GAUCK ENTTÄUSCHT DIE OPFER

Das Bundespräsidialamt war not amused: „Wir haben großen Wert auf eine sorgsame Auswahl der Gäste gelegt – vor allem im Hinblick auf die Geschichte der ‚Colonia Dignidad’“, sagte eine Sprecherin des Bundespräsidenten. „Wir bedauern mit Blick auf die Opfer sehr, dass diesem Maßstab nicht entsprochen wurde.“ Am Verfehlen des Maßstabs gibt es keinen Zweifel: Beim Empfang in der deutschen Botschafterresidenz in Santiago de Chile am 13. Juli 2016 zu Ehren des Bundespräsidenten Joachim Gauck waren mehrere Hundert Personen geladen – darunter Reinhard Zeitner und Hans Schreiber. Zeitner wurde im Januar 2013 rechtskräftig im Verfahren um den systematischen sexuellen Missbrauch in der „Colonia Dignidad“ wegen Kindesentziehung zu drei Jahren und einem Tag Haft verurteilt, ausgesetzt auf vier Jahre zur Bewährung. Schreiber sitzt im Vorstand mehrerer Colonia-Unternehmen und organisiert die juristische Vertretung der Colonia-Täter. Auch Horst Paulmann, Multimilliardär und Eigentümer des Einzelhandelsimperiums Cencosud war eingeladen – erschien jedoch nicht. Ihm wurden in der Vergangenheit Geschäftsbeziehungen zur Colonia Dignidad nachgesagt.

Der Skandal ist durch das Bedauern des Präsidialamts jedoch nicht vom Tisch, denn die Einladung von Zeitner und Schreiber war alles andere als ein Versehen: Sie geschah in voller Absicht, wie die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag offenbart. Die Namen wurden ganz bewusst „nach einem Abwägungsprozess“, der die „Vergangenheit und gegenwärtige Positionierungen der betreffenden Personen einbezogen hat“ auf die Liste gesetzt. Dabei habe die deutsche Botschaft in Chile dem Umstand Rechnung getragen, „dass Grenzen zwischen Tätern und Opfern in einem geschlossenen verbrecherischen System wie der Colonia Dignidad nicht mit letzter Trennschärfe zu ziehen“ seien. „Viele frühere Bewohner der Colonia wurden zur Täterschaft gezwungen, waren aber selbst Opfer“, heißt es im Antwortschreiben des Auswärtigen Amtes, das den Lateinamerika Nachrichten vorliegt. In der Tat sind die Grenzen zwischen Täter*innen und Opfern der kriminellen Sekte nicht immer leicht zu ziehen. Dies ist unter anderem auch dem Umstand geschuldet, dass eine strafrechtliche Aufarbeitung der von der Colonia Dignidad begangenen Verbrechen in der Bundesrepublik bisher gar nicht und in Chile nur in Teilen stattfand. Bei Reinhard Zeitner handelt es sich jedoch um einen der wenigen bislang rechtskräftig verurteilten Straftäter. Er wurde im selben Verfahren schuldig gesprochen, in dem auch der Arzt Hartmut Hopp verurteilt wurde, der sich im Jahr 2011 seiner Strafe durch Flucht in die Bundesrepublik entzog (siehe LN 450) und bis heute straflos in Krefeld lebt.

Myrna Troncoso und Rosa Merino blieb das Aufeinandertreffen mit Zeitner und Schreiber zum Glück erspart. Sie hatten aus Enttäuschung über das verweigerte Gespräch mit dem Bundespräsidenten ihre Teilnahme am Empfang abgesagt. „Als Angehörige eines Verschwundenen möchte ich nicht an einem sozialen Empfang in der Residenz des deutschen Botschafters teilnehmen und anderen zuprosten. Wir haben erwartet, dass der Bundespräsident mit uns spricht und uns zuhört“, so Troncoso.

Die chilenischen Opfervereinigungen hatten hohe Erwartungen an den Besuch von Gauck. Diese beruhten auf der selbstkritischen Rede von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier Ende April in Berlin: „Im Spannungsfeld zwischen dem Interesse an guten Beziehungen zum Gastland und dem Interesse an der Wahrung von Menschenrechten ging Amt und Botschaft offenbar die Orientierung verloren“, so der SPD-Politiker am 26. April dieses Jahres im Rückblick.

Nach dieem selbstkritischen Eingeständnis hatten Menschenrechtsgruppen nun konkrete Ankündigungen erwartet: Erhofft wurde eine gemeinsame Ankündigung von bilateralen Aufarbeitungsvorhaben seitens Gauck und der chilenischen Staatspräsidentin Michelle Bachelet. Zudem hatten Angehörige von während der Diktatur in der Siedlung verschwundenen Personen Gauck um ein Gespräch im Rahmen seines Besuchs gebeten. Aus Beidem wurde jedoch nichts. Myrna Troncoso, Rosa Merino und Victor Sarmiento mussten sich damit begnügen, Staatssekretär David Gill ein Schreiben an den Bundespräsidenten übergeben zu dürfen. Michelle Bachelet äußerte sich bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Gauck gar nicht konkret zum Thema, während bei den Äußerungen des Bundespräsidenten der Abwehrreflex überwog: „Was die deutsche Regierung sicher nicht tun wird, das sind irgendwelche Wiedergutmachungsansprüche zu akzeptieren“, so Gauck. Die Hauptverantwortung liege stattdessen in Chile, „denn die deutsche Regierung hat nicht in Chile die Diktatur gebaut oder daran mitgewirkt. Was wir betrauern und bedauern ist, dass deutsche Diplomaten in einer Zeit Menschenrechtsverletzungen und -verbrechen nicht ernst genug genommen haben.“

Dass Gauck seinem Erschrecken Ausdruck verlieh, „wenn zum Beispiel deutsche Diplomaten jahrelang wegschauten, wenn in der deutschen Sekte ‚Colonia Dignidad’ Menschen entrechtet, brutal unterdrückt und gefoltert wurden, und dann gar der chilenische Geheimdienst dort foltern und morden konnte“, konnte die verschiedenen Opferkollektive nicht wirklich besänftigen. Der Rechtsanwalt und ehemalige Bewohner der „Colonia Dignidad“, Winfried Hempel, zeigte sich von diesen Worten enttäuscht: „Die Bundesrepublik Deutschland ist mitverantwortlich, da sie wusste, was in der ‚Colonia Dignidad’ vor sich ging und trotzdem nichts unternahm, um die Verbrechen zu unterbinden“, so Hempel. Es sei enttäuschend, dass Gauck während seines Besuches nicht mit einem einzigen Opfer gesprochen habe. „Wir verlangen, dass beide Staaten, Deutschland und Chile, endlich Verantwortung für alle Opfergruppen übernehmen“, sagte der Rechtsanwalt Hernán Fernández, der maßgeblich an der Festnahme Paul Schäfers im Jahr 2005 in Argentinien beteiligt war.

Ein ambivalentes Resümee des Besuchs von Gauck zog Jan Stehle vom Berliner Forschungsund Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL): „Es ist positiv, dass das Thema ‚Colonia Dignidad’ ein solch breites Medienecho gefunden hat. Die Worte von Gauck blieben jedoch hinter den Erwartungen der Opfer zurück und es ist historisch falsch, wenn der Bundespräsident dem chilenischen Geheimdienst die alleinige Schuld für die in der Siedlung begangenen Verbrechen zuweist. Gerichtsurteile belegen heute die Beteiligung von Führungsmitgliedern der Colonia an den Verbrechen der chilenischen Militärdiktatur. Es hätte daher eine wichtige Symbolkraft gehabt, wenn Gauck den Angehörigen der Verschwundenen die Hand gereicht hätte. Mit dem Finger auf Chile zu zeigen hingegen hat im Fall ‚Colonia Dignidad’ traurige Tradition. Das hat jahrzehntelang eine Aufarbeitung verhindert und die Straflosigkeit begünstigt“, so der Wissenschaftler, der nichtsdestotrotz vorsichtig optimistisch in die Zukunft blickt: „Es gibt Anzeichen dafür, dass das Auswärtige Amt nach der Steinmeier- Rede nun konkrete Hilfsmaßnahmen für die Opfer der ‚Colonia Dignidad’ ins Auge fassen möchte. Es bleibt zu hoffen, dass sich auch die chilenische Regierung an solchen Maßnahmen beteiligt.“

Ein solches Anzeichen war der Besuch der Siedlung durch Dieter Lamlé, dem Regionalbeauftragten des Auswärtigen Amts für Lateinamerika und die Karibik im vergangenen Juni. Dass Lamlé als bisher höchstrangigster deutscher Diplomat vor dem Gauck-Besuch der Siedlung seine Aufwartung machte, hatte offenbar die Funktion, Informationen zu gewinnen, die in einen Umsetzungsvorschlag für einen Hilfsfonds münden sollen. Das Szenario ist dabei nicht unkompliziert: Bei den heutigen und ehemaligen Siedlungsbewohner*innen gilt es, trotz Lücken bei der strafrechtlichen Aufarbeitung, zwischen Täter*innen und Opfern zu unterscheiden. Chilenische Menschenrechtsgruppen fordern vor allem Unterstützung bei Erinnerungsvorhaben, wie die Errichtung einer Bildungs- und Gedenkstätte in der heutigen „Colonia Dignidad“, während die heutigen Siedler*innen derzeit dort einen deutschtümelnden Folkloretourismus betreiben.

 

Lamlé traf sich im Juni mit gegenwärtigen und ehemaligen Siedlungsbewohner*innen. Sie forderten Hilfsmaßnahmen und Rentenzahlungen für die jahrzehntelange Zwangsarbeit. Bei einer weiteren Reise im September will er nun auch chilenische Opfervertreter*innen wie Myrna Troncoso treffen. Ende des Jahres soll dann ein von zivilgesellschaftlichen Gruppen organisiertes und vom Auswärtigen Amt finanziertes Seminar – wie schon im vergangenen Februar – verschiedene Akteur*innen und Vertreter*innen beider Staaten zusammenbringen.

 

Jan Stehle hält einen Dialog zwischen den Siedlungsbewohner*innen und den chilenischen Opferverbänden für sinnvoll. „Jedoch ist es wichtig, dass beide Staaten, Chile und die Bundesrepublik, diesen Dialogprozess begleiten und gemeinsam Verantwortung für alle Opferkollektive übernehmen“, so Stehle. Für die Bundesregierung, die sich in der Vergangenheit nur den deutschen Staatsangehörigen gegenüber in der Pflicht sah und dabei keine Unterscheidung zwischen Täter*innen und Opfern vornahm, wird – geht es nach Stehle – ein Umdenken stattfinden müssen: „Der Fall ‚Colonia Dignidad’ ist eine deutsch-chilenische Menschenrechtstragödie, es bedarf bilateraler Lösungen. Die Menschenrechte sind unteilbar und Hilfsmaßnahmen dürfen nicht anhand von Staatsangehörigkeiten konzipiert sein. Beide Staaten tragen eine gemeinsame Verantwortung für alle Opfer“, so Stehle. Bei Gauck angekommen ist diese Botschaft noch nicht und bei Steinmeier nur in Teilen.

ENDLICH AUFARBEITUNG

"Wo sind sie?" - Rosa Merino und Myrna Troncoso fordern Aufklärung
“Wo sind sie?” – Rosa Merino und Myrna Troncoso fordern Aufklärung

Artikel im Spiegel, im Stern, und in der Zeit – so viel Aufmerksamkeit seitens der bürgerlichen Presse hat die Colonia Dignidad schon lange nicht mehr bekommen. Die ehemalige, von deutschen Auswander*innen in Chile gegründete Sektensiedlung, die während der chilenischen Militärdiktatur unter anderem als Folterlager, Exekutionsstelle und Waffenschmiede diente, steht derzeit im Rampenlicht. Über ihre Vergangenheit und Gegenwart wird in Deutschland breit diskutiert. Auslöser dafür ist der Film Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück, der zurzeit in den Kinos läuft. Schon mit der hochkarätigen Besetzung – Emma Watson, Daniel Brühl und Michael Nyquvist – trägt er das bis auf Ausnahmen (wie die über Jahrezehnte regelmäßige Berichterstattung der LN) stiefmütterlich behandelte Thema in die Öffentlichkeit. Aber auch abseits des Medienrummels tut sich Einiges in Bezug auf die heute Villa Baviera (Bayerisches Dorf) genannte Siedlung.
Seit der Festnahme des Sektengründers Paul Schäfer im Jahr 2005 und seinem Tod 2010 hat sich die „Kolonie der Würde“ stark verändert. Auf dem Gelände leben und arbeiten heute Opfer und Täter des totalitären Systems Colonia und deren Kinder. Es gibt ein Hotel, ein jährlich stattfindendes Oktoberfest und die Möglichkeit, sich auf dem Gelände das Ja-Wort zu geben.
Der Kontrast zur ehemaligen Colonia führt heute zu nicht unerheblichen Konflikten. Das Pinochet-Regime (1973 bis 1990) ließ dort politische Gefangene foltern und verschwinden. Schäfer und seine Führungsclique etablierten ein Terrorregime mit Zwangsarbeit, der Verabreichung von Psychopharmaka an Bewohner*innen und systematischem Kindesmissbrauch. Auf der einen Seite stehen die Bewohner*innen der Villa Baviera, die – bis 2013 mit Mitteln aus Deutschland gefördert – das Gelände zum Tourismusort umgestaltet haben. Auf der anderen Seite – ehemalige Bewohner*innen, die den schweren Schritt gewagt haben, der Colonia den Rücken zu zu kehren sowie die chilenischen Opfer und deren Angehörige. „Was uns als Angehörige von Verschwundenen stört, ist, wenn sie das Oktoberfest feiern. Vielleicht tanzen sie dann auf den Leichen unserer Angehörigen. Das ist als würden sie sich über unseren Schmerz lustig machen“, sagt Rosa Merino, die dem Verein für Erinnerung und Menschenrechte Colonia Dignidad (AMCD)  angehört. Ihr Bruder wurde im Alter von 20 Jahren in der Colonia gefoltert und ist bis heute verschwunden.
Dass die Colonia ein Ort des Unrechts war, ist heute unumstritten. Nicht nur wegen einiger chilenischer Gerichtsurteile, sondern ebenso weil deutsche Gründlichkeit auch vor Verbrechen der übelsten Sorte nicht halt macht: In der Colonia wurden 45.000 Karteikarten gefunden, die nicht nur die Spionageaktivitäten der Colonia, sondern auch die Verhöre dokumentierten. Das letzte Verhör mit Rosas Bruder Pedro ist auf den 13. Oktober 1974 datiert, danach verliert sich jede Spur. Ob er erschossen, vergiftet und dann verscharrt oder ins Meer geworfen wurde, weiß man wie bei vielen anderen Opfern der chilenischen Militärdiktatur bis heute nicht. Auf dem Gelände wurden neben Karteikarten auch mehrere, allerdings leere, Massengräber gefunden. Man vermutet, dass die Leichen verbrannt wurden und die Asche dann in einen nahe gelegenen Fluss geschmissen wurde.
2015 hat ein chilenisches Gericht angeordnet, dass auf dem Gelände der Colonia eine Gedenkstätte errichtet werden soll, um an die Gräueltaten sowohl gegen Bewohner*innen, als auch Oppositionelle der Diktatur zu erinnern. Um die aktuellen Bewohner*innen der Villa Baviera mit Opfern und Angehörigen von Opfern in einen Dialog zu bringen, fanden im Dezember 2014 in Chile und im Februar 2016 in Berlin Konferenzen statt. Dass das Auswärtige Amt diese mit eigenen Mitteln gefördert hat, stellt einen großen Wandel in der deutschen Außenpolitik dar. Bisher lag der Fokus in Bezug auf die Colonia Dignidad darauf, die ehemaligen Bewohner*innen bei ihrer Integration in die chilenische Gesellschaft zu unterstützen: „Seit vielen Jahren kümmert sich das Auswärtige Amt darum, den Menschen in der Colonia Dignidad zu helfen“, betonte Martin Schäfer, ehemaliger Botschaftsmitarbeiter in Chile und heute Sprecher des Auswärtigen Amtes auf einer Veranstaltung zur Colonia in Berlin am 25. Februar.
Über die Rolle, die das Auswärtige Amt bis in die späten 1980er Jahre spielte und heute spielen sollte, gibt es allerdings auch andere Ansichten.
Mitarbeiter*innen der Deutschen Botschaft haben sich in Chile in Bezug auf die Colonia Dignidad nicht mit Ruhm bekleckert. „Diejenigen, die es geschafft haben aus der Colonia rauszukommen – und es waren nicht wenige, die das versucht haben – mussten in die Botschaft in Santiago, weil sie keine Pässe hatten, und wurden gemeinhin bis 1985 von der Botschaft in die Colonia zurückgeschickt“, kritisiert Florian Gallenberger, Regisseur des aktuellen Films. Nicht nur deswegen gelang während des Bestehens der Colonia nur wenigen Bewohner*innen die erfolgreiche Flucht.

