dino/as stand und steht.

Die Geschichte ethnischer Machtkonstellationen

Waren es in der Koloni­alzeit Spa­nier und deren Nachfahren, die sogenann­ten Criollos, die die ge­sell­schaftliche Vormacht inne­hat­ten, so begann sich dies mit der Unabhängigkeit Guatemalas 1821 zu verän­dern. Zunächst dran­gen vor allem europäische Ein­wan­derInnen in die traditio­nelle Machtstruktur ein, mit Be­ginn der liberalen Herr­schafts­periode und dem Auf­schwung der Kaffee­wirtschaft ab 1870 er­kämpf­ten sich die “Misch­lings­be­völkerung” und IndianerInnen, die den Bezug zu ihrer Kultur ver­loren hatten – die soge­nannten Ladinos oder Mestizos – ihren Platz im gua­temaltekischen Macht­gefüge. Zwar waren die bei­den Gruppen in der Ko­lo­nial­zeit und in der Pe­riode der frü­hen Unabhän­gigkeit genauso dis­kri­mi­niert und aus­gegrenzt wor­den wie die indiani­sche Be­völ­ke­rung, sie konnten sich aber im Verlauf des vergan­genen Jahr­hun­derts in den länd­lichen Gebieten, in denen sich die “Weißen” kaum blicken lie­ßen, eine Vormachtstellung erarbei­ten. Mit der sich ausbrei­tenden Plan­tagenwirtschaft über­nahmen sie eine wich­tige Brüc­ken­funk­tion. Sie wurden zu An­werbern von billigen Arbeits­kräften in den indianischen Gemein­schaf­ten, zu Landverwal­tern oder manchmal auch zu Land­be­sit­zern und damit zum wichtigsten Element des Zwangs­ar­beits­sy­stems sowie der Inte­res­sen­ver­tre­tung des Staates und der Kaffeeoligarchie in den indiani­schen Gebieten.
Während in den anderen mit­tel­amerikanischen Län­dern der Begriff “Ladino” zum Ende des letz­ten Jahr­hunderts durch “Mestizo” ersetzt wurde, bekam er – so die US-amerikanische An­thropologin Carol Smith – in Guatemala eine neue Bedeutung: Un­terdrücker in den indianischen Gebie­ten des westlichen Hoch­lan­des oder heimatloser Wander­ar­beiter in den Städten oder an der Südkü­ste. Es formte sich jene eth­nische Grenzziehung heraus, die in Guatemala bis heute Be­stand hat. Auf der einen Seite eine extrem heterogene ge­sell­schaft­li­che Gruppe aus Nach­fah­ren spanischer Eroberer, Ein­wan­derInnen und Ladi­nas/os, auf der anderen die indianische Be­völ­ke­rungs­mehrheit. Der Be­griff “Ladino” entwickelte sich dabei im 20. Jahrhundert zu ei­nem Synonym für die ge­samte gesell­schaft­lich do­minierende Gruppe. Auch wenn sich viele europäi­sche Nachfahren bis heute da­ge­gen wehren, als La­dino/as bezeichnet zu wer­den – sie betrachten sich als “Weiße” – hat sich der Be­griff im allgemei­nen Sprachgebrauch durchge­setzt. Zusammengehalten werden sie von einer ge­meinsamen Defi­ni­tion als “nicht-indianisch”, dem Glauben an die guatemal­tekische Nation und an die Auf­recht­er­hal­tung ihrer ge­sellschaftlichen Macht­po­sition. Es entstand damit jene unglück­selige Glei­chung Ladino + Macht + Unter­drückung = Staat + Nation, der sich die india­nische Bevölkerung seit langer Zeit gegenüber sieht.

