Tiefer Graben durch die MAS

Eigene Versammlung statt Parteitag Vizepräsident Choquehuanca (links) und Präsident Arce (Mitte) am 17. Oktober in El Alto (Foto: Jorge Mamani/ABI)

Der Parteitag der MAS am 3. und 4. Oktober hat die beiden Flügel um Präsident Arce und seinen Vorgänger Morales (2006–2019) endgültig entzweit. Die Delegierten des nationalen Kongresses bestätigten Morales als Parteivorsitzenden und erklärten ihn zum „einzigen Kandidaten“ für die Präsidentschaftswahl 2025. Arce und sein Vize David Choquehuanca dagegen wurden aus der MAS ausgeschlossen.

Mehrere soziale Bewegungen und der Dachverband der bolivianischen Gewerkschaften (COB) hatten den Parteikongress in Lauca Ñ im Departamento Cochabamba allerdings schon davor für „illegal und illegitim“ erklärt. Die drei Gründungsorganisationen der MAS, der Gewerkschaftsbund der Landarbeiter*innen (CSUTCB), der Gewerkschaftsbund der interkulturellen Gemeinschaften (CSCIB) und die Landfrauenorganisation Bartolina Sisa, hatten den Parteitag abgelehnt, da an diesem deutlich weniger Vertreter*innen von ihnen teilnehmen sollten als an vorherigen Kongressen.

Auch Arce und Choquehuanca hatten beschlossen, nicht am Parteitag teilzunehmen: „Wir können nicht in ein Haus gehen, in dem die wirklichen Eigentümer, die sozialen Organisationen, nicht anwesend sind“, hatte der Präsident dies begründet. Auf der Versammlung im tropischen Teil Cochabambas, der als politische Bastion von Morales gilt, schlossen die mehr als 1.000 Delegierten dann zügig Arce und Choquehuanca sowie 20 weitere Politiker*innen aus der Partei aus – angeblich eine autoexpulsión, also ein „Selbstausschluss“, da sie nicht an der Konferenz teilgenommen hatten. „Die MAS wird unsere Revolution zurückgewinnen, um das Vaterland erneut zu retten“, betonte Morales am Ende seiner Abschlussrede auf dem Kongress.

Die Anhänger*innen von Arce mobilisierten ihrerseits Unterstützer*innen an der Basis. Der „Einheitspakt“, den fünf einflussreiche politische Basisorganisationen in Bolivien bilden, organisierte am 17. Oktober in El Alto eine große Versammlung und einen Protestmarsch zur Unterstützung des Präsidenten und Vizepräsidenten.

Von weitaus größerer Bedeutung ist jedoch, dass das Oberste Wahlgericht (TSE) am 31. Oktober den MAS-Parteitag in Lauca Ñ und die dort gefällten Entscheidungen für ungültig erklärt und die Durchführung eines neuen Kongresses angeordnet hat. Grund dafür sei, dass Evo Morales nicht die notwendige Bescheinigung über seine Mitgliedschaft in der MAS seit 2002 vorgelegt habe. Außerdem erfüllten 14 der 16 Mitglieder im neu gewählten Parteidirektorium nicht die dafür vom MAS-Statut vorgeschriebenen mindestens zehn Jahre Mitgliedschaft. Während der Einheitspakt umgehend einen neuen Parteitag der MAS ankündigte, bezeichnete Morales das Urteil als „Schlag gegen die Demokratie, die indigene Bewegung und die demokratische Kulturrevolution“ und kündigte an, juristisch und politisch dagegen zu kämpfen.

Anfangs hatten manche in der Fehde zwischen Arce und Morales ein Schauspiel zur Verwirrung der rechten Opposition vermutet. Inzwischen ist aber klar: Ein tiefer Graben zieht sich durch die MAS und durch gesellschaftliche Organisationen wie den CSUTCB oder die Landfrauenorganisation Bartolina Sisa, die jahrelang als starke Basis den politischen Prozess der Umgestaltung in Bolivien durch die MAS unterstützten. Auf der einen Seite sind die Anhänger*innen von Präsident Luis Arce, die Arcistas; ihnen gegenüber stehen die Evistas, die Unterstützer*innen von Parteigründer Evo Morales.

Am 19. August beispielsweise eskalierte der Kongress des Gewerkschaftsbunds CSUTCB in der Stadt El Alto: Dort kam es zu erbitterten Schlägereien, mehr als 450 Teilnehmende wurden verletzt. Der CSUTCB ist jetzt gespalten, die einflussreiche Gewerkschaft besteht aus zwei Fraktionen mit je eigenem Vorsitz. Einer wird von der Regierung Arce anerkannt, der andere vom MAS-Parteivorsitzenden Morales.

Das hat weitreichende Folgen. „Ich glaube, dass sich die MAS in zwei Parteien aufspalten wird“, erwartet Fernando Molina, bolivianischer Journalist und Autor des kürzlich veröffentlichten Buches Die Krise der MAS. Zu tief sei die Spaltung zwischen Arce und Morales mittlerweile – dabei gibt es zwischen beiden keine großen ideologischen Unterschiede. Arce war viele Jahre lang Wirtschaftsminister in den Regierungen von Morales und galt als dessen Verbündeter.

Vor einem Jahr, im September 2022, hatte Morales erstmals einen „schwarzen Plan“ der Regierung Arce gegen ihn und sein Umfeld beklagt. Es begannen zahlreiche scharfe Auseinandersetzungen, die Wunden auf beiden Seiten hinterlassen haben: Im Juni 2023 warnte Morales zum Beispiel vor einem „Komplott“ der Regierung, um ihn zu „zerstören“. Der gegenseitige Vorwurf, korrupt und in den Drogenhandel verwickelt zu sein, gehört in dieser politischen Fehde fast schon zum Standard.

Arce und seine Regierung stehen vor akuten Problemen

Der Ursprung des Konflikts liegt dabei wahrscheinlich weiter zurück: Vor der Wahl 2020 hatte Evo Morales noch Luis Arce als MAS-Kandidaten durchgesetzt, um seinen politischen Rivalen und den eigentlichen Favoriten der Partei, David Choquehuanca, zu verhindern. Die MAS gewann die Abstimmung deutlich, Arce wurde Staatspräsident und Choquehuanca sein Vize. Angeblich hatte es damals die Vereinbarung gegeben, dass Morales 2025 als Kandidat zurückkehren werde, doch Arce und Choquehuanca etablierten sich selbstbewusst als Regierung der Erneuerung statt als Platzhalter.

In Teilen der Partei gab es bereits damals die Forderung, sich von der Identifikationsfigur Evo Morales und seinem Gefolge abzunabeln. In seiner Rede bei der Amtseinführung als Präsident im November 2020 erwähnte Arce Morales mit keinem Wort. Weder sprach er ihn an, noch dankte er ihm. Außerdem entfernte die Regierung nach und nach Vertraute von Morales aus der Regierung. Zuletzt wurde am 6. September Generalstaatsanwalt Wilfredo Chávez, einer der wenigen in hohen Ämtern verbliebenen Evistas, ausgetauscht.

Gleichzeitig stehen Arce und seine Regierung vor akuten Problemen: Boliviens Wirtschaftsmodell ist strukturell verletzlich, weil es stark von Marktpreisen für Rohstoffe abhängig ist. Ende August bestätigte der Präsident, was Fachleute seit Jahren vermuten: Die Gasreserven des Landes gehen zur Neige. Zudem spüren die Menschen die Klimakrise und die Folgen der Umweltzerstörung, die Bevölkerung großer Teile des Landes leidet unter extremer Trockenheit, das Wasser im Lago Titicaca sank auf einen historischen Tiefstand.

Auch als Bolivien am 31. Oktober erklärte, die diplomatischen Beziehungen zu Israel abzubrechen und als Grund dafür „die aggressive und unverhältnismäßige israelische Militäroffensive im Gazastreifen“ nannte, stand das durchaus in der Tradition der Politik der Regierungen von Morales: Bereits 2009 hatte Evo Morales den diplomatischen Austausch zu Israel ausgesetzt, als dessen Armee damals den Gazastreifen angriff. Erst die De-facto-Präsidentin Jeanine Añez nahm vor drei Jahren die Beziehungen zu Tel Aviv wieder auf. Trotzdem konnte sich Morales dieses Mal den Seitenhieb nicht verkneifen, die Entscheidung Arces komme erst nach drei Jahren im Amt und auf Druck der Bevölkerung. Zudem sei sie nicht ausreichend, stattdessen müsse Bolivien Israel zum „Terrorstaat“ erklären und vor dem Internationalen Strafgerichtshof verklagen.

Falls es innerhalb der MAS keine Einigung gibt oder sich eine der beiden Parteiströmungen durchsetzt und danach die volle Unterstützung erhält, könnte sich die politische Landschaft in Bolivien erstmals seit dem ersten Wahlsieg von Morales 2005 entscheidend verändern. Álvaro García Linera, der von 2006 bis 2019 Vize der Regierung Morales war und seit Monaten vor dem politischen Desaster einer Spaltung der MAS warnt, versicherte bereits, die Folge eines Bruchs würde eine Niederlage 2025 bedeuten. Morales ebenso wie Arce hätten daher die „moralische, historische und politische Verpflichtung zur Einheit“.

Eine Spaltung der MAS könnte den politischen Gegnern helfen

Eine Spaltung der MAS könnte darüber hinaus den politischen Gegnern helfen, die derzeit noch sehr schwach wirken: Sie verfügen nicht über eine Organisation an der Basis wie die MAS, prominente Oppositionspolitiker*innen wie der rechte ehemalige Präsidentschaftskandidat Luis Camacho oder die ehemalige De-facto-Präsidentin Jeanine Añez sitzen in Haft.

Nicht zu unterschätzen sind die Folgen des aktuellen Streits für die Basis. Die MAS konnte Bewegungen von Arbeiter*innen im Bergbau und in der Landwirtschaft sowie indigene Organisationen vereinen und aus dieser Einheit ihre Stärke ziehen. Die politische Vertretung des Landes befinde sich jetzt jedoch in der Krise und die sozialen Organisationen seien „zerbrochen“, warnt Jorge Richter, der Sprecher des Präsidenten, vor einem „Parallelismus“ in den sozialen Bewegungen.

Von einer „selbstmörderischen Einstellung“ der MAS spricht Journalist Molina, bevor er hinzufügt: „Das schlimmste Szenario für die bolivianische Linke ist, dass die MAS die Wahl 2025 verliert und aufgrund der Spaltung der sozialen Organisationen keine Kraft hat, sich der neuen Regierung entgegenzustellen.“ Dann könne der Neoliberalismus nach Bolivien zurückkehren, weil niemand in der Lage sei, die sozialen und politischen Errungenschaften der vergangenen Jahre zu verteidigen.

Wenn im zweiten Halbjahr 2025 tatsächlich Arce und Morales gegeneinander kandidieren sollten, wird auch die Frage, wer unter dem Akronym MAS antreten darf, bedeutend. Das Parteikürzel der Bewegung zum Sozialismus steht heute für den einschneidenden gesellschaftlichen Wandel, den Bolivien in den vergangenen beiden Jahrzehnten erlebt hat, sowie vier siegreiche Präsidentschaftswahlen seit 2005. Im Falle eines Streits um die Nutzung der Abkürzung würde die Entscheidung beim Obersten Wahlgericht liegen. „Für diesen Namen könnte Blut fließen, denn es ist ein sehr mächtiger Name in einer Wahl“, warnt Fernando Molina bereits.

NICHT ALLES HARMONISCH

Für die MAS läuft nicht alles rosig Präsident Luis Arce und Expräsident Evo Morales bei einer Demonstration (Foto: ABI)

Als Luis Arce im Oktober 2020 mit 55 Prozent der gültigen Stimmen und großem Vorsprung zum Präsidenten des Plurinationalen Staates Bolivien gewählt wurde, war das Ergebnis in dieser Deutlichkeit für viele eine große Überraschung. Die Wahl brachte somit die Erkenntnis: Die Bewegung zum Sozialismus (MAS) kann auch ohne ihre Identifikationsfigur Evo Morales, Präsident von 2006 bis 2019 und immer noch Parteivorsitzender, Wahlen gewinnen. Sowohl in der Abgeordnetenkammer als auch im Senat erreichte die linke Partei 2020 wieder eine absolute Mehrheit.

Ein Jahr zuvor hatte es noch ganz anders ausgesehen: Die Wahlen 2019 hatten Morales und die MAS zwar gewonnen. Nach Vorwürfen des Wahlbetrugs und tagelangen Protesten auf den Straßen sowie einem Aufstand von Teilen der Polizei forderten Militärs jedoch Morales Rücktritt und er flüchtete aus dem Land. Die Macht übernahm als selbsternannte Übergangspräsidentin die rechte Senatorin Jeanine Áñez, die dann ein Jahr lang an dem Amt festhielt. In den Wochen nach ihrer Amtsübernahme lieferten sich Anhänger*innen aus verschiedenen politischen Lagern gewalttätige Auseinandersetzungen – sowohl untereinander als auch mit Polizei und Militär. Im November 2019 kam es dabei an mehreren Orten zu schweren Menschenrechtsverletzungen, Massakern und außergerichtlichen Hinrichtungen durch die De-facto-Regierung von Áñez, beklagte die Interdisziplinäre Gruppe unabhängiger Experten (GIEI) der Interamerikanischen Menschenrechtskommission in ihrem Bericht vom Juli 2021. Dabei wurden mindestens 37 Menschen getötet und Hunderte verletzt.

Mit der Wahl von Luis Arce ist die Linke wieder an der Macht und die Lage scheint sich beruhigt zu haben. Arce, der als enger Vertrauter von Morales gilt, ist Ökonom und war während dessen Präsidentschaft Wirtschaftsminister. Er steht für den sozial gerechten wirtschaftlichen Aufschwung der vergangenen Jahre in Bolivien. Nach zwei Jahren ist die Bilanz seiner Regierung nicht schlecht:

Die COVID-19-Pandemie hat zwar schmerzhaft die Schwächen der Gesundheitsversorgung in Bolivien aufgezeigt, monatelange Einschränkungen wie Ausgangssperren oder die Schließung der Märkte trafen vor allem Menschen, die ihr Essen und Geld für andere Ausgaben von Tag zu Tag verdienen müssen: Taxifahrer*innen und Busfahrer*innen, Marktverkäufer*innen und die bäuerliche Bevölkerung. Die wirtschaftliche Situation hat sich inzwischen aber erholt, Boliviens Bruttoinlandsprodukt wuchs im Jahr 2021 um 6,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das Land weist derzeit die niedrigste Inflationsrate in ganz Lateinamerika auf, im August 2022 lag sie im Vergleich zum Vorjahresmonat bei 1,6 Prozent.

Die Regierung Arce setzt auf öffentliche Investitionen und verspricht eine Strukturpolitik, die Wertschöpfungsketten zunehmend im Land hält. Nach dem jahrzehntelangen Ausverkauf der heimischen Rohstoffe an ausländische Firmen kündigt die Regierung eine nationale Industrialisierung von Lithium an. Bislang ist Bolivien jedoch weiter stark vom Export von Rohstoffen wie Erdgas und Gold abhängig, und damit auch von der Höhe der Preise auf dem Weltmarkt. Zudem plant die Regierung staatlich finanzierte Megaprojekte, den Bau von Straßen, Industrieanlagen, Gesundheitszentren, Plätzen und Parks im Wert von mehreren Milliarden US-Dollar. So soll bis zum „Bicentenario“, dem 200. Jahrestag der Unabhängigkeit Boliviens am 6. August 2025, die Wirtschaft des Landes gestärkt und die Lebenssituation der Bolivianer*innen verbessert werden.

Sogar der IWF hob Mitte September 2022 die Erfolge des Landes bei der Stabilisierung der Wirtschaft und der Armutsbekämpfung hervor. Er empfahl aber auch, die Bindung der bolivianischen Währung Boliviano an den Dollar-Kurs und staatliche Subventionen wie die für Kraftstoffe zu überprüfen. Präsident Arce lehnte diese „alten Rezepte“ umgehend ab: „Unser soziales, gemeinschaftliches und produktives Wirtschaftsmodell ist souverän und zeigt weiterhin seinen Erfolg beim Abbau sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheiten in Bolivien“, twitterte er.

Auch im Ausland wirbt Boliviens Präsident für das, was er in seinem gleichnamigen Sachbuch als ein „erfolgreiches und gerechtes Wirtschaftsmodell“ beschreibt. Anfang September traf er sich in Brasilien mit Präsidentschaftskandidat Lula da Silva und schenkte ihm das Buch. Zu anderen sich als links verstehenden Regierungen Lateinamerikas suchte Boliviens Staatschef ebenfalls den Kontakt, traf sich in den vergangenen Monaten mit den Präsidenten von Chile und Peru, Gabriel Boric und Pedro Castillo. Mitglieder des chilenischen Verfassungskonvents erkundigten sich außerdem im Zuge der Ausarbeitung einer neuen Verfassung in Bolivien zu Themen wie Plurinationalität.

Als besonders eng gilt das Verhältnis zu Argentinien und dem dortigen Präsidenten Alberto Fernández. Beide Staaten gehören zu den Ländern mit den größten Vorkommen an Lithium weltweit und vereinbarten eine Zusammenarbeit bei der Herstellung von Zellen und Batterien. Im September 2022 präsentierte Luis Arce dann in der UN-Vollversammlung 14 Vorschläge für eine sozial gerechtere Welt, darunter der Zugang zu Gesundheitssystemen für alle Menschen, die Industrialisierung von Lithium zum Wohle aller und als Grundpfeiler einer Energiewende sowie Ernährungssouveränität in Harmonie mit der Erde.

Dennoch ist nicht alles harmonisch in Bolivien. Ausgerechnet an einem nur scheinbar wenig konfliktgeladenen Thema entzündete sich im August 2022 der permanent schwelende Konflikt zwischen der Zentralregierung und der MAS einerseits und ihren politischen Gegner*innen vor allem im östlichen Tiefland Bolivien andererseits: am Zensus. Präsident Arce hatte die für November 2022 geplante Erhebung statistischer Bevölkerungsdaten auf Mitte 2024 verschieben lassen. Darauf folgte ein Aufschrei der Opposition. Der ultrarechte Gouverneur des Departements Santa Cruz, Luis Fernando Camacho, rief im August 2022 zu einem zweitätigen Streik auf und forderte, der Zensus müsse noch 2023 stattfinden. Zuletzt drohten die einflussreichen Bürgerkomitees in Santa Cruz sogar mit einem unbefristeten Streik, falls die bolivianische Regierung dieser Forderung nicht nachkommt.