Emma Watson und Daniel Brühl als Lena und Daniel im Film Colonia Dignidad (Foto: Majestic / Ricardo Vaz Palma)
Emma Watson und Daniel Brühl als Lena und Daniel im Film Colonia Dignidad (Foto: Majestic / Ricardo Vaz Palma)

Das Auswärtige Amt hat also einiges an Aufarbeitung der eigenen Rolle innerhalb der Colonia zu leisten. Bisher hat sich dahingehend allerdings wenig getan. Die Akten, die darüber Aufschluss geben könnten sind mit der Begründung, dass sie die internationalen Beziehungen belasten könnten, teilweise unter Verschluss. Für Petra Schlagenhauf, die als Anwältin zur Colonia Dignidad arbeitet, ist es auch ein deutsches Thema: „Es waren Deutsche und aus dieser Sache kommt die Bundesrepublik nicht raus“. Juristisch gesehen sind die möglichen Verbrechen von Mitarbeiter*innen des Auswärtigen Amtes wie Beihilfe zu Freiheitsberaubung und zu sexuellem Missbrauch mittlerweile verjährt, dementsprechend können mögliche Täter*innen strafrechtlich nicht mehr belangt werden. Anders steht es um die politische Verantwortung. Deswegen ist eine der Forderungen der AMCD die Aufarbeitung der Rolle des Auswärtigen Amtes. Ein kleiner Lichtblick ist eine Äußerung des Regionalbeauftragten für Lateinamerika des Auswärtigen Amtes Dieter Lamlé: „Ich habe angekündigt, dass es im Bereich Aufklärung eine offenere Auslegung und Interpretation des Archivgesetzes geben wird.“ Ob diese vage Aussage auch Konsequenzen nach sich ziehen wird, hängt maßgeblich davon ab, ob es seitens der sozialen Bewegungen gelingt, genug Druck auf die deutschen Behörden auszuüben.
Auch an der bundesdeutschen Justiz gibt es Kritik: „Ich warte schon vier Jahre auf einen Termin beim Staatsanwalt“, erzählt Gudrun Müller, ehemalige Bewohnerin der Colonia, die mittlerweile in Deutschland lebt. „Es passiert nichts! Die wollen das hier am liebsten verschweigen und verstreichen lassen und dass möglichst wenig in die Öffentlichkeit kommt.“  An einer anderen Stelle scheint aber Bewegung in die juristische Aufarbeitung der Colonia Dignidad zu kommen. Hartmut Hopp, mittlerweile 70-jähriger Sektenarzt und Vertrauter von Paul Schäfer, der in Chile zu fünf Jahren Haft wegen Beihilfe zum Kindesmissbrauch verurteilt wurde, scheint langsam aber sicher auf dem Weg ins Gefängnis zu sein. Hopp flüchtete 2011 aus Chile, um eben dieser Verurteilung zu entkommen, und lebt seither von der deutschen Justiz weitgehend unbehelligt in Krefeld. Ein Auslieferungsantrag der chilenischen Justiz wurde ablehnend beschieden, da Deutschland keine eigenen Staatsbürger*innen ins Ausland ausliefert. Nach Informationen des Spiegel liegt der Staatsanwaltschaft Krefeld aber seit über einem Jahr ein Vollstreckungsersuchen aus Chile vor, das beantragt, dass Hopp seine Haftstrafe in Deutschland verbüßen muss. Um dies umzusetzen muss das Landgericht Krefeld überprüfen, ob Hopp in Chile ein Verfahren unter Wahrung der Beschuldigten- und Angeklagtenrechte hatte, was allem Anschein nach der Fall ist. „Ich bin vorsichtig optimistisch“ sagt Petra Schlagenhauf. Sollte das Ersuchen positiv beschieden werden, würde mit Hopp ein weiterer Vertreter der Colonia Dignidad hinter Gittern landen – in Chile sitzt mittlerweile ein gutes Dutzend Täter in Haft.
Wie die Aufarbeitung der Colonia Dignidad weitergehen wird und ob die Forderungen der sozialen Bewegungen umgesetzt werden, wird sich in den nächsten Jahren zeigen. Die Erinnerung in Form einer Gedenkstätte wird in irgendeiner Form umgesetzt werden. „Sowohl wir Chilenen als auch die Colonos wollen Veränderungen. Unter diesen Veränderungen ist auch eine Gedenkstätte. Das bedeutet, dass unser Kampf als Angehörige von Verschwundenen und Exekutierten nicht umsonst war“, so Rosa Merino nach Abschluss des Seminars in Berlin. Die Ankündigung des Regionalbeauftragten Lamlé und die juristischen Fortschritte  lassen auf positive Veränderungen hoffen.

ORT DES GRAUENS

Michael Nyquist und Emma Watson als Sektenchef Paul Schäfer und Lena (Foto: Majestic / Ricardo Vaz Palma)
Michael Nyquist und Emma Watson als Sektenchef Paul Schäfer und Lena (Foto: Majestic / Ricardo Vaz Palma)

Wäre da nicht die politische Brisanz des Themas,  man müsste über diesen Film nicht lange reden. Doch mit Colonia Dignidad – Es gibt kein zurück thematisiert Regisseur Florian Gallenberger ein dunkles Kapitel deutsch-chilenischer Geschichte, das bis heute nicht aufgearbeitet ist. Das öffentliche Interesse an der früheren deutschen Sektensiedlung im Süden Chiles ist dank des Films bereits sprunghaft gestiegen, im besten Fall könnte dadurch die dringend notwendige Aufarbeitung der Verbrechen beschleunigt werden. Irrelevant ist er also keineswegs. Doch zu einem guten Film macht ihn das noch lange nicht. Die in Starbesetzung inszenierte Eventkino-Mischung aus dokumentarischem Politthriller und fiktiver Liebesgeschichte funktioniert nicht wirklich.
Der deutsche Fotograf Daniel (Daniel Brühl) lebt seit einigen Monaten in Santiago de Chile und engagiert sich als Anhänger des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende in der linken Studierendenbewegung. Seine Freundin Lena (Emma Watson) arbeitet als Stewardess bei Lufthansa und stattet ihm einen Überraschungsbesuch ab. Was als Liebesschmonzette in Daniels Wohnung beginnt, wandelt sich wenige Tage später zum Alptraum. Im Zuge des Militärputsches am 11. September 1973 werden die Beiden auf der Straße verhaftet und ins Nationalstadion gebracht. Der berüchtigte „Kapuzenmann“, ein Überläufer mit verdecktem Gesicht, identifiziert Daniel als Urheber studentischer Pro-Allende-Plakate. Daraufhin verschleppen die Militärs den jungen Fotografen in die Colonia Dignidad, wo er brutal gefoltert wird und anschließend verbleiben muss. Doch er ist intelligenter als seine Peiniger und täuscht einen durch die Folterung erlittenen Hirnschaden vor. Dadurch kann er sich vergleichsweise frei bewegen, denn niemand nimmt ihn ernst.
Um ihren Freund zu retten, tritt Lena als fromme Glaubensschwester getarnt kurzerhand der Sekte bei – und verschwindet hinter dem Eisentor der hermetisch abgeriegelten „Kolonie der Würde“. Aufgrund der strikten Geschlechtertrennung dauert es eine Weile, bis sie ihren Freund wiedersieht. Als Juntachef Augusto Pinochet die Kolonie besucht und sich Frauen und Männer aus diesem Anlass kurzzeitig Fahnen schwenkend in einer „bunten Reihe“ vermischen, nimmt sie heimlich Kontakt zu Daniel auf. Gemeinsam schmiedet das Liebespaar Fluchtpläne.
Für einen Thriller ist die fiktive Handlung wohl zweckdienlich, für sich genommen aber recht plump. Allzu durchschaubare Spannungselemente und genau dosierte Schockeffekte treiben die Geschichte voran. So wenig der Plot überzeugt, so beeindruckend sind allerdings die Einblicke in das Innere der Sekte, die vor allem von ehemaligen Bewohner*innen stammen, mit denen der Regisseur Gallenberger bei seinen Recherchen ausführlich gesprochen hat. Der Sektenalltag erzeugt eine Beklemmung, der man sich kaum entziehen kann. Überwiegend aus der Sicht von Lena schildert der Film, wie die Bewohner*innen täglich Psychopharmaka verabreicht bekamen, ohne Lohn hart arbeiten und sich gegenseitig bespitzeln mussten sowie bei von Sektenchef Paul Schäfer festgestelltem Fehlverhalten grausamen Prügelstrafen ausgesetzt waren. Dazu reichte es schon, sich nur für das andere Geschlecht zu interessieren. Denn Sexualität auszuleben war strengstens verboten, außer für den von Michael Nyqvist meisterhaft gruselig verkörperten Schäfer selbst, der regelmäßig kleine Jungen missbrauchte.
Regisseur Florian Gallenberger und Produzent Benjamin Herrmann wollten explizit den Mikrokosmos der Colonia Dignidad in den Fokus des Films rücken. Die politischen Zusammenhänge werden dennoch immer wieder angedeutet. Etwa, dass der chilenische Geheimdienst DINA gemeinsam mit Mitgliedern der Sektenführung auf dem Gelände politische Gefangene folterte. Oder dass dort Waffen und Giftgas produziert wurden und die deutsche Botschaft als Komplizin der Sekte auftrat. Aber diese angeschnittenen Kontextualisierungen wirken manchmal banalisierend. Zum Beispiel als sich Schäfer bei Pinochets Besuch mit den Militärs vor den winkenden Bewohner*innen nebenbei über die Produktion von Waffen und Giftgas austauscht und laut darüber nachdenkt, den chemischen Kampfstoff Sarin an dem minderbemittelten Daniel zu testen. Dieses Vorhaben gibt den letzten Ausschlag zur unmittelbaren Flucht durch das unterirdische Tunnelsystem. Dank der zu Schäfer haltenden deutschen Botschaft und dem Lufthansa-Kapitän aus Lenas Team, mündet das Ganze in einen völlig überzeichneten Showdown am Flughafen. Zusätzliche Fakten liefert erst der Abspann, der es leider versäumt zu erwähnen, dass einige der Täter*innen noch immer frei herumlaufen und sich wie der Sektenarzt Hartmut Hopp teilweise nach Deutschland abgesetzt haben. Der Sache ist der Film dennoch dienlich. Denn auch wenn das gewählte Genre dem historischen Thema nicht gerecht wird, sensibilisiert der massentaugliche Film wahrscheinlich mehr Menschen als es Sachbücher oder Vortragsreisen jemals könnten.
Wer mehr über die Geschichte der Sektensiedlung und die juristische Aufarbeitung erfahren will, sollte zu dem neuen Buch von Dieter Maier greifen. In Colonia Dignidad – Auf den Spuren eines deutschen Verbrechens in Chile trägt der Frankfurter Autor die bekannten Fakten zu diesem Ort des Grauens zusammen. Er beschreibt, wie der in Deutschland wegen Kindesmissbrauch gesuchte Sektenchef Paul Schäfer 1961 mit hunderten Anhänger*innen nach Chile übersiedelte und dort ein ausgeklügeltes Terror- und Überwachungssystem errichtete. Mit dem Wahlsieg des Sozialisten Salvador Allende 1970 entwickelte sich die Sekte „zur Bastion eines kreolischen Faschismus“. Wie auch der Film zeigt, nutzte der chilenische Geheimdienst DINA die Kolonie nach dem Putsch dann unter anderem als Haft- und Folterzentrum sowie Vernichtungslager.
Kaum jemand kennt sich mit der Geschichte der Colonia Dignidad besser aus als Maier. Gemeinsam mit Jürgen Karwelat publizierte er bereits 1977 bei der bundesdeutschen Sektion von Amnesty International die Broschüre Colonia Dignidad – deutsches Mustergut in Chile – ein Folterlager der DINA. Es war die erste Veröffentlichung, die den Zusammenhang zwischen Colonia Dignidad und chilenischem Geheimdienst offenlegte. Mittels ihres deutschen Ablegers verklagte die Sektensiedlung daraufhin die Menschenrechtsorganisation und das Magazin Stern, das fast zeitgleich über das Thema berichtet hatte. Der Prozess wurde in Bonn immer wieder verschleppt, bis er 20 Jahre später deshalb beendet wurde, weil die Klägerin nicht mehr existierte. Amnesty wurde also freigesprochen, blieb aber auf den Kosten sitzen.
In den vergangenen Jahrzehnten bemühten sich vor allem engagierte Personen wie Maier und andere zivilgesellschaftliche Akteur*innen um die Aufklärung der Verbrechen. Unter dem Pseudonym Friedrich Paul Heller, das er ursprünglich zu seinem Schutz gewählt hatte, veröffentlichte Maier bisher zwei Bücher über die Sekte, ein weiteres erschien klandestin in Chile noch während der Diktatur 1988. Sein neues Buch baut auf diese Vorarbeiten auf und ergänzt neue Erkenntnisse.
Maier beleuchtet auch die Zeit nach der Diktatur und die aktuellen Debatten um eine Aufarbeitung der Verbrechen. Ganze fünf Jahre dauerte es, bis sich die chilenische Justiz und Polizei zu ersten, zaghaften Durchsuchungen des Geländes durchringen konnten. Doch erst nach Schäfers Verhaftung in Argentinien 2005 wurden (leere) Massengräber und umfangreiche Waffenverstecke entdeckt. Die Villa Baviera (Bayerisches Dorf), wie die unter anderem mit deutschen Fördergeldern zum bizarren Touristenziel gewandelte Siedlung heute heißt, ist noch immer eine Enklave, in der etwa hundert der einstigen Sektenmitglieder weiterhin leben. Die chilenischen und deutschen Opfer betreiben keine gemeinsame Erinnerungskultur. Für erstere steht die Colonia als Teil des staatlichen chilenischen Repressionsapparat primär auf der Täterseite, während zweitere sich selbst als Opferkollektiv sehen. „Das System Schäfer, in dem jeder schlagen und schuldig werden musste, haben die heutigen Bewohner der Siedlung nie aufgearbeitet“, schreibt Maier. Sein außerordentlich kenntnisreiches Buch, das an einigen Stellen etwas ausführlicher hätte ausfallen können, sieht er als Zwischenstand. Nach wie vor kommen regelmäßig neue Informationen ans Licht, zuletzt etwa ein aus 45.000 Karteikarten bestehendes Geheimarchiv mit Informationen über politische Gefangene, Politiker*innen und Besucher*innen der Kolonie, die erst noch ausgewertet werden müssen.
Schäfer selbst starb 2010 in Haft, doch erledigt ist die Sache damit nicht. Viele Details sind nach wie vor ungeklärt. Zum Beispiel, wie viele Menschen in der Colonia Dignidad gefoltert wurden und verschwunden sind, wie umfangreich die Waffenproduktion war und wie viel Schuld die deutsche Politik auf ihren Schultern trägt. Das Auswärtige Amt hat noch längst nicht alle Akten dazu freigegeben, Täter wie Hartmut Hopp laufen zudem frei herum. In Chile mittlerweile zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, lebt der frühere Sektenarzt seit seiner Flucht 2011 nahezu unbehelligt in Krefeld. Noch immer prüft die Staatsanwaltschaft, ob Hopp seine Strafe in Deutschland absitzen muss. Laut Medienberichten könnte durch das gestiegene Interesse an dem Fall nun endlich Bewegung in die Causa kommen. Sollte Hopp doch noch in Deutschland hinter Gittern landen, wäre das ein wichtiger Schritt. Und ein Signal für die dringend notwendige weitere Aufarbeitung.

„DIE OPFER SAGEN, DASS DIESER FILM SIE ERNST NIMMT“

Herr Gallenberger, Sie haben mit John Rabe schon ein Historiendrama vorgelegt. Nun also Colonia Dignidad. Beide Filme haben mit Kapiteln der deutschen Überseegeschichte zu tun. Was hat Sie zu Colonia Dignidad bewogen?
Florian Gallenberger: Ich wollte diese Geschichte aus ihrem Dunkel herausholen. Sie ist zwar nicht gänzlich unbekannt, ihre wahre Dimension aber kennt kaum jemand. Ich finde, dass sie zu skandalös, zu wichtig und auch zu aktuell ist, als dass man sie einfach so im Treibsand der Geschichte verschwinden lassen kann. Und natürlich sollte den Leuten, die dort teilweise unverschuldet in Leid hereingerutscht sind, eine Anerkennung zukommen, indem man ihre Geschichte erzählt. Das betrifft zum einen die politischen Gefangenen, die gefoltert wurden, und zum anderen diejenigen, die in die Colonia Dignidad hineingeboren wurden.

Herr Brühl, wollen Sie, dass dieser Film auch in die Debatte in Deutschland interveniert, dass er hier die Leute zum Nachdenken und Nachfragen animiert?
Daniel Brühl: Das ja. Florian hat sich ja entschieden, diese Geschichte in eine Thriller-Handlung zu packen. Und dass so ein Film eine Aufmerksamkeit für das Thema erst einmal erzeugen kann, glaube ich schon. Darüber hinaus muss aber noch viel passieren. Aber man muss sich natürlich auch beeilen. Das ist so wie mit all diesen Nazis, die nun wegsterben. Wenn man zu lange wartet, dann gibt es irgendwann keine Überlebenden mehr.

Hat dieser Film also auch einen politischen Anspruch?
Gallenberger: Ja, durchaus. Und ich weiß auch gar nicht, warum man oft denkt: „Oh, das ist ja ein politischer Film, obwohl er auch spannend und unterhaltend ist.“ In Deutschland gibt es in manchen Köpfen diesen Grundsatz, dass, wenn etwas politisch relevant ist, dann dürfe es nicht unterhaltend sein. Ich finde das nicht. Wenn ein Film spannend ist und mich fesselt und ich zwei intensive Kinostunden erlebe, dann tut das doch dem historischen Gehalt keinen Abbruch.

Herr Brühl, Sie hatten in Ihrer Kindheit Kontakt zu Exilchilen*innen, die in Köln mit Ihrer Familie befreundet waren. Nun sind Sie Hauptdarsteller in einem Film über die Colonia Dignidad. Wie sind Sie sich des Themas in all seinen Dimensionen denn bewusst geworden?
Brühl: Ich kann mich erinnern, dass das Thema der Colonia Dignidad zu Hause besprochen wurde. Als die ganze Sache in Chile dann aufflog, war das natürlich auch ein Pressethema. Aus dieser Zeit kann ich mich an längere Pressetexte erinnern, ich glaube auch ein Interview mit Betroffenen. Dann ist das Thema aber auch schnell wieder verschwunden.