Indígenas und Nation

Der Staat propagierte seine Politik nach dem Motto: Wer in unser natio­nales Boot will, muß sich anpassen. Dieser Homoge­ni­sierungs- und Assimilie­rungs­an­spruch stand jedoch im offenen Widerspruch zu einer Pra­xis, in der die in­dianische Bevölkerung als billige, ausbeut­bare Masse eingeplant war. Daß sich diese mit einem solchen Staatsgebilde nicht identi­fizieren konnte, liegt auf der Hand: Der gua­temalte­kische Nationalstaat hatte ihnen nie etwas anderes zu bieten als Unterdrückung, Aus­beu­tung und Raub. An­fang des 20. Jahrhunderts hatten die in­dia­ni­schen Ge­mein­schaften et­wa die Hälfte des Landes ver­loren, das noch während der Ko­lo­nial­zeit in ih­rem Besitz war. Da­her hatte die india­nische Be­völ­ke­rung auch nie ir­gend­welche Er­war­tung­en oder An­sprü­che an den Na­tio­nalstaat – aus­ser, daß er sie in Ruhe läßt.
Dies änderte sich erst in der zweiten Hälfte dieses Jahrhun­derts. Die kurze demokratische Phase zwi­schen 1944 und 1954 und vor allem die folgenden “Modernisierungsbestrebungen” ge­genüber der ländli­chen Bevöl­ke­rung verän­derten die Bezie­hun­gen zwischen Staat und indiani­scher Bevölkerung. Ironie der Geschichte: Gerade die auch als “vorbeugende Aufstandsbe­kämpfung” ge­planten ländlichen Ent­wicklungsmaßnahmen wie Ko­ope­rativenprojekte oder kirch­li­che Bewußtseinsar­beit ver­än­der­ten bei einem Teil der indianischen Be­völkerung ihre Ein­stellung zum Nationalstaat. Sie be­gann soziale und ökonomi­sche Forderungen an den Staat zu stellen. Dieser Prozeß mün­dete Ende der 70er Jahre schließlich in eine offene Unter­stüt­zung der revolutionären Be­we­gung durch große Teile der in­dianischen Bevölkerung. Die re­volutionäre Bewe­gung war zwar nicht aus der indianischen Be­völke­rung heraus erwachsen, viele Mayas sahen darin aber eine Chance zur grundlegenden Ver­besse­rung ihrer Lebensum­stände. Zum ersten Mal in der Ge­schichte Guatemalas hatte sich damit ein größe­rer Teil der in­dianischen Bevölkerung einer natio­nalen Bewegung ange­schlos­sen, die sich eine grundle­gen­de Veränderung des Staates auf die Fahnen geschrieben hatte. Sie wa­ren zu Akteuren auf natio­naler Ebene geworden. Ge­rade diese Allianz über die ethni­sche Grenze hinweg mit anderen gesellschaftli­chen Gruppen wie ökono­misch ausgebeuteten Ladi­nas/os, StudentInnen, städ­tischen Ge­werkschafts- und Volks­or­ga­ni­sationen war es, die die herr­schenden Machtverhält­nisse ernst­haft in Frage stellte. Die in­dia­nische Bevölkerung wurde al­ler­dings zum Hauptziel der Auf­standsbekämp­fungs­maß­nah­men.
Mit der Beendigung des be­waff­neten Konfliktes im Dezem­ber 1996 beginnt sich Guatemala lang­sam aus der politischen Er­star­rung zu lösen, die das Land fast 20 Jahre lang be­herrschte. Heute geht es um die Frage: Wie muß die Nation aussehen, mit der sich alle in Guatemala le­ben­den Bevölkerungsgrup­pen iden­ti­fi­zieren können? Dazu gibt es sehr verschie­dene Meinungen und Szenarien. Es ist zu beob­ach­ten, daß Mayas in dieser Dis­kus­sion mit durchaus unter­schied­lichen Stand­punkten kräf­tig mitmi­schen. Die Initialzün­dung lieferte das Indígena-Ab­kommen. Während die meisten Maya-Organisatio­nen sich dieses Ab­kommen zu eigen machen, es studie­ren, verbreiten, damit ar­bei­ten, ihre Forderungen und politischen Perspekti­ven daraus ableiten, scheint die Mehrheit der Ladinos der Auffassung zu sein, daß dieses Abkommen sie nicht betreffe. Die Soziologin Marta Casaus stellt dazu fest, daß die guatemalteki­sche Gesell­schaft eine “überaus rassistische ist, die sich in einer langsamen Metamorphose von einer biolo­gi­stischen Sichtweise zu einem Selbstverständnis unter kul­tu­rel­len Gesichts­punkten” befin­det. Weiter meint sie: “Im Indí­gena-Abkommen ist erstmalig die Exi­stenz dieses rassisti­schen Staates anerkannt worden”, und fordert die Ladinas/os dazu auf, “unsere Position als Ladi­nos neu zu bewerten und danach mit an­deren darüber (zu) diskutieren, mit wem und wie wir ein multikul­turelles, pluriethnisches Land aufbauen. Wir haben gar keine Basis, um ein einheitliches Land aufzu­bauen, das wäre künst­lich.” Allerdings sind sol­che Meinungen bis heute die Aus­nahme unter der ladini­schen Be­völkerung.

Verkrustungen und Abwehrkämpfe

Die traditionell herr­schenden Sektoren unter den Ladinos – dazu gehören große Teile der Regierung und viele Militärs – lehnen solche Po­si­tio­nen rundweg ab und torpe­dieren das Indígena-Abkommen. Sie wol­len dessen Umsetzung ver­hin­dern, da sie ihre bislang pri­vi­le­gierte Position ge­fährdet sehen.
Das Argument, auf das sich die herrschenden La­dinos zur Ver­teidung ihrer Position bezie­hen, ist para­doxerweise das Recht auf Gleichheit für alle. Kürz­lich brachte ein konservati­ver Abgeordneter im Par­lament einen Entwurf für ein Anti-diskri­minierungs­gesetz ein, nach dem “niemand als Person oder als ethnische Gruppe vor dem Ge­setz diskriminiert, bevorzugt oder besonders behandelt werden darf”. Solche Initiativen werden von vielen Mayas als An­griff be­trach­tet. Juan León von der Defensoria Maya meint dazu: “Wenn wir von unseren Rechten reden, sa­gen sie: ‘Das geht nicht, vor dem Gesetz sind wir alle gleich.’ Sie verdrehen die Argu­men­tation und recht­fertigen da­mit ihr diskrimi­nierendes Ver­hal­ten. Sie meinen, daß die Anerken­nung von Indígena-Rechten gleichzeitig eine Dis­kri­mi­nierung von anderen Völ­kern bedeute. Sie fühlen sich unterlegen, weil deut­lich wird, daß sie selbst nur sehr wenige eigene Werte haben. Aber das ist nicht unser Problem.” Den Vor­wurf von ladinischer Seite, die Mayas wollten jetzt den Spieß umdrehen und sich für die erlit­tenen Unge­rechtigkeiten rächen, weist er zurück: “Unsere Prinzi­pien sind nicht ausgren­zend. Diese Ängste müssen sie über­winden”.
Trotzdem sehen sich viele Ladinos/as durch die For­de­rungen der Maya-Organisatio­nen in ih­ren “Rechten” bedroht und beharren umso stärker auf der Gleichheit aller vor dem Ge­setz. Weit verbrei­tet ist unter ih­nen auch die Meinung, die Ma­yas seien diejenigen, die ihre Identi­tät und ihre Position zum Nationalstaat klären müß­ten, die Positon der Ladi­nas/os sei klar und bedürfe keiner Diskussion. Dahin­ter steht die Überzeugung, die Ladinas/os seien die “wahren GuatemaltekIn­nen”. Indirekt ist damit die alte ladinische Forde­rung an die Mayas verbunden, sich zu assimilieren. Gustavo Palma erklärt diese Situation damit, daß die guatemaltekische Ge­sellschaft weiterhin hoch­gra­dig autoritär und rassi­stisch geprägt sei. Solange viele Ladi­nos für sich die Bezeichnung “Mestize” zu­rückwiesen, weil die­se für sie ein Eingeständnis der Tatsache sei, daß sie in ih­rer Herkunft auch indiani­sche An­teile haben, sei auch die Aner­ken­nung der kulturellen und eth­ni­schen Vielfalt, von Indígena-Rechten extrem schwierig. Unter der Hand gelte das Thema der multikulturellen Gesellschaft als “gefährlich” und werde deshalb abgewehrt.

