Wahlen inmitten der Sicherheitskrise

Ecuadors Nationalversammlung Wer hier einzieht, muss sich auf einiges gefasst machen (Foto: Cristian Medina, CC BY-SA 2.0)

Absehbar war das Ergebnis der Wahlen am 20. August nicht, da die 18 Millionen Ecuadorianer*innen außerplanmäßig zu den Urnen gerufen worden waren. Der noch amtierende Präsident und Banker, Guillermo Lasso, hatte im letzten Jahr immer mehr an Zustimmung verloren. Das haben die Kommunalwahlen und das Scheitern einer Volksbefragung zur Bestätigung seiner Politik im Februar deutlich gezeigt. Als Reaktion auf ein Amtsenthebungsverfahren wegen Vorwürfen der Unterschlagung und des Verlusts der politischen Handlungsfähigkeit löste er schließlich im Mai dieses Jahres das Parlament auf. Dafür nutzte er ein Instrument aus der Verfassung, das ihm unter bestimmten Voraussetzungen die gleichzeitige Auflösung des Parlaments und einen Rücktritt vom Amt des Präsidenten ermöglicht. Damit wurden Neuwahlen für die Exekutive und Legislative ausgelöst, denn das Fortbestehen eines politischen Schwebezustandes hätte dem Staat in seinem inneren Machtgefüge geschadet.

Ecuador befindet sich in einer massiven Sicherheitskrise, die sich in den letzten Jahren immer weiter verschärft hat. Seit 2021 etablierten sich die internationalen Drogenkartelle auch in Ecuador, erkennbar unter anderem an der Zunahme von Massakern in Gefängnissen. Bis dahin war Ecuador ein Land, das nicht durch Unsicherheit und Gewalt auffiel, da es für Kartelle als Transitland relativ uninteressant war. Das hat sich nun geändert. Ecuador liegt zwischen Peru und Kolumbien, den größten Kokainproduzenten der Welt, und ist nun nach Angaben der Vereinten Nationen zum größten Umschlagplatz für Kokain geworden. Die Kartelle in Ecuador sind keine rein lokalen Akteure, wie sie seit den 80er Jahren in Mexiko und seit den 90er Jahren in Kolumbien aktiv sind. Es handelt sich vielmehr um internationale, teilweise auch mexikanische oder europäische Akteure, die sich ihre Transportrouten sichern wollen. Dafür sind vor allem die Häfen, besonders Guayaquil, von Bedeutung. Mit 3.568 Morden allein in den ersten sechs Monaten 2023 ist Ecuador inzwischen eine der gefährlichsten Regionen der Welt. Dies geht auch einher mit Attentaten auf Politiker*innen. Neben dem Präsidentschaftskandidaten Fernando Villavicencio wurden auch die Bürgermeister Augustin Intriago und Pedro Briones erschossen. Dabei ging es weniger um deren politische Orientierung, sondern eher um eine Machtdemonstration der Kartelle, um die Staatlichkeit und die Regierung an sich anzugreifen.

Internationale Drogenkartelle lassen die Gewalt eskalieren

Die enorme Zunahme von Gewalt und die Etablierung von parastaatlichen Strukturen stellt eine massive Herausforderung für die politischen Institutionen da, die darüber hinaus schon länger mit Korruption zu kämpfen haben. Antworten auf eine solche Situation zu finden und der Bevölkerung wieder Hoffnung zu geben, sind die schwierigen Aufgaben, denen sich der*die neue Präsident*in stellen muss.

So standen am 20. August acht Kandidat*innen zur Wahl für die Präsidentschaft. Die beiden Bestplatzierten, Luisa Gonzáles und Daniel Noboa, gehen nun am 15. Oktober in eine Stichwahl um das Amt. Luisa Gonzáles ist die erste Frau, die es in Ecuador jemals in eine Stichwahl geschafft hat. Sie kandidiert für die Partei Revolución Ciudadana (Bürgerrevolution) des ehemaligen Präsidenten Rafael Correa. Die Juristin holte mit rund 33 Prozent der Stimmen den Sieg, ob sie es auch in der Stichwahl schafft, ist jedoch unklar. Mit ihr im Rennen ist Daniel Noboa, der für eine liberale Unternehmergeneration steht und mit 24Prozent der Stimmen überraschte. Der Name Noboa erscheint auf Wahlzetteln zur Präsidentschaft in Ecuador dabei nicht zum ersten Mal, denn sein Vater, der erzkonservative Unternehmer Álvaro Noboa, hatte bereits 1998, 2002, 2006, 2009 und 2013 kandidiert und jedes Mal verloren. Christian Zurita, der die Kandidatur vom ermordeten Fernando Villavicencio übernahm, belegte Platz drei und verfehlte damit die Stichwahl.