Herr Gallenberger, für John Rabe waren Sie zwei Jahre in China. Wie lange waren Sie in Chile?
Gallenberger: Ich war über vier Jahre hinweg dort, jedes Jahr etwa zwei Mal. Ich bin auch jedes Mal in die Colonia Dignidad gefahren, die jetzt Villa Baviera heißt, Bayerisches Dorf. Dort habe ich Bekanntschaften und sogar Freundschaften mit den jüngeren Bewohnern geschlossen, die heute Mitte dreißig bis Mitte vierzig sind. Ab einem gewissen Punkt haben die mir dann so vertraut, dass sie wirklich ausgepackt haben. Viele Szenen, viele Momente aus dem Film sind eins zu eins aus diesen Gesprächen entstanden.

Die Recherche vor Ort überlassen viele Regisseure ja Dritten. Wollten Sie diese Arbeit selber machen oder mussten Sie sie übernehmen, etwa aus Budgetgründen?
Gallenberger: Nein, ich schreibe ja auch selber. Um die Drehbuchvorlage des Autors Torsten Wenzel weiterentwickeln zu können, um die Figuren finden zu können, musste ich das so machen. Allein, wenn ich an die Person Paul Schäfer denke – um so eine Figur zeichnen zu können, ist es so wichtig, von den Leuten, die mit ihm gelebt haben, die unter ihm gelitten haben, zu hören, wie er gewesen ist. Wenn ich diese Kenntnisse nicht gehabt hätte, dann hätte ich viele dieser Entscheidungen nicht treffen können.

Im Film selbst ist diese Handlung ja in eine fiktive Rahmenhandlung eingebunden. Es gab Kritiker*innen, die gesagt haben, dieser Mix haue so nicht hin. Wie haben Sie das empfunden?
Brühl: Dass das ein Balanceakt ist, das war schon immer klar. Es gibt Themen, bei denen ist die Herangehensweise dem Regisseur überlassen. Mir war schon klar, warum Florian das so machen will, warum er das Thema auch „verdaubar“ machen will, weil das alles, so wie es wirklich stattgefunden hat, dem Zuschauer eigentlich nicht zuzumuten ist. Im Endeffekt sind das aber Fragen, die müssen Sie dem Regisseur stellen.

Herr Gallenberger, denken Sie, dass Ihr Genremix aufgeht?
Gallenberger: Nach der Weltpremiere in Toronto kam die Kritik, der Film würde den Opfern nicht gerecht werden, weil man sie nicht ernst genug nimmt. Dazu muss ich sagen, dass wir in Toronto auch eine Handvoll Colonos, also Sektenmitglieder, dabei hatten, die den Film dort gesehen hatten. Wir hatten selbst beim Drehen einen Colono dabei, der uns beraten hat. Er war auch bei der Weltpremiere in Toronto anwesend. Und er sagte, der Film sei für ihn wahnsinnig intensiv gewesen, weil er sich in diese Zeit zurückversetzt gefühlt habe, er sie auf zum Teil quälende Weise noch einmal erlebt hat. Aber jetzt war die Geschichte auf einmal auf der Leinwand. Und diese Distanz zwischen sich und der Leinwand, die hat in ihm ein Gefühl neuer Freiheit geschaffen. Wenn die Opfer sagen, dass der Film sie ernst nimmt, dann bedeutet das für mich mehr, als wenn ein Journalist anderer Meinung ist.

Der Film handelt von dem Mikrokosmos der Colonia Dignidad. Daneben gibt es den Makrokosmos mit all dem, was drumherum in Chile geschehen ist. Kann man das alles adäquat abbilden?
Gallenberger: Das ist eine gute Frage, weil man aus dem Thema zehn Filme oder zwanzig Stunden Film hätte machen können. So ein Drehbuch entsteht über Jahre parallel zur Recherche. Es gab zum Beispiel immer den Gedanken, ob man die politischen Ereignisse, die in Chile parallel ablaufen, weitererzählen soll. Wir haben uns dagegen entschieden, denn das Leben in der Colonia war auch dadurch bestimmt, dass diese Leute keinen Kontakt zur Außenwelt hatten. Sie waren sozusagen in einem Ort ohne Kontext. Mir war wichtig, dass wir im Film die Sekte erleben, wie die Sekte wirklich gewesen ist.

UNGEWÖHNLICHES NACH 50 JAHREN

Es war ein politisches Novum: Am 26. April sprach Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier auf einer Veranstaltung im Weltsaal des Auswärtigen Amtes (AA) als erster deutscher Außenminister ungewohnt selbstkritisch über die Verbrechen der Colonia Dignidad und die Rolle des AA. In der deutschen Sektensiedlung in Chile wurden politische Gefangene gefoltert und ermordet, deutsche Bewohner*innen misshandelt und Kinder missbraucht.
Steinmeier kündigte Aktenöffnung an. Die Frage ist nun, welche konkreten Maßnahmen auf diese Worte folgen. Denn die deutsche Botschaft in Santiago und das AA verfügten spätestens seit 1966 über genügend Informationen, um der Colonia Dignidad mit äußerstem Misstrauen zu begegnen. Dennoch haben sie in der schlimmsten Zeit der Diktatur das Richtige unterlassen und das Falsche getan. Wenn der diplomatische Dienst einen Skandal vermeiden wollte, dann hat er sich selbst für Jahre zum Teil dieses Skandals gemacht.
Steinmeier bestätigte das in seiner Rede: „Der Umgang mit der Colonia Dignidad ist kein Ruhmesblatt, auch nicht in der Geschichte des Auswärtigen Amtes. Über viele Jahre hinweg, von den 60er bis in die 80er Jahre haben deutsche Diplomaten bestenfalls weggeschaut – jedenfalls eindeutig zu wenig für den Schutz ihrer Landsleute in dieser Kolonie getan. Auch später, als die Colonia Dignidad aufgelöst war und die Menschen den täglichen Quälereien nicht mehr ausgesetzt waren, hat das Amt die notwendige Entschlossenheit und Transparenz vermissen lassen, seine Verantwortung zu identifizieren und daraus Lehren zu ziehen. Das Amt hätte entschiedener ‚Deutschen nach pflichtgemäßem Ermessen Rat und Beistand gewähren‘ müssen, wie es das Konsulargesetz vorsieht. Und es hätte früher versuchen können, durch diplomatischen Druck die Spielräume der Colonia-Führung zu verengen und juristische Schritte zu erzwingen. Die Botschaft hat es zu lange versäumt, darauf zu beharren, dass deutsche Staatsangehörige – und das waren die Bewohner der Colonia ja ganz überwiegend – frei mit Konsularbeamten reden können. Im Spannungsfeld zwischen dem Interesse an guten Beziehungen zum Gastland und dem Interesse an der Wahrung von Menschenrechten ging Amt und Botschaft offenbar die Orientierung verloren.“
Seit der Veranstaltung am 26.4. steht die Colonia Dignidad einmal mehr auf der Tagesordnung bundesdeutscher Politik. Mit einer simplen Entschuldigung wird es aber nicht getan sein können: Dafür sind das Thema zu komplex und die Opfergruppen zu verschieden (chilenische „Verschwundene“ und Überlebende, misshandelte Deutsche, missbrauchte Kinder). Eine zivilgesellschaftliche, aber auch eine staatliche Arbeit am Thema Colonia Dignidad muss dieser Vielschichtigkeit gerecht werden. Das Geschehene muss transparent gemacht, aufgearbeitet und die Leiden der Opfer müssen anerkannt werden.
Die Opfergruppen sollten in ein Oral-History-Projekt eingebunden werden, das, ehe es zu spät ist, ihre Anonymität aufbricht und das, was sie erlebt haben, dokumentiert. Die schlimmsten körperlichen, seelischen und wirtschaftlichen Schäden könnten über das bereits Geleistete hinaus durch Reparation und Rehabilitierung gelindert werden. Eine substanzielle deutsche Beteiligung an einem Gedenkort, der das gesamte Gelände der Colonia Dignidad umfassen und zu dem das frühere Haus der Colonia Dignidad in Santiago mit seinen gespenstischen unterirdischen Räumen gehören sollte, wäre eine Geste, die in Chile verstanden würde, denn sie gehörte in die Politik des „Nie wieder“.
Was die Transparenz betrifft, ist die Aktenöffnung ein wichtiger Schritt. Hier hat aber auch der chilenische Staat eine Bringschuld. Eine große Anzahl von Dokumenten, die die chilenische Polizei 2005 in der Colonia Dignidad fand, ist bis heute unter Verschluss. Wenn Bundespräsident Joachim Gauck im kommenden Juli nach Chile fliegt, sollte er dort sagen: Wir haben unsere Dokumente geöffnet, öffnet ihr die Euren! Diese Datenmengen müssen systematisch durchgearbeitet werden, und das geht nur mit einer soliden Finanzierung.
Neben den Akten des AA sollten auch die des Bundesnachrichtendienstes erforscht werden. Hier wäre die erste Forderung, das Mandat der Historikerkommission, die die NS-Vergangenheit dieses Dienstes aufklären soll, um das Thema Colonia Dignidad zu erweitern.
Neben der politischen und historischen Aufarbeitung sollte es auch konkrete Hilfen für die verschiedenen Opfergruppen geben. Zudem müssen Orte der Erinnerung geschaffen werden, um die Opfer zu ehren und die Verbrechensgeschichte gegenüber der Gesellschaft sichtbar zu machen. Das ehemalige Stadthaus der Colonia Dignidad in Santiago könnte ein Museum und Dokumentationszentrum beherbergen.
Ausgangspunkt für all diese Schritte sollte eine deutsch-chilenische Verständigungsebene sein: Eine bilaterale Expert*innenkommission könnte die Bedürfnisse der Opfer zusammentragen und konkrete Maßnahmen empfehlen. Ohne eine Kooperation zwischen beiden Staaten, könnte – wie so oft in der jahrzehntelangen Geschichte der Colonia Dignidad – sobald das Thema aus den Medien verschwunden ist, erstmal wieder gar nichts passieren.

Des Journalisten Fährte

Chile, Mitte der achtziger Jahre. Die Militärdiktatur sitzt noch fest im Sattel. Der Journalist Oliver Podewin reist in den Süden Chiles, nach Punta Arenas. Sein Sitznachbar im Flugzeug fällt ihm auf, da dieser ungerührt die Turbulenzen erträgt. Auch hat er oberhalb seines Handgelenks eine markante Tätowierung, einen Raubvogel, der etwas im Schnabel trägt.
Ins Gespräch kommen die beiden Fluggäste nicht. Dennoch bleibt die Bekanntschaft nicht folgenlos: Podewin will in der Stadt an der Magellanstraße einen Hörfunkbericht über die Hintergründe eines Attentats auf eine Kirche in einem Armenviertel machen, bei dem der vom Geheimdienst stammende Attentäter selbst ums Leben kam. Die Kirchenleute unterstützen ihn bei seinen Interviews und Recherchen. Von einem von ihnen erfährt Podewin, dass jener Sitznachbar ein Folterer war. Einer der Folterlehrer, die aus dem Ausland in lateinamerikanische Staaten reisten und dort ihre Dienste feilboten.
Als Podewin wenig später auf einer Fahrt nach Santiago einen Zwischenstopp in der Nähe der Foltersiedlung Colonia Dignidad machen will, erhält er einen in akzentfreiem Deutsch gesprochenen Drohanruf. Podewin verzichtet daraufhin auf den Halt und setzt seine Reise nach Santiago fort. Spätere überraschende Begegnungen führen ihn zu der Erkenntnis, dass es sich bei dem deutschen Anrufer und dem Unbekannten aus dem Flugzeug um dieselbe Person handelt. – El Salvador, knapp zwei Jahre später. Podewin begleitet als Journalist die internationale Untersuchungskommission zum Tod eines Aktivisten aus der Solidaritätsszene. Wie auch im Chile-Teil verarbeitet hier der Autor reale Vorkommnisse: Der Schweizer Jürg Weis – im Roman gibt ihm der Autor den Nachnamen Roth, behält aber den Vornamen bei – war im August 1988 nach El Salvador gereist und dort von Militäreinheiten erschossen worden (siehe LN 178). Es gelingt der Untersuchungskommission aus der schweizer und deutschen Soli-Szene, in El Salvador die Version des Militärs zu widerlegen.
Dann taucht unvermittelt der geheimnisvolle Fremde wieder auf. Und Podewin, ganz Journalist, setzt sich auf die Fährte, recherchiert und lässt seine Kontakte spielen, um dessen Geheimnis zu ergründen. Es geht ihm hierbei nicht darum, den mutmaßlichen Folterer dingfest zu machen. Aus dem Journalisten wird nicht der überspannte Privatkommissar, der den Schurken zur Strecke bringt. Vielmehr lässt ihn die Idee, ein Interview mit diesem „negativen Helden“ zu bekommen, nicht mehr los. Im Kolumbien der neunziger Jahre – an Militärs und Paramilitärs, Guerillas und Drogenbaronen mangelt es nicht – gelingt es Podewin schließlich, den Fremden ausfindig zu machen.
Der Autor, Norbert Ahrens, nimmt die Lesenden auf eine Reise durch drei lateinamerikanische Länder der achtziger und neunziger Jahre mit und lädt sie ein, den geheimnisvollen Fremden aus dem Flugzeug wieder zu treffen, ihn zu suchen und dessen Geheimnis zu ergründen. All dies vor den konkreten historischen Ereignissen der Zeit – Militärdiktaturen, Bürgerkrieg, Guerilla –, die der Autor literarisch verarbeitet. Die Beschreibungen der politischen Situationen lassen den erfahrenen Blick des Journalisten erkennen, der sich seinem Sujet diesmal als Romanautor annähert. Und das macht den Roman dann so realitätsnah und lesenswert.

Norbert Ahrens // Podewins Verfolgung // Kulturmaschinen // Berlin 2013 // 270 Seiten // 24,90 Euro