Denn beim Zensus, der etwa alle zehn Jahre erhoben wird, geht es nicht zuletzt um Geld und politischen Einfluss. Das Departement Santa Cruz gilt als wirtschaftsstärkste Region des Landes, seine Hauptstadt Santa Cruz de la Sierra ist mittlerweile die bevölkerungsreichste Stadt Boliviens und wächst weiter. Eine höhere Zahl an Einwohner*innen bedeutet für Städte und Regionen wiederum mehr finanzielle Zuwendungen aus Steuern und mehr Parlamentssitze. Hinzu kommt der andauernde Konflikt zwischen dem in der Mehrheit politisch konservativen, von Nachkommen der Einwander*innen aus Europa geprägten Santa Cruz und der Zentralregierung in La Paz im Hochland. Luis Fernando Camacho selbst spielte bei den Protesten gegen Morales 2019 eine zentrale Rolle, als er mit der Bibel in der Hand in den Präsidentenpalast eindrang, um Morales zum Rücktritt zu drängen. Den Streik in Santa Cruz bezeichneten Anhänger*innen der Regierung als erneuten Versuch eines rechten Staatsstreichs. Ende August 2022 zogen Zehntausende Menschen bei einem „Marsch zur Verteidigung der Demokratie und des wirtschaftlichen Wiederaufbaus“ von der Millionenstadt El Alto zum Regierungssitz La Paz, um ihre Unterstützung für die Regierung von Präsident Arce zu demonstrieren. „Das Volk will keine Putsche mehr!“, betonte Arce dort in einer Rede. „Es wird sich nicht von der Rechten verführen lassen, weil es seit 2019 gelernt hat, dass die Rechte sich nur die eigenen Taschen füllen und die der Bevölkerung leeren will“. Zum Protest aufgerufen hatten auch Basisbewegungen, die traditionell eng mit der MAS verbunden sind: der Pakt der Einheit, der Dachverband der Gewerkschaften Boliviens (COB) sowie die Organisation indigener Bäuerinnen Bartolina Sisa.

Doch das Verhältnis der Regierung zu anderen Gruppen der Zivilgesellschaft wirkt getrübt. So wurde die frühere Übergangspräsidentin Jeanine Áñez im Juni 2022 für die Amtsübernahme 2019 zu zehn Jahren Haft wegen Verstößen gegen die Verfassung verurteilt, ein Prozess wegen der Massaker im November 2019 steht aber noch aus. Opfer und ihre Angehörigen klagen bis heute darüber, dass sie von der Regierung im Stich gelassen und nicht entschädigt worden seien. Indigene Organisationen und Naturschützer*innen kritisieren die Zerstörung der Umwelt und indigener Territorien durch den Bau von Straßen und Staudämmen sowie durch den Bergbau ebenso wie die immense Abholzung des Regenwaldes für Sojaanbau und Viehwirtschaft. Auch gegen den Machismo und geschlechtsspezifische Gewalt, die allgegenwärtige Korruption, Vetternwirtschaft und die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz werden Proteste lauter. Diese kritischen Stimmen zu ignorieren, könnte für Luis Arce und der MAS durchaus gefährlich werden. Die Mobilisierungen gegen Morales in den drei großen Städten La Paz, Santa Cruz und Cochabamba im Jahr 2019 hatten bereits gezeigt, dass es der MAS in der wachsenden urbanen Mittelschicht an Rückhalt fehlt. Und auch bei den Regionalwahlen im März 2021 erzielte die Partei ein eher durchwachsenes Ergebnis.

Neue Goldgrube Der Lithiumabbau im Salar de Uyuni könnte Bolivien wirtschaftlich nachhaltig stärken (Foto: Coordenação-Geral de Observação da Terra/INPE via Flickr , CC BY-SA 2.0)

Die Wahl von Arce schien auch die Möglichkeit einer leichten politischen Neuausrichtung, doch offenbar ist es für den Präsidenten und Teile der MAS schwierig, den langen Schatten von Evo Morales zu verlassen. Morales selbst hatte Anfang 2020 in seinem damaligen Exil in Argentinien eingeräumt, dass es ein Fehler gewesen sei, 2019 noch einmal anzutreten und für eine insgesamt vierte Amtszeit in Folge zu kandidieren. Jetzt scheint sich der immer noch einflussreiche Parteivorsitzende der MAS für eine Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl 2025 vorzubereiten. Dabei kommt es auch innerhalb der Partei zu Streitereien, die von den oppositionellen Medien genüsslich als Zeichen eines kommenden Zusammenbruchs der MAS gedeutet werden: Anfang September beschwerte sich Morales, dass Regierungsminister Eduardo del Castillo und Teile des Kabinetts einen „Plan Negro“ verfolgten, um ihn zu diskreditieren und seine Kandidatur im Jahr 2025 zu verhindern. Del Castillo antwortete darauf nicht weniger drastisch und bezeichnete die früheren Minister der Regierung Morales als „Krebsgeschwüre“, die den Staatsstreich im Jahr 2019 nicht verhindert hätten. Diese Auseinandersetzungen innerhalb der MAS übertönen im aktuellen politischen Geschehen gesellschaftliche Probleme wie die bestehende gesellschaftliche Ungleichheit und Armut, Kriminalität und Korruption und die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, die strukturelle Diskriminierung von Frauen und Mädchen und Umweltzerstörungen. Gerade diese Themen sind es jedoch, die in einem Land wie Bolivien, in dem die Hälfte der Bevölkerung unter 25 Jahre alt ist, derzeit an Aufmerksamkeit gewinnen. Anfang dieses Jahres waren mehrere Tausend Frauen zum Gerichtshof in La Paz gezogen, um gegen machistische Gewalt und die Korruption in der Justiz zu demonstrieren. In Bolivien werden jedes Jahr mehr als 100 Frauen und Mädchen Opfer von Feminiziden, werden aufgrund ihres Geschlechts getötet. „Ist Dir klar, wie wenige der mehr als 100 Feminizide, die in Bolivien jedes Jahr verübt werden, vor Gericht gebracht werden und wirklich Gerechtigkeit erfahren? Es gibt so viele Fälle von Morden an Frauen, und viel zu häufig bleiben Vergewaltiger und Frauenmörder unter dem Schutz von Staat und Justiz straffrei“, mahnte Kiyomi Nagumo, Aktivistin der ökofeministischen Gruppe Salvaginas.

Ökofeministische Ansätze zeigen Auswege aus der Krise auf

Ökofeministische Ansätze zeigen Auswege aus der Krise auf

Zu diesen neuen, progressiven Forderungen gehört auch der Anspruch, dass die linke Regierung das häufig betonte Leben im Gleichgewicht mit der Mutter Erde verwirklicht und das neo-extraktivistische Wirtschaftsmodell Boliviens mit der Ausbeutung von Rohstoffen und dem großflächigen Anbau von Soja und der Viehwirtschaft für den Export überdenkt. Die Geschichte Boliviens ist geprägt von der Ausbeutung von Ressourcen auf Kosten der Menschen und der Natur – erst durch die spanischen Invasoren, die Silber aus Bolivien raubten, nach der Unabhängigkeit machten dann lokale Eliten und transnationale Konzerne mit Zinn und Kautschuk ein Vermögen.

Diesen historischen Fehler will die bolivianische Regierung beim Metall Lithium nicht wiederholen und kündigt deshalb eine Industrialisierung des Rohstoffes im eigenen Land an. Nach Lithium gibt es weltweit eine sehr große Nachfrage, der seltene Rohstoff gilt als Schlüsselmetall in der Batterietechnologie für Elektrofahrzeuge. Bolivien verfügt im Salar der Uyuni, dem größten Salzsee der Erde, über etwa ein Fünftel der weltweit bekannten Vorkommen an Lithium. Von Bedeutung ist deshalb, wie die Regierung den Abbau und eine Industrialisierung umsetzt, die Ansprüche der am Salar de Uyuni lebenden Gemeinschaften regelt und gleichzeitig mögliche Umweltzerstörungen durch den Abbau von Lithium und durch den hohen Verbrauch von Wasser für die Gewinnung des Metalls verhindert.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier „Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika“. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

„SIE KOMMEN WIE FALLSCHIRMSPRINGER“

Foto: Erwin Melgar

Sie kämpfen gegen illegale Landbesetzung. Wie verläuft diese konkret?
Barba: Die Agrarreformbehörde (INRA) schickt immer wieder Leute hier in die Region, angeblich um Siedlungen zu gründen. Und die beginnen, das Land zu roden, Bäume zu fällen, Holzkohle zu machen, all das zu verkaufen, und dann sind sie wieder weg. Dem müsste INRA eigentlich Einhalt gebieten. Aber sie tun nichts. Auf einer großen Versammlung haben wir deshalb jüngst drei Forderungen beschlossen: Erstens die Annullierung der Landtitel dort, wo überhaupt keine Familien leben, zweitens die Respektierung der indigenen Territorien und drittens die gerichtliche Verfolgung der Landspekulanten.

Woher kommen diese Landspekulanten?
Barba: Es gibt Leute von hier, die denen von auswärts den Weg bereiten, aber die meisten kommen direkt. Eigentlich vertrauen wir erst einmal darauf, dass sie hier Ackerbau betreiben wollen. Wir haben aber nicht die Mittel, das zu kontrollieren. Manche aus dem Hochland kommen mit der Autorisierung der Landreformbehörde, andere besetzen das Land illegal. Die sind noch aggressiver. Und deshalb wehren wir uns.

Das Cabildo von San José hat im März aber auch eine Siedlung von Mennoniten verteidigt, in die eine Gruppe aus dem Hochland unter Schutz der Polizei und des INRA eindringen wollte. Die Mennoniten kommen ja eigentlich auch nicht aus der Chiquitania, sondern aus Paraguay, Belize oder ursprünglich Friesland oder Preußen. Warum verteidigt das indigene Cabildo von San José diese Gruppe?
Barba: Sie sind aber hier in Bolivien geboren und bolivianische Staatsbürger*innen. Und es sind Kleinbauerngemeinden, die Ackerbau und Viehzucht betreiben.

Die Quechua und Aymara, die aus dem Hochland kommen, sind auch in Bolivien geboren.
Barba: Richtig, aber sie kommen meist illegal hierher. Von heute auf morgen tauchen sie irgendwo auf.
Masaí: Wie Fallschirmspringer. Manche wollen wirklich vom Ackerbau leben. Aber andere interessiert nur der Boden und die Ausbeutung der Holzbestände. Da bleibt nichts stehen. Mit der Entwaldung trocknen dann auch die Flüsse aus. Der Suto, der früher San José mit Trinkwasser versorgt hat, ist inzwischen verschwunden. Jetzt müssen wir Brunnen bohren. Auch der See von Concepción trocknet inzwischen zeitweise aus. Und wenn das Wasser verschwindet, dann vertrocknen die Pflanzen und es kommt zu Großbränden. Mit dem Wind in der Trockenzeit kann selbst der kleinste Funke überspringen.
Barba: Manche legen das Feuer auch absichtlich.

Was könnem Sie gegen die Waldrodung tun?
Barba: Wir sind ja nicht vor Ort und bräuchten auch die Mittel, um uns fortzubewegen. Auch würden wir gerne bei Bränden mit unseren jungen Leuten direkt eingreifen. Dafür benötigt man Schutzkleidung, Verpflegung, Transport. Der frühere Bürgermeister sagte uns, dass die Gesetze es nicht erlauben, dass staatliche Gelder oder Gerätschaften an private Institutionen gegeben werden. Dabei sind wir die Ureinwohner hier! Und die MAS (Regierungspartei, Anm. d. Red.) wird uns auch nicht unterstützen, jetzt da sie wissen, dass wir gegen die Landbesetzungen sind.

Die Landvergabe erfolgt in der Regel an Anhänger der Regierungspartei. Damit wird Gefolgschaft gesichert. Ein anderes Ziel ist, mehr Präsenz in Regionen zu bekommen, wo die MAS bislang keine Wahlen gewinnen konnte.
Barba: Wir haben schon zwei dieser Landbesetzungen aufgelöst. Eine auf einem Privatgrundstück in Dolores. Wir sind dort mit ein paar jungen Leuten hin. Ich habe mich als Cacique vorgestellt, und gesagt, dass ich im Rahmen der Gesetze handele und auf das Agrarreformgesetz hingewiesen. Und dann habe ich ihnen bis Sonntag Zeit gegeben, das Gelände zu räumen. Die Gesetze sind klar. Bei der Landverteilung müssen die indigenen Völker Priorität haben, dann kommt die ansässige kleinbäuerliche Bevölkerung. Und erst dann Migranten aus anderen Regionen. Wir würden niemanden diskriminieren, sage ich ihnen. So viele sind schon aus dem Hochland gekommen, aber auf legalem Weg. Die Interkulturellen (Eigenbezeichnung der Siedler aus dem Hochland, Anm. d. Red.) versuchen sogar mit Gewalt, sich das Land anzueignen. Und wenn sie argumentieren, dass sie doch alle bolivianische Brüder und Schwestern sind, dann sage ich: Ja, es ist überfällig, dass die Regierung sich endlich mit uns an einen Tisch setzt, dass wir analysieren, welches Staatsland noch verfügbar ist und wer von den hier ansässigen dieses Land benötigt. Und was dann übrig ist, das kann an die Zuwanderer verteilt werden.

Verträgt denn das Ökosystem des Trockenwaldes der Chiquitania eine weitere Abholzung?
Barba: Das muss man sich im Einzelnen anschauen. Die Naturschutzgebiete müssen davon ausgenommen sein. Nur das Staatsland, was für Landwirtschaft geeignet und übrig ist, kann vergeben werden. Hier in San José gibt es nicht mehr viel davon. Aber wir haben auch nicht nur ein Kind. Und unsere Kinder sollten auch die Chance haben, hier weiter zu leben. Sollen sie fortziehen müssen, damit Landbesetzer ihre Geschäfte machen können?
Masaí: Die Regierung will darauf keine Rücksicht nehmen. Und die Leute haben Angst, bei den Regierungsstellen zu protestieren, weil sie Repressalien fürchten. Sie sind die ständigen Auseinandersetzungen auch leid. Die Politik hat ihnen keine Antworten gegeben. Deshalb haben wir uns als Cabildo in dieser Sache organisiert und sind aktiv geworden. Da uns die Verfassung das Recht gibt und wir von keiner politischen Gruppe abhängig sind, können wir das machen. Diese „Casa del Bastón“ (der Sitz des Cabildos, Anm. d. Red.) wird sich deshalb nicht mehr nur um Tänze oder Musik kümmern, sondern um die Verteidigung unserer Territorien. Der indigene Kleinbauernverband Turubó hat sich dafür mit uns verbündet.

Gibt es in der Gemeinde San José de Chiquitos indigene Territorien und sind sie von der Agrarreformbehörde als solche anerkannt?
Masaí: Offizielle Titel haben wir noch nicht. Aber die Verfassung sichert uns die Kontrolle unserer Territorien zu. Deshalb kann nicht jeder einfach hier hin kommen.

Wurde die Titulierung denn beantragt?
Barba: Wir haben die gesamte Dokumentation eingereicht und nie eine Antwort bekommen. Auf die jüngste Resolution der großen Versammlung gab es auch keine Antwort. Wir werden die Unterlagen erneut schicken. Das Einzige, was wir bekommen, sind Konflikte. Einer der unseren ist dabei sogar umgekommen. Aber am Ende haben wir sie stoppen können.

Gibt es auch Verbündete in der Politik?
Barba: Eigentlich müssten alle staatlichen Amtsträger unsere Verbündeten sein. Sie sind auch alle mal aufgetaucht, aber der Bürgermeister und der Subgouverneur haben sich dann nicht mehr blicken lassen. Geblieben sind drei Institutionen: Das Cabildo, der Kleinbauernverband Turubó und das Comité Cívico. Eine, die uns unterstützt, ist die nationale Abgeordnete der Chiquitanía Maria René Alvarez. Aber der Gouverneur (von der gleichen rechtsgerichteten Regionalpartei CREEMOS, Anm. d. Übers.) hat sich bis heute nicht zu unseren Forderungen geäußert.

Die von der OICH (Indigene Organisation der Chiquitanía) gewählte Abgeordnete im Regionalparlament hat keinen Kontakt zum Cabildo von San José?
Barba: Wir sind keine politische Organisation. Wir richten uns nach unseren Sitten und Bräuchen und haben auch nichts mit den unterschiedlichen Aufspaltungen des Dachverbandes der Indigena-Organisationen des Tieflands zu tun. In dem Augenblick, in dem wir uns einer der genannten Organisationen anschließen würden, gäbe es Probleme, Parteienstreit. Dass wir nicht der CIBOB angeschlossen sind, war auch der Grund, warum der Direktor der Agrarreformbehörde uns erst nicht anhören wollte. Das war schon ziemlich unverschämt. Wir brauchen keine politische Anbindung, sagte ich ihm, wir sind durch die Verfassung anerkannt. „Aber ihr seid ja nicht einmal als Organisation registriert“, meinte er. Aber dann hat er es selbst eingesehen.

Als das Cabildo seine große Versammlung der Chiquitano-Gemeinden von San José zur Landfrage organisiert hat, kamen auch Delegationen aus Guarayos und San Ignacio.
Barba: Auch aus Roboré, San Miguel, San Rafaél, alle in der Chiquitanía sind von den Landbesetzungen betroffen. Wir wollen uns deshalb gegenseitig helfen. Wir haben schon eine ganze Reihe von Anzeigen gegen illegale Landbesetzer beim INRA unterstützt, von denen drei Fälle inzwischen gelöst werden konnten. Allerdings gibt es noch vier Dörfer, die sich im Rechtsstreit mit Landbesetzern befinden.

NÄHRSTOFFREICHE OASE IN DER STADT

Üppige Ernte Urbane Landwirtschaft (Foto: FOCAPACI)

Wie ernährt sich eine Stadt auf 4.150 Höhenmetern?
Ursprünglich bekam El Alto Nahrungsmittel nur vom Land, entweder vom Altiplano, aus den tiefer liegenden Gebieten oder aus der Region östlich der Stadt. In den letzten Jahren sind viele Menschen vom Land in die Stadt gezogen, weil die Regierung den ländlichen Raum nicht unterstützt hat und sie von ihrem Anbau nicht mehr leben konnten. Sie wissen viel über den Anbau in der Region. Auf dem Land haben sie zum Beispiel Salat, Kartoffeln, Bohnen, Gerste und Pfirsiche geerntet. In der Stadt nutzen sie Gewächshäuser, sogenannte carpas solares, und konnten so ihre Anbaupflanzen noch diversifizieren.

Welche Produkte ernten die Menschen in den Gewächshäusern?
In den Gewächshäusern herrscht ein Mikroklima, das günstiger für den Anbau verschiedener Pflanzen ist als das trockene Klima in El Alto. So können die urbanen Landwirt*innen bis zu 60 verschiedene essbare Pflanzen kultivieren. Zu denen, die am besten wachsen, gehören verschiedene Salatsorten, Minze, chilto (Baumtomaten, Anm. d. Red.), Mangold, Sellerie und Erdbeeren, aber auch Oregano und Petersilie.
Woher kommt denn das Wasser für den Anbau in der Stadt?