(K)Eine Bildungsreform

Die derzeitige Regierung ver­folge, erläutert Palma, eine dop­pel­bödige Strate­gie. Einerseits habe sie mit dem Friedensschluß den neuen Diskurs von der “Viel­falt in der Einheit” über­nom­men. Gleichzeitig benutze sie aber weiterhin den mehr als ein­hundert­jährigen Diskurs vom ho­mogenen Nationalstaat Gua­te­ma­la: “Guatemala den Gua­te­mal­te­ken” und “Wir sind alle Guatemalte­ken”. Dieser zweite Dis­kurs ist offensichtlich der weitaus stabilere, er ist fest im Denken verwurzelt und wird sich wahrscheinlich noch lange hal­ten. So wi­dersprechen nach Palma beispielsweise die der­zei­ti­gen Maßnahmen im Bil­dungs­be­reich im Grunde den In­halten des Indígena-Abkom­mens. Hier sei ab­zulesen, daß die Regierung die alte, homogenisie­rende Linie wei­ter verfolge und nicht ernst­haft an Refor­men im Sinne einer neuen nationalen Vi­sion der “Viel­falt in der Einheit” in­te­res­siert sei. Als Basis der jetzt betriebenen Maß­nahmen be­schreibt er das Bildungspro­gramm Educación para la Paz (“Erziehung für den Frie­den”). Dieses berücksich­tige aber die Themen Zu­sammenleben, Re­spekt vor den anderen, Toleranz, eth­nische Vielfalt überhaupt nicht. “Im Indígena-Ab­kommen steht, Rassismus und Diskrimi­nie­rung müs­sen bekämpft wer­den. Aber diese eliminiert man nicht einfach so per Dekret. Das wäre absurd. Es ist ja schön, es als großes, allge­meines Ziel für das ganze Land zu formulieren – aber wie das erreichen? Im Bil­dungs­bereich könnten Wege auf­ge­zeigt werden, aber wenn wir sehen, was die Regierung hier macht, wird die Diskrepanz zwi­schen Diskurs und Praxis deut­lich. Bis heute versucht die Regierung einzig und allein, die homogenisie­rende Vision auf­recht zu erhalten.”
Er berichtet von dem von der Präsidentengattin per­sönlich ge­förderten Projekt Libres y Tri­unfadores (wörtlich: “Freie und Sieg­reiche”), das kürzlich in den staat­lichen Schulen zur Förde­rung der Moralerzie­hung von Ju­gend­lichen eingeführt wurde: “Das Programm geht davon aus, daß alle von Gott geschaf­fen wur­den und deshalb gleich sind. Ein schreckli­ches, autoritäres Prinzip, das den Anschein er­weckt, alles andere zähle nicht. Er­reichen wollen sie zweier­lei: in der Primarstufe Ge­horsam, in der Sekundar­stufe Keuschheit. Damit wollen sie Schafe erzie­hen, ohne Fähigkeit zur Kritik – in allen staatlichen Sekun­dar­stufen arbeiten sie be­reits damit.”
Obwohl im Indígena-Ab­kom­men die Bildung ei­ner Ko­mis­sion zur Erar­beitung von Bil­dungs­re­formen im Sinne einer multikulturellen, plurieth­nischen und vielsprachigen Nation Gua­te­mala verein­bart wurde, die ihre Arbeit allerdings noch gar nicht begonnen hat, verkündet die Vize-Bildungsministe­rin, die Bil­dungsreform in Guatemala sei zu 80 Pro­zent abgeschlossen. Gegen diese Politik der schönen Worte und der gleichzeitig voll­en­deten Tatsachen müssen sich die Maya-Or­ganisationen be­haup­ten, die ihr Recht auf Unterschied­lichkeit einfordern. 120 Maya-Organisationen ha­ben ihr Interesse an einer Mitarbeit zur Formulierung der Bildungs­reform bekun­det, von Seiten der Regie­rung liegen dagegen noch keine Vorschläge über die Beset­zung eines entspre­chenden Gre­miums vor. Gustavo Palma dazu: “Das zeigt das enorme Interesse der Mayas, diesen Gestal­tungs­raum auszufüllen. Die Re­gie­rung, die Ladinas/os hingegen ignorieren diesen, weil nur die homogenisie­rende Sicht repro­duziert werden soll. Das wird sehr bald zu Problemen führen, weil die Mayas dabei sind, kon­krete Vorschläge aus­zuarbeiten, die Regierung hingegen darauf überhaupt nicht vorbereitet ist. Man kann daraus schließen, daß es von Seiten der Regie­rung über­haupt keine Be­reitschaft gibt, das Indí­gena-Abkommen um­zuset­zen. Die Regierung hat die­ses Abkommen aufgrund in­ter­nationalen Drucks un­ter­zeich­net, nicht aus in­haltlicher Über­zeu­gung.”