Der Täter im Fokus

Innerhalb Chiles gehen die Meinungen zu Augusto Pinochet bis heute auseinander. Im Rest der Welt hat der 2006 verstorbene Diktator die Deutungsschlacht über seine Person jedoch längst verloren: Wer heutzutage an einen blutrünstigen Diktator denkt, denkt an den General mit der Sonnenbrille und den überkreuzten Armen: Augusto Pinochet. Wer Völkerstrafrecht studiert, beginnt mit dem „Fall Pinochet“: Die Festnahme Pinochets in London 1998 war ein Präzedenzfall auf dem Weg zu einer universellen Verfolgbarkeit von Menschenrechtsverbrechen. Und die Figur Pinochet steht wie eine Marke für Menschenrechtsverbrechen.
Dies ist zu großen Teilen ein Verdienst der Chile-Solidaritätsbewegung. „Die Solidarität mit Chile war möglicherweise die größte Solidaritätsbewegung jemals“, sagte Isabel Allende, die Tochter von Salvador Allende, kürzlich auf einer Veranstaltung zum 40. Jahrestag des chilenischen Putsches in Berlin. Die Auswirkungen der Solidaritätsbewegung mit Chile sind einzigartig. Zwar konnte sie den General und seine Junta nicht stürzen, dennoch mobilisierte sie weltweit eine Welle der Unterstützung und Solidarität, die politisch verfolgten Menschen das Leben rettete und eine Symbolkraft entwickelte, die bis heute nachwirkt.
Friedrich Paul Heller war aktiver Teil dieser Bewegung. Seit den 70er Jahren war er in der Frankfurter Chile-Solidarität aktiv und „begleitete“ die Figur Pinochet jahrzehntelang als Menschenrechtsaktivist. Als Mitarbeiter von Amnesty International machte er 1977 publik, dass es sich bei der Deutschensiedlung Colonia Dignidad um ein Folterlager der Geheimpolizei DINA handelte. Später verfasste er zwei Bücher zur Colonia Dignidad, die einen wichtigen Beitrag zur Aufhellung von Struktur und Wirken dieses wichtigen Rades im mörderischen Getriebe der Diktatur leistete. Noch während der Diktatur veröffentlichte Heller, der in engem Kontakt zu früheren Widerstandskämpfer_innen aus Chile stand, Bücher über die Colonia Dignidad, eines davon erschien klandestin in Chile. Die einzige politische Analyse von Pinochets Geheimdienst DINA entstand durch diese Zusammenarbeit: Heller aktualisiert sie in seinem jüngsten Buch.
40 Jahre nach dem Putsch legt Heller die erste deutschsprachige Biografie über Augusto Pinochet vor. Darin stützt er sich nicht nur auf offene und im Zuge der Menschenrechtsbewegung gewonnene Informationen über den Diktator. Nach Ende der Diktatur ergänzte Heller seine Quellenbasis durch langwierige Recherchen in behördlichen Archiven weltweit. Er stellte Freedom-of-Information-Act-Anfragen bei den US-Behörden und studierte im Auswärtigen Amt die Berichte deutscher Diplomat_innen aus den ersten Jahren der Diktatur. Hellers Täterbiografie beschreibt nicht das Gesellschaftsmodell, das Pinochet durchsetzte – über den Neoliberalismus und seine Auswirkungen wurde schon viel geschrieben. Vielmehr beschreibt er chronologisch und en détail wie die politische Figur Pinochet es schaffte, dieses durchzusetzen. Dies geschah nicht durch große politische Begabung, sondern durch kluge, militärstrategische Taktik und Terror.
Vor dem Putsch war Pinochet ein mittelmäßig begabter opportunistischer Karriereoffizier, der sich politisch zurückhielt – so weit, dass er noch 19 Tage vor dem 11. September 1973 von Salvador Allende zum Heereschef ernannt wurde. An den Putschvorbereitungen war er nicht direkt beteiligt und stieß erst dazu, als absehbar war, dass der Staatsstreich Erfolg haben würde. Ab dann war jedoch von seiner Zurückhaltung nichts mehr zu spüren: Er verhinderte ein Rotationsprinzip für das Präsident_innenamt in der vierköpfigen Junta und ließ Kritiker innerhalb des Militärs ermorden. Sein wichtigstes Machtinstrument war der Geheimdienst DINA mit seinem Chef Manuel Contreras. Dieser war nur dem Diktator selbst verpflichtet und sorgte mit seinem riesigen Apparat für Disziplin nach Innen und Mord und Totschlag gegen den linken Widerstand. Die DINA verfolgte Oppositionelle bis ins Exil und schreckte nicht einmal vor Mordanschlägen in Europa und den USA zurück.
Heller geht auch auf das noch wenig erforschte „Projekt Andrea“ ein, eine Strategie der Diktatur zur Bewaffnung mit chemischen und bakteriologischen Waffen. Eingesetzt werden sollten diese im Kriegsfall mit den Nachbarländern, welche bei der konventionellen Bewaffnung Chile überlegen waren. Das dafür entwickelte Saringas sowie das Gift Botulintoxin wurden von der DINA an politischen Gefangenen ausprobiert. Eine Reihe von politischen Gegner_innen bis hin zum Ex-Präsidenten Eduardo Frei wurden mit Gift ermordet. An der Umsetzung der chemischen und biologischen Bewaffnung Chiles war wohl auch die Deutschensiedlung Colonia Dignidad beteiligt.
Ausführlich geschildert wird das Verhalten bundesdeutscher Politiker_innen und Diplomat_innen gegenüber der Diktatur. Dieses steckt voller Widersprüche, letztlich dominierte jedoch stets die Logik des Kalten Krieges. „Die bundesdeutsche Diplomatie verhielt sich in den schlimmsten Zeiten der Pinochet-Diktatur defensiv,“ so das eher gütige Urteil Hellers über die Bonner Diplomat_innen. Die deutsche Botschaft setzte sich in vielen Fällen für Flüchtlinge ein, pflegte jedoch gleichzeitig vertrauensvolle Beziehungen zu den deutschstämmigen Generälen wie Matthei und Stange und verteidigte öffentlich die Colonia Dignidad. Das Auswärtige Amt thematisierte gegenüber der Diktatur immer wieder Menschenrechtsfragen. Es setzte dabei jedoch auf stille Diplomatie statt öffentlicher Kritik oder sicherlich effektiverer ökonomischer Sanktionsmechanismen. Die stellenweise kritischen Ansätze des Auswärtigen Amtes wurden dabei oftmals von einer Parallel-Diplomatie der bayrischen CSU und ihrer Hanns-Seidel-Stiftung untergraben. So durchbrach Franz-Joseph Strauß mit seinem Chile-Besuch 1977 die diplomatische Isolation des Pinochet-Regimes, der Würzburger Staatsrechtler Dieter Blumenwitz wirkte an der Ausformulierung der Pinochet-Verfassung von 1980 mit und der Strauß-Berater Lothar Bossle besuchte regelmäßig die Colonia Dignidad.
Hellers Täterbiografie ist ein Stück Aufarbeitung der Diktatur und ihrer Verbrechen. 40 Jahre nach dem Putsch ist dabei zu vieles noch nicht aufgeklärt. Er setzt in diesem Buch akribisch Puzzlestücke zusammen und greift dabei auf Informationen zurück, die oftmals selbst in Chile noch unbekannt sind. 40 Jahre nach dem Putsch ist das eine konsequente Fortführung der Chile-Solidarität.
Hoffnungsvoll sind momentan in Chile die Debatten im Zuge des 40. Jahrestages des Militärputsches, bei denen Ursachen und Verantwortlichkeiten für die Verbrechen der Diktatur offen diskutiert werden. Das Geschichtsbild des Pinochetismus scheint dabei endlich auch in Chile an Stellenwert einzubüßen. Bücher wie dieses liefern dieser Auseinandersetzung die nötigen historischen Fakten und Analysen.

Friedrich Paul Heller // Pinochet – Eine Täterbiografie in Chile // Schmetterling Verlag // Stuttgart 2012 // 352 Seiten // 24,80 Euro // www.schmetterling-verlag.de

// DOSSIER: CHILE – DAS ERBE DER DIKTATUR

Demonstration für das NEIN bei Pinochets Referendum, Santiago, 01. Oktober 1988 // Foto: José Giribás

(Download des gesamten Dossiers)

Chile spielt auf der politischen Weltkarte eine überwiegend zu vernachlässigende Rolle. Das 17 Millionen-Einwohner_innenland, das sich im äußersten Südwesten der Amerikas auf einer Länge von 4.300 Kilometern eingeengt zwischen den Anden und dem Pazifik befindet, taucht in den europäischen Medien nur selten auf.

Selbst der Besuch des chilenischen Präsidenten in Deutschland ist kaum eine Nachricht wert. Das war allerdings nicht immer so. In der Geschichte der Linken in Deutschland war Chile einer von vielen Bezugspunkten, an dem sich nach der Wahl von Salvador Allende 1970 Revolutionsträume von einem demokratischen Sozialismus orientierten. Doch die vielen unter der Regierung der Unidad Popular begonnenen Projekte fanden ein jähes Ende. Der Militärputsch am 11. September 1973 begrub den Traum eines gerechteren Chiles. Der Regierungspalast La Moneda wurde von Kampfflugzeugen der chilenischen Streitkräfte bombardiert, Salvador Allende kam ums Leben – ob durch Mord oder Selbstmord ist bis heute strittig. Tausende Chilen_innen wurden in den folgenden Tagen und Wochen inhaftiert, gefoltert und ermordet, am Ende der Militärdiktatur sollten es mehr als 3.000 Tote und Verschwundene sowie zehntausende Gefolterte sein. Während dieser 17 Jahre waren die Menschenrechtsverletzungen der Regierung, nicht zuletzt wegen der vielen Exilierten, auch in der deutschen Linken ein wichtiges Thema. Insgesamt 500.000 Chilen_innen verließen ihr Heimatland. Während Pinochet auf die freundliche Unterstützung von deutschen Politiker_innen wie Franz-Josef Strauß zählen konnte, wurde von Bewegungsseite die chilenische Militärregierung kritisiert und die Opposition unterstützt.

Die damalige Solidarität mit der vorangegangenen Unidad Popular-Regierung führte unter anderem zur Gründung der Lateinamerika Nachrichten. Am 28. Juni 1973 erschien unter dem Namen Chile-Nachrichten die erste Ausgabe. Etwa 15 bis 20 Personen, die in Chile zuvor Faszination und Probleme des sozialistisch-demokratischen Aufbruchs miterlebt hatten, hatten in Deutschland zunächst das Komitee Solidarität mit Chile ins Leben gerufen. Anfangs sollten für die Kommunikation innerhalb des Komitees alle zwei Wochen aktuelle Informationen über die sich zuspitzende politische Lage zusammengetragen werden, die erste Nummer bestand aus acht eng bedruckten Seiten. Insgesamt 50 Exemplare davon wurden von Matrizen gezogen und an einige Freund_innen geschickt. Nach dem Putsch stieg das zuvor geringe Interesse an Chile innerhalb der westdeutschen Linken sprunghaft an, die Solidaritätsbewegung erhielt enormen Zulauf. In vielen Städten der BRD gründeten sich Chile-Komitees, die unter anderem Demonstrationen, Proteste und Hilfsaktionen für exilierte Chilen_innen organisierten. Ende 1973 betrug die Auflage der Chile-Nachrichten bereits 6.000 Stück, später erreichte sie zeitweise bis zu 8.000 Exemplare. Der Umfang der einzelnen Ausgaben stieg rasch auf 60 Seiten, die Zeitschrift erschien fortan monatlich. Um die vielen angesammelten Dokumente zu archivieren und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wurde 1974 das Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL) gegründet, das mit den LN bis heute eng kooperiert.

Thematisch drehte sich zunächst fast alles um Chile. Mit der Zeit gerieten mehr und mehr Nachbarländer Chiles in den Fokus, in denen ebenfalls das Militär regierte und ganz ähnliche politische Bedingungen herrschten. Spätestens nach dem Putsch in Argentinien am 24. März 1976 wurde die Berichterstattung der Chile-Nachrichten zunehmend breiter und der Anteil an Chile-Artikeln kleiner. Als Konsequenz erschien die Zeitschrift ab der Nummer 51 im September 1977 unter dem bis heute bestehenden Namen Lateinamerika Nachrichten, zunächst mit dem Zusatz „5. Jahrgang der Chile-Nachrichten“. Elf Jahre später verschwand der alte Name auch aus dem Untertitel.

2013 jährt sich der Putsch zum 40. Mal, genauso wie das Bestehen der Lateinamerika Nachrichten. Grund genug, einen etwas genaueren Blick auf Chile zu werfen. 40 Jahre Putsch in Chile bedeuten auch 40 Jahre neoliberale Reformen. Während in Europa beim Stichwort Neoliberalismus die Namen Thatcher, Reagan und vielleicht auch Schröder und Blair fallen, war Chile unter Federführung der sogenannten Chicago Boys, in den USA ausgebildeten Wirtschaftwissenschaftler_innen, das Experimentierfeld für neoliberale Politiken.

Die in der Militärdiktatur umgesetzten Reformen, die die sozialen Errungenschaften ihrer Vorgängerregierungen zunichte machten, sind bis heute maßgeblich für das politische und wirtschaftliche Leben in Chile. Die Privatisierungen im Gesundheits- und Bildungssektor, die Rücknahme der Landreformen, die Arbeitsgesetze, die strafrechtlichen Mechanismen, das Wahlrecht, dies und vieles mehr sind auch heute, 23 Jahre nach dem Ende der Diktatur, Eckpfeiler chilenischer Institutionalität. Denn entgegen vieler Erwartungen hat das linke Parteienbündnis Concertación, dem auch Salvador Allendes Sozialistische Partei angehört, in 20 Jahren Regierungsverantwortung von 1990 bis 2010 das neoliberale Modell und die von der Pinochet-Administration 1980 verabschiedete Verfassung nicht angetastet. Ähnlich steht es um die Vergangenheitsbewältigung. Die juristische Aufarbeitung der Verbrechen verläuft bruchstückhaft und nur wenige Mörder und Folterer mussten bisher in Haft.

Die Kontinuitäten zwischen Militärdiktatur und der aktuellen Politik wurden lange Zeit unwidersprochen hingenommen. Nicht zuletzt aus Angst vor dem übermächtigen Militär, dem auch heute noch zehn Prozent der Einnahmen des riesigen chilenischen Staatskonzerns Codelco zustehen. Gerade in der Anfangszeit der neuen Demokratie stellte die Armee ihre Macht zur Schau. In Erinnerung geblieben ist hierbei vor allem der Boinazo, bei dem Augusto Pinochet Ermittlungen wegen Korruption gegen sich und seinen Sohn dadurch verhinderte, dass er am 28. Mai 1993 bewaffnete Spezialeinheiten 200 Meter vom Regierungssitz auflaufen ließ. Aber auch nachdem die Bedrohung durch das Militär nicht mehr so virulent war, zeigten die gewählten Regierungen keine Bestrebungen, etwas an der Situation Chiles zu verändern, was auch lange ohne großen Widerstand der Bevölkerung funktionierte.

Neben den Mapuche, die sich immer in Konflikt mit dem chilenischen Staat befanden, waren es die Schüler_innen, die sich mit moderaten Forderungen gegen die neoliberale Bildungspolitk richteten. Sie waren die ersten, die, wenn auch erfolglos, auf die vielen Widersprüche im neoliberalen Musterland Chile hinwiesen.
Während Tomás Hirsch, Präsidentschaftskandidat für die Wahlen 2009 im Interview mit den LN zu den sozialen Bewegungen noch sagte, in Chile gäbe es „immer weniger solcher Organisationen und sie bluten aus“, hat sich die Lage vier Jahre später dramatisch verändert. Nachdem im April 2011 erstmals groß gegen HidroAysén, ein Megastaudammprojekt im Süden Chiles, demonstriert wurde, etablierte sich kaum einen Monat später die auch in den LN viel diskutierte Studierenden- und Schüler_innenbewegung, die sich zunächst auf Bildungsthemen beschränkte, mittlerweile aber eine gänzliche Abkehr vom neoliberalen System fordert.

Das Aufkommen dieser Bewegung weckte die chilenische Zivilgesellschaft aus der Jahre währenden Apathie. Mittlerweile regt sich an allen Ecken und Enden Widerstand gegen die Regierungspolitiken. Im nördlich gelegenen Freirina wurde so eine riesige Schweinemastfarm verhindert, die Bewohner_innen der abgelegenen Provinz Aysén erkämpften sich Zugeständnisse von der Regierung, und selbst wenn das Bildungssystem in Chile immer noch kaum verändert besteht, müssen sich die Herrschenden mit konstanter Mobilisierung arrangieren. Dieses Arrangieren geschieht allerdings weniger mit dem Versuch, die Forderungen zu integrieren und die Proteste zu befrieden. Vielmehr wird die Repression über die versuchte Verabschiedung neuer Gesetze verschärft. Allerdings zeichnet sich bis jetzt nicht ab, dass die vielfältigen neuen sozialen Bewegungen sich von der Repression einschüchtern lassen.

Mit dem vorliegenden Dossier möchte die Redaktion der Lateinamerika Nachrichten die Hintergründe der heutigen Situation beleuchten. Zunächst zeigt LN-Mitbegründer Urs Müller-Plantenberg die Kontinuitäten des unter der Militärdiktatur eingeführten neoliberalen Wirtschaftssystems auf. Markus Thulin beleuchtet in seinem Beitrag exemplarisch die konkreten Folgen des Neoliberalismus für das chilenische Gesundheitssystem.

Anschließend beschreibt Oliver Niedhöfer einige Absurditäten des ebenfalls noch aus Diktaturzeiten stammenden binominalen Wahlsystems. Über die schwache Position der Gewerkschaften schreibt Nicolás Véliz Rojas. Auch wenn sich die Menschenrechtslage im Vergleich zur Diktatur deutlich gebessert hat, reagiert der chilenische Staat auf Proteste mit Repression, wie David Rojas Kienzle in seinem Beitrag aufzeigt. Insbesondere trifft die Repression die Studierendenbewegung, die Steve Kenner vorstellt und die indigenen Mapuche im Süden des Landes. Über die Hintergründe des Mapuche-Konliktes berichtet Llanquiray Painemal.

Dass es die LN ohne die Solidarität mit Chile gar nicht gäbe, liegt auf der Hand. Was aber hat die internationale Solidaritätsbewegung mit Chile sonst gebracht? Das haben wir verschiedene Protagonist_innen der damaligen Zeit aus Chile und Deutschland gefragt. Bei einem Thema, zu dem Teile der Solibewegung in der BRD gearbeitet haben, gab es einen direkten Bezug zu Deutschland. Über die abstoßende Sektensiedlung Colonia Dignidad, die der deutsche Kinderschänder Paul Schäfer 1961 gegründet hatte, schreibt Friedrich Paul Heller. Dieter Maier geht anschließend der Frage nach, warum sich Pinochet so lange an der Macht halten konnte. Interviews mit einer Exilchilenin, die in die BRD kam und einem Exilchilenen, den es in die DDR verschlug, geben Einblicke in das Leben im Exil. Dass sich Chile mit der Aufarbeitung der Vergangenheit noch immer schwer tut, während das Nachbarland Argentinien bedeutende Fortschritte zu verzeichnen hat, beschreibt Maja Dimitroff. Schließlich wirft Leonor Abujatum einen Blick auf chilenische Literatur, in der die Vergangenheit deutlich besser aufgearbeitet wird als auf politischer ebene in Chile.

Bei der Fülle möglicher Themen kann kein Anspruch auf Vollständigkeit bestehen.Wir hoffen, inhaltliche Lücken durch eine kontinuierliche Berichterstattung zukünftig ausfüllen zu können. Mit diesem Dossier starten wir in den 41.Jahrgang der einstigen Chile-Nachrichten. Viele weitere der LN werden folgen.

Allez Hopp!