Die meisten Familien benutzen ihr Leitungswasser. Manche, vor allem am Stadtrand, haben auch Brunnen. In den letzten Jahren haben die urbanen Landwirt*innen außerdem angefangen, Regenwasser zu sammeln und Abwasser wiederzuverwenden, denn durch den Klimawandel wird der Wassermangel hier wirklich schlimm werden. Das Regenwasser hat den Vorteil, dass es kein Chlor enthält, das im Leitungswasser meistens enthalten ist.

Wie sieht es mit Schädlingskontrolle aus?
Zum einen nutzen die Landwirt*innen Produkte aus Pflanzen wie Knoblauch und Zwiebeln. Die töten zwar nicht alle Schädlinge, aber sie reduzieren sie. Dann ist es auch hilfreich, die verschiedenen Pflanzen geschickt zu kombinieren, so dass sie einander vor Schädlingen schützen. Auch Nützlinge wie Marienkäfer, Spinnen und Wespen kommen zum Einsatz. Und schließlich gibt es einige Schädlinge, die einfach per Hand abgesammelt werden.

Verkaufen sie die Produkte auch und wenn ja, an wen?
Es ist nicht das eigentliche Ziel unseres Projekts, Geschäfte zu machen. Wir wollen vielmehr, dass die Familien, die die Produkte anbauen, sich möglichst vielfältig ernähren können. Dennoch gibt es Überschüsse und die müssen verkauft oder verschenkt werden. Eine Gruppe von etwa 30 Frauen widmet sich nur dem Verkauf der Produkte. Sie haben dafür extra ein zweites Gewächshaus gebaut. Sie verkaufen auch Produkte von anderen Familien. Die Frauen leben am Stadtrand, organisieren aber in La Paz und El Alto regelmäßig die Märkte Eco Huerta (Biogarten) und Maravilla Alteñas (Wunder aus El Alto). Außerdem bieten sie ihre Produkte recht erfolgreich online an.

Wie haben sich die Ernährungsgewohnheiten Ihrer Projektteilnehmer*innen in El Alto in den letzten Jahrzehnten verändert?
Die meisten Menschen, mit denen wir arbeiten, sind Migrant*innen vom Land. Dort haben sie vor allem Kartoffeln sowie chuños (durch Trocknen haltbar gemachte Kartoffeln, Anm. d. Red.), oca (knolliger Sauerklee), Nudeln und andere sehr kohlenhydrathaltige Nahrungsmittel gegessen. Durch den Anbau in Gewächshäusern ist ihre Ernährung vielfältiger geworden. Durch unser Projekt haben sie nicht nur mehr über biologischen Anbau, sondern auch über gesunde Ernährung gelernt, so dass sich ihre Ernährungsgewohnheiten drastisch verändert haben.

Wie funktioniert die Bildungsarbeit zu gesunder Ernährung?
Einige der urbanen Landwirt*innen wurden zu Multiplikator*innen ausgebildet, die in Workshops die Grundlagen gesunder Ernährung vermitteln. Sie zeigen den Teilnehmenden auch, welche Gerichte sie mit den Produkten aus den Gewächshäusern zubereiten können, wie Säfte, Kuchen, Teigtaschen oder Tees. Es sind schon um die 400 Menschen, davon viele Jugendliche, die in diesen Gruppen von verantwortungsvollen Konsument*innen organisiert sind.

Welche Sprachen werden bei diesen Fortbildungen gesprochen?
Die meisten Familien sprechen Aymara und Spanisch, aber die Workshops finden auf Spanisch statt.

Welche Rolle spielen die indigenen Sichtweisen auf die Welt in dem Projekt?
Auf dem Land ist eine indigene beziehungsweise bäuerliche Sichtweise auf die Welt sehr eng mit dem Leben der Menschen verwoben. Beim Umzug in die Stadt verändert sich das, aber einiges bleibt bestehen. Ein grundlegendes Prinzip ist ayni, das Gegenseitigkeit bedeutet. Ich gebe zurück, was ich bekommen habe, beziehungsweise ich nehme die Gaben an, die mir zurückgegeben werden. Zum Beispiel bekommt die Göttin Pachamama zu bestimmten Zeiten im Jahr Opfergaben von einigen Landwirtinnen. Als Dank für den fruchtbaren Boden vergraben sie Kokablätter und bespritzen die Erde mit Alkohol. Dadurch möchten sie auch erreichen, dass die nächste Ernte wieder gut wird und das, was sie aufgebaut haben, weiterbesteht. Auch der treque, der Austausch von Produkten und Pflanzen, gehört zur indigenen Kultur.

Wie haben sich die politischen Konflikte der vergangenen Jahre auf die Arbeit von FOCAPACI ausgewirkt?
Die Arbeit von FOCAPACI konzentriert sich vor allem auf die Unterstützung benachteiligter Menschen auf lokaler Ebene, deswegen hat die Politik auf nationaler Ebene nicht viel Einfluss. Statt von Einfluss politischer Umwälzungen kann man eher davon sprechen, dass wir im öffentlichen Diskurs Themen setzen. In den letzten vier Jahren hat urbane Landwirtschaft vor allem auf kommunaler Ebene viel politische Unterstützung erfahren.
Auf der anderen Seite wussten die Familien ihre Gärten und Gewächshäuser in Zeiten sozialer Konflikte sehr zu schätzen. Das war 2019 so, als die Gesellschaft sehr polarisiert war wegen der Verletzung der Demokratie oder während der Pandemie. Wenn wegen Blockaden keine Waren vom Land in die Stadt kamen, hatten die Menschen immer noch ihre selbst angebauten Produkte.

Gibt es Verbindungen zu anderen sozialen Bewegungen?
Die Produzent*innen, Verkäufer*innen und Konsument*innen in El Alto haben sich im Netzwerk Urbane Agrarökologie und Ernährungssicherheit (AUSA) zusammengeschlossen. AUSA wiederum gehört zum landesweiten Netzwerk Urbane und Stadtnahe Landwirtschaft, das mit weiteren Akteuren im Bereich Agrarökologie zusammenarbeitet.

Was wünschen Sie sich für 2050?
Die urbane Agrarökologie bahnt im Dialog mit der Natur einen Weg zu Ernährungssicherheit und Ernährungssouveränität. Dadurch wird die Lebensqualität der Menschen sowohl auf der sozialen und ökonomischen als auch auf der spirituellen Dimension verbessert.

Nachwuchs // Praktische Workshops (Foto: FOCAPACI)

“KINO EXISTIERT, UM ERFAHRUNG ZU ERSCHLIESSEN”

NATALIA LÓPEZ GALLARDO wurde in Bolivien geboren, hat aber mehr als die Hälfte ihres Lebens in Mexiko verbracht. Oder, wie sie es selbst ausdrückt: „Dort ist mein Zuhause, das Universum meiner Vorstellung“. Auch ihre cineastische Laufbahn hat sie in Mexiko verbracht. Nach einem Filmstudium arbeitete sie dort hauptsächlich als Cutterin und wirkte in dieser Funktion an mehreren preisgekrönten Filmen mit. (Foto: Natalia López Gallardo)

Sie sind Bolivianerin, leben aber in Mexiko. Hat Ihr Film eher eine interne oder externe Perspektive auf das Land?

Es ist eine interne Perspektive. Ich wohne seit 15 Jahren in einer ländlichen Region in Mexiko. Genauer gesagt im Bundesstaat Morelos, im Zentrum von Mexiko, wo ich auch meinen Film gedreht habe. Ich habe mit den Menschen dort zusammengelebt, bin mit dem Auto durch den kompletten Bundesstaat gefahren und war also ganz nah dran. Der Film spielt aber an keinem spezifischen Ort. Die Geschichte könnte auch woanders in Mexiko oder sogar in Kolumbien oder einem anderen Schauplatz in Lateinamerika passieren. Sehr mexikanisch ist allerdings die Landschaft. Wir haben auf dem Höhepunkt der Trockenzeit gefilmt und da ist es in Mexiko wirklich extrem trocken. Das war auch von uns so beabsichtigt. Das Licht ist total intensiv und hell, alles sieht gelb und ausgedörrt aus. Das ergab einen starken Kontrast mit den sehr dunklen Szenen, die es im Film auch gibt.

In Ihrem Film geht es um den Drogenhandel und seine Auswirkungen auf das Leben der Menschen. Zu diesem Thema wurden in den vergangenen Jahren viele Filme und Serien produziert. Wie unterscheidet sich ihre Herangehensweise beispielsweise von einer Serie wie „Narcos“?

Von Beginn meiner Recherche an, während der ich Interviews mit Betroffenen gemacht und Zeitungsartikel ausgewertet habe, war mir eines klar: Ich wollte keinen Film über den Drogenhandel oder die Gewalt machen. Es ist ein sehr komplexes Thema und es gibt tolle Dokumentationen und Bücher, die die Situation aus einem politischen, ökonomischen oder historischen Blickwinkel analysieren. Ich dagegen wollte mich der psychologischen Dimension annähern. Als ich die Interviews mit Müttern von Verschwundenen geführt habe, habe ich bemerkt, dass ich in keiner Weise nachfühlen konnte, was sie fühlten. Ich habe mich unwohl damit gefühlt, auf eine Art schuldig. Aber obwohl ich mich in ihre Situation nicht hineinversetzen konnte, teilen wir in Mexiko doch alle ein bestimmtes Gefühl. Wir haben das oft und auf viele Arten gespürt. Seit vielen Jahren sehen wir gefolterte Menschen, die Gesichter der Verschwundenen, Karten von Gräbern. So lange schon absorbieren, akzeptieren wir das. Es hat sich in unser Unterbewusstsein eingeprägt. Dieser unsichtbaren Dimension, die wir alle in uns tragen, wollte ich mich annähern. Ich glaube sehr daran, das mit den Mitteln des Kinos schaffen zu können.

Gab es einen Moment, in dem Sie entschieden haben: Ja, jetzt muss ich einen Film über dieses Thema machen?

Es gab nicht den einen Moment, in dem ich mich entschieden habe. Aber in dem Moment, als ich die Menschen, die von dieser Tragödie betroffen sind, persönlich getroffen habe, fühlte ich eine Notwendigkeit, darüber einen Film zu machen. Mir war ganz klar, dass ich keinen Film ÜBER Verschwundene, ÜBER den Drogenhandel, ÜBER die Gewalt machen möchte, sondern es sollte da-rüber hinausgehen. Ich weiß nicht, ob ich das geschafft habe, aber das war meine Idee.

In Ihrem Film sind Frauen die Protagonistinnen, vor allem die rätselhafte Isabel. Können Sie etwas über Ihre Motive sagen?

Es ist richtig, dass Isabel eine enigmatische Figur ist. Sie fügt sich selbst Gewalt zu, das beschreibt ihre Persönlichkeit. Auf der anderen Seite ist sie aber auch eine sehr fragwürdige Figur. Sie ist weiß, sie ist eine Fremde und denkt trotzdem, dass sie die Möglichkeit hat, zu helfen. Das ist alles sehr kritikwürdig und hat mit dem westlichen Denkmuster zu tun, dass man immer denkt, vernünftig zu sein und deshalb auch anderen Vernunft beibringen zu können. Das ist etwas, was in Mexiko oft zu sehen ist. Sie fühlt sich schuldig, kann die Situation aber nicht lesen. Weil sie aus einem anderen Universum kommt. Sie versteht auch ihre eigenen Gefühle nicht. Sie ist verwirrt, kennt ihren Platz in der Welt nicht. Ihre Verwirrung führt aber nicht dazu, dass sie demütig wird. Sie geht nicht zu den Menschen und bittet sie: „Erklärt mir, was hier los ist. Ich verstehe es nicht!“ Stattdessen geht sie zu ihnen und sagt: „Ich weiß genau, was hier zu tun ist!“ Sie agiert aus dieser Verwirrung heraus und scheitert deshalb komplett.

Die audiovisuelle Sprache im Film ist sehr interessant. Über Bilder und Geräusche scheint viel mehr vermittelt zu werden als über Dialoge. War das Ihre Idee?

Ich vertraue sehr auf die Mittel des Kinos, um eine Botschaft zu vermitteln. Ich glaube, dass das Kino viel mehr kann, als nur Informationen überbringen, um eine Geschichte zu erzählen. Das Kino ist nicht da, um Geschichten zu erzählen. Das Kino existiert, um Erfahrungen zu erschließen. Diese Erfahrungen sind mit dem Körper verbunden, ein intuitiver Prozess.

Das Narrativ ist nur ein Werkzeug von vielen, aber nicht das wichtigste. Es ist genauso wichtig wie die Dialoge, die Größe des Bildes, die Bewegung der Kamera, der Ton. Wenn man eine Szene konstruiert, trifft man eine Auswahl über all diese Dinge: Den Dialog, die Farben, die Position der Kamera, die Bewegung, den Ton – all diese Elemente. In dem Moment, in dem man das alles auswählt, hofft man, dass irgendetwas, von dem man noch nicht genau weiß, was es ist, passiert. Aber man vertraut auf alle Elemente.

Bei diesem Film war der Ton für mich das wichtigste Element. Weil ich bemerkt habe, dass der Ton mir geholfen hat, den Raum zu konstruieren. Das Visuelle ist für mich begrenzt. Ein Blick zieht eine Grenze zwischen dir und mir. Aber wenn ich nur zuhöre, dringt deine Stimme in mich ein. Ich fühle, dass der Ton uns verbindet. Blicke trennen uns auf eine Weise.

Es gibt viele Möglichkeiten, über den Ton zu sprechen. Der Ton ist nichts Bestimmtes. Er ist ambivalent. Wenn man in einem dunklen Raum ist, aktiviert man alle anderen Sinne. Man beginnt zu tasten, langsamer zu laufen, zu horchen. Das alles wird viel wichtiger. Über eine psychologische Befindlichkeit, eine spirituelle Wunde mithilfe des Visuellen oder mit Wörtern zu sprechen, war für mich sehr schwierig. Ich vertraue sehr stark auf den Ton, um eine psychologische Dimension zu konstruieren.

Wenn Sie nur eine Sache an der aktuellen Situation in Mexiko verändern könnten – was wäre das?

Um das zu erreichen, was ich verändern will, braucht es große Anstrengung und es sind viele Dinge nötig. Ich denke, dass wir wieder ein Gemeinschaftsgefühl herstellen müssen. Ich weiß nicht genau wie, aber wir müssen beginnen, etwas zu fördern, das wieder allen gemeinsam gehört. Ich glaube, das ist verloren gegangen. Wir kämpfen nicht mehr alle gemeinsam für etwas. Unsere Ungewissheit, unsere Angst, unsere Unsicherheit kommt daher, dass wir nichts Gemeinsames mehr teilen. Also würde ich damit beginnen, wieder etwas aufzubauen, das uns allen gehört. Das passiert momentan nicht, es geht vielen darum, die eigene Haut zu retten.

Gilt das auch für Filmemacher*innen? Für Journalist*innen ist Mexiko seit vielen Jahren eines der gefährlichsten Länder der Welt. Gibt es Drohungen auch gegenüber Menschen, die Filme machen?

Mir persönlich ist in dieser Hinsicht noch nichts passiert, aber ich habe tausend Geschichten gehört. Wenn man Dokumentarfilme macht, sieht das sicher anders aus. Unser Film ist komplett fiktiv und wir haben beim Dreh auch nicht mit Menschen gearbeitet, die von der Gewalt betroffen waren. Also habe ich keine Gefahr gespürt. Es gab Momente, in denen wir in etwas heiklen Situationen waren. Nachts mussten wir an einigen Orten aufpassen, vorher anmelden, dass wir uns dort aufhalten würden. Mexiko ist bekanntermaßen auf gewisse Weise ein gesetzloser Ort. Die Menschen sind auf der einen Seite überall sehr freundlich, es gibt aber auch eine dunkle Seite. Dazwischen bewegt man sich immer und manchmal weiß man nicht, auf welcher Seite man gerade ist. Ein falscher Schritt kann dich diese Grenze übertreten lassen. Wie man in Mexiko sagt: Mexiko ist fantastisch, alle Leute sind supercool und alles ist perfekt, bis … es eben nicht mehr so ist. Und in diesem Moment bricht die Hölle los.

Glauben Sie, dass Sie mit der Art ihrer Erzählweise ihr Publikum überfordern könnten?

Wir sind an eine bestimmte Art, ein System des Erzählens, gewöhnt. Ist es nicht komisch, dass die gleiche Fernsehserie einem 10-jährigen Kind genauso gefallen kann wie einer 80-jährigen Frau? Das finde ich sehr konservativ. Das ist nicht normal. Wir standardisieren gerade alles. Alles wird gleichgemacht. Das ist nichts Positives. Wir brauchen die Vielfalt. Wir müssen uns trainieren, auf der einen Seite Spiderman zu sehen, auf der anderen Seite aber auch einen Film, der uns fordert, der uns zum Nachdenken anregt, eine neue Erfahrung darstellt. Das Problem ist, dass so viele Menschen heute an Spiderman und Co. gewöhnt sind, dass ihnen alles andere nicht mehr akzeptabel erscheint. Unser westliches Denken möchte immer sofort eine Erklärung für alles haben, wir strukturieren, analysieren, fragen verzweifelt nach dem Warum. Man sollte sich stattdessen öfter ein wenig Zeit nehmen, um die Dinge wirken lassen.

DIE URBANE BASIS FEHLT

Für die Regierung auf die Straße Die Marcha por la patria von MAS-Anhänger*innen in Achica Arriba, kurz vor La Paz (Foto: Josué Antonio Castañeta – ABI)

„Hier ist dein Volk, Bruder Lucho, es wird dich nicht verlassen“ rief Evo Morales dem aktuellen Präsidenten Luis Arce auf dem Plaza San Francisco im Zentrum von La Paz zu, als die Marcha por la patria (Marsch für das Vaterland) in der Innenstadt der Andenmetropole ankam. Der amtierende Präsident zeigte sich sichtlich gerührt und hatte Tränen in den Augen. Zuletzt hatten sich immer mehr Verbände und soziale Organisationen dem Marsch angeschlossen, auch die mächtigen Nachbarschaftsvereinigungen des benachbarten El Alto, die FEJUVES, beteiligten sich an der Mobilisierung. Deren Vizepräsident Ramón Quispe ließ verlauten: „El Alto hat sich immer darin ausgezeichnet, die Demokratie zu verteidigen und das werden wir auch weiterhin machen.“

Die Regierungspartei Movimiento al Socialismo (MAS) und die sozialen Bewegungen sahen sich gezwungen, die Demonstration der Unterstützung für die aktuelle Regierung auf der Straße zu organisieren, nachdem die Administration Arce durch Proteste der Opposition unter Druck geraten war. Diese hatten seit Oktober mit Streiks und Blockadeaktionen begonnen und so auf sich aufmerksam gemacht. Vor allem die Bürger*innenkomitees aus Santa Cruz und Potosí sahen sich unter Zugzwang. Die Ermittlungen wegen des erzwungenen Rücktritts von Evo Morales 2019 und den Massakern in Senkata und Sacaba (siehe LN 547 und LN 549) hatten bereits dazu geführt, dass Luis Fernando Camacho, der Gouverneur von Santa Cruz, wie auch sein Vater von der Staatsanwaltschaft zur Vernehmung vorgeladen wurde.