In Ecuador schien es bisher bei jeder Wahl eine ideologische Bipolarität gegeben zu haben, in der sich die Wähler*innen für oder gegen den „Correismo“ zu entscheiden hatten. Rafael Correa, regierte Ecuador zwischen 2007 und 2017 und ist nach wie vor in den politischen Debatten präsent. Seit einigen Jahren kann er diese jedoch nur noch indirekt beeinflussen, durch Einwirken auf seine Partei oder über Social Media, nachdem er nach Belgien emigriert ist, um einer 8-jährigen Haftstrafe wegen Korruption zu entgehen. Viele der nun ausgeschiedenen Kandidaten haben ihre Unterstützung für Noboa verkündet, doch der*die neue Präsident*in hat nur eine kurze Amtszeit vor sich, da die nächsten Wahlen regulär im Mai 2025 stattfinden.

Der Einfluss Correas ist noch groß

Zudem ist die Parteienlandschaft Ecuadors unübersichtlich und verwirrend. Spaltungen, neue Bündnisse und Umbenennungen von Parteien und Koalitionen zu jeder Wahl machen einen Vergleich und eine Analyse fast unmöglich. Vor diesem Zusammenhang steht die linke Partei Revolución Ciudadana als größte politische Kraft einer Mehrheit aus konservativen Parteien in der Nationalversammlung mit insgesamt 137 Plätzen gegenüber.

Große Herausforderungen erwarten die Nationalversammlung und die*den zukünftige*n Präsident*in. Ein Weg aus der Sicherheitskrise heraus, institutionelle Stabilität und die Bekämpfung von Korruption sind nur die Spitze des Eisbergs. Wer das Rennen im Oktober um die Präsidentschaft machen wird, ist dabei nur eine der offenen Fragen. Wie der*die neue Präsident*in es schafft, Vertrauen in Politik, Staat und Institution wiederherzustellen eine andere. Diese ist aber ebenso wichtig, da die Akzeptanz autoritärer Regierungsformen in der Bevölkerung aufgrund von Enttäuschung über politische Unzuverlässigkeit und Angst in Bezug auf die zunehmende Gewalt zunimmt.

HERBE SCHLAPPE FÜR PRÄSIDENT LASSO

„Die Kandidaten von Correa” Wahlplakat der Revolución Ciudadana (Foto: Eva Gertz & Teresa Ellinger)

Im Mai nehmen sie ihre Arbeit auf: Die Präfekt*innen der 24 Provinzen, Bürgermeister*innen der 221 Kantone und 1527 Stadträt*innen, die in Ecuador am 5. Februar gewählt wurden. Die Funktionsträger*innen bilden die neuen, dezentralen autonomen Regierungen auf Provinz- und Lokalebene. Das politische System Ecuadors sieht neben der üblichen Gewaltenteilung von Judikative, Legislative und Exekutive noch zwei weitere Instanzen vor; den Bürger*innen-beteiligungsrat, für den sieben neue Mitglieder gewählt wurden und die nationale Wahlbehörde, die die Wahl organisiert.

In den Tagen vor der Wahl dominierte der Wahlkampf das öffentliche Leben in Ecuador. Werbeveranstaltungen, Informationsstände und kleine Demonstrationen der Parteien stauten den Verkehr, Plakate und Fahnen schmückten Hauswände und Landstraßen. Hausbesuche der Kandidat*innen in den jeweiligen Landkreisen, Sachspenden und finanzielle Angebote waren weitere Strategien im Werben um Wähler*innen. Auch aus entlegenen Ortschaften reisten die Menschen in die zuständigen Wahlzentren, denn es gibt eine Wahlpflicht für 18 bis 64-jährige Bürger*innen.

In Ecuador ist die Parteienlandschaft fragmentiert. Für Wahlen finden sich verschiedene Parteien zu Listen und Bündnissen zusammen, die oft nur temporär Bestand haben. Auch ist es üblich, dass einzelne Politiker*innen die Partei wechseln, sich Parteien aufteilen oder neugründen. Der Wahlkampf konzentrierte sich auf einzelne Kandidat*innen und Wahlplakate enthalten kaum Informationen über deren inhaltliche Ausrichtungen.