In Argentinien heißt es escrache. In Chile: funa. Wenn die gerichtliche Aufarbeitung von Menschenrechtsverbrechen unterbleibt, veranstalten Angehörige von „verschwundenen“ politischen Gefangenen Kundgebungen am Wohn- oder Arbeitsplatz der Täter_innen, um sie vor der Öffentlichkeit zu „outen“. So wird der Forderung nach Aufarbeitung und Gerechtigkeit Nachdruck verliehen (siehe LN 333).
In Krefeld fand am 23.3.2013 eine funa vor dem Haus von Hartmut Hopp statt. Etwa 50 Personen versammelten sich trotz eisiger Temperaturen und Schneetreibens und machten durch Flugblätter, Redebeiträge, Trommeln und Musik auf sich aufmerksam. Am Tag darauf hielten in Chile Folteropfer und Angehörige an den Toren der Deutschensiedlung eine Mahnwache ab. „Die hier Ermordeten leben in unserer Erinnerung weiter“ und „Wahrheit-Gerechtigkeit-Erinnerung“ stand auf ihren Transparenten. Beide Aktionen, die sich aufeinander bezogen, wurden in der regionalen und nationalen Presse Chiles und Deutschlands ausführlich rezipiert. Die Aktivist_innen erhoben übereinstimmende Forderungen: Die konsequente und rasche Strafverfolgung der Täter_innen der Colonia Dignidad in beiden Ländern sowie die Errichtung einer Gedenkstätte am Eingang des Koloniegeländes. Zusätzlich forderten die Protestierenden in Krefeld auf Schildern: „Allez Hopp – in den Knast“.
Hartmut Hopp floh im Mai 2011 von Chile nach Deutschland (siehe LN 450) vor verschiedenen gegen ihn laufenden Gerichtsverfahren. Die Krefelder Staatsanwaltschaft ermittelt seit Oktober 2011 gegen ihn wegen Mordes an politischen Häftlingen, Beihilfe zum sexuellen Missbrauch von Kindern und schwerer Körperverletzung durch Verabreichung von Psychopharmaka zur Ruhigstellung von Mitgliedern der Siedlung. Am 25. Januar 2013 verurteilte ihn der Oberste Gerichtshof Chiles rechtskräftig als Mittäter von systematischem sexuellen Missbrauch von Kindern zu fünf Jahren Haft (siehe LN 465). Doch während fünf andere Mittäter nun im Gefängnis der südchilenischen Stadt Cauquenes sitzen, lebt Hartmut Hopp als freier Mann in Krefeld. Eine neue Wendung erhielt der Fall durch Äußerungen des neuen Krefelder Staatsanwalts Axel Stahl. Dieser vertrat kürzlich in einem Interview die Auffassung, dass das chilenische Hafturteil gegen Hopp in Deutschland vollstreckt werden könne. Das wäre ein Präzedenzfall: „Die chilenischen Behörden haben nun die Möglichkeit, die deutschen Behörden um die Übernahme der Strafverfolgung zu ersuchen“, so Stahl. Die chilenische Presse berichtete daraufhin, dass der zuständige Richter ein Haftvollstreckungsersuchen an die deutsche Justiz bereits vorbereite. Liegt dies vor, so muss ein hiesiges Landgericht prüfen, ob das chilenische Verfahren gegen Hopp juristischen Mindeststandards genüge. Da dies wahrscheinlich ist, bestehen gute Chancen, dass Hopp seine chilenische Haftstrafe in Deutschland absitzen muss.
Diese Nachricht allein reichte den Protestierenden jedoch nicht: „Neben der Vollstreckung des chilenischen Strafurteils begrüßen wir natürlich auch die rasche Fortführung der Ermittlungen seitens der Krefelder Staatsanwaltschaft“, sagte der Menschenrechtsaktivist Dieter Maier auf der funa. Denn auch die weiteren Hopp vorgeworfenen Taten sollten seiner Ansicht nach nicht straflos bleiben.
Zur Aufklärung der in Chile begangenen Verbrechen braucht die deutsche Justiz Unterstützung seitens chilenischer Strafverfolgungsbehörden. Die bilaterale Rechtshilfe ist ein mühsamer Weg, insbesondere wenn die betroffenen Staaten kein Rechtshilfeabkommen unterzeichnet haben, wie es zwischen Deutschland und Chile der Fall ist. Die Vollstreckung von Hopps chilenischer Haftstrafe in Deutschland und das Vorankommen der Krefelder Ermittlungsverfahren gegen Hopp ist laut Dieter Maier „daher auch eine Frage des politischen Willens“. In Deutschland sind die Verjährungsfristen kürzer und die Beweiserhebung ist schwieriger als in Chile, wo die ihm vorgeworfenen Taten begangen wurden. Das macht sich der Justizflüchtling Hopp zum Vorteil und darum ist der Fall Hopp ein Politikum. Die Zivilgesellschaft hat hier eine wichtige Funktion. „Ein fehlendes Auslieferungsabkommen und die Unterschiede zwischen nationalen Rechtssystemen dürfen nicht zur faktischen Straffreiheit deutscher Menschenrechtsverbrecher führen“, so Maier.
Unter den etwa 80 Trauernden in Chile, die im Gedenken an die ermordeten politischen Häftlinge zum Eingangstor der Colonia Dignidad zogen, befand sich auch Adriana Bórquez; Sie hat die Folter in der Colonia Dignidad überlebt und sagt dazu: „Dies ist ein für immer düsterer Ort, der mit Tod und Folter befleckt ist”. Völliges Unverständnis zeigten die Protestierenden für die heutigen Tourismusprojekte der Deutschensiedlung, die von der dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit unterstellten Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) unterstützt werden. „Während hier folkloristische Oktoberfeste gefeiert werden, finden die hier begangenen Verbrechen mit keinem Wort Erwähnung“, so Bórquez. „Mit Schmerz und Tod macht man keine glanzvollen Bierfeste. Der deutsche und der chilenische Staat sollten hier stattdessen eine Gedenkstätte errichten, damit die Erinnerung gewahrt wird und so etwas nie wieder geschieht.“
Die besondere Symbolik dieser beiden Aktionen in Krefeld und der Colonia Dignidad liegt darin, dass sich Teile der Zivilgesellschaft zweier Staaten in die bilateralen Beziehungen – deren Handlungen in der Regel langwierig und von vielen diplomatischen Rücksichten und Bedenken geprägt sind – einmischen. „Wenn Deutschland zum sicheren Hafen für Menschen wird, die in anderen Ländern in Menschenrechtsverbrechen verwickelt waren, dann ist ein weiteres Mal die internationale Solidarität gefragt“, so der Aufruf zur funa.
Der Abgeordnete Hans-Christian Ströbele hat unterdessen im Bundestag eine kleine Anfrage eingereicht unter dem Titel „Aufarbeitung der Verbrechen in der Colonia Dignidad“. Diese besteht aus 32 Fragen, die die Bundesregierung nun zeitnah beantworten muss. „Welchen Beitrag leistet die Bundesregierung zur Aufarbeitung der in der Colonia Dignidad von Deutschen an Deutschen und Chilenen begangenen schweren Menschenrechtsverletzungen […]?“, wird dort unter anderem gefragt. Eine Antwort auf diese Frage haben die Opfer der Colonia Dignidad und ihre Angehörigen noch nicht, wobei sie schon seit Jahrzehnten darauf warten.

Es ist nie zu spät – für Aufarbeitung

„Die Affaire um die deutsche Kolonie Dignidad wird von den chilenischen Behörden nur zaghaft untersucht“, titelte die Süddeutsche Zeitung auf Seite 3. Die Rede war darin von Gewalt, sexuellem Missbrauch und Freiheitsentzug in der Deutschensiedlung Colonia Dignidad in Südchile. Erscheinungsdatum: 8. Juli 1966. Seit nunmehr 50 Jahren haben Berichte über schwerste Menschenrechtsverbrechen in der Colonia Dignidad einen festen Platz in der Presseberichterstattung. Verbrechen deutscher Staatsbürger, begangen an Deutschen und Chilen_innen auf chilenischem Staatsgebiet.
Bereits in den 1960er Jahren sandten Koloniebewohner_innen Hilferufe an die deutsche Botschaft. Sie erzählten den Diplomaten von Schlägen, Arbeitszwang und Freiheitsberaubung. In den 1970er Jahren berichteten die UNO (1976) und amnesty international (1977) über Folter an politischen Gefangenen in der Siedlung. Doch Regierung und Justiz in Chile und Deutschland ergriffen jahrzehntelang keine ausreichenden Maßnahmen, um eine Fortsetzung der Verbrechen zu verhindern. Bis zur späten Festnahme des Anführers Paul Schäfer im Jahr 2005 herrschten innerhalb der Siedlung Unterdrückungsstrukturen. Gruppenmitglieder wurden ihrer Freiheit beraubt und mit Psychopharmaka sediert. Beide Staaten sind für diese Taten mitverantwortlich, durch Handlungen und durch Unterlassungen.
Warum in Chile jahrzehntelang weggeschaut wurde, ist offensichtlich: Die Colonia Dignidad war eine der wichtigsten Folter- und Vernichtungsstätten der chilenischen Militärdiktatur (1973-90). Bereits vor dem 11. September 1973 trainierten die Putschisten dort für den Sturz der Allende-Regierung. Danach wurde dort gefoltert und gemordet. Hochrangige Gäste aus Politik, Militär und Unternehmerschaft wurden fürstlich bewirtet, der Geheimdienstchef verbrachte dort seinen Sommerurlaub, selbst Pinochet kam zu Besuch.
Warum hat Deutschland so lange weggesehen? Weil Berichte über medizinische Experimente an hinter Stacheldraht festgehaltenen politischen Gefangenen höchst unschöne Erinnerungen weckten? Wegen deutscher Diplomaten, die gute Beziehungen zu Schäfer und seiner Führungsriege pflegten? Wegen der konservativen Politiker, die die Colonia besuchten und in Deutschland Lobbyarbeit für die „deutsche Vorzeigesiedlung“ betrieben, die von „marxistischen Kräften“ verleumdet werde? Wegen des deutschen Waffenhändlers und BND-Verbindungsmanns Gerhard Mertins, der mit der Siedlung Geschäfte machte? Gesicherte Erkenntnisse, ob seitens bundesdeutscher Behörden noch weitere „Leichen im Keller“ liegen, wird es erst geben, wenn der Bundesnachrichtendienst BND seine Akten zur Colonia Dignidad freigibt.
Nun hat der Oberste Gerichtshof Chiles Ende Januar ein Zeichen gesetzt und nach Jahrzehnten der Straflosigkeit erstmals – nach der Inhaftsetzung Paul Schäfers 2005 – weitere Führungsmitglieder der Colonia Dignidad hinter Gitter geschickt. Es bleibt zu hoffen, dass dies nur der Anfang eines umfangreichen Prozesses der strafrechtlichen und politisch-historischen Aufarbeitung der Colonia Dignidad darstellt. Dass dabei für beide Staaten noch viel Unbequemes ans Licht kommen könnte, liegt auf der Hand. Trotzdem und deswegen sind eine selbstkritische Reflektion dieser Vorgänge und eine Entschuldigung bei den Opfern notwendig und seit langem überfällig. In der Colonia Dignidad Gefolterte haben kurz nach dem Urteil einen offenen Brief in der Botschaft in Santiago abgegeben, in dem sie Unterstützung für den Bau einer Gedenkstätte und eine rasche Verurteilung von Hartmut Hopp fordern. Das ehemalige Führungsmitglied wurde in Chile zu fünf Jahren Haft verurteilt. Er entzog sich jedoch der chilenischen Justiz durch Flucht nach Deutschland. Die Staatsanwaltschaft in Deutschland ermittelt seit 1988 gegen ihn. Ergebnislos.
„Ich bin müde von alledem.“ Mit diesem Zitat von Adriana Bórquez beginnt das LN-Sonderheft zur Colonia Dignidad von 1989. Bórquez wurde 1975 in der Colonia Dignidad gefoltert. Sie hat 1977 darüber im Prozess „Colonia Dignidad gegen amnesty international“ ausgesagt. Adriana, 77 Jahre alt und auf einen Rollstuhl angewiesen, gehörte zu denen, die vor einigen Tagen den offenen Brief an die Regierungen von Deutschland und Chile überreichten. Sie kämpft weiter.

Verurteilt in Chile – (noch) frei in Deutschland

Nach dem Mittagessen im Regierungspalast La Moneda betonten Chiles Präsident Sebastián Piñera und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel an jenem letzten Januarsamstag die guten Beziehungen zwischen beiden Ländern. Eine Erklärung zur Zusammenarbeit im Bereich Bergbau und mineralische Rohstoffe wurde unterzeichnet. Das Urteil von Chiles Oberstem Gerichtshof in Sachen Colonia Dignidad (siehe Editorial dieser Ausgabe) war zu diesem Zeitpunkt bereits gesprochen. Mit Rücksicht auf die Bundeskanzlerin wurde es jedoch erst nach ihrer Abreise öffentlich verkündet.
Die Verurteilung deutscher Staatsbürger, die jahrzehntelang straflos in Chile Verbrechen begangen hatten, passte nicht so recht ins Bild der harmonischen Beziehungen und des Ausbaus zukunftsträchtiger Wirtschaftskontakte. Der Fall Colonia Dignidad hatte bis vor wenigen Jahren die bilateralen Beziehungen zwischen Chile und Deutschland stark belastet. Das war einmal.
Wegen Beihilfe zur Vergewaltigung und zum sexuellen Missbrauch, sowie Kindesentführung und Kindesentzug hat das Gericht nach 17-jähriger Verfahrensdauer sechs Führungsmitglieder der Colonia Dignidad zu sofort vollziehbaren Haftstrafen zwischen fünf und elf Jahren verurteilt, 15 weitere Personen erhielten Bewährungsstrafen. Seine besondere Symbolik erlangt dieses Urteil dadurch, dass nun erstmals auch die Komplizen des Sektenchefs Paul Schäfer rechtskräftig zu effektiven Haftstrafen verurteilt wurden. Schäfer selbst wurde 2005 festgenommen und starb 2010 im Gefängnis. Fünf der nun Verurteilten wurden drei Wochen nach dem Urteilsspruch festgenommen und ins Gefängnis von Cauquenes verbracht.
Verónica Fuentes, die Mutter von einem der Opfer, zeigte sich „zufrieden, da wir so lange auf Gerechtigkeit gewartet haben“. Allerdings sei die Erinnerung schmerzlich, da ihr Sohn Rodrigo Salvo vor fünf Jahren einem Krebsleiden erlag. Rodrigo war Anfang der neunziger Jahre in das „Intensivinternat“ der Colonia Dignidad aufgenommen worden. Die Familien, die ihre Kinder in die Siedlung gaben, stammten aus einfachen Verhältnissen. Die Kolonieführung versprach eine gute Ausbildung bei kostenloser Verpflegung und Unterkunft. Ein verlockendes Angebot. Nachdem Eltern einiger missbrauchter Kinder 1996 erstmals Strafanzeige erstattet hatten, wurde Rodrigo von Führungsmitgliedern der Colonia entführt, vermutlich um eine ärztliche Feststellung von Missbrauchsspuren zu verhindern. Der Schäfer-Vertraute Albert Schreiber, dessen Frau Lilli und der gemeinsame Sohn Ernst reisten mit ihm fast zwei Jahre lang durch Chile und entzogen ihn seiner Mutter und den chilenischen Ermittlungsbehörden. Nachdem Rodrigo in Santiago wieder freigelassen worden war, flüchteten die drei Schreibers vor dem Zugriff der chilenischen Justiz nach Deutschland. Sie ließen sich in Krefeld nieder, wo auch die Freie Volksmission Krefeld des evangelikalen Predigers Ewald Frank ihren Sitz hat.
Gegen Frank, dessen urchristlicher Diskurs Parallelen zu dem Paul Schäfers aufweist, verhängte Chiles Innenministerium im Oktober 2005 ein Einreiseverbot. Er war mehrfach in die Colonia Dignidad gereist. Das chilenische Innenministerium befürchtete, Frank könnte sich zum Nachfolger Schäfers aufschwingen. Nun durfte Frank nicht mehr nach Chile, jedoch kamen nach Deutschland zurückgekehrte Siedler zu ihm nach Krefeld: Etliche von ihnen haben die Gottesdienste Franks besucht. Darunter auch die Familie Schreiber. Und Hartmut Hopp, der im Mai 2011 Chile auf dem Landweg verlassen hatte und über Argentinien und Paraguay nach Deutschland geflüchtet war. Hartmut Hopp ist der sechste der Ende Januar von der chilenischen Justiz zu einer rechtskräftigen Haftstrafe Verurteilten. Fünf Jahre Gefängnis lautet sein Strafmaß. Bereits 2011 hatte Chile einen Auslieferungsantrag an Deutschland gerichtet. Deutschland lehnte unter Verweis auf das Auslieferungsverbot eigener Staatsbürger_innen im Grundgesetz ab.
Während die mit ihm verurteilten Führungsmitglieder der Colonia Dignidad inzwischen im Gefängnis von Cauquenes untergebracht sind, wohnt Hartmut Hopp mit seiner Frau Dorothea in Krefeld. Im August und Oktober 2011 haben das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) und die Berliner Rechtsanwältin Petra Schlagenhauf Strafanzeigen gegen ihn erstattet. Seitdem ermittelt die Staatsanwaltschaft Krefeld gegen Hopp wegen Mordes, Beihilfe zum sexuellen Missbrauch und gefährlicher Körperverletzung. Eine Reihe von Zeug_innen wurden inzwischen gehört und ein Rechtshilfeersuchen an Chile ist in Vorbereitung. Den Opfern und ihren Rechtsanwält_innen geht das jedoch zu langsam. Hernán Fernández, Opferanwalt in verschiedenen Colonia-Dignidad-Verfahren, verweist auf die Geschichte: „Von 1985 bis 2010 ermittelte die Staatsanwaltschaft Bonn unter anderem gegen Schäfer und Hopp ergebnislos, alle Verfahren wurden eingestellt“. Hartmut Hopp sei nicht die erste wichtige Führungsperson, die nach einer Flucht von Chile nach Deutschland einen straflosen Lebensabend verbracht habe. „Zuvor war es Albert Schreiber, davor Alfred Matthusen. Das hat System. Deutschland muss endlich Verantwortung für die Verbrechen seiner Staatsbürger übernehmen.“
Folteropfer und Angehörige von Verschwundenen in Chile haben unterdessen das Urteil begrüßt, gleichzeitig jedoch darauf hingewiesen, dass im Bereich der Untersuchungen wegen Folter und Ermordung von politischen Häftlingen in der Colonia Dignidad immer noch kein einziges rechtskräftiges Urteil vorliegt. „Wir hoffen, dass dieses Urteil nur das erste einer Reihe von Urteilen zu den Verbrechen der Colonia Dignidad ist“, sagte Lorena Pizarro, Vorsitzende der Angehörigenorganisation der Verschwundenen (AFDD). Es sei nun Eile geboten, da 40 Jahre nach dem Militärputsch die Täter bald sterben könnten. Es bestehe auch die Gefahr, dass interessierte Kreise dieses Urteil nun als den Schlusspunkt der Untersuchungen im Fall Dignidad darstellen.
Zu diesen interessierten Kreisen gehören viele der derzeitigen Bewohner_innen der Siedlung, die sich heute Villa Baviera nennt. Den Namen Colonia Dignidad und seine Vergangenheit möchten sie hinter sich lassen. Neben anderen wirtschaftlichen Aktivitäten setzen die etwa 170 verbliebenen Bewohner_innen auf den Tourismus. Kürzlich wurde mit Unterstützung chilenischer Staatsgelder das Hotel Baviera eröffnet. Der deutsche Staat unterstützt die Firmen der Colonia über die GIZ durch Betriebsberatung und Infrastrukturprojekte. Die Villa Baviera wirbt mit „deutscher Tradition“ und organisiert Oktober- und Bierfeste. Die Vergangenheit des Ortes wird dabei mit keinem Wort erwähnt. Ganz im Gegenteil. Am Wochenende nach dem Urteilsspruch der Corte Suprema organisierte die Kolonie eine große Versteigerung, bei der persönliche Objekte von Paul Schäfer meistbietend verkauft wurden. Sein Rasierapparat, sein Telefon, das Megafon durch das er seine Befehle schrie. Auch der Mercedes, den Hartmut Hopp bei seiner Flucht nach Deutschland zurücklassen musste, war dabei. Moderiert wurde die Veranstaltung von Wolfgang Zeitner, ehemaliger Leibwächter Schäfers. „Die Bedeutung dieser Versteigerung besteht darin, dass wir uns unserer Vergangenheit entledigen“, sagte dieser der Presse. Auch ein alter Krankenwagen, Mercedes Baujahr 1970, kam unter den Hammer.
„In diesem Krankenwagen wurde ich als Gefangene von Talca in die Colonia Dignidad gebracht, wo ich von Deutschen und DINA-Agenten brutal gefoltert wurde. Er wurde einfach so versteigert. Es ist brutal, wie hier mit dem Schmerz der Opfer umgegangen wird.“ Adriana Bórquez, 77, wird am Montag nach der Versteigerung in ihrem Rollstuhl sitzend in die Moneda, den Regierungspalast von Santiago, geschoben. Zusammen mit anderen will sie einen offenen Brief übergeben, der wenig später auch in der Deutschen Botschaft abgegeben wird. In dem Brief fordern Folteropfer und Angehörigenorganisationen der Verschwundenen und Diktatur-Gedenkstätten eine Beschleunigung der Verfahren wegen Menschenrechtsverbrechen in der Colonia Dignidad. Etwa ein Dutzend Verfahren sind bei der chilenischen Justiz anhängig. An die deutsche Seite gerichtet wird ein schnelles Verfahren gegen Hartmut Hopp verlangt und ein Eingeständnis der Bundesregierung, dass Deutschland in der Vergangenheit „keine ausreichenden Maßnahmen ergriffen hat, um den systematischen Menschenrechtsverletzungen in der Colonia Dignidad ein Ende zu bereiten.“ Beide Staaten sollten ihre Verantwortlichkeiten und Unterlassungen eingestehen und Gedenk- und Erinnerungsmaßnahmen unterstützen, die sichtbar machen, was in der Colonia Dignidad geschah. Vorgeschlagen wird der Bau einer Gedenkstätte oder eines Mahnmals am Eingang zur Colonia Dignidad. „Wir werden im März den Deutschen Botschafter um einen Termin bitten, um ihm vorzuschlagen, dass die Bundesregierung die Finanzierung der Unternehmen der Colonia Dignidad einstellt und sich stattdessen am Bau eines Gedenkortes beteiligt“, sagte Margarita Romero, Leiterin der Gedenkstätte Villa Grimaldi anlässlich der Briefübergabe.