“Vielfalt in der Einheit” vs. “Wir sind alle Guatemalte­ken”

Obwohl die Strategien des Kampfes, die themati­schen Schwer­punkte und ideologischen Aus­gangs­punkte der in der Koordi­nation COPMAGUA (Co­or­dinación de Organi­sa­cio­nes del Pueblo Maya de Gua­te­mala) zu­sammen­geschlossenen Maya-Or­ga­nisationen sehr unter­schied­lich sind, ver­bindet sie die hi­sto­ri­sche Erfahrung der Aus­gren­zung, Diskriminierung, Re­pres­sion und des Wider­standes. All­er­dings inter­pretieren die in COP­MA­GUA zu­sam­men­ge­schlos­senen Grup­pen die jüngere Ge­schichte Guatemalas auf sehr ver­schie­dene Art und Weise. Zwei Hauptströ­mungen lassen sich unter­scheiden, die beide, bei al­ler Differenz, als wichtigste For­derung das Recht der Mayas auf Unterschied­lichkeit for­mu­lie­ren und diese auch gemeinsam tra­gen.
Die eine Fraktion bilden die Mayas innerhalb der Volksorga­nisationen und der Guerilla na­he­ste­hende Indígenas. Diese geht da­von aus, daß der bewaff­nete Kampf zwar keine wirklichen Lösungen für die Probleme der Indígenas in puncto Ausgren­zung, Diskriminierung und öko­no­mischer Ungleichheit gebracht habe, jedoch eine wichtige Phase im Kampf gewesen sei. Ihr Hauptar­gument: Wenn auch das ur­sprüngliche Ziel einer grund­legenden sozialen Umgestaltung der gua­temaltekischen Gesell­schaft nicht erreicht werden konnte, so ist dennoch festzu­halten, daß es ohne den bewaff­neten Kampf auch kein Indígena-Ab­kommen gäbe, mit dem jetzt alle Maya-Organisa­tionen poli­tisch arbeiten können. Trotz aller Kritik an der ladinisch dominier­ten Guerilla-Führung und daran, daß der Kampf der URNG auf die Änderung der ökonomischen Situa­tion ausgerichtet war und die der kulturellen Verhält­nisse auf einen späteren Zeitpunkt ver­schoben wurde, sieht dieser Flü­gel die Erfahrungen aus dem bewaffneten Kampf als wertvoll an. Viele derer, die diese Posi­tion vertreten, beteiligten sich – zumindest zeitweise – direkt oder indi­rekt als UnterstützerInnen an diesem Kampf und blic­ken auf diesen als einen wichtigen Lern­prozeß zu­rück, auf dem sie ihre heu­tige Arbeit fundieren.
Ein Vertreter dieser Fraktion innerhalb des Maya-Spektrums ist Juan León von der Defensoria Maya: “Es lag vielleicht am hi­sto­rischen Zeitpunkt, daß die In­dígena-Frage nicht konsequent ver­folgt wurde. Aber wir haben an der Formulierung der Abkom­men mitgearbeitet und sowohl Regierung als auch URNG haben Flexibilität gezeigt, indem sie gdas Pro­blem des Rassismus und die Forderung nach Mul­ti­eth­ni­zi­tät anerkannt ha­ben. Das war ein großer Fortschritt, da gibt es kein Zurück mehr. Jetzt müssen wir uns überlegen, wie wir den plurikulturellen Staat wollen, als Zukunftsvision. Das ist für mich zwar ein Traum, der noch weit ent­fernt ist, aber wir müssen jetzt damit anfangen, un­sere kol­lek­ti­ven Erfahrun­gen aufzugreifen, denn Identität ist kollektiv. Un­ser Vorschlag ist, die Viel­falt zur Grundlage der neuen Nation zu machen. Erst einmal soll jede Grup­pe ihre Po­sition fin­den. Dann können wir in einen Dialog tre­ten und ge­meinsam sehen, was wir daraus machen. Die Iden­tität zu stärken, ist be­reichernd für beide Seiten, denn auch viele Ladinos wurden durch die Repres­sion und Milita­ri­sie­rung in ihren Prozessen be­hin­dert. Ein Widerspruch zwi­schen ethnischer und nationaler Iden­ti­tät besteht doch nur für die Mächtigen. Sie be­harren auf der Idee, alle GuatemaltekInnen seien gleich, um die Vielfalt nicht anerkennen zu müs­sen.”
Die andere Strömung in­ner­halb von COPMAGUA lehnt den be­waffneten Kampf voll­ständig ab und vertritt die Mei­nung, daß der Krieg nie die Sa­che der Mayas gewesen sei. Viel­mehr seien die Mayas im Bürgerkrieg von beiden Seiten in gleicher Weise mißbraucht wor­den. Ihre For­derungen begründen sie in erster Linie ethnisch-kul­turell. Einer der re­nommiertesten Ver­tre­ter dieser Gruppe ist De­metrio Cojtí. Auch er macht das Recht auf Unterschiedlich­keit zum Aus­gangspunkt seiner For­de­run­gen: “Danach können wir nach den Gemeinsamkeiten schauen. So wie momentan die Mode des In­terkul­turellen be­trieben wird, ist es für mich nur eine Fort­führung des Ethnozids: Nur das Gemeinsame wird be­tont und das ist in der Re­gel das Ladinische. Da ha­ben wir dann wieder die Dominanz. Die Anforde­rungen an Veränderun­gen werden nur an uns Mayas gestellt. Da gibt es kein Gleich­gewicht.”
Anhand dieser Aussagen wer­den die unterschiedli­chen Grund­po­sitionen deutlich. Wäh­rend Juan León die visionäre Zielvor­stel­lung einer plurikul­turellen Nation formuliert, ist für Cojtí Interkulturalität zur Zeit kein Thema. Pro­vozierend fügt letz­te­rer noch hinzu: “Es ist ja auch noch nicht geklärt, ob wir über­haupt mit den Ladinos in ei­nem ge­meinsamen Staat zusam­men­le­ben wollen.” Gerade diese Aus­sage ist Wasser auf die Mühlen jener Ladino/as, die, in die De­fen­sive ge­drängt, das Ende ihrer Vormachtstellung be­fürchten und den Teufel ei­nes Aus­ein­an­der­brechens des gua­te­mal­te­ki­schen Staates an die Wand malen. Zuweilen geisterte schon das Wort von “jugoslawischen Verhält­nissen” durch die Kom­men­tarspalten der Presse.