Camacho, zentrale Figur der Ereignisse im Jahr 2019, als Militärs den Rücktritt von Evo Morales forderten, ist auf einem Video zu sehen, das auf Dezember 2019 datiert ist. Dort erläutert er Mitstreiter*innen, dass sein Vater mit Führungsfiguren der Militärs und der Polizei gesprochen habe, um diese davon zu überzeugen, nicht gegen die Proteste vorzugehen, die schließlich zum Sturz von Evo Morales führten. Viele sehen in dem Video einen Beweis, dass es sich bei den Ereignissen vor zwei Jahren um einen Putsch handelte.

Opposition geht in die Offensive

Mit den Protestaktionen, die am 11. Oktober begannen, versuchte die Opposition wieder in die Offensive zu gelangen. Gelegenheit bot das Gesetz 1386, das die Bekämpfung von Geldwäsche und der Finanzierung von Terrorismus regeln sollte. Der Präsident des Bürger*innenkomitees von Santa Cruz, Rómulo Calvo sprach von „politischer Verfolgung“. Auch Händler*innen wendeten sich gegen die Rechtsverordnung. Diese fürchteten, dass der Staat die Gewinne der informellen Ökonomie abschöpfen wolle.

Die Ablehnung des Gesetzes durch die zwei unterschiedlichen Sektoren der Gesellschaft führte zu einer starken Dynamik, die die Regierung letztendlich zwang, das Gesetz zurückzunehmen. Dabei kam es zunächst nur lokal begrenzt zu Streikmaßnahmen. Die MAS versuchte es mit einer Gegenmobilisierung, die in einigen Regionen, wie in La Paz, auch gelang. Hier war von den angekündigten Blockaden so gut wie nichts zu verspüren. Und selbst in der Hochburg der Opposition, Santa Cruz, wurde der Streik nur teilweise befolgt. In Stadtvierteln in denen die MAS Anhänger*innen hat, kam es zum Teil zu Ausschreitungen zwischen Befürworter*innen und Gegner*innen.

Dass die Regierung dennoch das Gesetz zurückzog und der Opposition damit einen Überraschungserfolg bescherte, lag daran, dass es Arce nicht gelang, die Händler*innen und Fernfahrer*innen davon zu überzeugen, dass das Gesetz gegen Geldwäsche den informellen Sektor nicht betreffen würde. Das Kommunikationsdesaster der Regierung führte dazu, dass die Bürger*innenkomitees in der Debatte die Oberhand gewannen. Als es zu einem eilig einberufenen Runden Tisch durch die Regierung in der ersten Novemberhälfte Absagen der Berufsverbände hagelte und die Fernfahrer*innen mit landesweiten Blockaden drohten, nahm die Regierung das Gesetz zurück.

Der Sieg der Opposition führte auch zu Kritik aus den eigenen Reihen. Juan Ramón Quintana, unter Morales Minister des Präsidialamtes, monierte: „Wir sind in eine schwierige Lage geraten, unseren Genossen in der Regierung und im Parlament fehlte die notwendige politische und ideologische Reife, um auf die Straße zu gehen und das Gesetz zu verteidigen.” Nicht zuletzt deshalb formierte sich der Marsch auf La Paz. Die MAS möchte nicht wieder, wie 2019, auf der Straße in die Defensive geraten. Insbesondere die erfolgreichen Mobilisierungen in den drei großen Städten La Paz, Santa Cruz und Cochabamba zeigten damals, dass es der MAS an Rückhalt in den Städten fehlt. Der Analyst Boris Ríos weist darauf hin, dass der populäre urbane Sektor ohne Koordination gewesen sei und die Partei auf diesen Teil der Gesellschaft nicht eingehen würde.

Das gilt auch für kleinere Städte im andinen Hochland. Yhilmer Poma ist dort seit einigen Monaten im Stadtrat für die Liste Jallalla in Viacha, einer Stadt vor den Toren El Altos. Der Aktivist setzt sich seit Jahren für Verbesserungen in der Jugendpolitik der Kommune ein, „Jallalla war offen für unsere Vorschläge, die MAS nicht“ meint der junge Politiker. Nun macht er Politik für die Liste des „Mallkus“, Felipe Quispe, der im Jahr 2020 den Widerstand im Departamento La Paz gegen die Übergangsregierung Añez in La Paz koordinierte und im Januar vergangenen Jahres überraschend an einem Herzinfarkt gestorben ist. Das Departamento La Paz wurde bei den Regionalwahlen Anfang des Jahres von Jallalla gewonnen, nicht von der MAS. In El Alto trat die bekannte Politikerin Eva Copa für die Liste an, nachdem sie von Evo Morales nicht als Kandidatin der MAS für die zweitgrößte Stadt Boliviens berücksichtigt wurde. Sie gewann prompt mit knapp 70 Prozent, dem Stimmenanteil, den die MAS in der Stadt bei den Präsidentschaftswahlen holte.

Die MAS, so meint Stadtrat Poma, sei sehr hierarchisch strukturiert und würde von oben dirigiert. So war es auch im Wahlkampf in Viacha und sei es jetzt in der Arbeit im Stadtrat: „Mit den jüngeren Stadträten*innen der MAS ist die Zusammenarbeit und der Austausch möglich, aber mit den Älteren ist es sehr schwierig.“

Solange dieses hierarchische Prinzip herrscht, wird es für die MAS schwer sein, eine solide Basis in den Städten aufzubauen. Zwar will die Partei das nun unter Führung von Evo Morales angehen. Aber die Mobilisierung des Marsches für das Vaterland hat gezeigt, dass es immer noch die traditionelle Basis der MAS ist, wie die Frauenorganisation Bartolina Sisa, die indigenen Organisationen des Einheitspakts (Pacto de Unidad) und des nationalen Gewerkschaftsverbandes COB, der den Marsch federführend orga-*nisierte, die das Rückgrat der Macht bilden.

Das Problem ist in der MAS bekannt. Der Analyst Gabriel Villalba, der die Regierung unterstützt, ist davon überzeugt, dass sich die MAS hier erneuern muss, wenn sie in den Ballungszentren eine solide Basis zurückgewinnen will. Zwar sind die Städte nach wie vor durch die Migration vom Land geprägt, die Migrant*innen seien inzwischen jedoch in der dritten Generation, so Villalba, „ihre Eltern sind vom Land in die Stadt gekommen, aber die jetzige Generation hat in der Stadt eine Schule besucht, ist zur Uni gegangen. Diese Generation hat eine andere Perspektive, die sich von denen ihrer Eltern und Großeltern unterscheidet. Wenn man am historischen indigenen Subjekt hängen bleibt, das aus dem ländlichen Raum kommt, hat man kein klares Panorama. Heute geht es nicht mehr nur darum, die Leute aus der Armut zu holen, sondern es gilt zu erklären, wohin die Reise gehen soll, dafür braucht es Projekte der Zukunft.“

Zum Beispiel in der Jugendpolitik, für die sich Yhilmer Poma im Stadtrat von Viacha einsetzt. Und hier, so der Jungpolitiker, ginge es zumindest auf kommunaler Ebene oftmals weniger um die Parteizugehörigkeit als um die Person, wie das Ergebnis für Eva Copa in El Alto gezeigt habe. „Die MAS setzte auf die Partei, aber auf der kommunalen Ebene entscheidet die Person, nicht die Partei.“ Für den aktuellen Konflikt interessiert sich Poma nur am Rande: „Die zwei politischen Kräfte werden sich weiterhin gegen-*überstehen, aber die Mobilisierungen werden sich jetzt totlaufen, nächstes Jahr gibt es vielleicht eine neue Runde“, meint er schulterzuckend.

Dort die proletarisierten Indigenen, hier die kreolische weiße Oberschicht

Sollte es so kommen, dann bleibt das Patt im Herzen Südamerikas bestehen. Die MAS ist zwar die politisch stärkere Kraft, wird die Opposition aber nicht besiegen können. Diese wiederum wird versuchen, mit Aktionen die Regierung zu schwächen. Eine konstruktive Opposition wird es mit den Bürger*innenkomitees, den Oppositionsparteien Creemos (Wir glauben) und Comunidad Ciudadana (Bürgergemeinschaft) nicht geben. Sie sind ebenfalls in der Vergangenheit verhaftet, wenngleich in einer anderen, der der katholischen Republik, in der die rassistisch begründeten Klassenverhältnisse klar waren: dort die proletarisierten Indigenen und hier die kreolische weiße Oberschicht.

Anfang Dezember veranstaltete die MAS in Mizque ihren elften Kongress auf dem Land in Zentralbolivien. Im staatlichen Fernsehen zählte der Vorsitzende der Partei, Evo Morales, die Organisationen auf, die an der Versammlung teilnahmen. Es war vor allem die traditionelle Basis, die anwesend war. Dem ehemaligen Präsidenten zufolge gehe es „um die Auswertung des Marsches fürs Vaterland, wir wollen sehen, welche neuen Mobilisierungen möglich sind“. Er sprach davon, dieses Mal auf die Hauptstadt Sucre und Santa Cruz, die Hochburg der Oppositionellen, zu marschieren. Er sprach von dem historischen Kampf gegen den kolonialen Staat und gegen den Neoliberalismus. Zu Ideen, wie Wählerschichten in den Ballungszentren gewonnen werden können, wie sich die MAS erneuern könnte, um an die veränderten Realitäten im Land anzudocken, sagte er kein Wort.

„DER PUTSCH HÖRT NICHT AUF“

ADRIANA GUZMÁN ARROYO

ist Aymara, lesbisch und Feministin. Sie gehört der Organisation Feminismo Comunitario Antipatriarcal (Gemeinschaftlicher Anti­patriar­chaler Feminismus) an. Die Organisation verortet sich in den Protest-bewegungen der Straße und kämpft gegen geschlechterbasierte Gewalt und für die Verteidigung indigener Territorien. (Foto: privat)


 

Sie und viele Akteur*innen aus den sozialen Bewegungen hatten befürchtet, dass die Wahlen 2020 eine Falle der damaligen De-facto-Regierung unter Jeanine Añez seien (siehe LN 547). Wie bewerten Sie den Sieg der MAS heute?
Die De-facto-Präsidentin Añez konnte abgesetzt werden, aber das Ergebnis der Wahlen ist kein Sieg der MAS, sondern der sozialen Bewegungen. Diese haben dafür gesorgt, dass die Wahlen im Oktober 2020 stattfinden konnten. Viele Menschen haben gegen den Faschismus, aber nicht für die MAS gestimmt. Leider hat die MAS nicht die richtigen Schlüsse aus dem Wahlergebnis gezogen. Sie ist wenig selbstkritisch davon ausgegangen, dass die erzielten 55 Prozent der Stimmen für sie selbst und für ihren Kandidaten Luis Arce abgegeben wurden. Das ist kaum zu glauben, denn Arce vertritt nicht die Interessen der indigenen Bevölkerung, die diesen Prozess angestoßen hat. Er hat als Wirtschaftsminister viele Jahre eine kapitalistische Politik verfolgt. Arce ist mitverantwortlich dafür, dass sich an der Wirtschaftsstruktur nichts geändert hat und die Vereinbarungen mit den Banken und den transnationalen Unternehmen nicht revidiert wurden.

Wie bewerten Sie die Arbeit der neuen MAS-Regierung seit den Wahlen?
Seit den Wahlen 2020 hat die MAS-Regierung weder neue noch alte politische Ziele verfolgt, außer im Bereich der Gesundheit. Hier wurde erreicht, dass Corona-Impfstoffe und -Tests bereitgestellt wurden. Es gibt jedoch keine politischen Maßnahmen, um Bildung voranzutreiben oder um die Wirtschaft wieder zu beleben. Zum Zwecke der Wiederbelebung hat die Regierung den Bergbauunternehmen Steuern erlassen – stattdessen hätte sie die Steuern für die Bevölkerung senken sollen.

Bei diesem Putsch sind die faschistische Rechte und die wirtschaftliche und politische Oligarchie zum Vorschein gekommen. Leider haben die Wahlen und die neue MAS-Regierung es nicht geschafft, die Auswirkungen des Putsches wirklich zu beenden. Es mangelt der Regierung an politischem Profil und Führungskraft. Die Minister kommen nicht aus den sozialen Bewegungen und verfügen nicht einmal über fachliche Expertise. Sie sind nicht in der Lage, mit den Angriffen der Rechten und der Oligarchie umzugehen.

Die Politik wird von den wirtschaftlichen Eliten und den transnationalen Konzernen gesteuert. Deshalb bin ich der Meinung, dass dieses Thema auf der Straße und in den indigenen Territorien entschieden werden muss.

Wurde für die während der De-facto-Regierung begangenen Verbrechen Gerechtigkeit erreicht?
Für die Ereignisse von 2019, wie etwa die Massaker, sind bisher keine Verfahren eingeleitet worden. Die Verantwortlichen wurden nicht zur Rechenschaft gezogen. Es herrscht große Straflosigkeit, insbesondere bei Gewalt gegen Frauen und für Feminizide, die mit dem Putsch angestiegen sind. Seit Beginn der Pandemie ist das gesamte Justizsystem geschlossen. Die Orte zum Feiern und Alkohol trinken sind wieder geöffnet, aber die Gerichte nicht.

Es gibt Verletzte, die noch behandelt werden müssen, die bleibende Gesundheitsschäden davongetragen haben. Für uns als Organisation und für mich als Feministin ist der Kampf für Gerechtigkeit sehr wichtig. Es kann keinen Frieden und keine politische Stabilität geben, wenn es keine Gerechtigkeit und keine anerkannte historische Wahrheit gibt, denn das zieht eine ständige Unzufriedenheit innerhalb der sozialen Organisationen nach sich. Wir wollen, dass die geistigen Urheber, die Anstifter und die Täter bestraft werden und es umfangreiche Wiedergutmachungsmaßnahmen für die Opfer gibt. Für mich ist es sehr frustrierend, dass gegen Jeanine Añez noch kein Verfahren eingeleitet wurde, obwohl sie schon seit neun Monaten in Haft ist. Die Menschen wollen Gerechtigkeit, aber es gibt sie nicht.

Wie ist das Leben in Bolivien heute unter der neuen MAS-Regierung?
Jetzt gibt es zwar keine Massaker mehr, aber eine ständige Bedrängung und Einschüchterung der indigenen Bevölkerung. Es gibt einen ständigen Rassismus auf den Straßen, in den Institutionen, in der Politik, im Bildungswesen und in den Medien. Das fördert eine Kultur des Hasses, in der die Äußerungen von Amtsträgern oder wem auch immer nach ihrer Hautfarbe beurteilt werden und nicht nach ihrem Inhalt.

Ich glaube also, dass sich der Rassismus verschärft. Nicht in Form von Massakern oder Repression, denn er geht nicht vom Staat selbst aus. Aber die Angreifer können Faschisten von der Union Juvenil Cruceñista (einer rechtsextremen Gruppe, Anm. d. Red.) sein oder dein Nachbar, der dich auf der Straße anspuckt oder als Dieb bezeichnet. Das habe ich auch persönlich erlebt. Vor kurzem riefen Luis Fernando Camacho, das Bürgerkomitee von Santa Cruz, die Plattform 21F und alle Gremien, die am Putsch beteiligt waren, zu einem landesweiten Streik auf. Ich wurde auf der Straße umzingelt und verprügelt. Natürlich habe ich die Täter als faschistisch denunziert und sie gefilmt. So etwas passiert indigenen Frauen und Männern, Aymara, Quechua oder Migranten an jeder Straßenecke. Egal, ob wir der MAS angehören oder den sozialen Organisationen nahestehen, wir werden überall beschimpft. Es ist sehr schwierig, zwei Stunden auf der Straße zu sein, ohne mit jemandem in Streit zu geraten. Das führt zu ständigen Spannungen. Ich würde die Situation nicht als Polarisierung bezeichnen, denn es stehen sich nicht zwei ähnlich große Seiten gegenüber, sondern diese Kultur des Hasses wird von einer kleinen Gruppe erzeugt.

Wie erklären Sie sich, dass diese kleine Gruppe nach wie vor das gesellschaftliche Klima vergiften kann?
Die paramilitärischen Gruppen wurden nicht entwaffnet und können jederzeit einen Streik durchführen. Sie hätten aufgelöst werden müssen und sollten im Gefängnis sitzen, aber sie sind weiterhin mit ihren Motorrädern auf den Straßen und verprügeln Indigene! Es ist ein Putsch, der nicht aufhört. Die Rechte betreibt mit paramilitärischen Gruppen, mit Nahrungsmittelspekulation, mit all ihren Mitteln eine permanente Destabilisierung. Neben der MAS hat auch sie Sitze im Parlament errungen, und Camacho ist Gouverneur von Santa Cruz, einem der Departementos mit der höchsten Wirtschaftsleistung. Er kann nun den Staatsapparat für die rechte Mobilisierung einspannen. Ich denke, dass sie ein Abwahlreferendum planen. Die zutiefst rassistische und putschfreundliche Ärztekammer streikt ebenfalls seit Wochen, wie schon 2019. So greifen sie systematisch die Regierung an.

Welche Rolle spielt die wirtschaftliche Situation?
Die Wirtschaftskrise ist schrecklich, besonders für Frauen, und während der Pandemie hat sie sich verschärft. Zur Wiederbelebung der Wirtschaft hat die Regierung etwa die Rückerstattung der Rentenbeiträge beschlossen, die man nun ausgeben kann, um nicht zu verhungern. Für mich ist das ein schlimmer Angriff auf die Menschen, denn wir Frauen haben nicht einmal eine Rente, und auch viele Männer, die jetzt von ihren Ersparnissen leben, werden einmal keine Rente bekommen. Der Rassismus in Bolivien verschärft sich durch die Vertiefung des Kapitalismus, der Ausbeutung und der Wirtschaftskrise. Denn warum behandeln sie uns rassistisch? Um uns zu beherrschen, zu demütigen und auszubeuten, so dass uns nichts anderes übrig bleibt, als ihre Dienerinnen zu sein. Das wollen wir nicht und wehren uns dagegen.

Wie schätzen Sie die Situation der indigenen sozialen Bewegungen ein?
Um dies zu analysieren, sind zwei Aspekte wichtig. Der Putsch wurde 2019 möglich, weil die sozialen Bewegungen sich um politische Ämter gestritten haben und dadurch geschwächt waren. Die MAS hat zunehmend aufgehört, ein politisches Instrument der Bewegungen zur Lösung der Probleme des Landes und der indigenen Bevölkerung zu sein. Stattdessen ist sie zu einer traditionellen Partei geworden, in der die Parteispitze Entscheidungen trifft und die sich auf den Staatsapparat stützt, um Arbeitsplätze für die eigenen Mitglieder zu schaffen. Dafür haben wir keine Revolution gemacht.