Infokasten:

Die Verurteilten

Drei der fünf inzwischen ins Gefängnis von Cauquenes verbrachten Täter sind Colonia-Dignidad-Führungsmitglieder der ersten Stunde: Gerd Seewald (90), Kurt Schnellenkamp (87) und Gerhard Mücke (79) waren bereits 1961, als die Gruppe um Paul Schäfer nach Chile auswanderte, enge Vertraute des Sektenchefs. Gegen sie laufen in Chile auch noch eine Reihe anderer Gerichtsverfahren wegen Folter und Ermordung politischer Gefangener, sowie wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung. Gerhard Mücke hielt während der Diktatur direkte Kontakte zur Geheimpolizei DINA und soll auch an Folterungen und Erschießungen beteiligt gewesen sein. Schnellenkamp gestand vor Gericht, politische Gefangene in die Kolonie gebracht zu haben und im engen Kontakt zu dem deutschen Waffenhändler Gerhard Mertins gestanden zu haben. Gerd Seewald war für das Geheimarchiv der Siedlung zuständig, das 2000 und 2005 aufgefunden wurde. Es beinhaltet mit nachrichtendienstlichen Methoden erzielte Informationen über Politiker, Unternehmer und Militärs sowie Transkriptionen von Foltersitzungen an politischen Gefangenen.
Günther Schaffrik (53) und der adoptierte Chilene Dennys Alvear (54) hingegen gehören zur nächsten Generation der Dignidad-Führung. Schaffrik war bis zu seiner Festnahme Geschäftsführer der Aktiengesellschaft der Colonia Dignidad ABRATEC. Alvear war „Sicherheitschef“ in der Colonia. Mücke und Schaffrik erhielten eine Haftstrafe von elf Jahren. Seewald, Schnellenkamp und Alvear wurden zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Ebenfalls zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde Hartmut Hopp.

Te recordamos, Víctor

„Te Recuerdo, Amanda“ („Ich erinnere mich an dich, Amanda“) ist vielleicht das bekannteste Lied des nur wenige Tage nach dem Militärputsch 1973 getöteten Sängers Víctor Jara (siehe Chile Nachrichten 12, Seite 10-15, Jahrgang 1 der LN). Im Januar 2013 stand Amanda Jara, seine Tochter, an dem Ort, an dem ihr Vater gefoltert und ermordet wurde und erinnerte sich an Víctor. Wie unzählige Male zuvor in den letzten Jahrzehnten, forderte sie Gerechtigkeit, eine Verurteilung der Mörder ihres Vaters. „Wir fordern vom Obersten Gerichtshof, die USA um Auslieferung von Pedro Barrientos zu ersuchen“, sprach sie in die Mikrophone der zahlreich erschienenen Journalist_innen.
Der Leutnant im Ruhestand Pedro Barrientos lebt seit Anfang der neunziger Jahre in den USA. Seinen Lebensunterhalt verdient er inzwischen mit dem An- und Verkauf von Fahrzeugen, die über die Freihandelszone von Iquique in Nordchile verschifft werden. Barrientos hat Víctor Jara, nach mehreren Tagen grausamer Folter, im Keller der Veranstaltungshalle Estadio Chile erschossen. Das zumindest hat José Paredes dem Journalisten Luis Narváez vor laufender Kamara erzählt. Paredes war als 18-jähriger Wehrpflichtiger im Estadio Chile eingesetzt und war nach eigenen Angaben dort als Leibwächter von Barrientos tätig. Narváez überraschte Barrientos daraufhin im vergangenen September mit einem Fernsehteam vor seinem Haus in Deltona, Florida und befragte ihn. „Ich war nie im Estadio Chile“, sagte Barrientos, „ich habe Víctor Jara nicht umgebracht“. An einen Leibwächter namens Paredes könne er sich nicht erinnern. Doch recht überzeugend wirkte sein Dementi nicht.
Sonderrichter Miguel Plaza, der dem Berufungsgericht von Santiago angehört, schloss sich jedenfalls der Darstellung von José Paredes an. Ende Dezember letzten Jahres hat Plaza die Ermittlungen im Mordfall Víctor Jara abgeschlossen und Anklage gegen acht ehemalige Militärs erhoben. Pedro Barrientos und der Oberst im Ruhestand Hugo Sánchez Marmonti wurden als Täter des Mordes an Víctor Jara angeklagt, sechs weitere Personen als Komplizen. Gegen alle acht wurde Haftbefehl erlassen.
Die Anklageschrift von Richter Plaza dokumentiert die letzten Tage des damals bereits weit über Chile hinaus bekannten Sängers und Mitgliedes der Kommunistischen Partei Chiles. Am Nachmittag des 11. September 1973 belagerten Einheiten verschiedener Militärregimenter die Technische Universität des Staates, die heutige Universidad de Santiago. Deren Mitarbeiter_innen und Studierendenschaft waren als Unterstützer_innen der Unidad Popular Regierung von Salvador Allende bekannt. 600 von ihnen hatten sich in der Universität verbarrikadiert und waren entschlossen, Widerstand zu leisten. Über Waffen verfügten sie jedoch kaum. Am darauffolgenden Morgen stürmten Militäreinheiten nach kurzem Beschuss der Universität den Campus und nahmen alle fest. Unter den Verhafteten befand sich auch Víctor Jara, der als Lehrbeauftragter an der Universität arbeitete. Mit Bussen wurden die Gefangenen in das nahegelegene Estadio Chile transportiert, wo im Laufe der nächsten Tage über 5000 Gefangene zusammengepfercht wurden. In den Kellerräumen des Stadions wurden die Gefangenen verhört und gefoltert. Als einer der prominenten Gefangenen wurde Víctor Jara vom Rest der Gefangenen getrennt und nach besonders brutaler Folter am 16. September mit Gewehrschüssen ermordet. Sein Leichnam wurde am Tag darauf auf einer Brache neben einem Friedhof aufgefunden. Er wies 44 Schusswunden auf.
Die Interviews mit dem Wehrpflichtigen José Paredes und dem Offizier Pedro Barrientos wurden im Mai 2012 im chilenischen Fernsehen ausgestrahlt und fanden nicht nur in Chile große Beachtung. Viele internationale Medien nahmen sich des Themas an, eine Tatsache die möglicherweise beschleunigend auf die Anklageerhebung durch die chilenische Justiz gewirkt haben könnte. Denn Víctor Jara war der wohl bedeutendste künstlerische Vertreter der Unidad Popular und wurde nach seinem Tod im In- und Ausland als Märtyrer verehrt. Seine Lieder wurden auf jeder Veranstaltung der Chile-Solidaritätsbewegung gesungen und von Größen des politischen Liedes wie Silvio Rodríguez, Mercedes Sosa oder Joan Manuel Serrat interpretiert.
Nicht allen Opfern der chilenischen Militärdiktatur wird die gleiche Aufmerksamkeit zuteil wie Víctor Jara. Die strafrechtliche Aufarbeitung des Großteils der Morde staatlicher Repressionsorgane aus den Jahren 1973 bis 1990 ist bis heute nicht abgeschlossen. Letztes Jahr vom Observatorium für Menschenrechte der Universität Diego Portales veröffentlichte Zahlen belegen dies. Fast vier Jahrzehnte nach dem Putsch ist erst bezüglich 305 ermordeter Personen ein Urteilsspruch ergangen. Bei einer Zahl von 3.216 offiziell von der Regierung anerkannten Todesopfern bedeutet das eine Aufklärungsrate von weniger als zehn Prozent. In 65 Prozent der Fälle ist das Gerichtsverfahren noch nicht abgeschlossen. Bei einem Viertel der Opfer wurde nie ein Verfahren eröffnet.
Gleichzeitig gab es bei den wenigen bisher ergangenen Gerichtsurteilen eine Reihe von Freisprüchen, vor allem jedoch zur Bewährung ausgesetzte Strafen, so dass nur 62 Verurteilte zum Berichtszeitpunkt in Gefängnissen saßen. In der Mehrzahl der Fälle handelt es sich dabei nicht um gewöhnliche Gefängnisse, sondern um besondere Militärgefängnisse, bei denen Militärs von Militärs bewacht werden und die Gefangenen weitaus bessere Haftbedingungen genießen als gewöhnliche Häftlinge in Chile.
Fast 23 Jahre sind seit dem Amtsantritt von Patricio Aylwin vergangen. Der erste gewählte Präsident nach der Diktatur hatte am Ende seines ersten Regierungsjahres 1990 verkündet, er wolle „voranschreiten in der unausweichlichen Aufgabe, die Wahrheit zu finden und Gerechtigkeit zu schaffen“. Jedoch hatte er sogleich den einschränkenden Nebensatz angefügt: „en la medida de lo posible“, im Rahmen des Möglichen. Anstrengungen des chilenischen Staates im puncto Wahrheitsfindung sind seitdem auch weitgehend unumstritten: Der 1991 vorgelegte Bericht der Wahrheitskommission (Comisión Rettig) über die von der Diktatur begangenen Morde und der 2004 veröffentlichte Bericht über die von staatlichen Stellen systematisch durchgeführten Folterhandlungen (Comisión Valech) fanden Anerkennung im In- und Ausland. Der Rahmen des Möglichen im Bereich der Benennung von Verantwortlichen für diese Verbrechen und ihrer Sanktionierung wurde jedoch seitdem stark von Ex-Diktator Pinochet und seinen Anhänger_innen in Politik, Militär und Justiz eingeengt.
Während die Festnahme von Augusto Pinochet im Jahr 1998 bei vielen Opfer- und Angehörigenorganisationen Hoffnung auf eine schnelle und umfassende Aufarbeitung der Verbrechen der Diktatur auslöste, ist diese inzwischen einer Verzweiflung und Resignation gewichen.
Nach der Festsetzung des Ex-Diktators in London hatten Angehörige hunderte von Strafanzeigen gegen Pinochet und Mitglieder seiner Repressionsorgane eingereicht. Sonderrichter wurden ernannt, die ihre Arbeitszeit ausschließlich diesen Menschenrechtsfällen widmeten. Die Anwendung des von der Diktatur geschaffenen Amnestiegesetzes wich in vielen Fällen einer Einstufung der Taten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die weder verjähren noch amnistiert werden können. Die anfängliche hoffnungsvolle Haltung wich jedoch bald wieder der Ernüchterung des faktischen „im Rahmen des Möglichen“. Die Arbeitslast hunderter komplexer Fälle war für einige wenige Sonderrichter nicht zu bewältigen. Viele von ihnen dürfen sich inzwischen auch nicht mehr ausschließlich mit Menschenrechtsfällen beschäftigen. In vielen wichtigen Verfahren wie beispielsweise dem Mord an Ex-Präsident Eduardo Frei Montalva, den Fällen Villa Grimaldi, Conferencia, dem Fall der 119 und in dem wichtigen Verfahren um die Deutschen-Siedlung Colonia Dignidad sind bis heute keine Gerichtsurteile ergangen.
In den letzten Jahren hat sich in der Strafkammer des Obersten Gerichts zudem teilweise die Rechtsauffassung der „halben oder graduellen Verjährung“ durchgesetzt. Diese erlaubt trotz Einstufung der jeweiligen Tat als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eine Reduzierung der Strafe wegen des lange zurückliegenden Tatzeitpunkts. Dies bedeutet, dass immer mehr Verurteilte in den Genuss einer Bewährungsstrafe ohne Haftantritt kommen. Diese Tendenz wird sich wohl im letzten Jahr der Rechtsregierung von Sebastian Piñera durch einen besonderen Umstand noch verstärken. Da sechs der 21 Mitglieder des Obersten Gerichts die Altersgrenze von 75 Jahren erreicht haben, darf die Regierung dem Parlament Vorschläge für die Neubesetzung der Vakanzen machen. Eine Besetzung mit konservativen Richter_innen, die gerne strafsenkende Argumente bemühen, ist wahrscheinlich bzw. teilweise schon geschehen.
Derweil hält der Schweigepakt in Militär und Polizei. Diese haben bei der Aufklärung der von Mitgliedern ihrer Institutionen begangenen Verbrechen bisher keinen nennenswerten Beitrag geleistet. Die wenigen Ermittlungsfortschritte der Justiz der letzten Jahre war Aussagen von ehemals einfachen Wehrpflichtigen wie José Paredes geschuldet. Dieser wurde nach seinen Presseäußerungen bis zu einer richterlichen Vernehmung inhaftiert. Diese aus juristischer Sicht nachvollziehbare Maßnahme wird dadurch ad absurdum geführt, dass höherrangige Offiziere, wenn überhaupt, meist nur wenige Tage in Untersuchungshaft verbringen, bis sie gegen Kaution wieder auf freien Fuß gelangen. Der eventuell vorhandene Aussagewille von einfachen Wehrpflichtigen gegenüber ihren ehemaligen Vorgesetzten wird durch solche Handlungen nicht befördert, eher wird der Schweigepakt gestärkt.
Derweil begünstigt der Zeitablauf die Straflosigkeit: Täter_innen versterben oder werden haftunfähig. Die Opferangehörigenorganisationen altern und verlieren an Einfluss. Viele Angehörige versterben mit einem Gefühl der Ohnmacht ohne die Todesumstände oder die Namen der Mörder_innen ihrer Familienmitglieder zu kennen. Neue institutionalisierte Akteure haben in den letzten Jahren an Protagonismus gewonnen, beispielsweise das Nationale Menschenrechtsinstitut, für das das Thema der Aufarbeitung der Diktatur nur noch eines unter mehreren ist.
Die Aufklärung und Ahndung des Mordes an Víctor Jara ist durch die Anklageerhebung einen Schritt vorangekommen: Sechs der acht Angeklagten wurden bislang – zumindest zeitweilig – in Untersuchungshaft genommen. Ein weiterer ist aus gesundheitlichen Gründen haftunfähig. Auch hat Richter Miguel Plaza die Auslieferung von Oberst Barrientos beantragt.
Die Umbenennung des Estadio Chile vor einigen Jahren in Estadio Víctor Jara zeigt, dass die Erinnerung an den Sänger und Aktivisten lebendig ist. Ob jedoch Oberst Barrientos oder einer seiner Mitangeklagten jemals für diesen brutalen Mord eine Haftstrafe antreten muss, darf als äußerst ungewiss gelten.