Ladinas/os sind gefordert

Sicherlich liegt in dem Thema großer Zündstoff, allerdings ver­laufen die Hauptkonfliktli­nien weiter­hin zwischen der indiani­schen Bevölkerung und der la­di­ni­schen Machtelite. Die näch­sten Monate werden zeigen, ob es ge­lingt, aus der bewaffne­ten Aus­ein­an­dersetzung in eine Phase überzuleiten, in der eine breite und Vertrauen schaf­fende, ge­sell­schaftliche Diskussion über die Zu­kunft der guatemalteki­schen Nation mög­lich ist. Eines jedoch dürfte klar sein: Ohne eine Anerken­nung des Rechtes auf Ei­genständigkeit und Unter­schied­lichkeit der Mayabe­völ­ke­rung geht nichts. Die Ladino/as sind hier gefor­dert.

KASTEN

Zu den im Artikel er­wähnten Personen:

Marta Casaus ist gua­te­maltekische Soziologin, Pro­fes­sorin an der Univer­sidad Au­tónoma in Madrid und Au­to­rin verschiedener Pub­li­ka­tionen über ladini­sche und nationale Identität in Guate­mala.
Demetrio Cojtí gilt als einer der Vordenker der Intel­lek­tuellen innerhalb des Teiles der Maya-Be­wegung, die ih­ren Kampf in erster Linie eth­nisch-kulturell begründet.
Juan León ist Mitbe­gründer von der Campesina/o-Orga­ni­sa­tion CUC und der Or­ga­ni­sa­tion zur Verteidigung der In­dí­genarechte Defensoria Ma­ya. León blickt auf eine lan­ge Ge­schichte des Kam­pfes von Mayas inner­halb der Volks­organisatio­nen zurück. Bei den Wah­len 1995 war er Vizeprä­sident­schafts­kan­didat der Oppo­sitionspartei FDNG.
Alfonso Monroy ist als Ver­treter der Widerstands­dörfer im Petén und der “Bera­ten­den Ver­sammlung der Ent­wur­zelten Bevölke­rung” Mit­glied der Komis­sion für Er­zie­hungsrefor­men in COP­MA­GUA und dort einer der we­nigen La­dinos.
Gu­sta­vo Palma ist Histo­ri­ker und forscht im Rah­men sei­ner Tätigkeit am Sozial­for­schungs­institut AVANC­SO seit einigen Jahren zu Fra­gen nationaler Identität in Gu­a­te­mala.

Bewegen sie sich doch?