Dies ist aber nicht nur die Verantwortung der MAS. Es ist ebenso die Aufgabe der sozialen Bewegungen, Druck auszuüben und einzufordern, dass der Prozess des Wandels neu ausgerichtet und vertieft wird. Leider sind die sozialen Bewegungen aufgrund ihrer Beziehung zum Staat zersplittert. Es gibt Teile der Organisationen, die hinter Evo stehen. Eine zweite Strömung unterstützt den Vizepräsidenten David Choquehuanca und eine dritte Luis Arce. Da wir einen Putsch und eine Pandemie durchlebt haben, waren die Bedingungen denkbar schlecht, um die sozialen Bewegungen wieder zu stärken.

Der zweite Aspekt hängt mit der Pandemie zusammen. Diese hat uns isoliert und gelähmt und vielen Menschen Angst gemacht. Vor allem aber hat die Pandemie einige wichtige Führungspersönlichkeiten der sozialen Bewegungen umgebracht. Das hat die Organisation der sozialen Bewegungen geschwächt. Leider kommen wir aus einer Kultur, in der immer eine Führungsfigur gebraucht wird. Es mangelt an politischen Konzepten, die sozialen Bewegungen sind zersplittert und nach meinem Eindruck passiert Ähnliches in vielen Teilen von Abya Yala. Die Pandemie wurde von den Regierungen auch strategisch genutzt, um uns zu demobilisieren und die sozialen Bewegungen zu lähmen. Trotzdem gehen wir als Feministinnen weiterhin auf die Straße und fordern Gerechtigkeit.

Welche Rolle spielt die feministische Bewegung aktuell? Gab es Fortschritte bezüglich der patriarchalen Pakte innerhalb der MAS?
Nein, es gab keine großen Fortschritte. Es ist schwierig, sich nach einem Putsch wieder zu erheben. Der Putsch war ein politischer, aber es war auch ein körperlicher und emotionaler Schlag. Wir sind gerade erst dabei, wieder aufzustehen. In Bezug auf den Putsch gab es unterschiedliche feministische Positionen. Einige Feministinnen, wie María Galindo oder Silvia Rivera, haben sogar behauptet, dass es gar keinen Putsch gegeben hätte. Ich bin der Meinung, dass die feministische Bewegung in jenem wichtigen Moment 2019 keine bedeutende Rolle gespielt hat, außer dass Feministinnen falsche Informationen über den Putsch verbreitet haben. Es gibt viele verschiedene Feminismen, manche von ihnen tragen zur Polarisierung der Gesellschaft bei und spielen dabei der faschistischen Rechten in die Hände.

Wie wahrscheinlich sind neue Konflikte mit der Regierung wegen des Extraktivismus?
Die Regierung hat an ihrer extraktivistischen Ausrichtung nichts geändert. Die sozialen Organisationen, die dies anprangern könnten, werden das jedoch nicht tun. Im Moment ist es sehr schwierig, auf der Straße Druck auf den Staat auszuüben, denn all dies wird von der Rechten zum Zwecke der Destabilisierung ausgenutzt. Vor kurzem gab es einen indigenen Protest, der legitimermaßen anprangerte, dass auf die Forderungen der Gemeinschaften des Tieflands wie der Guaraní, der Chiquitán, nicht eingegangen wurde. Um an Stärke zu gewinnen, haben sie sich jedoch mit rechtsgerichteten Gruppen und der Partei von Carlos Mesa verbündet. Das hat ihnen jegliche Legitimität genommen. Deshalb glaube ich auch nicht, dass es jetzt große Mobilisierungen geben wird. Das Ausbleiben von Protesten führt vielleicht zu mehr Stabilität, es nimmt jedoch auch Druck von der Regierung, auf die Nöte der Bevölkerung einzugehen.

Gibt es trotz alledem auch ein Wort der Hoffnung für Bolivien?
Ich denke, wir befinden uns in einer schwierigen Situation. In der gesamten Region finden ständig Angriffe statt. In Argentinien zum Beispiel erobern die Anhänger von Ex-Präsident Macri weiterhin Räume zurück. In Chile gibt es Leute, die gegen die Revolte sind. Sie bedeuten uns, dass wir keine weiteren Revolutionen oder Transformationen befördern sollen. Was mich aber hoffnungsvoll stimmt, ist, dass wir in der Lage waren, die De-facto-Regierung sehr schnell loszuwerden. Denn es waren die Proteste vom Juli und August 2020, die die Durchführung der Wahlen vom 18. Oktober ermöglicht haben. An dieser Mobilisierung waren vor allem die indigenen Gemeinschaften beteiligt, die im ganzen Land demonstriert, Straßen blockiert sowie Bürgerversammlungen und einen unbefristeten Streik abgehalten haben.

Unsere Fähigkeit zur Organisation, unser Widerstand, unsere ständige Weigerung, beherrscht und unterworfen zu leben, gibt Hoffnung. Auch wenn es jetzt Spaltungen in den sozialen Bewegungen gibt, so sind diese vorübergehend. Wir Aymara und Quechua ertragen die Unterdrückung nicht. Wir sind rebellisch und haben uns immer selbst organisiert. Wir dürfen nicht alle unsere Hoffnungen auf den Staat setzen. Das haben wir bereits versucht, doch es ist schwierig für den Staat, alles zu verändern. Mich stimmt es hoffnungsvoll, dass wir wieder an uns selbst als Organisationen und Gemeinschaften glauben und den Staat als eine weitere Variable haben, über die man diskutieren kann. Vor allem aber ist es wichtig, dass wir uns selbst organisieren. Nicht mehr für eine Partei, nicht für eine Person, sondern weil wir nicht mehr mit den Patriarchen leben wollen. Nie wieder als Dienerinnen!

ERWARTUNGEN UND ZWEIFEL

Ein Jahr danach Gedenken an die Opfer des Massakers von Senkata (Foto: Thomas Guthmann)

Ein weitläufiger Platz in Senkata. Vor einem Bankgebäude ist ein Pavillon aufgestellt, darin ein langer Tisch, auf dem Fotografien stehen, die von Gebäck gesäumt sind, geschmückt mit bunten Pasankallas, einer Art Popkorn. An diesem Allerheiligen gedenken Nachbar*innen der Opfer des Massakers von Senkata.

Am 19. November vergangenen Jahres, mitten in der politischen Krise nach dem Abgang von Evo Morales, drangen in den frühen Morgenstunden Panzer in den Stadtteil von El Alto ein. Die Operation von Militärs und Polizeikräften hatte zum Ziel, die Blockade einer Raffinerie aufzuheben. Der Stadtteil ist eine Hochburg der Bewegung zum Sozialismus (MAS) und die Einwohner*innen hatten nach dem erzwungenen Rücktritt von Morales das Treibstofflager blockiert. Nachdem im benachbarten Regierungssitz der Treibstoff knapp wurde, entschloss sich die De-facto-Regierung von Jeanine Áñez zur fatalen Militäraktion. Gut ein Dutzend Menschen starben im Kugelhagel von Militär und Polizei.

„Wir wissen nicht genau, wie viele es sind“, meint David Inca von der ständigen Menschenrechtsversammlung in El Alto mit Tränen in den Augen, als er vor den Fotos steht. „Am 31. Oktober 2020 ist eines der Opfer noch seinen Verletzungen erlegen.“ Es sei ein campesino gewesen. „Viele haben sich direkt nach dem Massaker, vor einem Jahr, einfach aufs Land zurückgezogen und ihre Verletzungen aus Angst vor Repression nicht angezeigt.“ Damals ging die Angst um, Familien sollen Tote des Massakers beerdigt haben, ohne den Todesfall anzuzeigen. Es gibt auch Berichte vom Verschwindenlassen von Körpern: „Wir wissen von 13 Todesopfern, aber es ist gut möglich, dass es mehr sind.“

Inca setzte sich von Beginn an für die Opfer ein, verhandelte mit der De-facto-Regierung um Entschädigung, wurde bedroht und sogar kurzzeitig festgenommen. Heute, ein Jahr später, ist von der Spannung nicht mehr viel zu spüren. Der Akt für die Toten an Allerheiligen ist ein Akt, „um bewusst Zeit mit den Toten zu verbringen, die das ganze Jahr unter uns sind“, meint der Yatiri (Heiler der Aymara, Anm. d. Red.) während der Zeremonie. Jetzt, nach dem Wahlsieg, lassen sich Größen der MAS bei der Zeremonie blicken. Freddy Mamani, der neue Vorsitzende des Abgeordnetenhauses, Eva Copa, die bisherige Präsidentin des Senats und der frisch gewählte Präsident Luis Arce.

Für Inca ein ambivalentes Signal, einerseits gut, weil es Aufmerksamkeit bringt. Andererseits zweifelt der Menschenrechtsaktivist an einem wirklichen Aufklärungswillen der MAS. „Um einen Untersuchungsausschuss einzurichten benötigt man eine Zweidrittelmehrheit in der Plurinationalen Versammlung (Abgeordnetenhaus und Senat, Anm. d. Red.), die hatte die MAS bisher. Dennoch hat sie lange gezögert, den Ausschuss einzurichten und dann spät mit der Arbeit angefangen. In der neuen Plurinationalen Versammlung hat sie nur noch die einfache Mehrheit.“ Man werde natürlich weiter alles versuchen, um Gerechtigkeit zu erreichen, fährt er fort, zumindest auf juristischem Wege.

Die MAS hat ihre bisherige Zweidrittelmehrheit kurz vor dem Ende der jetzigen Legislatur dazu genutzt, um einige Verfahren, die nach der Parlamentsordnung nur mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden konnten, umzuwandeln: Diese können künftig schon mit absoluter Mehrheit beschlossen werden. Ob in der neugewählten Plurinationalen Versammlung eine Kommission zustande kommt, hält David Inca dennoch für nicht ausgemacht.

Am 5. November verübten Unbekannte einen Anschlag auf das Kampagnenbüro der MAS


Bei der Opposition sorgten die Modifikationen der Parlamentsordnung für große Aufregung. Sie heizten den anfänglich spärlichen Protest an. Am 3. November kam es in Santa Cruz und Cochabamba zu cabildos (Bürger*innenversammlungen) der Opposition. Am 5. und 6. November fand ein 48-stündiger Streik statt, der allerdings nur in Santa Cruz zum Stillstand führte. Geführt werden die Proteste im Tieflanddepartamento von der rechtsradikalen Gruppe Unión Juvenil Cruzeñista, einer teilweise paramilitärisch organisierten Gruppe. Damit ist der Kern der Protestierenden im Vergleich zu den Protesten nach den Wahlen im Vorjahr wesentlich radikaler.

In La Paz haben am Abend des 5. Novembers noch unbekannte Täter*innen einen Anschlag auf das Kampagnenbüro der MAS im Viertel Sopocachi verübt. Zu dem Zeitpunkt befand sich der neu gewählte Präsident Luis Arce zu einem Treffen mit seinem Kommunikationsteam in dem Gebäude. Verletzt wurde niemand.

„Sie haben versucht, gegen die Unversehrtheit des gewählten Präsidenten einen Anschlag zu verüben und vor der Amtsübergabe ein Klima der Destabilisierung zu schaffen. In El Alto werden wir vereint gegen jedweden Versuch zusammenstehen, den Willen des Volkes in Frage zu stellen“, twitterte die scheidende Senatspräsidentin der MAS, Eva Copa.

Die Proteste haben zwar nicht die Unterstützung in der Bevölkerung wie die nach den Wahlen 2019. Dennoch haben es die radikalen Kräfte geschafft, das Heft des Handelns an sich zu reißen. Bisher ist noch nicht absehbar, wie sich die Dynamik weiterentwickelt. Vieles erinnert an die erste Amtszeit von Evo Morales (2006-2009), als es in den Tieflanddepartamentos zu heftigen Protesten kam.

Von der MAS gibt es bisher nur spärliche Stellungnahmen zu den Protesten. Es scheint so, als ob man zunächst die Präsidentschaftsnachfolge am 8. November regeln möchte und sich dann diesem Problem widmen will. Dabei ist durch die Entwicklung der vergangenen Tage ein Kompromiss nur schwer vorstellbar. Zudem gibt es innerhalb der MAS und den sozialen Bewegungen die Tendenz, zur Not auch mit Gewalt gegen die Opposition regieren zu wollen. So forderte die Nationale Koordination zur Verteidigung der Demokratie laut der Nachrichtenagentur ANF die Gründung von bewaffneten Milizen zur Selbstverteidigung.

Ob in dieser Situation den Opfern der politischen Auseinandersetzungen Gerechtigkeit widerfahren wird, bleibt abzuwarten. In Senkata ist die Zeremonie inzwischen fortgeschritten, das Altarfeuer knistert vor sich hin. Iveth Savaría, die das Gedenken gemeinsam mit David Inca organisiert hat, blickt nachdenklich in die Flammen und meint: „Wir haben natürlich Erwartungen, aber auch Zweifel, ob die neue Regierung es ernst meint mit der Aufarbeitung. Wir müssen als Bürger*innen einfach weiter Gerechtigkeit einfordern, damit die Opfer nicht vergessen werden.“

ZWEITE CHANCE FÜR DIE MAS

SymboltrachtLuis Arce und David Choquehuanca bei einer Zeremonie in der Aymara-Stätte Tiwanaku (Foto: ABI, frei verfügbar)

Comeback nach einem Jahr: Mit Luis Arce stellt die Bewegung zum Sozialismus (MAS) den neuen Präsidenten Boliviens. Damit war nach dem erzwungenen Abgang von Evo Morales ins Exil am 11. November 2019 nicht zu rechnen. Damals schien die seit 2006 währende Regierungsära der MAS für längere Zeit beendet. Doch jetzt steht sie vor einem Neuanfang an der Regierung. Luis Arce, der Präsidentschaftskandidat der MAS, gewann die Wahlen am 18. Oktober mit 55 Prozent bereits im ersten Wahlgang, und sowohl in der Abgeordnetenkammer als auch im Senat konnte seine Partei wieder eine absolute Mehrheit erzielen. In beiden Kammern verlor sie jedoch ihre Zwei-Drittel-Mehrheit, deshalb braucht sie für wichtige Entscheidungen wie die Wahl des Generalstaatsanwalts jetzt Stimmen aus anderen Parteien.

Das Ergebnis ist in dieser Deutlichkeit eine große Überraschung, genauso wie die Erkenntnis: Die MAS kann auch ohne Evo Morales gewinnen. Und die selbsternannte Übergangspräsidentin Jeanine Áñez ist fast ein Jahr nach dem Putsch gegen Morales Geschichte, Bolivien hat wieder ein demokratisch gewähltes Staatsoberhaupt.

Für den Triumph der MAS gibt es viele Gründe. Evo Morales war und ist deren Identifikationsfigur. Aber bei der Wahl 2019 kandidierte er für eine vierte Amtszeit, die dritte in Folge unter der neuen Verfassung Boliviens von 2009 ­– dabei lässt diese nur eine Wiederwahl zu. Das verärgerte auch ehemalige Mitstreiter*innen und erleichterte der Rechten die Mobilisierung.

Morales und die MAS siegten zwar im Oktober 2019, unter Vorwürfen des Wahlbetrugs wurde Morales jedoch aus dem Amt geputscht und zur Flucht aus dem Land gezwungen. Er selbst hat Anfang dieses Jahres in seinem Exil in Argentinien eingeräumt, dass es ein Fehler gewesen sei, noch einmal anzutreten.

Die MAS musste für die Neuwahl andere Kandidaten suchen und fand das passende Duo: Luis Arce ist Ökonom und war 13 Jahre Wirtschaftsminister unter Morales, er steht für den wirtschaftlichen Aufschwung der vergangenen Jahre in Bolivien und sprach als Bewerber auch die städtische Mittelschicht an. Der künftige Vizepräsident David Choquehuanca war lange Zeit Außenminister und rechnet sich der indigenen Nation der Aymara zu; er war der Kandidat der sozialen Bewegungen und der ländlichen, indigenen Bevölkerung.

Für die MAS sprach auch die Hoffnung auf Konjunkturerholung unter Ex-Wirtschaftsminister Luis Arce. Die Corona-Pandemie verschärfte die wirtschaftliche Krise in Bolivien, wegen sinkender Marktpreise verringerten sich bereits zuvor die Einnahmen durch den Export von Erdgas. Die De-facto-Regierung hielt die Landeswährung Boliviano zwar stabil, aber monatelange Einschränkungen wie Ausgangssperren oder die Schließung der Märkte traf vor allem Menschen, die Essen und Miete von Tag zu Tag verdienen müssen: Busfahrer*innen, Marktverkäufer*innen, Bäuerinnen und Bauern. Und Schätzungen zufolge arbeiten mehr als zwei Drittel der Bolivianer*innen in solchen informellen Jobs, also ohne Arbeitsvertrag und Sozialleistungen.

Áñez hielt sich fast ein Jahr an der Macht und verschob die Neuwahlen immer wieder

Die Angst, dass sich die wirtschaftliche Situation weiter verschlechtert, war bei vielen so groß wie die Hoffnung, dass sich die Lage mit der Rückkehr des Ex-Wirtschaftsministers erholen könnte und eine MAS-Regierung die weniger privilegierten, von der Krise besonders betroffenen Menschen, stärker unterstützen würde, beispielsweise durch direkte staatliche Geldzahlungen.

Auch die politische Konjunktur sprach für die MAS. Die selbsternannte Übergangsregierung von Áñez sollte eigentlich innerhalb von 90 Tagen Neuwahlen organisieren. Tatsächlich hielt sie sich fast ein Jahr an der Macht und verschob die Abstimmung immer wieder. Von der Corona-Pandemie und der Wirtschaftskrise heillos überfordert, erlangte die De-facto-Regierung Aufmerksamkeit durch Vetternwirtschaft, Zugeständnisse an Oligarchen im Agrarsektor und einen Skandal um den überteuerten Kauf von Beatmungsgeräten.

Nach den Massakern vom November 2019 in Sacaba und Senkata, als Sicherheitskräfte auf Demonstrant*innen schossen und dem neuesten Bericht einer Parlamentskommission zufolge mindestens 20 Menschen von Kugeln getötet wurden, zeigten Áñez und die zuständigen Minister wenig Tatendrang bei der Aufklärung. Mehr Eifer bewiesen sie darin, die Angst vor Evo Morales und der MAS zu schüren und deren Anhänger rassistisch zu beleidigen: Im Januar warnte Áñez via Twitter vor einer Rückkehr der „Wilden“. Gleichzeitig versuchten die Machthaber und ihre Verbündeten, eine Teilnahme der MAS an den Wahlen per Gericht zu verhindern.

Mit Arce und Choquehuanca hat die MAS nun eine zweite Chance. Er werde die Wirtschaft erneut zum Laufen bringen und das Land wieder einen, versprach Luis Arce nach der Wahl. Angesichts der Krise wird es für die künftige Regierung wohl schwieriger, Stabilität und Wachstum zu garantieren. Es bietet sich aber die Gelegenheit, das extraktivistische Wirtschaftsmodell Boliviens mit der Ausbeutung von Rohstoffen und dem großflächigen Anbau von Soja für den Export zu überdenken, da dies die Natur und indigene Territorien zerstört. Zudem ziehen sich Gräben durch die bolivianische Gesellschaft, zwischen Indigenen im Hochland und Indigenen im Tiefland, zwischen Stadt und Land, Arm und Reich, soziale Ungleichheit und Rassismus sind allgegenwärtig.