Für Lassos Partei CREO brachten die Wahlen erhebliche Verluste. CREO verlor auch die letzte Provinz, in der sie noch vertreten war, und erhielt keine einzige Präfektur. Zusätzlich scheiterte das zeitgleiche Referendum des Präsidenten in allen Punkten. Dagegen konnte die Partei Revolución Ciudadana (RC), die dem früheren Präsidenten Rafael Correa nahesteht, gleich neun Provinzen für sich gewinnen und stellt ab Mai die Bürgermeister der beiden größten Städte. Guayaquil, eine wichtige Hafenstadt in der Küstenregion Ecuadors, war bisher fest in den Händen des Partido Social Cristiano (PSC), der im Vergleich zu den vergangenen Lokalwahlen 2019 sechs Provinzen verlor. Mit Aquiles Álvarez tritt nach 30 Jahren das erste Mal ein Vertreter der RC das Bürgermeisterinnenamt an. Mit 25 Prozent der Stimmen wurde Pabel Muñoz von der RC zum neuen Bürgermeister von Quito gewählt. Er hatte sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit dem 2021 gerichtlich aus dem Amt enthobenen Jorge Yunda (Pachakutik) geliefert. Die Partei der Indigenen Organisationen, Pachakutik, gewann eine Provinz dazu und ging mit sechs Provinzen als zweitstärkste Kraft aus den Wahlen hervor.

Massiver Vertrauensverlust in Lassos Politik

„Gründe für das schlechte Ergebnis der amtierenden Regierung und den massiven Vertrauensverlust in die Politik sind die gesellschaftliche Situation der vergangenen Jahre sowie die Unfähigkeit der Regierung, die Forderungen aus der Bevölkerung zu beantworten“, sagte Politikwissenschaftlerin Maria Rosa Zury in einer Gesprächsrunde zu den Wahlergebnissen der Organisation La Raíz. Die Pandemie stürzte das Land in eine fatale Gesundheitskrise, in der der Zugang zu Medikamenten nicht gesichert werden konnte. Zudem gibt es eine massive Sicherheitskrise, die zu über 400 Toten in den Gefängnissen als Resultat von Zusammenstößen konkurrierender Drogenbanden geführt hat. Ein weiterer trauriger Indikator für die zunehmende Gewalt und Unsicherheit ist die Ermordung des Bürgermeisterkandidaten der RC, Omar Méndez, in Puerto López in der Küstenregion Manabí.

Referendum Wahlplakate in Ecuador (Foto: Eva Gertz & Teresa Ellinger)

Bereits vor der Pandemie hatten Korruptionsfälle, soziale Ungleichheit und Armut vor allem im ländlichen Raum zugenommen. Regierung und die politische Sphäre im Allgemeinen haben an Rückhalt und Glaubwürdigkeit verloren. Die Unfähigkeit, erfolgreiche Lösungen für die Krisen im Land zu präsentieren und umzusetzen, führte zu einem grundsätzlichen Misstrauen in die Regierung und dem Wunsch nach schnellen und sichtbaren Veränderungen. So wird nur das, was tatsächlich schnelle Verbesserung von Situationen herbeiführt, durch die Wählerschaft belohnt; es gebe keinen Vertrauensvorschuss auf langfristige Strategien und eine zukünftige Verbesserung der Situationen, so Zury. Das begünstigt kurzfristige Angebote und Entscheidungen und birgt die Gefahr, nachhaltige Strategien zu vernachlässigen.

Das starke Ergebnis der RC ist eine klare Positionierung der Bevölkerung gegen die aktuelle Regierung. So wird die RC, neben der indigenen Bewegung, im öffentlichen Diskurs als einzige Opposition zur neoliberalen Politik des aktuellen Präsidenten wahrgenommen. Der Zuspruch für den Correismus kann auch als nostalgische Haltung verstanden werden, so Historiker Fernando Muñoz-Miño in der Gesprächsrunde von La Raíz. So waren einige der Errungenschaften in Correas Amtszeit die Stabilisierung der politischen Institutionen und ein messbarer Rückgang der Armut. Trotz Kontroversen und Korruptionsvorwürfen gegen Rafael Correa scheint die RC der Bevölkerung aktuell mehr politische Perspektive zu bieten als die amtierende Regierung.