Überleben in der Colonia Dignidad

Es geht um eine alte Jugendliebe zwischen Gudrun und Wolfgang, die auf den Zeltlagerfreizeiten der Sekte in Deutschland in den fünfziger Jahren begann und nach der Auswanderung nach Chile mit strengsten Mitteln wie Geschlechtertrennung, Sprechverbot, Schlägen, Elektroschocks und zwangsweiser Medikamentierung unterdrückt werden sollte, damit die Sektenführung die volle Gewalt über Körper und Seele der Anhänger_innen hatte. Sektenführer Paul Schäfer hatte diesen „Weg der Härte“ eingeführt, weil ein paar Kinder hinter den Büschen die Hosen runter und die Röcke hoch gezogen hatten. Trotzdem schafften es Gudrun und Wolfgang über Jahrzehnte, Blicke und kurze Zärtlichkeiten auszutauschen.
Fröhling fügt in die Erzählung von Gudrun und Wolfgang die Geschichte der Colonia Dignidad ein. Sie hat die Aufbauphase in Deutschland gründlich recherchiert und schildert sie einfühlsam. Das getrennte Paar bekommt mit, wie nach dem Militärputsch 1973 der Geheimdienst Pinochets auf dem Siedlungsgelände ein Lager zur Folter politischer Gefangener einrichtet. Die Colonia Dignidad ist seit langem gut dokumentiert, aber das Schicksal der Frauen in der Sekte wird erst bei Fröhling gründlich dargestellt. Weibliche Sexualität war Teufelswerk, und deshalb unterdrückte das medizinische Personal die Pubertät (auch die der Jungen) mit Mitteln, die bis zur grausamen Zwangssterilisierung der Mädchen reichten. Die Leser_innen werden dankbar sein, dass Fröhling ihnen nicht alles zumutet, was damals dort geschah. Das Buch ist schmerzhaft, aber erträglich. Einige Episoden bleiben notgedrungen unklar, da der systematische Sadismus der Colonia Dignidad nicht immer analysierbar ist.
Nach dem Ende der Diktatur konnte Schäfer sich noch ein paar Jahre in der Siedlung halten, musste dann aber nach Argentinien abtauchen. Die Liebenden kamen sich nun langsam näher, obwohl Schäfers Schatten immer noch über der Siedlung lag. Die Führungsclique führte weiter ein scharfes Regiment, wenn auch die schlimmsten Misshandlungen aufgehört hatten. Der Medikamentenmissbrauch hielt an, und unter dem Einfluss starker Psychopharmaka stürzte Wolfgang von einem Dach und brach sich den Fuß. Die Einlieferung in ein Unfallkrankenhaus hätte ihn beinahe das Leben gekostet. Die Ärzt_innen der Siedlung, von denen einer, Hartmut Hopp, 2011 vor der chilenischen Justiz nach Deutschland geflohen ist (siehe LN 450), machten sich nicht die Mühe, das Unfallkrankenhaus von den Überdosen, die sie dem Mann aufgezwungen hatten, zu unterrichten, oder sie wollten ihre Methoden vertuschen, was einen kalten Entzug bewirkte.
2001 durften die beiden heiraten, aber dennoch nicht zusammenleben. 2005 brachen sie mit der Sekte und gingen nach Deutschland. Dort leben mittlerweile etwa hundert frühere Sektenmitglieder. Fast alle schweigen über die Vergangenheit. Fröhling schildert parallel zur Geschichte von Wolfgang und Gudrun die Leiden eines weiteren Paares, das dieses Schweigen gebrochen hat. Ihre Berichte erlauben eine neue Sicht auf die Binnenstruktur der Colonia Dignidad.
Man sollte die wohl der PR-Strategie des Verlags geschuldete Aufmachung des Buches als real fiction nicht akzeptieren, um ihm etwas abzugewinnen. Wer ein paar Passagen ignoriert, liest solide gearbeitete Zeitzeugenberichte. Es gehört zu den Besonderheiten der Colonia Dignidad, dass über sie seit 1977 eine stattliche Reihe deutscher und spanischer Publikationen (Biografien und Sachbücher) geschrieben wurde. Fröhling fügt dem ein authentisches Zeugnis von Leiden und Durchhalten und einem mühsamen Leben danach an. Tatsächlich, Glaube, Hoffnung und Liebe überdauerten die Brutalität der Colonia Dignidad. Dennoch ist die Bilanz der Colonia Dignidad, die als Villa Baviera bis heute besteht, deprimierend: kranke, gebrochene Menschen, die von alten Ängsten geplagt werden.

Ulla Fröhling // Unser geraubtes Leben: Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte // Bastei Lübbe // Köln 2012 // 8,99 Euro // 313 Seiten

50 Jahre und kein Ende in Sicht

Was haben Thomas Drach, der Entführer von Jan Philipp Reemtsma, und Hartmut Hopp, die einstige rechte Hand Paul Schäfers, gemeinsam? Einen Rechtsanwalt namens Helfried Roubicek aus Börgerende-Rethwisch an der Ostsee. Der Fall Colonia Dignidad war schon immer für Skurilitäten gut.
Hartmut Hopp braucht gerade einen guten Anwalt. In Chile ist der ehemalige Krankenhaus-Direktor und „Außenminister“ der Colonia Dignidad bereits mehrfach verurteilt. Die meisten gegen ihn gerichteten Verfahren sind jedoch noch nicht rechtskräftig abgeschlossen – auch weil ganze Anwaltsteams den ehemaligen jerarcas (Führungspersonen) der Colonia Dignidad zur Seite stehen und alle verfügbaren Rechtsmittel ausschöpfen. Keine_r der Täter_innen der Colonia Dignidad musste bisher eine Haftstrafe antreten – nur der im vergangenen Jahr im Hochsicherheitsgefängnis von Santiago verstorbene Sektenführer Paul Schäfer. Doch das könnte sich schon bald ändern: Für die kommenden Wochen wird der endgültige Urteilsspruch des chilenischen Obersten Gerichtshofs im Verfahren um den systematischen Kindesmissbrauch in der Colonia erwartet. Die Eltern von 26 chilenischen Kindern hatten 1996 gegen Paul Schäfer und seine Helfershelfer Strafanzeige wegen Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch erstattet. 26 Personen waren deswegen seit 2004 erstinstanzlich verurteilt worden. 2006 wurde Paul Schäfer – nach seiner Festnahme und Ausweisung aus Argentinien – zu 20 Jahren Haft verurteilt. Im vergangen Januar bestätigte das Berufungsgericht Talca die Urteile, nach denen ein Großteil der noch lebenden Führungsriege der Colonia Dignidad zu Haftstrafen zwischen eineinhalb und fünf Jahren verurteilt wurde. Fünf Jahre betrug das Strafmaß für Hartmut Hopp – ohne Bewährung.
Fünf Jahre Gefängnis vor Augen, entschied sich Hartmut Hopp im vergangenen Mai zur Flucht nach Deutschland. Schließlich liefert Deutschland seine eigenen Staatsbürger_innen nicht aus, und die Chancen, dass ihm die deutschen Staatsanwaltschaften nicht zu nahe treten, standen – ein Blick in die Vergangenheit genügte – recht gut: 22 Jahre lang hatte die Staatsanwaltschaft Bonn gegen Hopp wegen „Freiheitsberaubung, Körperverletzung usw.“ ermittelt, im September 2010 wurden die Ermittlungen eingestellt, „da Tathandlungen in nicht rechtsverjährter Zeit nicht zu belegen waren“. Nach dem Tod von Paul Schäfer könne man das Ermittlungsbuch zuklappen, so dachte man wohl bei der Staatsanwaltschaft.
Hopp flüchtete trotz eines chilenischen Ausreiseverbots über Argentinien und Paraguay nach Deutschland und ließ sich mit seiner Frau Dorothea – die bereits vorgereist war – in Willich bei Krefeld nieder. Dort beantragten beide Sozialhilfe. Der chilenische Ermittlungsrichter hingegen beantragte einen internationalen Haftbefehl und richtete ein Auslieferungsersuchen an die deutsche Justiz, doch Hopp blieb erst einmal auf freiem Fuß.
Bereits eine Woche nach Hopps Ankunft in Deutschland meldete die chilenische Presse seinen Aufenthaltsort: Bärbel Schreiber, die mit Hopps Adoptivsohn Michael verheiratete Tochter des ehemaligen Finanzchefs der Sekte, Albert Schreiber, hatte geplaudert, Hopp sei in Krefeld. Krefeld ist eine wichtige Anlaufstelle für nach Deutschland zurückkehrende Dignidad-Mitglieder: Hier hat die „Freie Volksmission“ des freikirchlichen Predigers Ewald Frank ihren Sitz. Frank, der Paul Schäfer bereits seit den 1950er Jahren kennen soll, war 2004 erstmals in die Villa Baviera (ex-Colonia Dignidad) gereist und hatte dort Massentaufen durchgeführt. Auch Hartmut Hopp wurde von Ewald Frank getauft. Die chilenische Regierung befürchtete daraufhin, dass Frank das Erbe von Schäfer als „neuem Messias“ der Colonia Dignidad antreten wolle und verhängte gegen ihn im Oktober 2005 eine Einreisesperre.
Seither waren mehrere Mitarbeiter Franks nach Chile in die Villa Baviera gereist – und Deutschland-Rückkehrer der Kolonie kommen zahlreich zu seinen monatlichen Massengottesdiensten nach Krefeld. Albert Schreiber, zum Beispiel, besuchte nach seiner Flucht vor der chilenischen Justiz nach Deutschland die Gottesdienste in der Freien Volksmission – und Hartmut Hopp nutzte zumindest das sekteneigene Faxgerät: „Zunächst möchte ich emphatisch erklären, dass ich weder zu Kindesmissbrauch noch Menschenrechtsverletzungen, noch irgendwelchen anderen strafrechtlichen Verstößen gleich welcher Art zu irgendeinem Augenblick Beihilfe oder andere Beteiligung gehabt habe. Alle Behauptungen, die das Gegenteil zu manifestieren versuchen, sind Verleumdungen“, faxte Hartmut Hopp Ende August aus der Freien Volksmission als Leserbrief an die Westdeutsche Zeitung.
Die Opfer der Colonia Dignidad sehen das anders. Die Berliner Rechtsanwältin Petra Schlagenhauf und das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) reichten daraufhin im August und Oktober drei Strafanzeigen gegen Hartmut Hopp ein. Tatvorwürfe sind dabei mehrfacher Mord an chilenischen Oppositionellen, Beihilfe zum sexuellen Missbrauch von Kindern und schwere Körperverletzung durch systematische Verabreichung von Psychopharmaka an Siedlungsbewohner_innen. Die Staatsanwaltschaft Krefeld leitete infolgedessen ein neues Ermittlungsverfahren gegen Hopp ein. Der ermittelnde Oberstaatsanwalt Klaus Schreiber gab die Übersetzung des 500-seitigen chilenischen Missbrauchsurteils gegen Hopp in Auftrag. Im November dann, so Schreiber, könne gesagt werden, wie es mit den Ermittlungen weitergehe.
Mehrere hundert Menschen, vor allem aus Krefeld und Umgebung sind inzwischen Teil einer Facebook-Gruppe mit dem Titel: „Herr Hopp, Sie sind in Krefeld unerwünscht!“. Als im August bekannt wurde, dass Hartmut und Dorothea Hopp aus Willich in den Stadtteil Krefeld-Linn ziehen wollten, organisierten einige Dutzend Krefelder_innen eine Unterschriftensammlung vor der neuen Wohnung der Hopps. Der Vermieter kündigte daraufhin den Hopps.
Indessen wird in Chile des 50-jährigen Bestehens der Siedlung gedacht. In der Festschrift „50 Jahre Villa Baviera“ wird die landschaftliche Schönheit des Koloniegeländes betont und die harte Aufbauarbeit gewürdigt, die notwendig war, um das Land urbar zu machen. Und auch das Auswärtige Amt ist aktiv geworden. Seit 2008 führt das AA mit Haushaltsmitteln von ca. 250.000 Euro pro Jahr „Maßnahmen zur Integration der Villa Baviera in die chilenische Gesellschaft“ durch. Dazu gehören die psychotherapeutische und seelsorgerische Betreuung, Bildungsprojekte sowie – mit über der Hälfte der Gelder – Betriebsberatung durch die deutsche Entwicklungshilfeagentur GIZ und den Senior Experten Service. Eine Thematisierung der dunklen Vergangenheit der Colonia Dignidad unterbleibt hingegen vollständig. Während viele andere Orte des Foltern und Mordens des Pinochet-Geheimdienstes DINA inzwischen in Gedenkstätten umgewandelt wurden oder wenigstens eine Gedenktafel an die dort begangenen Verbrechen erinnern, ist das in der ehemaligen Colonia Dignidad bislang gänzlich unterblieben.
Regelmäßig heißt es, die Firmen der Villa Baviera stünden kurz vor der Pleite, doch irgendwie geht es immer weiter. In die genauen Vermögensverhältnisse der ehemaligen Colonia Dignidad hat niemand so richtig Einblick: „Nähere Erkenntnisse hierzu liegen der Bundesregierung nicht vor“, so die Antwort auf eine kleine Anfrage des Abgeordneten Jan Korte (Linkspartei). Die Vermögenswerte der Colonia Dignidad wurden durch jahrzehntelange unentlohnte Arbeit der Siedlungsbewohner_innen, aber auch durch Waffenhandel, Steuer- und Zollbetrug und andere kriminelle Tätigkeiten angehäuft. Um eine Auflösung der Colonia Dignidad durch die chilenische Regierung nach der Rückkehr zur Demokratie 1990 zu umgehen, wurden alle Vermögenswerte auf ein Geflecht von Aktiengesellschaften übertragen und zu ungleichen Anteilen unter den Kolonie-Bewohner_innen verteilt. Unbekannte Summen wurden zudem ins Ausland verbracht. Hartmut Hopp sagte im September 2005 vor dem chilenischen Sonderrichter Jorge Zepeda aus, er wisse von Konten und Vermögenswerten in den USA, Kanada, Argentinien, Uruguay und auf Karibikinseln. Geld sei auch über die Zweigstelle der Chemical Bank in New York geflossen. Ob die Justiz diese Geld- und Vermögenswerte untersucht hat, ist nicht bekannt.
Seit zwei Jahren hat die Villa Baviera einen externen Berater engagiert, um die Kolonieunternehmen wettbewerbsfähiger zu machen. Er heißt Falk W. Spahn und arbeitet unentgeltlich. 25 Jahre lang war er in Bogotá Vorstand der Sarah Consult, einer Firma, die deutsche Unternehmen bei ihrer Niederlassung in Kolumbien berät. Davor war er bei der Unternehmensberatung Kienbaum tätig. Auch Helfried Roubicek, der neue Anwalt von Hartmut Hopp, arbeitete bei Kienbaum und war davor Geschäftsführer der Deutsch-Kolumbianischen Industrie und Handelskammer. Vielleicht kennt man sich ja noch aus alten Zeiten.

Infokasten: Systematische Fluchtbewegung

Hartmut Hopp ist nicht das erste Mitglied der Colonia Dignidad, das sich durch Flucht nach Deutschland dem Zugriff der chilenischen Justiz entzieht. Etwa zehn weitere Colonia Dignidad Mitglieder werden teilweise mit Interpol-Haftbefehlen von chilenischen Justizbehörden gesucht. Weltweit könnten sie festgenommen und nach Chile ausgeliefert werden. Nur in Deutschland nicht, denn das Grundgesetz verbietet eine Auslieferung an Drittstaaten. Jedoch besteht bei von deutschen Staatsbürger_innen begangenen schweren Straftaten wie Mord oder sexuellem Missbrauch eine Ermittlungspflicht für hiesige Strafverfolgungsbehörden. Ermittlungsverfahren deutscher Staatsanwaltschaften gegen von der chilenischen Justiz flüchtige Colonia Dignidad-Mitglieder wurden bislang regelmäßig eingestellt. Vor Hartmut Hopp war Albert Schreiber der bekannteste nach Deutschland geflüchtete Colonia Dignidad-Funktionär (er ist inzwischen verstorben). Auch seine Frau Lilli und sein Sohn Ernst, die sich in Chile den gegen sie erhobenen Ermittlungen wegen Kindesentführung durch Flucht entzogen hatten, wohnen unbehelligt in Deutschland.
Ähnliches gilt auch für das ehemalige Führungsmitglied Hans-Jürgen Riesland und auch für den ehemaligen Chauffeur Paul Schäfers, Reinhard Döring. Riesland wird von der chilenischen Justiz Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen. Döring hingegen soll nach vertraulichen Zeugenaussagen vor Gericht auch an Gefangenentransporten zu Exekutionsstätten beteiligt gewesen sein.