Der Neustart bietet für die MAS auch die Möglichkeit einer Neuausrichtung nach fast 14 Jahren an der Regierung bis November 2019, vielleicht sogar einer Abnabelung von Evo Morales. Arce gilt als Verbündeter des früheren Präsidenten, der seine Rückkehr nach Bolivien für den 9. November angekündigt hat, einen Tag nach der für den 8. November angesetzten Amtseinführung von Arce. Auf Fragen zu einer politischen Rückkehr von Morales antwortete Arce bislang verhalten: „Er kann jederzeit ins Land zurückkehren, denn er ist Bolivianer. Aber ich habe zu entscheiden, wer Teil der Regierung ist und wer nicht.“

SOZIALE BEWEGUNGEN GEWINNEN DIE STRASSE ZURÜCK

Bergbaudorf Quime Die Tourist*innen bleiben aus (Foto: flickr.com / Wandering Tamil (CC BY-SA 2.0)

„Sie unterschätzen die Kraft des Volkes“, ließ Orlando Gutiérrez, Generalsekretär der Bergarbeiter*innengewerkschaft FSTMB Anfang August verlauten. Er und weitere Vertreter*innen des nationalen Gewerkschaftsbundes COB, des Einheitpakts indigener Organisationen, der Landfrauenunion Bartolina Sisa und anderer Organisationen hatten die Verhandlungsrunde mit der Wahlbehörde TSE ergebnislos verlassen. Einige Tage zuvor hatten die sozialen Bewegungen begonnen, weite Teile des Landes durch eine Blockade lahmzulegen. Die Forderung: Einhaltung des gesetzlich vorgeschriebenen Wahltermins bis spätestens 6. September. Diesen Wahltermin hatte der Wahlrat auf den 18. Oktober verschoben. Begründet hatte die Behörde die erneute Verschiebung der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen mit der Corona-Pandemie und dem erwarteten Höhepunkt im August/September. Jetzt war der Vorsitzende des TSE, Salvador Romero, nicht bereit, mit den Vertreter*innen der Blockierenden einen Kompromiss auszuhandeln.

Romeros sture Haltung verleitete Innenminister Arturo Murillo zum Vorwurf, der Behördenleiter würde das Land in Brand setzen, „weil er den Wahltermin willkürlich verschoben hat“. Sichtlich nervös versuchte Murillo jede Verantwortung von sich zu weisen. Dabei hatte die Regierung zuvor auf die Verschiebung der Wahlen gedrängt. Aber die Wucht der Mobilisierung Anfang August hatte den Innenminister, wie die gesamte De-facto Regierung, überrascht. Vor allem die zunehmenden Rücktrittsforderungen der Blockierer*innen musste der Innenminister ernst nehmen. Die Proteste hatten das Potenzial, zu einer echten Gefahr zu werden.

Die Basis der Proteste findet man an der Peripherie der großen Städte, in der indigenen Metropole El Alto und vor allem auf dem Land

Dass es dennoch am 12. August zu einer Einigung kam, auf die sich auch die Protestierenden auf der Straße einließen, lag an der Führung der Partei Bewegung zum Sozialismus (MAS). Diese setzt nach wie vor auf eine erneute Machtübernahme durch Wahlen. Die Ausweitung und Radikalisierung der Proteste hatten zwar das Potenzial, die aktuelle Regierung aus dem Amt zu jagen, nicht geklärt war allerdings, was dann kommen würde. Aus diesem Grund twitterte Ex-Präsident Morales: „Man sollte verantwortlich zwischen dem Rücktritt von Jeanine Áñez, der unsere Rückkehr zur Demokratie weiter verzögern würde, oder schnellen Wahlen unter der Aufsicht der Vereinten Nationen entscheiden.“

Dass eine Radikalisierung der sozialen Bewegungen auch eine gewisse Gefahr für die MAS bot, wurde auf der Pressekonferenz deutlich, die die sozialen Bewegungen nach der Verkündung des Kompromisses abhielten. Segundina Flores von der Landfrauenunion Bartolina Sisa, warf den MAS-Funktionär*innen vor, den Kompromiss „hinter dem Rücken des Einheitspakts und ohne uns ausgehandelt zu haben“, und fuhr fort: „Wir sind die Gründer*innen des politischen Instruments (MAS) und wir müssen darin die entscheidende Rolle spielen.“ Eine klare Ansage gegen die politischen Funktionär*innen der Bewegung zum Sozialismus. Dass die Organisationen den Kompromiss dennoch akzeptierten und zu einer Pause der Blockaden aufriefen, lag sicherlich auch daran, dass es zu diesem Zeitpunkt bereits unrealistisch war, die Wahlen für den 6. September zu organisieren.

Die De-facto Regierung versuchte die Einigung und den ausgebliebenen Aufstand als Erfolg für sich zu verbuchen. Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie in den vergangenen Monaten in die Defensive geraten ist. Die Journalistin Verónica Zapata stellt fest, dass sich neun Monate nach der Wahl die Kräfteverhältnisse grundlegend verändert haben: „Konnte man 2019 noch einen Mangel an Organisierung innerhalb der sozialen Bewegungen feststellen, der den Verlust der Straße durch die Gewalt der Streitkräfte zur Folge hatte, hat sich dieses Kräfteverhältnis neun Monate später verändert.“ Bergarbeiter*innen, indigene und Campesino-Organisationen haben auf der Straße inzwischen die Oberhand. Während der Blockaden ließ sich das Militär gar nicht, die Polizei nur sporadisch blicken. Nur an ganz wenigen Stellen wurden Blockadepunkte aufgelöst.

Die Basis der Proteste findet man an der Peripherie der großen Städte, in der indigenen Metropole El Alto und vor allem auf dem Land. „Hier haben wir alle an den Blockaden teilgenommen“, meint José Antonio, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, während er auf Fahrgäste für sein Sammeltaxi wartet, mit dem er von Inquisivi nach Quime pendelt. Die Provinz liegt etwa drei Autostunden vom Regierungssitz La Paz entfernt. Von der Regierung hält er gar nichts, sie würden sich nur um ihre persönliche Bereicherung kümmern, während es für sie auf dem Land immer schlechter laufe: „Die Corona-Maßnahmen haben uns wirtschaftlich stark geschädigt.“ Durch den Lockdown sei außerdem der Handel mit El Alto behindert.

In der Provinz Inquisivi geht es seither noch gemächlicher zu. Auch Abel bestätigt das. Er verwaltet eines der beiden Hostels in dem Bergbaudorf Quime, besser gesagt, er passt darauf auf. Weniger als ein halbes Dutzend Tourist*innen hätten sich seit den Unruhen im November vergangenen Jahres hier her verirrt. Auch die Haupteinnahmequelle, der Bergbau, ist teilweise zum Erliegen gekommen. „Die fallenden Rohstoffpreise sind schlecht für uns“, meint ein Bergbauarbeiter, der sich die Zeit auf dem Dorfplatz vertreibt. Die Preise sind bereits seit geraumer Zeit im Keller und wegen der Corona-Krise ist kein Ende in Sicht. Das Virus macht den Menschen hier weniger Sorgen, bestätigt der örtliche Apotheker. „Wir haben bisher keine schweren Fälle gehabt, die wenigen Infizierten befinden sich in Quarantäne.“ Kaum eine*r trägt hier einen Mund-Nasen-Schutz, das Leben verläuft normal, allerdings in noch ruhigeren Bahnen als vorher, wegen der Reisebeschränkungen.

Die Gelassenheit überrascht, denn Bolivien gilt mit rund 120.000 bestätigten Corona-Fällen bei einer Bevölkerung von 11,5 Millionen als eines der am stärksten betroffenen Länder Lateinamerikas. Ganz anders ist die Stimmung am Regierungssitz La Paz. Im Stadtzentrum tragen 90 Prozent der Menschen Gesichtsmasken und nicht selten sieht man auch Passant*innen vorbeihuschen, die Infektionsschutzanzüge, Gasmasken und Schutzbrillen tragen. Größer könnte der Kontrast kaum sein. Dabei ist es schwer, wirklich verlässliche Zahlen über den Verlauf der Pandemie zu erhalten. Die Regierung und die zuständigen Behörden, so scheint es, haben den Überblick verloren. Offiziell gibt es bisher rund 5.000 Menschen, die mit oder an Covid-19 gestorben sind. Am 22. August berichtete die New York Times, dass seit Juni die Sterblichkeit in Bolivien um 20.000 Tote höher war als im Vergleichszeitraum vergangenen Jahres. Chefvirologe Prieto dementierte die Zahlen sofort und meinte: „Würden diese Zahlen stimmen, wären unsere Friedhöfe bereits kollabiert, das ist aber nicht der Fall“. Auf dem Friedhof in Obrajes geben Friedhofarbeiter*innen dagegen an, dass sie zurzeit die dreifache Anzahl an Beerdigungen haben. Auch die Preise für Beerdigungen sind stark angestiegen.

Der Macht- und Vertrauensverlust in die Exekutive ist enorm

Selbst die Anhänger*innen von Áñez trauen der Regierung nicht mehr zu, der Situation Herr zu werden. Sie hat es zu keinem Zeitpunkt geschafft, sich als Macherin in der aktuellen Krise zu präsentieren. Vielmehr sind ihre Maßnahmen begleitet von Dilettantismus und wahrscheinlich auch von Korruption. So fehlte bei 170 Beatmungsgeräten, die im Mai ankamen, nicht nur die Software und es wurde ein überhöhter Preis bezahlt, sondern inzwischen sind angeblich auch die meisten der Geräte nicht mehr auffindbar.

Der Vertrauensverlust in die Exekutive ist auch deswegen enorm. Zum Machtverlust auf der Straße kommt auch der Machtverlust innerhalb der Institutionen. Die beiden Parlamentskammern übernehmen immer mehr die Aufgaben der Exekutive. So hat Eva Copa von der MAS, die Vorsitzende des Senats, Ende August mehrere Gesetze unterzeichnet. Laut Verfassung ist das dann möglich, wenn der*die Präsident*in des Landes ihre Unterschrift ohne triftigen Grund verweigert. Zu den von Copa unterzeichneten Gesetzen gehört eine Verordnung, die Privatkliniken dazu verpflichtet, Corona-Fälle zu behandeln, und eine Verordnung, die es Mieter*innen erlaubt, ihre Miete während der Pandemie um 50 Prozent zu mindern. Auch der Kompromiss um den Wahltermin wurde von den Parlamentskammern mit der Wahlbehörde, der UNO und der katholischen Kirche ausgehandelt. Áñez konnte danach lediglich ihre Unterschrift daruntersetzen.

Dennoch ist der Machtkampf in Bolivien noch nicht entschieden. Trotz der Unzufriedenheit mit der De-facto-Regierung gibt es immer noch einen relevanten Teil der Bevölkerung, die einen möglichen Wahlsieg der MAS fürchtet wie der Teufel das Weihwasser. Ab September beginnt die Einschreibung ins Wahlregister und damit die heiße Phase des Wahlkampfs. Das Anti-MAS-Lager ist nach wie vor uneinig und es ist wenig wahrscheinlich, dass sich das ändert. Der Vorsitzende der bolivianischen Bischofskonferenz Ricardo Sentellas bezweifelte kurz nachdem seine Kirche als Vermittlerin bei der Festlegung des Wahltermins auftrat, dass es transparente Wahlen geben werde. „Mit dem aktuellen Wählerverzeichnis kann es keine freien Wahlen geben“, ließ der Geistliche verlauten und wies auf das (seiner Meinung nach) „Schweigen der Justiz zum Wahlbetrug vergangenen Oktober“ hin.

Diese Position zeigt, dass es wahrscheinlich ist, dass auch mit den Wahlen im Oktober die Spaltung des Landes nicht überwunden wird, und liefert jetzt bereits beiden Seiten Argumente, einen Wahlsieg der anderen Seite nicht anzuerkennen. Damit sind Konflikte über den 18. Oktober hinaus ziemlich wahrscheinlich. Gewinnt die MAS, sind Proteste der Bürgerkomitees vor allem in Santa Cruz absehbar, gewinnen Jeanine Áñez oder Carlos Mesa, dann kann es gut sein, dass die sozialen Bewegungen und indigenen Organisationen das nicht akzeptieren werden.

OLIGARCHIE ESSEN DEMOKRATIE AUF

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NADESDHA GUEVARA OROPEZA

ist Anwältin und Menschenrechtsaktivistin und vertritt einige der Opfer des im November 2019 durch das bolivianische Militär in Senkata verübten Massakers. Sie hat bei den Vereinten Nationen eine Reihe von Beschwerden zu Menschen- rechtsverletzungen eingereicht und kooperiert mit der Assoziation für Men- schenrechte in Bolivien, die die Menschenrechte aus einer dekolonialen Perspek- tive betrachtet und sich für die verarmten Sektoren im Land einsetzt. Guevara sieht sich in der Tradition des andinen Widerstands von Tupac Amaru II, Micaela Bastidas und Tupac Katari (indigene Anführer*innen, die im 18. Jh. gegen die Kolonialmacht Spanien rebellierten) sowie deren Ziel eines vereinigten Hispano- amerikas. Sie nutzt ihren Beruf als Anwältin zur Durchsetzung des Suma Qamaña (Aymara) bzw. Sumak Kawsay (Quechua), dem in der boliviani- schen Verfassung verankerten indigenen Konzept des “Guten Lebens”.

(Foto: Privat)


Können Sie uns etwas über den politischen Kontext des Putsches in Bolivien erzählen?

Der Putsch in Bolivien ereignete sich im Kontext verschiedener Szenarien. Hier spielt zunächst die Agrarindustrie von Santa Cruz de la Sierra eine wichtige Rolle. Dieser Sektor strebte nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die politische Macht an, von der er seit 14 Jahren ausgeschlossen war. Nachdem die Regierungspartei MAS eine strategische Allianz mit der Agraroligarchie eingegangen war, wurden ihr politische Zugeständnisse in der Exekutive und Legislative gemacht. Die haben sie auch dazu genutzt, paramilitärische Gruppen zu bilden, wie wir jetzt sehen.

Zudem stand die MAS vor internen Herausforderungen, wie der Konsolidierung des plurinationalen Staates und der Bildung einer neuen Führungsspitze. Diese erwiesen sich als Versäumnisse, die die bolivianische Mittelschicht später zu ihrem Vorteil nutzte. Ein weiterer Fehler war es, zuzulassen, dass anstelle der Indigenen-, Kleinbauern- und Arbeiterbewegung die Mittelschicht zum historischen Subjekt des Kampfes wurde.

Aus geopolitischer Perspektive ist das Interesse an unseren natürlichen Ressourcen gewachsen, vor allem am Lithium. Hinzu kam, dass die bolivianische Mittelklasse behauptete, dass sie unter der Regierung der MAS in einer Diktatur lebe und für ihre Freiheit kämpfe. Die hauptsächlichen Ursachen des Putsches waren jedoch der politische Machtkampf und die Kooperation der Regierung mit den oligarchischen Sektoren.


Wie kam es vor diesem Hintergrund zu dem Putsch?

Nach dem Referendum vom Februar 2018, bei dem sich das Volk gegen die Möglichkeit einer dritten Kandidatur von Evo Morales zur Präsidentschaftswahl entschied, ließ dieser sich vom Verfassungsgericht seine Wiederaufstellung genehmigen. Als Morales die Präsidentschaftswahl im Oktober 2019 gewann, erhob die Organisation Amerikanischer Staaten den Vorwurf des Wahlbetrugs, woraufhin die rassistische Gewalt der paramilitärischen Gruppen gegen das Volk und gegen Repräsentanten der MAS begann und viele Politiker der MAS zurücktraten. Der Rücktritt von Evo Morales verursachte ein Machtvakuum und nachdem seine Nachfolgerin, Adriana Salvatierra, ebenfalls zurückgetreten war, wurde Jeanine Áñez auf nicht-demokratischem Weg von Polizei und Militär als Präsidentin eingesetzt.

Kaum an der Regierung, verbrannten sie die Wiphala, Flagge und Symbol der indigenen Nationen, und machten deutlich, dass die Indigenen an den Platz zurückgekehrt waren, der ihnen ihrer Ansicht nach zustand. Nachdem Áñez dem Militär und der Polizei per Dekret Immunität zusicherte, verübten diese im November 2019 die Massaker von Sacaba und Senkata, die von der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte als solche anerkannt wurden.


Was waren die Folgen des Putsches bezüglich der politischen Verfolgung und der Funktion der Rechtsinstitutionen in Bolivien?

Die ersten Folgen waren die Massaker und ein politischer Pakt, welcher die MAS im Parlament entmachtete und die Durchführung von Wahlen garantieren sollte. Dies war zunächst das einzige Ziel der De-facto-Regierung. Doch mit dem Ausbruch von Covid-19 begann eine noch kompliziertere Periode, die den Klassenkampf verstärkt, den Rassismus verdeutlicht und in der keines der strukturellen Probleme des Landes gelöst wird.

Unter der De-facto-Regierung gibt es einen institutionellen Kollaps und alles bewegt sich nur noch ausgehend von Regierungsanweisungen. Es gibt politisch Verfolgte der MAS, und solche, die ihr nicht angehören und deren einziges Vergehen es war, die Regierung zu kritisieren. Seit den Massakern gibt es Gefangene, die auf illegale und willkürliche Art und Weise inhaftiert wurden. Frauen mit pollera wurden von Militärs und Polizisten vergewaltigt (in Bolivien ist die pollera eine typische Bekleidung der indigenen Frauen und Kleinbäuerinnen, Anm. d. Red.). Der argentinische Fotograf Facundo Molares befindet sich weiterhin in Gefangenschaft, ebenso wie viele Frauen noch immer in den Strafanstalten für Frauen inhaftiert sind.

Der institutionelle Bruch zeigt sich auch darin, dass die paramilitärischen Gruppen von der Regierung nicht nur toleriert, sondern auch finanziert werden. Vor einigen Tagen ließ die Regierung verlauten, dass es politisch angemessen sei, die Demonstranten zu erschießen. Hinzu kommt, dass in Bolivien drei Millionen Arbeitslose und ein Anstieg der extremen Armut erwartet werden. Das Gesundheitssystem wurde privatisiert, das Schuljahr wurde aufgrund der Pandemie ausgesetzt.

Das sind die Folgen des Putsches und eines Staates, der kein Rechtsstaat ist und der auf Kritiker das Strafrecht anwendet, das diese nicht als Bürger behandelt, sondern als Terroristen brandmarkt. Aufgrund dieser Situation sehen sich die sozialen Bewegungen nun gezwungen, sich zu äußern. Gleichzeitig schürt die Regierung Hass und stigmatisiert diejenigen, die von ihrem Recht auf Protest Gebrauch machen, als Angehörige der MAS. Die Bevölkerung ist unzufrieden und mobilisiert sich, aber gleichzeitig ist sie auch tief getroffen, denn seit neun Monaten ist kein neuer sozialer Pakt (gemeint ist ein gesellschaftliches und politisches Übereinkommen zur Überwindung der Spaltung der Gesellschaft, Anm. d. Red) ausgehandelt worden.