Die Gespräche waren durch Vermittlung der Kirche und of­fensichtlich auch des Oppositi­onspolitikers Carlos Palenque zustandegekommen. Ein Besuch Palenques in der Präsidentenvilla am Abend des 23. April, der zu­nächst Spekulationen über ein politisches Techtelmechtel aus­gelöst hatte, scheint dazu gedient zu haben, die Herstellung von Kontakten zu abgetauchten Ge­werkschaftsführerInnen in die Wege zu leiten. Fünf Tage später versammelten sich die Gewerk­schafterInnen zu einem gehei­men Spitzentreffen, auf dem von ihrer Seite aus der Weg zu der Übereinkunft freigemacht wurde.
Wochenlange Streiks, insbe­sondere der LehrerInnengewerk­schaft, und tägliche Demonstra­tionen, die den Verkehr im Zen­trum von La Paz lahmlegten, wa­ren der Verhängung des Aus­nah­mezustandes vorausgegangen. Am Dienstag, dem 18. April, schien sich der Konflikt zwi­schen Regierung und Ge­werkschaften endlich einer Lö­sung zu nähern, ein vorläufiges gemeinsames Dokument lag vor. Wenige Stunden später klebte das Land vor Fernsehern und Radios. Die Führung des Ge­werkschaftsdachverbandes COB hat­te das Papier abgelehnt, und Präsident Sánchez de Lozada da­raufhin den Ausnahmezustand verhängt.
Aber die BewohnerIn­nen von La Paz nehmen die Re­gelungen des Ausnahmezustan­des nur be­dingt ernst. Allein für das erste Wochenende gingen 2.800 An­träge auf Genehmigung von pri­vaten Festen ein. Die Be­hörden lehnten nur wenige ab. In La Paz ist die Atmosphäre ent­spannt, und Präsident Sánchez de Lozada kann mit viel Zustim­mung dafür rechnen, endlich mit den permanenten Demonstratio­nen und Blockaden aufgeräumt zu haben. Die Einschränkungen des Nachtlebens sind eine unbe­queme Begleiterscheinung, nicht mehr, und viele Vorschriften wurden schon nach wenigen Ta­gen wieder aufgehoben. In Santa Cruz de la Sierra, der zweit­größten Stadt des Landes, gilt nicht einmal mehr das Nacht­fahrverbot, der Ausnahmezu­stand wurde “flexibilisiert”, so die offizielle Sprachregelung.
In Puerto Rico im extremen Norden Boliviens, in Colcha K in der eisigen Kälte des südli­chen Atliplano, und in anderen entlegenen Militärbasen sind die rund 300 GewerkschftsführerIn­nen interniert, die laut der jüng­sten Vereinbarung Anfang Mai freigelassen werden sollen. In La Paz saß Kokabauern-Chef Evo Morales mit mehreren Funktio­nären der Co­calero-Gewerk­schaft eine Woche in Untersu­chungshaft, wesentlich länger als die 48 Stunden, die von der Ver­fassung erlaubt wer­den. Inzwi­schen ist auch er in die Provinz verbannt worden. Jour­nalist­Innen berichten einiges über po­lizeiliche Übergriffe auf sie.
Zweifellos hat es die Regie­rung bei der Durchsetzung des Ausnahmezustandes nicht be­son­ders genau genommen mit der Verfassung, auf die sie sich be­ruft. Schon der Einsatz am Abend des 18. April, bei dem die gesamte Führung der COB ver­haftet wurde, war offensichtlich illegal, der Ausnahmezustand war noch gar nicht ausgerufen. Die Kritik von den großen Op­positionsparteien, von Intellektu­ellen und JournalistInnen richtet sich vor allem gegen diesen Rückfall in Methoden des Um­gangs mit Opposition, die mit dem von der Regierung propa­gierten “neuen Bolivien” nichts zu tun haben. Aber von massiver Begeisterung für die Gewerk­schaftspositionen ist nichts zu spüren. Eher herrscht tiefe Ent­täuschung darüber vor, daß alle Beteiligten offenbar nicht dazu fähig waren, zu konstruktiven Verhandlungen zu finden und damit die Grenzen der boliviani­schen Demokratie aufgezeigt ha­ben.
Die “drei verdammten
Gesetze”
Die Regierung war in den Wochen zuvor gleich an mehre­ren Konfliktfronten in Atem ge­halten worden. Am aktivsten wa­ren in der Hauptstadt die LehrIn­nengewerkschaft und in ihrem Schlepptau die COB. Sie alle ha­ben den “drei verdammten Ge­setzen” den Kampf angesagt, den drei großen Reformvorhaben der Regierung Sánchez de Lozada. Dabei handelt es sich um die “Kapitalisierung”, die boliviani­sche Version der Privatisierung von Staatsbetrieben, um die ley de participación popular, das Ge­setz, mit dem Dezentralisie­rung und demokratische Teil­habe von unten möglich gemacht werden sollen, und schließlich um die Reform des Bildungswe­sens.
Für die LehrerInnengewerk­schaft bildet, wie nicht anders zu erwarten, die Bildungsrefrom die Zielscheibe. Die Reform, so die Kritik der trotzkistischen Ge­werkschaftsführung, werde zu Massenentlassungen von Lehrer­Innen und zur Abschaffung der Kostenfreiheit und damit zu ei­ner “Elitisierung” der Bildung führen. Auch seien in dem Ge­setz keine klaren Konzepte wie Antiimperialismus und Antifeu­dalismus enthalten, und es stelle ein Angriff auf das Gewerk­schaftswesen überhaupt dar. Die participación popular sorge dar­überhinaus mit der Gründung von lokalen “Schulkomitees” mit Beteiligung der Eltern dafür, die Autorität der LehrerInnen in ih­rer Schule zu untergraben.
Tatsächlich garantiert das Ge­setz zur Bildungsreform die ko­stenlose Bildung auf Grund­schulniveau, nicht aber aus­drücklich für weiterführende Schulen. Als Bildungsziele ste­hen statt Antiimperialismus und Antifeudalismus so verwerfliche Begriffe wie “demokratisch, na­tional, interkulturell und zwei­sprachig” im Gesetz. Gerade der interkulturelle Ansatz des Geset­zes, eines der Hauptanlie­gen des Aymara und Vizepräsi­denten Víctor Hugo Cárdenas, gehört zu den Punkten, die in Bolivien auf breite Zustimmung stoßen. Die Notwendigkeit einer Reform des Bildungswesens ist in der Öf­fentlichkeit unumstrit­ten. Zu of­fensichtlich ist die ka­tastrophale Qualität der staatli­chen Schulbil­dung, der Haupt­grund dafür, daß fast nur Kinder aus Familien, die private Schulen bezahlen kön­nen, später für hö­here Positionen in Frage kom­men. Zwar haben viele volles Verständnis für die Forderung der LehrerInnen nach höheren Löhnen, aber der radi­kale ideo­logische Diskurs der Gewerk­schaftsspitze findet kein Echo. “Was bringen diese Lehrer bloß den Kindern bei”, so ein oft ge­hörter Satz.