Infokasten: Wikileaks-Enthüllungen zum Fall Colonia Dignidad

Auch in Chile gestaltet sich die strafrechtliche Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad schwierig. Bereits 1991 hatte der Bericht der chilenischen Wahrheitskomission („Informe Rettig“) angedeutet, dass viele politische Gefangene während der Militärdiktatur in der Colonia Dignidad verhört, gefoltert und ermordet wurden. Dutzende Gerichtsaussagen von ehemaligen DINA-Agenten und Mitgliedern der Colonia Dignidad haben dies in den letzten 20 Jahren bestätigt. Trotzdem tut sich die chilenische Justiz schwer damit, die Täter_innen zu benennen und zu verurteilen.
Kürzlich von Wikileaks enthüllte State Department-Berichte deuten an, dass Sonderrichter Zepeda mit Informant_innen in der Colonia Dignidad zusammenarbeitet. Diese fungieren möglicherweise als Kronzeug_innen und verraten Taten – aber keine Täter_innen – und könnten dafür selbst straffrei ausgehen. Botschafter Kelly schickte am 20. Dezember 2005 zwei Berichte an das State Department, die ein ausführliches Treffen des US-Konsuls Sean Murphy mit Sonderrichter Jorge Zepeda am Vortag wiedergeben. Zepeda berichtete dem Konsul, seine Ermittlungen hätten ergeben, dass direkt nach dem Putsch 1973 sowie Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre politische Gefangene von der DINA und den Wachmannschaften der Kolonie zu Verhören und Folterungen in die Colonia Dignidad gebracht wurden und teilweise auch dort ermordet worden seien. Er habe solide Beweise über fünf politische Gefangene, die in der Colonia gefoltert, ermordet und vergraben worden seien, und plane, die Ermittlungen dazu im Januar 2006 abzuschließen.
Zepeda betonte die engen Beziehungen zwischen den Sicherheitsbehörden der Diktatur und der Kolonie und zeigte dem Konsul ein Foto, das Paul Schäfer gemeinsam mit dem Chef der Geheimpolizei DINA, Manuel Contreras, auf einem nächtlichen Jagdausflug auf dem Sektengelände zeigt. Verbindungen wie diese seien der Grund dafür, dass die Colonia Dignidad bis weit in die demokratischen Transitionsjahre hinein weiterbestand. Der Richter erzählte dem Konsul ferner, dass er in der Kolonie mit einer Reihe von Informant_innen zusammenarbeite, die ihm präzise Informationen zukommen lassen. Trotz der Ankündigung Zepedas, die Fälle im Januar 2006 abzuschließen, sind diese weiterhin offen, der Ermittlungsstand ist weitgehend unbekannt.

Göttliche Gerechtigkeit oder Entschädigungsgesetz?

Während zwei Dutzend JournalistInnen vor dem Eingang des Privatfriedhofs Parque del Recuerdo Cordillera in Santiago vergeblich versuchten, von der mit Wachpersonal abgeschirmten Beerdigungszeremonie Aufnahmen zu machen, nutzte Rogelio Benavides die Gunst der Stunde: Der Generalsekretär der Nationalsozialistischen Partei Chiles stieg mit einer Hakenkreuzbinde am Arm aus seinem Auto und hielt vor der Presse eine längere Lobesrede auf Paul Schäfer. „Paul Schäfer hat viel Gutes getan. Vorwürfe wegen Kindesmissbrauch sind heutzutage doch einfach vorzubringen, da reicht die Aussage eines Kindes und in 80 Prozent der Fälle wird der Beschuldigte verurteilt“. Den skurrilen Auftritt des Neonazis kommentierte ein Pressevertreter: „Ist dies das letzte Theaterstück Schäfers?“
Auf dem Friedhof waren nur Wenige: Seine Adoptivtochter Rebeca Schäfer, Peter Schmidt und Mathias Gerlach, die Schäfer acht Jahre lang in Argentinien versteckten und dafür zu Bewährungsstrafen verurteilt wurden. Auch Luis Sotomayor, Schäfers langjähriger Anwalt, kam mit seiner Frau.
Dem Begräbnis vorausgegangen war eine Debatte unter den BewohnerInnen des ehemaligen Geländes der Colonia Dignidad, das heute Villa Baviera heißt, ob Paul Schäfer auf dem siedlungseigenen Friedhof begraben werden solle. An dieser nahmen auch jene BewohnerInnen teil, die in den dutzenden noch offenen Prozessen gegen die ehemalige Führung der Kolonie auf der Anklagebank sitzen.
„Wir werden nicht mit Paul Schäfer sterben, wir werden ihn nicht in der Villa Baviera beerdigen“ sagte Martin Matthussen auf einer Pressekonferenz nach der Sitzung. Er ist der Sohn des verstorbenen ehemaligen Führungsmitglieds Alfred Matthussen und leitet heute die Lebensmittelsparte PRODAL. Das Unternehmen ist Teil des so genannten ABC- Aktienholdings, das gegründet wurde um die von Präsident Aylwin 1991 erlassene Auflösung der Rechtspersönlichkeit Colonia Dignidad zu umgehen. Die Kolonie ist jedoch nicht nur in der Lebensmittelsparte aktiv: Eine Steinbruchanlage und ein Tourismusangebot mit Restaurants und Hotels sind weitere Bestandteile der Gesellschaften, deren Eigentum zu ungleichen Teilen auf verschiedene SiedlerInnen verteilt wurde. Einige BewohnerInnen verfügen über größere Aktienanteile, andere wiederum gingen ganz leer aus.
Etwa 150 Personen leben heute noch in Villa Baviera. Sie waren TäterInnen oder Opfer im kriminellen Sektensystem Colonia Dignidad, manchmal auch beides zugleich. Viele sind RentnerInnen, die von der Gemeinschaft mitgetragen werden. Denn über 40 Jahre wurden in der Kolonie für härteste Arbeit keine Löhne gezahlt und so auch keine Rentenansprüche erworben.
Unterstützt wird Villa Baviera seit einigen Jahren durch ein Programm des Auswärtigen Amtes, das auf Basis eines Bundestagsbeschlusses der Deutschen Botschaft in Santiago 250.000 Euro pro Jahr für „Eingliederungsmaßnahmen (soziale und wirtschaftliche Einbindung) in die chilenische Gesellschaft“ zur Verfügung stellt: Die Gesellschaft für Technische Zuisammenarbeit (GTZ) schult Führungskräfte der Unternehmen und bietet Fortbildungen an, ein Therapeutenteam leistet Konflikt- und Traumabewältigung und über das deutsche Lehrerbildungsinstitut Santiago werden die LehrerInnen der Siedlungsschule pädagogisch beraten. Zudem versucht ein Pfarrer der Evangelischen Kirche Deutschlands durch ein seelsorgerisches Angebot dem freikirchlichen Sektenprediger Ewald Frank von der Freien Volksmission Krefeld entgegenzuwirken. Frank war kurz nach der Festnahme Schäfers in die Villa Baviera gereist, um eine Massentaufe durchzuführen und neuer spiritueller Anführer der Gemeinschaft zu werden. Während die in der Villa Baviera gebliebenen BewohnerInnen die Firmen und Ländereien der ehemaligen Colonia Dignidad bewirtschaften, die durch unbezahlte Arbeit der SiedlerInnen und kriminelle Geschäfte der Sekte angehäuft wurden, stehen viele Opfer der Sekte mit leeren Händen da. Dutzende jüngerer Leute haben Villa Baviera in den letzten Jahren verlassen, viele weil sie es nicht mehr aushielten mit ihren ehemaligen Folterern zusammenzuleben. Diese Menschen sind nun ohne staatliche Unterstützung auf sich selbst angewiesen. Entschädigungsklagen vor chilenischen Gerichten liefen bislang ins Leere. „Der Tod Paul Schäfers verhindert eine weitere Strafverfolgung, da es auf dieser Welt keine Strafverfolgung Toter gibt. Jedoch wissen wir alle, dass es eine Gerechtigkeit gibt, die nie endet: die göttliche Gerechtigkeit“, erklärte der chilenische Präsident Sebastian Piñera, als er auf den Tod Schäfers angesprochen wurde.
Mehrere dutzend Verfahren werden noch heute vor chilenischen Gerichten gegen Mitglieder der Sektenführung verhandelt. Die meisten Prozesse werden von Sonderrichter Jorge Zepeda geführt. Die Anklagen lauten unter anderem auf Entführung, Folter und Verschwindenlassen chilenischer Diktatur-GegnerInnen, Vergewaltigung und Missbrauch von Kindern, Zwangsarbeit, „missbräuchliche Behandlung mit Elektroschocks und Psychopharmaka“, Betrug sowie Bildung einer kriminellen Vereinigung. Oftmals gibt es bereits erstinstanzliche Urteile, deren Vollstreckung jedoch bis zur letztinstanzlichen Rechtsprechung ausgesetzt wird. Viele der Prozesse ziehen sich bereits seite mehr als zehn Jahren in die Länge. Der Tod Schäfers bedeutet die endgültige Einstellung derjenigen Gerichtsprozesse, in denen Schäfer der einzige Angeklagte ist. Dies ist jedoch nur in den wenigsten der Verfahren der Fall. Im Mai begann in Talca der Berufungsprozess wegen Vergewaltigung und Missbrauch von Kindern, 14 Jahre nach dem Einreichen der Strafanzeigen. In erster Instanz wurde Paul Schäfer in diesem Prozess zu 20 Jahren Haft verurteilt, 22 seiner Komplizen aus der Sektenführung wurden wegen Beihilfe zu Strafen bis zu fünf Jahren Haft verurteilt. Sollten diese Strafen vom Berufungsgericht bestätigt werden, müsste ein Großteil der ehemaligen Führungsriege der Siedlung ins Gefängnis. Jedoch haben, wie schon immer in der 50-jährigen Geschichte der Sekte, die Angeklagten ein üppig besetztes Rechtsanwaltsteam engagiert, das den Prozess durch verschiedenste Rechtsmittel in die Länge zieht. Acht Anwälte vertreten derzeit die Angeklagten – die Klägerseite wird lediglich durch den Rechtsanwalt Hernán Fernández vertreten, der von einem Anwalt des Staatsverteidigungsrates (CDE) und einer Anwältin der staatlichen Kinderschutz-Behörde (SENAME) unterstützt wird.
In Deutschland ermittelt die Staatsanwaltschaft Bonn auch heute noch gegen mehrere Mitglieder der Sektenführung, ohne dass es zu Gerichtsverfahren gekommen wäre. Viele der Sekte vorgeworfenen Taten sind bereits verjährt, laut Staatsanwaltschaft bestehen aus strafrechtlicher Sicht keine Anhaltspunkte für begangene Straftaten, viele der Vorwürfe seien nicht mit gerichtsverwertbaren Beweisen belegt. In den letzten drei Jahrzehnten haben die deutsche und chilenische Justiz eine Vielzahl von Rechtshilfeersuchen ausgetauscht, ohne dass dies die Strafverfolgung der Sektenführung befördert hätte. Gleichzeitig haben in den letzten Jahren mehrere in Chile angeklagte ehemalige Führungsmitglieder das langsame Mahlen der Justiz dafür genutzt, sich trotz chilenischer und internationaler Haftbefehle nach Deutschland abzusetzen. Denn Deutschland liefert keine deutschen Staatsbürger ins Ausland aus. Lilli Nill, Ernst Schreiber, Hans Riesland und Reinhard Döring werden von der chilenischen Justiz gesucht und leben seit einigen Jahren unbehelligt in Deutschland. Uwe Cöllen und Edith Malessa sind bereits zu Haftstrafen wegen Verschleierung des Kindesmissbrauchs von Paul Schäfer verurteilt und haben sich ebenfalls nach Deutschland abgesetzt. Das hohe Führungsmitglied der Sekte Albert Schreiber verstarb 2008 in Krefeld. Anwalt Hernán Fernández empfindet das als einen Skandal. Piñeras Ruf nach göttlicher Gerechtigkeit hält er entgegen: „Es ist Zeit für eine umfangreiche Aufarbeitung in Form eines Entschädigungsgesetzes für die Opfer und einem Schuldeingeständnis der Staaten Chile und Deutschland, die jahrzehntelang zugesehen haben wie auf dem Koloniegelände Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt wurden.“

Kasten:
Der Fall Paul Schäfer
Paul Schäfer, der Gründer und jahrzehntelange Chef der deutschen Siedlung Colonia Dignidad in Chile, wurde am 4. Dezember 1921 in Troisdorf bei Köln geboren. Als Kind verlor er ein Auge, weswegen er im zweiten Weltkrieg nicht Soldat, sondern Sanitäter in Frankreich wurde. Er gehörte nie der SS an, wie jahrzehntelang von der Presse behauptet wurde. Paul Schäfer war ein genialer Manipulator, der es verstand, seine Identität nach Belieben zu retouchieren.
Ab 1948 war er Jugendpfleger, Erzieher oder Heimleiter, wurde aber stets wegen seiner sexuellen Übergriffe auf Minderjährige entlassen. 1954 spaltete sich Schäfer mit einigen Anhängern vom Bund evangelisch-freikirchlicher Gemeinden ab und gründet die Sekte Private Soziale Mission.
1960 ermittelte die Staatsanwaltschaft gegen ihn wegen Kindesmissbrauchs. Er floh daraufhin 1961 mit etwa 200 AnhängerInnen, darunter vielen Kindern aus getrennten Ehen, nach Chile. Die Gruppe kaufte ein abgelegenes Stück Land, das als Colonia Dignidad bekannt wurde. Das Gut war nach außen abgeschlossen. Erzwungene Beichten, körperliche Strafen und zwangsweise verabreichte Medikamente erzeugten einen großen Innendruck. Schäfer war der unumschränkte Herrscher über dieses kleine Reich. Seine Privatsekte war 50 Jahre lang intakt und besteht in Bruchstücken heute weiter.
Schäfer missbrauchte täglich kleine Jungen, verbot jedoch sexuelle Kontakte zwischen den übrigen BewohnerInnen. Selbst Ehepaare mussten getrennt leben. Immer wieder versuchten SiedlerInnen zu fliehen, wurden aber wieder zurückgebracht und mit Prügeln und monatelanger Zwangsmedikamentierung bestraft. 1966 löste die Sekte den ersten großen Skandal aus, als dem Jugendlichen Wolfgang Müller die Flucht gelang und er über Misshandlungen berichtete.
Als der Sozialist Salvador Allende 1970 zum chilenischen Präsidenten gewählt wurde, fürchteten die stark antikommunistischen deutschen SiedlerInnen eine Enteignung. Militante RechtsextremistInnen bereiteten Allendes Sturz vor und gründen die Bewegung Patria y Libertad, die sich der Infrastruktur der Colonia Dignidad bediente. Auf diese Weise bekam die Sekte einen rechtsextremen Einschlag und fand Verbindungen zu nach Chile geflohenen deutschen HitleranhängerInnen.
Mit dem Putsch des chilenischen Militärs am 11. September 1973 wurde Schäfers Sekte zur politischen Verbrecherorganisation und zu einem Teil des chilenischen Militärstaates. Schäfer konnte sich auf Pinochet verlassen und dieser sich auf Schäfer.
1974 besuchte Pinochet die Siedlung. Die Colonia Dignidad kaufte Land hinzu, baute ihre Wirtschaftsunternehmen aus und integrierte sich in den Militärstaat.
Die Beziehungen zur deutschen Botschaft in Santiago waren während der härtesten Repressionsjahre gut. Der BND nutzte die Colonia Dignidad, um chilenische RegimegegnerInnen auszuspionieren, die in die deutsche Botschaft geflüchtet waren und um Asyl in Deutschland ersuchen wollten.
Ab Ende 1973 nutzte der chilenische Geheimdienst DINA die Colonia Dignidad als Folterschule und geheimen Haftort. Viele Gefangene verschwanden dort. Chilenische Militäreinheiten operierten von der Siedlung aus gegen angebliche Gueriller@s, die tatsächlich aber wehrlose Gefangene waren, die ermordet wurden.
Im März 1977 berichtete Amnesty International über das Folterlager in der Siedlung. Die deutsche Botschaft in Santiago reagierte auf den Bericht dadurch, dass Botschafter Strätling die Siedlung besuchte, sich von Schäfer herumführen ließ und sie dann von den Vorwürfen freisprach. Die Colonia Dignidad klagte gegen Amnesty und löste den längsten Zivilprozess in der Geschichte der Bundesrepublik aus. Amnesty gewann erst 1997.
1990 feierte die Colonia Dignidad mit einem Festakt ihr dreißigjähriges Bestehen. In diesem Jahr endete Pinochets Herrschaft; Schäfer aber herrschte noch weitere acht Jahre über seine Sekte. Zwar erkannte im Februar 1991 die chilenische Regierung der Sekte die juristische Person ab, faktisch aber blieb sie bestehen.
Schäfers Stellung wurde erst gefährdet, als ihn 1996 mehrere chilenische Eltern wegen sexuellen Missbrauchs ihrer Kinder verklagten. Die chilenische Justiz stellte einen Haftbefehl gegen Schäfer aus. Dieser verbarg sich erst in der Siedlung und baute dann ein Netz von Fluchtorten in- und außerhalb Chiles auf.
Erst 2005 konnte Schäfer in seinem argentinischen Versteck verhaftet werden, sieben Jahre nach der Verhaftung Pinochets in London. Seine AnhängerInnen hatten ihm Schweigen gelobt. Vielleicht reden sie nun. In der Siedlung gibt es unentdeckte Massengräber von chilenischen politischen Gefangenen. Das ins Ausland verschobene Schwarzgeld, das viele Millionen umfasst, könnte für die Entschädigung der Opfer verwendet werden.
// Dieter Maier und Jan Stehle

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