Wie ist die aktuelle Situation in Bolivien und wie ist es zu den erneuten Mobilisierungen gekommen?

Viele sahen in den Wahlen, die für den 6. September angesetzt waren, einen politischen Ausweg. Zwar bestand Unsicherheit darüber, welche Partei gewinnen würde, aber es wurde angenommen, dass ein neuer sozialer Pakt verhandelt werden würde. Dann jedoch gab der Wahlprüfungsausschuss bekannt, dass sich die Wahl auf den 18. Oktober verschieben würde. Daraufhin wurde in El Alto ein Treffen von sozialen Bewegungen und Gewerkschaften einberufen und dem Wahlprüfungsausschuss ein Ultimatum von 72 Stunden gestellt, um zum ursprünglichen Wahltermin zurückzukehren. Würde dies nicht geschehen, käme es zu nationalen Blockaden.

Wie angekündigt begannen nach Ablauf der 72 Stunden die Blockaden. Nachdem regierungsnahe Sektoren wie das oligarchische Bürgerkomitee von Santa Cruz verlauten ließen, dass wir von der indigenen Bewegung Bestien seien, dass wir es nicht verdient hätten, Bürger zu sein, und dass wir die Hand beißen würden, die uns zu essen gäbe, erhielten die Blockaden Zulauf. Die Indigenen und Kleinbauern repräsentieren über 80 Prozent der Bevölkerung des Landes und die Indigenen sind in der Verfassung mit 36 Nationen anerkannt. Zudem ließen das Bürgerkomitee und die Regierung verlauten, dass Bolivien „zur Republik zurückkehren“ sollte (gemeint ist eine Rückkehr zur vor der MAS-Regierungszeit gültigen Verfassung, Anm. d. Red.). Diese Vorkommnisse verschärften die Streitigkeiten, weswegen sich die Losung der Mobilisierungen schließlich nicht mehr auf den Wahltermin bezog, sondern auf den Rücktritt von Áñez.

Es wurde versucht, die Blockaden unter anderem mit dem Vorwurf, sie würden den Transport von Sauerstoff für Covid-19 Patienten verhindern, zu delegitimieren. Doch es hat seit zwei Monaten keine Sauerstofflieferungen gegeben und das Gesundheitssystem ist seit neun Monaten praktisch inexistent. Schließlich jedoch akzeptierte das Parlament, in der die MAS die Mehrheit stellt, den neuen Wahltermin am 18. Oktober und hob die Blockaden auf, rief aber gleichzeitig die permanente Alarmbereitschaft aus.


Wie wird es jetzt weitergehen, nachdem der neue Wahltermin akzeptiert und die Blockaden aufgehoben wurden?

Es zeichnet sich ab, dass es zu einer politischen Verfolgung derjenigen kommt, die zu den Mobilisierungen aufgerufen haben. Es wurden diesbezüglich Anzeigen erstattet, die von der Staatsanwaltschaft aufgenommen wurden. In Samaipata wurden 43 Personen auf unrechtmäßige und willkürliche Weise festgenommen. Drei von ihnen befinden sich in Präventivhaft. In San Ignacio de Moxos haben drei Menschen Schusswaffenverletzungen durch die Paramilitärs erlitten und wir haben im Resultat ein in seiner Würde verletztes Volk. Heute sehen wir die Notwendigkeit uns zu organisieren, denn wir wissen, dass der Staat durch Polizei, Militär und Paramilitär darauf vorbereitet ist, das Volk zu unterdrücken. Angesichts der Verschärfung des Problems ist das Einzige, was uns bleibt, eine Volksmacht zu organisieren. Wir wissen nicht, ob die Wahlen tatsächlich stattfinden werden. Aber was wir wissen,ist, dass es notwendig ist, uns zu organisieren, uns zu vereinen und zu kämpfen.

PERSPEKTIVE ÖKO-SOZIALISMUS

„Imperiale Produktions- und Lebensweise“: Mit diesem Begriff beschrieben Ulrich Brand und Markus Wissen 2017 den Zusammenhang, dass „ [i]mmer mehr Menschen – im globalen Norden und zunehmend auch im globalen Süden – […] sich an den ökologischen und sozialen Ressourcen andernorts [bedienen], um sich selbst einen hohen Lebensstandard zu sichern.“ Kann zeitgemäßer Internationalismus diese imperiale Lebensweise in Alltag, Politik und Wirtschaft herausfordern? Damit beschäftigt sich Brand nun seinem neuem Buch Post-Wachstum und Gegen-Hegemonien und blickt dabei auch nach Lateinamerika.

Das Buch verbindet eine Auswahl von Artikeln, die der Professor für Internationale Politik und Mitherausgeber der Blätter für deutsche und internationale Politik zwischen 2012 und 2020 geschrieben hat. In seinen jüngsten Beiträgen analysiert er die Corona-Krise vor dem Hintergrund anderer akuter Krisen von Klima, Care-Arbeit, Demokratie und der erstarkenden Rechten.

Von diesen multiplen Krisen sind Menschen weltweit mit unterschiedlichen Auswirkungen betroffen. Insbesondere im Globalen Süden, so Brand, werde die Umwelt durch den Rohstoffbedarf von Technologien (auch vermeintlich grünen) verwüstet, die Lebensbedingungen der Menschen durch Folgen der Klimakrise zerstört und ihre Arbeitskraft massenhaft in Fabriken ausgebeutet. Die Vielschichtigkeit des Konzepts „Imperiale Produktions- und Lebensweise“ wird im Buch anhand von zahlreichen Beispielen deutlich. Brand argumentiert, wenn das Ziel internationaler Solidarität darin bestehe, sich auch für die Verbesserung der Lebensverhältnisse in anderen Regionen der Welt einzusetzen und die der imperialen Lebensweise inhärenten Ausbeutungsverhältnisse zu überwinden, müsse das politische Projekt über den Kapitalismus hinausweisen. Dafür brauche es demokratische Prozesse, die eine zukunftsfähige und solidarische Lebensweise erkämpfen. Denn das andere von Brand gezeichnete Szenario, in dem sich der neoliberale zu einem autoritären, grünes Wachstum fördernden Kapitalismus transformiere, würde die globale Ungerechtigkeit nur vertiefen.

Auf neue Entwicklungen in Lateinamerika geht der letzte Abschnitt des Buches ein. In einem kurzen Text aktualisiert Brand seine Einschätzungen zu Fragen, die er in dem 2016 erschienen Buch „Lateinamerikas Linke. Ende des progressiven Zyklus?“ erörterte. Der letzte, sehr theoretische Beitrag erörtert Staatlichkeit aus neo-marxistischer Perspektive. Mit Blick auf die Erfahrungen der sozialen Bewegungen in Bolivien mit der Regierung der Bewegung zum Sozialismus (MAS) plädiert der Autor dafür, dass Staat ein Teil sich verändernder Hegemonie sein muss. Hegemonie haben herrschende Gruppen und Klassen laut Brand dann, wenn sie ihre Interessen als Allgemeininteresse durchsetzen können

Um nicht das Handtuch zu werfen und resigniert in einen autoritär-grünen Kapitalismus zu steuern, ist Brands Hegemonieverständnis sehr hilfreich. Die Antwort, so Brand, kann nur sein, gesellschaftliche Konflikte zu verschärfen und um Gegen-Hegemonie zu ringen. Er schlägt vor, auf diesem Weg die Perspektive von Post-Wachstum einzunehmen, diese mit einem breiten politischen Projekt (Linker Green New Deal) zu kombinieren und mit einem „Demokratischem Öko-Sozialismus“ auch ein perspektivisches politisches Projekt zu entwerfen. Folgerichtig müssen soziale Bewegungen ihr Verhältnis zum Staat kritisch reflektieren. Dafür ist es wertvoll, von den Erfahrungen sozialer Bewegungen in Lateinamerika zu lernen. Und dann gepaart mit utopischem und strategischem Denken an der Gegen-Hegemonie zu arbeiten.

DAS VERSAGEN EINER ÜBERGANGSREGIERUNG

Protest gegen die Streichung Künstler*innen radeln für das Kulturministerium (Foto: Edwin Gutiérrez)

Das Wetter im Winter auf dem bolivianischen Hochplateau ist geprägt von einer brennenden Sonne, die kaum wärmt und eisigen Winden, die um die Häuser pfeifen. Im Wintermonat Juni strampelten rund einhundert Künstler*innen alternativer Initiativen und Kulturzentren vom Stadtzentrum El Altos in den Außenbezirk Senkata. Sieben Monate war es her, seit Sicherheitskräfte dort das Feuer auf die Zivilbevölkerung eröffneten. Im Kugelhagel starben mehr als ein Dutzend Menschen. Den Radler*innen ging es darum, an die Ereignisse im November vergangenen Jahres zu erinnern. Gleichzeitig protestierten sie gegen Kürzungen im Kulturbereich durch die Regierung. Interimspräsidentin Jeanine Áñez hatte das Kulturministerium zuvor als „absurde Ausgabe“ bezeichnet und es kurzer Hand aufgelöst.

Die Proteste der Künstler*innen gegen die Abschaffung des Kulturministeriums gehörten zu den ersten am Regierungssitz La Paz nach einer über zwei Monate dauernden strikten Quarantäne in Bolivien. Inzwischen gehören Demonstrationen wieder zum Alltagsbild der Andenmetropole.

Im Mai beschloss die Zentralregierung, die Quarantäneregeln auf lokale Ebene zu verlagern. Offiziell hieß es, damit lokaler und flexibler auf das Infektionsgeschehen reagiert werden könne. In Wirklichkeit aber war es eine Art Exit-Strategie der Interimsregierung, die in den sieben Wochen zuvor heillos überfordert war vom Krisenmanagement der Pandemie. Bolivien rangiert nicht nur bei der Anzahl der Tests am unteren Rand in der Region, sondern hat seit die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Januar begann, vor einer möglichen Pandemie zu warnen, verschlafen, adäquate Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie zu ergreifen.

Inzwischen gehören Demonstrationen wieder zum Alltagsbild der Andenmetropole

Bereits im April wurde die Regierung von einem Skandal erschüttert. Drei Tage lang tourte Interimspräsidentin Áñez durchs Land und verteilte Beatmungsgeräte, die kurz zuvor aus Spanien eingetroffen waren. An jeder Station war die Presse geladen, lokale Volksvertreter*innen oder medizinisches Personal nahmen unter Blitzlichtgewitter die Geräte in Empfang. Die Bilder sollten vermitteln, dass die Regierung handle und sie die Pandemie in den Griff bekommen werde. Schließlich wurde Áñez von Mediziner*innen darauf aufmerksam gemacht, dass die Beatmungsgeräte gar nicht für eine Intensiv-Therapie, wie sie bei der Behandlung von Covid-19 benötigt wird, eingesetzt werden können. In der Folge stellte sich heraus, dass die Geräte vom Gesundheitsministerium zum Dreifachen des Listenpreises eingekauft wurden.

Das Desaster kostete dem sechs Wochen zuvor eingesetzten Gesundheitsminister Marcelo Navajas nicht nur den Job, sondern brachte ihn auch in den Knast von San Pedro, wo er unter anderem wegen dem Verdacht der Veruntreuung in Untersuchungshaft sitzt. Mit Maria Eidy Roca amtiert die dritte Gesundheitsministerin in der bisher sieben Monate dauernden Regierungszeit von Áñez. Sie ist wie Áñez an Corona erkrankt, ebenso wie der Kabinettschef der Präsidentin Yerko Núñez, der Bergbauminister Jorge Fernando Oropeza und der oberste Befehlshaber der Streitkräfte Sergio Carlos Orellana.

In Bolivien steigen die Infektionszahlen stark an, das Gesundheitssystem ist bereits weitgehend kollabiert und die Krise schwappt nun auf das Bestattungswesen über. Anfang Juli stellten Bewohner*innen der drittgrößten Stadt Cochabamba Särge mit ihren Verstorbenen auf die Straßen. „Seit sieben Tagen können wir unsere Angehörigen nicht beerdigen, wir können den Toten nicht mehr bei uns behalten. Wir fordern, dass wir ihn beerdigen können“, gab ein Angehöriger erbost auf der Straße in die Kameras zu Protokoll.

Boliviens Gesundheitssystem ist weitgehend kollabiert

Der Kollaps der gesellschaftlichen Bereiche gleicht dem Dominoeffekt. Der nächste Stein, der wohl fällt, ist die Wirtschaft. Auch in Senkata, dem Ziel der protestierenden Radler*innen, ist die wirtschaftliche Not inzwischen groß. Dieselben Aktivisten*innen organisieren Lebensmittelspenden für die Betroffenen des Massakers. „Wir versuchen, mit den Lebensmittelhilfen das Schlimmste zu verhindern“, meint Daniela, eine Aktivistin, die auch bei der Protestradtour dabei war. Gegenseitige Hilfe hat in Bolivien, vor allem im Hochland, eine lange Tradition, so ist die gegenseitige Hilfe momentan oft das Einzige, was den Kollaps noch hinausschiebt. Immer mehr fühle sich dies jedoch wie ein Fass ohne Boden an, meint Daniela, und beginnt von den vielen Hilfsanfragen zu berichten. „Wir haben zum Beispiel eine Frau, die in einer jämmerlichen Behausung wohnt, welche nur aus einer festen Wand und ansonsten aus Vorhängen und Karton besteht. Sie braucht regelmäßig Sauerstoff, nicht wegen Covid-19, sondern weil sie an einer chronischen Lungenkrankheit leidet.“ Andere Fälle sind Familien, die durch die lange Ausgangssperre ihre Einkommensquellen verloren haben und sich buchstäblich plötzlich im Nichts wieder finden. „Da kommen verzweifelte Anrufe von Familien, die ohne Lebensmittel und ohne Trinkwasser dastehen“, meint Daniela. Nach einer Schätzung der Fundación Jubileo, könnten als Folge der Pandemie und der strikten Ausgangssperre bis zu 1,8 Millionen Bolivianer*innen von Hunger betroffen sein, also fast 20 Prozent der Bevölkerung.

Nach einer Umfrage planen 72 Prozent der Unternehmen einen Stellenabbau, rund 40 Prozent denken sogar über die komplette Aufgabe ihres Geschäfts nach. Die Regierung hat zwar Maßnahmen zur Stabilisierung und Neuschaffung von Arbeitsplätzen verkündet, aber bisher sind den Verkündungen noch keine konkreten Maßnahmen gefolgt. Glaubt man der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) rangiert Bolivien bei der staatlichen Unterstützung für die Wirtschaft in der Coronakrise in Südamerika an letzter Stelle. Zugleich sind die ökonomischen Rahmenbedingungen aufgrund der Krise schwierig: Die Gaspreise sind im Keller und die Auslandsbolivianer*innen schicken weniger Geld nach Hause. Um 28 Prozent sind die remesas durch Corona zurückgegangen.

Die Pandemie breitet sich derweil im Land weitgehend ungebremst aus. Im August erwarten Experten*innen bis zu 150.000 Infizierte unter den 11,5 Millionen Einwohner*innen Boliviens. Neben dem Skandal um die Beatmungsgeräte gehören die Auftritte des Bauministers Iván Arias zu den bisherigen „Höhepunkten“ der Pandemiebekämpfung. In einer Pressekonferenz Ende Mai erklärte er, „Thanos ist der Virus und fällt über Bolivien her“, dabei fuchtelte er mit einer Plastikfigur des Antagonisten der Avengers vor den Mikrophonen herum. „Wir müssen uns vor Thanos schützen, der bedeutet Chaos und Tod“, meinte er weiter und holte Capitan America und Hulk aus einer Plastiktüte: „Sie bedeuten Ordnung, Respekt und an das Wohl aller zu denken.“ Nicht nur mit diesem Auftritt ließ er die Bolivianer*innen ratlos zurück. Knapp einen Monat später setzte sich Arias röchelnd in einen Rollstuhl, um eine Coronavirus-Infektion nachzuspielen. Die Situation scheint für die Áñez-Administration zunehmend außer Kontrolle zu geraten. Am sechsten Juli machte ein Post auf Twitter die Runde: „Acht Wochen und sie fliegt nach Miami“ war darin zu lesen, dazu ein Bild von Áñez, mit ausgestreckten Armen auf einem Hügel, als wolle sie fliegen. Der Post war eine Anspielung auf die Wahlen, die nun für den 6. September angesetzt sind.

Die Situation gerät für die Áñez-Administration zunehmend außer Kontrolle

Nach der aktuellen Wahlbefragung des Lateinamerikanischen Strategischen Zentrum für Geopolitik (CELAG), einem der Bewegung zum Sozialismus (MAS) wohlgesonnenen südamerikanischen Think Tank, liegt die Übergangspräsidentin, die ebenfalls als Präsidentschafts-*kandidatin ins Rennen geht, abgeschlagen auf dem dritten Platz. Demnach würde der aktuelle Kandidat der MAS, Luis Arce, bereits in der ersten Runde mit fast 15 Prozentpunkten vor Carlos Mesa liegen und über 40 Prozent der Stimmen erhalten. Das würde zu einem Sieg der Bewegung zum Sozialismus in der ersten Runde führen. Die Bedingungen dafür sind ein Vorsprung von über zehn Prozentpunkten und mehr als 40 Prozent der abgegebenen Stimmen. Auch wenn Umfragen in Bolivien mit großer Vorsicht zu genießen sind und vielfach entsprechend der politischen Couleur geschönt sind, ist der Autoritätsverlust der Übergangsregierung inzwischen überall deutlich zu spüren.

Die Loyalität der Sicherheitskräfte zur Áñez-Administration bröckelt inzwischen merklich. Als Militärs und Polizei ebenfalls Anfang Juli nach K‘ara K‘ara beordert wurden, um eine Blockade von Anwohner*innen der für die Stadt Cochabamba wichtigen Mülldeponie aufzulösen, kam es zwar zu einem Tränengaseinsatz und vielen Verletzten, letztlich zogen die Sicherheitskräfte jedoch unverrichteter Dinge ab. Nach Angaben des Tageszeitungsnetzwerks laizquierdadiario kam es zudem zu Wortgefechten zwischen Polizisten*innen und Soldaten*innen, letztere waren angeblich mit dem Einsatz in dieser Form nicht einverstanden.

Schon länger gibt es Gerüchte über eine Spaltung innerhalb des Militärs. Ein Teil will scheinbar die Politik der Konfrontation, die Innenminister Arturo Murillo seit Machtantritt betreibt, nicht mehr mittragen. Und selbst der Hardliner Murillo wirkte in den vergangenen Wochen eher abgekämpft, als kämpferisch. Auch die Aktivistin Daniela glaubt an den Machtverlust der aktuellen Regierung und meint deswegen: „Kann gut sein, dass die Regierung sich so langsam ins Ausland absetzt“.