Präsident Lasso wollte seinen schwindenden Einfluss ebenfalls am 5. Februar durch ein Referendum stoppen. Dieses bestand aus acht Fragen zu vier Themenblöcken: Sicherheit, Nationalversammlung und politische Parteien, Staatsgefüge und Umwelt. Bei Zustimmung wären die jeweiligen verfassungsändernden Vorschläge bindend gewesen, auch bei Einwänden durch die Nationalversammlung.

Frage 1 schlug die Auslieferung von ecuadorianischen Staatsbürger*innen bei grenzüberschreitenden Straftaten vor. Aufgrund des anhaltenden Anstieges organisierter Gewalt wurde diese Frage im Vorfeld des Referendums besonders stark diskutiert. Durch eine Justizreform (Frage 2), die Verkleinerung der Nationalversammlung (Frage 3) und Mindestanforderungen in der Mitgliederzahl von Parteien (Frage 4) sollten Transparenz und Effizienz in der Regierung gefördert, sowie Unterhaltskosten für Abgeordnete eingespart werden. Frage 5 und 6 sollten den Bürger*innenbeteiligungsrat schwächen und wichtige Kontrollfunktionen an die Nationalversammlung abgegeben. Konkret ging es hierbei um die Kontrolle über öffentliche Finanzen, die Wahl von Richter*innen und die Durchführung von Referenden. In Frage 7 und 8 wurde die Sicherstellung von Entschädigung für Umweltschäden und die Einführung einer nationalen Wasserschutzbehörde vorgeschlagen, die dem Staat mehr Befugnisse und Verantwortung zuschreibt.

Der Correísmo meldet sich zurück

Vor der Abstimmung dominierte die Kampagne für das „Ja“ den öffentlichen Diskurs der traditionellen Medien. In populistischer Manier deklarierte Lasso die Ablehnung der Fragen als antipatriotisch und diffamierte so den politischen Diskurs. Erst ein wenig später tauchten Kampagnen für das „Nein“ auf, zuerst an Häuserwänden, dann zunehmend auch auf Social Media. Die Gegenkampagne wurden maßgeblich von Anhänger*innen des Correísmo, der politischen Strömung, die durch den ehemaligen Präsidenten Rafael Correas geprägt wurde, organisiert. Auch der indigene Dachverband CONAIE gehört zu den wenigen politischen Akteur*innen, die sich klar gegen die acht Punkte des Referendums positionierten. In Anbetracht der Dominanz der medialen Öffentlichkeit ist die eindeutige Ablehnung überraschend. In jeder einzelnen der acht Fragen gewann das „Nein“.

Das Ergebnis des Referendums ist zum einen Ausdruck des Unmuts über die Politik Lassos. Leonidas Isa Salazar, Präsident der CONAIE, sagte in einer Pressekonferenz nach den Wahlen, dass er das „Nein“ als Antwort derer verstehe, die unter der neoliberalen Politik der Regierung leiden. Als weiterer Grund für die Ablehnung zählt die schwer verständliche Formulierung und Komplexität der Fragen, die einem geringen Informationsangebot gegenüberstanden. Außerdem spielte die inhaltliche Ablehnung der Vorschläge, sowie eine grundsätzliche Skepsis, ob diese positive Veränderungen bewirken könnten, eine große Rolle.
Die politische Krise in Ecuador hält an. Präsident Lasso hat endgültig den Rückhalt der Bevölkerung verloren. Die miserablen Wahlergebnisse seiner Partei CREO sowie die fehlende Mehrheit im Parlament werden Lassos politische Handlungsfähigkeit erheblich einschränken. Ob er auf dieser Grundlage sein Amt bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen 2025 behalten kann, ist ungewiss. Eine wichtige Rolle werden seine Beziehungen zu Polizei und Militär spielen, die eine wichtige Stütze in der Machtausübung Ecuadors sind. Die Ergebnisse der Lokalwahlen lassen die erstarkte politische Linke wieder als eine ernstzunehmende Konkurrenz erscheinen. Jedoch teilt sich die Linke in eine national populäre Strömung (RC) und eine plurinationale, ökologische Vertretung indigener Interessen (Pachakutik). Dies könnte Platz für neoliberale und konservative Kräfte machen, wie es in der Geschichte Ecuadors bereits geschah, erklärt Muñoz-Miño.

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