Ein Kampf um Macht
Präsident Sánchez de Lozada hat nicht ganz unrecht, wenn er behauptet, daß es in diesem Kon­flikt vor allem um die Macht der Gewerkschaften geht. Die Bil­dungsreform sieht vor, daß auch UniversitätsabsolventInnen an­derer Fächer nach einer entsprechen­den Prüfung unter­richten dürfen. Ebenso sollen Beförderungen und Besetzungen von Führungs­posten nach fachli­chen Kriterien und nicht nach Dienstalter und bisherigem Rang besetzt werden. Die LehrerInnen sollen auch nach Beginn ihrer Berufslauf­bahn immer wieder Qualitäts­nachweise erbringen. Zu diesen Regelungen, die die Macht der Gewerkschaft erheb­lich ein­schränken, kommt ein weiteres pikantes Detail: Lehre­rInnen sollen nicht mehr auto­matisch Gewerkschaftsmitglied sein, und die Gewerkschaft soll in Zukunft selbst ihre Mitglieds­beiträge ein­ziehen. Bisher behielt der Staat die Beiträge von den Löhnen ein, nach Angabe der Tageszeitung La Razón rund 700.000 US-Dollar im Jahr.
Sowohl für die LehrerIn­nengewerkschaft als auch für die ganze COB geht es um die Ver­teidigung von Besitzständen, die zum Teil real gar nicht mehr vorhanden sind. Noch vor zehn Jahren war die COB mehr als ein Gewerkschaftsdachverband, sie war die Gegenmacht zum Staat. Sie, und vor allem die Gewerk­schaft der Minenarbeiter, war ih­rem Selbstverständnis nach die Avantgarde des Volkes gegen die repressive Staatsmacht. Tatsächlich waren es vor allem die Gewerkschaften, die Wider­stand gegen die Diktaturen lei­steten. Aber auch unter demo­kratisch gewählten Regierungen rückte die COB nicht von diesem Anspruch ab. Hernán Siles Zuazo, der von 1982 bis 1985 er­ste demokratisch gewählte Präsi­dent nach der García-Meza-Diktatur, kann ein Lied davon singen, weil die COB für die völlige Lähmung seiner Regie­rung sorgte. Die Schließung der meisten staatlichen Minen ab 1985 raubte der COB den best­organisierten Teil ihrer Basis und damit die Grundlage ihrer Macht. Heute vertritt sie nur ei­nen Teil der bolivianischen Ge­sellschaft, ihre Mitglieder eben, aber nicht wenige Funktio­näre nehmen rhetorisch weiter­hin “das bolivianische Volk” für ihre Positionen in Anpruch. Die Ge­werkschaftsführungen kämp­fen “im Namen des Volkes” ge­gen Reformen, über deren Vor- und Nachteile zwar heftig disku­tiert wird, die aber doch prinzi­piell weitgehend akzeptiert wer­den, und sie tut das mit einem radi­kalen Diskurs, der sogar für die eigene Basis nicht mehr glaub­würdig ist. “Die Lehrergewerk­schaft hat doch keine Basis, es sind die Füh­rungsgrüppchen, die die radikale Linie einschlagen”, so eine Leh­rerin in La Paz. “Ich habe ver­sucht, über andere For­men zur Vertretung unserer For­derungen zu reden, aber du hast keine Chance. Die Führung gibt die Parolen vor, und die Dum­men plappern sie nach.”
Für die Kokabauern ist es nichts Neues, im Chapare, der Hauptkokaanbauprovinz im De­partement Cochabamba, mit Po­lizei und Militär zu tun zu haben. Für sie geht es weniger um die großen Reformen der Regierung als konkret um ihre Kokafelder. Die Regierung Sánchez de Lo­zada hat in den knapp zwei Jah­ren ihrer Amtszeit einen Schlin­gerkurs verfolgt. Immer wieder gab es Verhandlungen über die Reduzierung der Ko­ka­an­bau­fläche, dann wieder Mi­li­täreinsätze im Chapare. Eine ko­härente Kokapolitik ist nicht in Sicht.
Kokapolitik in Bolivien wird wesentlich von der US-Botschaft mitgestaltet. Das Credo der US-Position: Kokasträucher müssen vernichtet werden, damit der Kokainproduktion der Rohstoff fehlt. Seit kurzem ist der US-Druck auf Bolivien erheblich an­gestiegen. Unzufrieden mit den schleppenden “Fortschritten” stell­ten die USA ein Ultimatum: Bis Ende Juni müssen 1.700 Hektar Ko­ka­felder ausgerissen sein, sonst wird die US-Hilfe für die Zahlungsbilanz eingestellt – für die Stabilitätspo­litik der boli­vianischen Regie­rung ein Hor­rorszenario. Aber die Kokafelder sind nicht ohne weiteres zu ver­nichten. Die co­caleros verfügen im Mo­ment über die wohl schlagkräf­tigste Gewerkschaft und wehren sich gegen jede Ein­schränkung ihrer Produktion.
Zunächst sollte ein schon öf­ter angewandtes Mittel helfen: Kokabauern wurden 2.500 US-Dollar pro Hektar ausgerissener Kokapflanzungen angeboten. Me­dienwirksam reiste Innenmi­nister Sánchez Berzaín in den letzten Wochen mehrmals mit einem Koffer voller Dollars in den Chapare und ließ sich bei der Übergabe fotografieren. Auch jetzt beteuert die Regierung, daß Bauern nicht zur Aufgabe ihrer Pflanzungen gezwungen würden, und daß das Angebot der 2.500 Dollar weiter bestünde. Ob die Sondereinheiten des Militärs im Chapare der “Freiwilligkeit” bei Bedarf nachhelfen, sei dahinge­stellt. Aber es ist durchaus wahr­scheinlich, daß sich genügend Kokabauern finden, die zu die­sem Schritt bereit sind. Zwar verlieren sie eine lukrative Ein­nahmequelle, aber für viele Campesinos ist die permanente Unsicherheit des Kokaanbaus in­zwischen so zur Belastung ge­worden, daß sie an den Umstieg auf andere Produkte denken. Außerdem bleibt der Weg, eine Kokapflanzung auszureißen und weiter im Wald wieder eines an­zulegen, eine in den vergangenen Jahren übliche Praxis.
Der Ausnahmezustand ver­hilft der Regierung zum nötigen Freiraum zur Durchsetzung die­ses Programmes. Die Gewerk­schaft der cocaleros hatte mit dem Ultimatum der USA ein Druckmittel von unschätzbarem Wert in der Hand. Jede Verzöge­rung des Vernichtungsprogram­mes von Kokafeldern mußte die Regierung in schwere Probleme stürzen. Kenner der Situation im Chapare weisen darauf hin, daß auch die Gewerkschaft gegen­über den Bauern starken Druck ausübt. Auch ihr gegenüber scheint die Entscheidungsfreiheit der Campesinos sehr relativ zu sein. Es ist wohl kein Zufall, daß die Regierung den Ausnahmezu­stand gerade zu diesem Zeit­punkt verhängte und damit die Gewerkschaft lahmlegte. Die Verfassung erlaubt den Ausnah­mezustand für maximal 90 Tage im Jahr, also bis Mitte Juli, kurz nach Ablauf des Ultimatums.