AUF SICH ALLEIN GESTELLT

Peky Rubín de Celis ist seit den 1990er-Jahren in der bolivianischen Provinz Tarija feministisch aktiv. Derzeit arbeitet sie als Direktorin von Equipo de Comunicación Alternativa con Mujeres (ECAM) in der gleichnamigen Provinzhauptstadt.  ECAM unterstützt Frauen in der Wahrnehmung ihrer Rechte, leistet politische Bildungs- und Aufklärungsarbeit und kämpft für die rechtliche und ökonomische Unabhängigkeit der Frauen.
(Foto: privat)


In Bolivien gibt es eine ziemlich strikte Ausgangssperre. Wie wirkt sie sich aus?

Wir haben derzeit nur einen Tag pro Woche, um rauszugehen, je nach Passnummer. Viele Bolivianer, darunter 70 Prozent der Frauen, haben keine feste Arbeit und arbeiten im informellen Sektor. Daher gibt es für viele aktuell keine Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen oder sich mit Nahrung zu versorgen.

Können Sie weiterhin in der Frauenrechtsorganisation ECAM aktiv sein?

Leider mussten wir aufgrund der aktuellen Situation unser Büro schließen. Jetzt stimmen wir uns mit der Stadtverwaltung ab, damit sie die Lebensmittelpakete an die bedürftigsten Familien verteilen kann.  Wir sammeln auch Hygieneartikel, Mundschutze, Handschuhe, Desinfektions- und Lebensmittel, insbesondere Milch für die Kinder. Durch unsere Arbeit wissen wir von den besonderen Notlagen.

Die Übergangsregierung unter Jeanine Añez hat Soforthilfen für Familien versprochen. Helfen diese Zuschüsse nicht?

Der bono familia ist ein einmaliger Zuschuss von 500 Bolivianos (ca. 65 Euro, Anm. d. Red.) pro Familie mit Schulkindern. Das löst keine Probleme. Außerdem müssen diese Zuschüsse und die staatlichen Renten in den Banken abgeholt werden. Das bedeutet, dass alte Menschen teils ab den frühen Morgenstunden anstehen müssen, um Geld für das Nötigste zu erhalten, wo man doch eigentlich zuhause bleiben sollte.

Dazu kommt die Kriminalisierung der Armen. Das Militär und die Polizei stehen bewaffnet auf den Straßen, als wäre Revolution. Wir befinden uns aber in einem sanitären Ausnahmezustand. Jeder, der trotz Ausgangssperre arbeitet oder dessen Passnummer ihn nicht zum Hinausgehen berechtigt, wird angehalten und muss eine Strafe von 1.000 Bolivianos bezahlen. Wer nicht zahlt, muss für acht Stunden ins Gefängnis.

Auch sind bei einer Demonstration gegen den Ausnahmezustand im östlichen Departement Beni mehrere Menschen festgenommen und wegen Aufruhrs angeklagt worden. Sie wurden auf dem Luftweg nach La Paz gebracht und befinden sich jetzt in Untersuchungshaft. Anstatt die Armut einer großen Mehrheit der Bevölkerung zu bekämpfen, kriminalisiert man sie und sperrt sie weg.

Abgesehen von den finanziellen Problemen, wie hat sich die Situation von Frauen und Kindern verändert?

Wir haben hier dieselbe Situation wie überall in Lateinamerika, wo es eine Quarantäne gibt. Die Realität, die nicht ignoriert werden kann, ist, dass Gewalt gegen Frauen im häuslichen Bereich stattfindet. Die Frauen sind jetzt 24 Stunden täglich mit ihren Männern eingesperrt und haben im schlimmsten Fall kaum zu essen. Diese angespannte Situation wird oft gewalttätig. Die Beschwerden wegen häuslicher Gewalt sind zwar zurückgegangen. Aber nicht, weil die tatsächliche Gewalt abnimmt, sondern weil es wenig Zugang zu Hilfsangeboten gibt. Hier in Tarija gibt es derzeit viele Frauen, die mich anrufen und um Rat für die Situation zuhause bitten und mir von den tätlichen Übergriffen ihrer Ehemänner berichten. Auch beklagen sie, dass die öffentlichen Hilfstelefone nicht besetzt sind.

Wieso funktionieren die öffentlichen Stellen nicht?

Sie haben viel Personal abgebaut. Auch kommt aktuell längst nicht jeder zur Arbeit. Für die wenigen Frauen, die Zugang zu einem Telefon haben und die sich trauen dort anzurufen, ist das sehr schlimm.

Seit Beginn der Quarantäne haben wir vier registrierte Fälle von Frauenmord in Bolivien. Im Jahr 2020 waren es bisher 30. Bolivien steht bei den Feminiziden in Südamerika damit an erster Stelle. Alle drei Tage wird eine Frau ermordet und alle vier Stunden wird in Bolivien eine Frau oder ein Mädchen vergewaltigt. Der Machismo ist auch bei den Behörden so ausgeprägt, dass die Betroffenen nicht selten von Richtern erneut zu Opfern gemacht werden. Das heißt, ihnen wird nicht geglaubt, oder sie werden für die ihnen widerfahrene Gewalt verantwortlich gemacht. Wir haben zwar eine polizeiliche Spezialeinheit zur Bekämpfung solcher Gewalt, die ist allerdings chronisch unterfinanziert. Die Leute dort sind kaum ausgebildet und es gibt keine Ausrüstung, oft nicht einmal zum Fotokopieren von Dokumenten.

Wie steht es um die Kapazitäten in den Krankenhäusern für schwangere Frauen oder für Abtreibungen?

In den Krankenhäusern werden nur noch Notfälle behandelt. Es gibt zudem viele Menschen, die durch den Mangel von Transportmitteln nicht dorthin gelangen können. Abtreibungen durchzuführen war zudem unter normalen Bedingungen schon sehr schwierig und ist nur in Ausnahmefällen, wie nach einer Vergewaltigung, erlaubt.

Was halten Sie von der Verschiebung der Wahl?

Die Verschiebung der Wahlen ist zweifellos richtig. Wir brauchen allerdings so bald wie möglich eine demokratische Regierung, die vom Volk gewählt wird. Auch sind wir sehr besorgt, welche Prioritäten die Übergangsregierung setzt. Präsidentin Añez hat zwar den Kampf gegen Feminizide ausgerufen, aber den evangelikalen Fundamentalisten Víctor Hugo als Bildungsminister eingesetzt. Während der Quarantäne wurden zudem internationale Flüge für reiche Bolivianer aus dem Ausland ermöglicht. Währenddessen wurden 800 bolivianische Saisonarbeiter und deren Familien im chilenischen Colchane nicht über die Grenze zurück ins Land gelassen und als Agenten der Bewegung zum Sozialismus (MAS) (siehe LN 547-550) bezeichnet. Auch hat die Übergangsregierung die Gehälter der Polizei erhöhen lassen und viel Geld in das Militär investiert.

Was müsste stattdessen getan werden?

P: Statt Polizei und Militär aufzurüsten, müssten medizinisch-soziale Brigaden aufgestellt werden. Wir brauchen Ärzte, die in die abgelegenen Gebiete gehen, um die Menschen zu untersuchen. Die Bedürftigen brauchen Medikamente. Daneben bestehen die Probleme des Dengue-Fiebers, der Gewalt und der Unterernährung weiter. Worte und Taten stimmen bei dieser Regierung nicht überein. Selbst die Ärzteschaft, die den Putsch unterstützt hat, kritisiert das und hat sogar mit Streiks gedroht.

 

REGIERUNG DROHT MIT AUSNAHMEZUSTAND

Straßen dicht Sicherheitskräfte kontrollieren die generelle Ausganssperre (Foto: privat)

„Die Hausaufgaben kommen über die WhatsApp-Gruppe der Mamas, heute waren es Satzkonstruktionen“, erklärt Daniela Orellana. Die alleinerziehende Mutter bekommt jetzt die Schulaufgaben ihrer zehnjährigen Tochter via Messenger auf ihr Handy. Die Regierung hat am 12. März alle Schulen in Bolivien schließen lassen. „Wegen Corona“, sagt die 30-Jährige und streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Seit 22. März sind nicht nur die Schulen und Universitäten dicht, sondern es herrscht generell eine Ausgangssperre. Nur zum Einkaufen und wenn es unbedingt notwendig ist, darf man das Haus verlassen.

Für Daniela Orellana ist es nicht nur deswegen eine schwierige Situation, weil sie nun ihre Tochter im Haus hat. Mit ihrer Schwester und ihrer Mutter betreibt sie einen kleinen Laden. „Momentan kaufen die Leute fast nichts mehr, nur noch Brot“, meint sie, „auch ansonsten ist es gerade schwer, wegen der Ausgangssperre Geld zu verdienen.“ Wie ihr geht es vielen: Geschätzt über 60 Prozent der Bolivianer*innen verdienen ihre Brötchen im informellen Sektor, auf Märkten, im Taxi oder als Minibusfahrer.

Wie leergefegt Straßenzug in La Paz (Foto: privat)

Die Ausgangssperre stößt nicht nur auf Verständnis. In den Randbezirken von El Alto kam es bereits zu Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und aufgebrachten Marktbesucher*innen. Auch in Bolivien ist das Coronavirus inzwischen Thema Nr. 1, auch wenn die Fallzahlen noch relativ gering sind. Alle wissen, dass sich das schnell ändern kann, Vertrauen in das Gesundheitssystem gibt es kaum, und selbst die De-Facto-Präsidentin Jeanine Añez empfahl ihren Landsleuten zu beten.

Mit dem Militär gegen die Uneinsichtigen

Es sei „die stärkste Waffe, die das Land hat“, ließ Añez in einer Fernsehansprache verlauten. In der Bergbaustadt Oruro, die bisher am meisten bestätigte Infizierte hat, gibt es bereits seit zwei Wochen eine lokale Ausgangssperre. Auch die nicht zur Freude aller Bewohner*innen. Aufgrund von Protesten musste sich die Polizei aus einigen Stadtteilen zurückziehen, die Leute halten sich nicht überall an die Weisung, zuhause zu bleiben. Arturo Murillo, Innenminister der De-Facto-Regierung, rief die Präsidentin Añez dazu auf, für die Gebiete, deren Bewohner*innen sich nicht an die Ausgangssperre halten, den Ausnahmezustand zu verhängen und mit dem Militär gegen die Uneinsichtigen vorzugehen.

Innenminister Murillo kommt die Pandemie zupass. Das Thema Ausnahmezustand hatte der Hardliner im Kabinett von Añez auch schon vor der Corona-Krise immer wieder ins Spiel gebracht. Die Konflikte, die es seit dem Sturz von Präsident Evo Morales im November 2019 gibt, würde er am liebsten – so scheint es – mit dem Militär lösen. Bisher konnte er sich damit innerhalb der Regierung nur teilweise durchsetzen, mit Corona scheint er eine neue Chance zu wittern.

„Bleib zu Hause” Banner in La Paz (Foto: privat)

Murillo wird zusammen mit dem Verteidigungsminister Fernando López für das Massaker im November vergangenen Jahres in Senkata verantwortlich gemacht. Damals starben im Kugelhagel mindestens zehn Menschen, als Polizei und Militär aus dem blockierten El Alto Benzin aus einem Treibstofflager in Senkata für den benachbarten Regierungssitz La Paz abtransportieren wollten.

Die Regierung versucht das Massaker in Senkata aus der Welt zu schaffen

„Es ist schwer zu sagen, wie viele Menschen wirklich an diesem Tag ums Leben kamen“, meint Orellana, die sich für die Opfer engagiert. „Direkt nach dem Massaker gab es viele, die verzweifelt Angehörige suchten, es gingen allerhand Geschichten um.“ Augenzeugen berichteten davon, wie Polizisten Leichen verschwinden ließen, darunter soll auch ein zwölfjähriges Mädchen gewesen sein. Andere Familien brachten ihre toten Angehörigen, so wird berichtet, auf die Dörfer und ließen sie nicht obduzieren. Bis zu 25 Menschen könnten in Senkata ums Leben gekommen sein. Dazu kamen jede Menge Verletzte, bis zu 100, meint Orellana. Sie hat einige begleitet, wie Terroristen seien sie behandelt worden. „In einigen Krankenhäusern wollte man sie nicht behandeln, in anderen ließ man sie in der Einfahrt der Notaufnahme liegen“, berichtet sie.

Fast überall mussten sie die Rechnungen sofort begleichen. Beweise, wie Arztbriefe über die Art der Verletzung oder die Projektile wurden ihnen nicht ausgehändigt. „Viele haben sich deswegen erst gar nicht behandeln lassen“,  meint die Unterstützerin. Auch andere berichten von Drohungen. „Es gibt Verletzte, die damals einfach dort vorbeigegangen sind und angeschossen wurden. Als sie ins Krankenhaus gingen, um sich behandeln zu lassen, sagte man ihnen sie seien Terroristen, sie hätten das Treibstofflager in die Luft sprengen wollen“.

Inzwischen hat sich die Situation etwas verändert. Mithilfe von Anwälten und der „Permanenten Versammlung für die Menschenrechte” aus El Alto konnte zumindest erreicht werden, dass sie die Behandlungskosten erstattet bekommen. Die De-Facto-Regierung versucht das Massaker aus der Welt zu schaffen. Dabei droht sie, nach dem Prinzip Zuckerbrot und Peitsche, auf der einen Seite denjenigen, die öffentlich über das Massaker reden, mit Verhaftung und versucht auf der anderen Seite, die Familien der Opfer mit Geldangeboten zu locken. Jüngst hat sie das Entschädigungsangebot an die Familien von 50.000 auf 100.000 Bs (13.500 Euro) erhöht. „Das führt zu Streit, denn es gibt Familien, die das Angebot annehmen wollen, andere sagen, dass sich das Leben ihrer Angehörigen nicht durch Geld aufwiegen lässt“, sagt Daniela Orellana. Die Regierung verlangt als Gegenleistung, dass die Angehörigen nicht vor Gericht ziehen.

Murillo und sein Ministerkollege López behaupten immer noch, dass die Sicherheitskräfte keinen Schuss abgefeuert haben. Einer parlamentarischen Befragung haben sie sich bisher verweigert. Die plurinationale Versammlung hat daraufhin Verteidigungsminister López das Misstrauen ausgesprochen, was laut Verfassung dazu führt, dass er entlassen werden muss. Das hat De-Facto-Präsidentin Añez auch getan, ihn aber am selben Tag erneut zum Verteidigungsminister ernannt.

„Ein unglaublicher Rechtsruck und eine Militarisierung der Politik“

„Durch die Ereignisse im November hat sich die Büchse der Pandora geöffnet“, meint der LGBT-Aktivist César Antezana.  „Es hat ein unglaublicher Rechtsruck und eine Militarisierung der Politik stattgefunden.“ Auch er sitzt wegen Covid-19 zu Hause und muss seinen zwei Töchtern Schulstoff vermitteln. Vor ein paar Wochen, erzählte er − noch kettenrauchend, gekleidet in Minirock und mit High Heels − auf einer Party: „Es gab den Versuch eine linke Partei zu gründen, als die Bewegung zum Sozialismus (MAS) nach rechts abdriftete. Aktivisten aus dem Gewerkschaftsdachverband COB wollten das, aber dann haben MAS treue Funktionäre das unterbunden.“ Im Prinzip sei das Problem, dass „die MAS in den vergangenen Jahren versucht hat, alle linken Basisbewegungen zu kooptieren. In vielen Organisationen gibt es heute zwei Vorsitzende und einen tiefen Riss zwischen Gegnern und Befürwortern der MAS.“ Das sei auch ein Grund, warum viele Linke Morales und der MAS heute kritisch gegenüber stehen.

LGBT-Aktivist César Antezana „Die Ereignisse im November haben die Büchse der Pandora geöffnet“ (Foto: privat)

Antezana sieht die MAS ambivalent: „Auf der einen Seite ist es richtig, dass die MAS-Regierung bis heute für einen laizistischen Staat und für die Pluralität Boliviens steht und damit auch für die Rechte von Schwulen, Lesben und Transgender, auf der anderen Seite hat die MAS bereits 2009 eine konservative Wende gemacht.“ Im Rahmen der Verfassungsgebenden Versammlung gab es damals zu Beginn auch Beschlüsse, die Homo-Ehe zuzulassen, eine weitreichende Autonomie für Indígenas in der Verfassung zu verankern und den Landbesitz zu beschränken. „In der Verfassunggebenden Versammlung in Oruro waren die Beschlüsse noch da, später bei der Versammlung in Sucre, fehlte beispielsweise die Homoehe.“

„Die MAS ist mitverantwortlich“

Morales sei damals mit der konservativen Elite in Santa Cruz ein unausgesprochenes Bündnis eingegangen, ihre Privilegien wurden nicht angetastet und dafür unterstützten die Großgrundbesitzer die Separationsbestrebungen nicht mehr. „Die jetzige Regierung ist klar christlich orientiert und hat vor, viele Reformen zurückzudrehen“, meint er. „Dass sie das kann, dafür ist die MAS auch mitverantwortlich.“ Es sei die Abkehr von der Orientierung an den sozialen Bewegungen gewesen, meint der LGBT Aktivist weiter. Diese führten 2011 zum größten Bruch mit Teilen der Basis, als die indigene Bevölkerung des Naturparks TIPNIS zu Protesten aufrief. Der Grund: Die MAS-Regierung wollte dort eine Überlandstraße gegen den Willen und die Autonomie der lokalen Bevölkerung bauen.

Viele solidarisierten sich mit den indigenen Bewohner*innen des TIPNIS, auch die städtische Mittelschicht. Es kam zu einem Marsch auf La Paz und die Regierung Morales musste zurückrudern. Ein Teil der jungen städtischen Wählerschicht kehrte hier Morales den Rücken zu, so auch Anthony Pérez. Der junge Ingenieur war zwar nie überzeugter MAS-Anhänger, hatte aber gleichwohl „mal für die MAS gestimmt“, wie er meint. „Jetzt sollte die MAS auf gar keinen Fall mehr an die Macht kommen“, meint Pérez. „Sie war zu lange an der Regierung und wurde am Ende zu korrupt.“

Deswegen, so der junge Ingenieur, sei ein Regierungswechsel notwendig. Es waren Leute wie Anthony Pérez, die im Oktober auf die Straße gingen und den Rücktritt von Morales forderten und letztlich den Ausgangspunkt für den vom Militär erzwungenen Rücktritt von Morales bildeten. Zwar ist er mit der jetzigen Regierung auch nicht einverstanden, „aber sie ist immer noch besser als die MAS an der Regierung.“

Es kann gut sein, dass die jetzige Regierung noch eine Weile an der Macht bleibt. Aufgrund der Corona-Virus Krise wurde der Wahltermin am 3. Mai verschoben. Noch ist nicht abzusehen, ob und wie schnell sich das Covid-19-Virus im Land verbreitet. Bislang sind die bestätigten Fallzahlen noch sehr gering.

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