Auch die Regierung weiß, daß ihr der Ausnahmezustand nur eine Atempause verschafft hat, die Probleme aber dadurch nicht gelöst sind. Zwar bleiben die or­ganisierten Proteste im Land bislang punktuell. Aber früher oder später muß sie zu einer Ei­nigung mit Gewerkschaften und Kokabauern kommen, wenn sie ihren Anspruch der Demokrati­sierung Boliviens nicht völlig ad absurdum führen will. Präsident Sánchez de Lozada genießt nicht zuletzt deswegen immer noch relativ großes Vertrauen in der Öffentlichkeit, weil man ihm das ernsthafte Interesse an Demo­kratisierung glaubt, auch wenn seine großen Reformvorhaben mit einer Vielzahl von Proble­men belastet sind.
“Dialog” war nach der Ver­hängung des Ausnahmezustan­des eines der meistbenutzten Worte – von VertreterInnen der Oppositionsparteien über Kir­cheleute bis hin zu einigen Poli­tikerInnen der Regierungspar­teien. Zweifellos will auch der größte Teil der Bevölkerung, enttäuscht vom Rückfall der Re­gierung in undemokratische Methoden, und ebenso von der Verbohrtheit wichtiger Teile der Gewerkschaftsführung, nichts anderes.
Die erste Vorausssetzung für einen Dialog, die Freilassung aller Verhafteten, sagte die Re­gierung am 29. April zu. Über eine mögliche Übereinkunft zwi­schen der Regierung und der Gewerkschaft der Kokabauern war allerdings zu diesem Zeit­punkt noch nichts bekannt.
Auch der Ausnahmezustand soll einstweilen noch weiter gel­ten. Regierungssprecher Er­nesto Machicao sprach allerdings da­von, die Maßnahme könne auf­gehoben werden, sobald Ga­rantien für den sozialen Frieden vorlägen. Dafür wäre allerdings notwendig, daß Regierung und Gewerkschafter nicht beim er­sten Schritt stehenbleiben, son­dern die politische Kultur des “Alles oder Nichts”, des “gegenseitigen Niederkämpfens und Vernichtens”, wie es der Politologe Carlos Toranzo nennt, durch Kompromißfähigkeit er­setzen.

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