Kandidat_innen ohne Konzepte

Der 11. Mai 2012 wird bereits jetzt als „schwarzer Freitag“ für den in Umfragen weiterhin führenden Präsidentschaftskandidaten der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI), Enrique Peña Nieto, bezeichnet. Bei einem Wahlkampfauftritt an der Iberoamerikanischen Universität in Mexiko-Stadt rechtfertigte er einen verheerenden Polizeieinsatz in Atenco von 2006 während seiner Amtszeit als Gouverneur des Bundesstaates Mexiko, bei dem Protestierende und Unbeteiligte angegriffen, zwei Jugendliche erschossen, unzählige Personen verletzt und sogar vergewaltigt wurden. Als er daraufhin vor erbosten Studierenden, die ihn als Mörder bezeichneten, durch einen Hintereingang regelrecht fliehen musste, warf er den Protestierenden vor, bezahlte Mitglieder anderer Parteien zu sein. 131 Studierende wiesen den Vorwurf umgehend in einem Youtube-Video zurück. Unter dem Twitter-Slogan „#YoSoy132“ (etwa: Ich bin die Nummer 132) folgten in Anlehnung an die 131 Studierenden ein Protestmarsch in Mexiko-Stadt mit über 15.000 Teilnehmer_innen. Die Bewegung fordert eine Demokratisierung der mexikanischen Medien, das Recht auf freie Information und eine unvoreingenommene Wahlberichterstattung, stellt sich jedoch explizit nicht hinter eine bestimmte Partei oder deren Kandidat_innen. Welche Auswirkungen „#YoSoy132“ auf den Ausgang der Wahl haben wird, kann zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingeschätzt werden. Einen Erfolg konnte die Bewegung aber bereits verbuchen: Neben TV Azteca hat auch der größte Fernsehsender Televisa der Forderung nachgegeben, die zweite Fernsehdebatte der Kandidat_innen am 10. Juni auf den Kanälen mit den höchsten Einschaltquoten zu übertragen.
Im Schatten dieser Ereignisse droht den mexikanischen Streitkräften der größte Korruptionsskandal und die schwerste Krise ihrer jüngeren Geschichte. Mitte Mai wurden die ehemaligen Generäle Tomás Ángeles Dauahare, vor wenigen Jahren noch stellvertretender Verteidigungsminister, Ricardo Escorcia Varga, der aktive Brigadegeneral Roberto Dawe González sowie der Oberstleutnant a.D. Silvio Isidro de Jesús Hernández Soto festgenommen und eine 40-tägige Untersuchungshaft gegen sie verhängt. Ihnen werden Verbindungen zum Organisierten Verbrechen vorgeworfen. Nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft sind weitere Festnahmen nicht ausgeschlossen, gegen mehrere Militärs sowie Beamte der Bundespolizei wird wohl ermittelt.
Vor allem die Festnahme von Ángeles Dauahare hat einige Beobachter_innen überrascht. Er gilt als einer der einflussreichsten Militärs der letzten Jahrzehnte. Der heute 70-Jährige war Militärattaché der mexikanischen Botschaft in Washington, persönlicher Sekretär von Verteidigungsminister Enrique Cervantes Aguirre (1994 – 2000) und in dieser Eigenschaft Repräsentant der Streitkräfte bei den „Friedensgesprächen“ von San Andrés zwischen Regierung und der Zapatistischen Befreiungsarmee (EZLN). Ángeles Dauahare war 1997 aktiv an der Verhaftung und Verurteilung des Generals Jesús Gutiérrez Rebollo beteiligt, dem damaligen Antidrogen-Zar, der in Wahrheit aber für Amado Carrillo Fuentes arbeitete, den legendären Gründer des Juárez-Kartells, der wegen seiner Luftflotte, die Drogen in die USA transportierte, auch „El Señor de los cielos“ (Herr der Lüfte) genannt wurde. Zudem wirkte er an der später annullierten Verurteilung von General Mario Arturo Acosta Chaparro wegen Verbindungen zum Drogenhandel mit. Acosta Chaparro, einer der Hauptverantwortlichen des sogenannten „schmutzigen Krieges“ gegen die linke Opposition in den 1970er Jahren, dem zahlreiche Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, für die er nie belangt wurde, war Ende April am helllichten Tage in Mexiko-Stadt erschossen worden. Bisher wurde niemand wegen der Tat festgenommen.
Ángeles Dauahare war zuletzt am 9. Mai auf einem von der PRI-nahen Colosio-Stiftung veranstalteten Forum zu Nationaler Sicherheit & Recht in San Luís Potosí aufgetreten, bei dem Peña Nieto anwesend war. Der General kritisierte dort öffentlich die Strategie von Präsident Felipe Calderón im „Krieg gegen die Drogen“. Es fehlten konkrete Zielsetzungen. Auch trat er für die Schaffung eines neuen Polizeikörpers oder einer nationalen Gendarmerie ein, eine Idee, die auch Peña Nieto vertritt. In der mexikanischen Presse wurde spekuliert, Ángeles Dauahares Festnahme könnte ein Versuch sein, den Kandidaten der PRI zu diskreditieren. Die Generalstaatsanwaltschaft dementierte dies. Die Festnahmen „haben keinen politischen Hintergrund, noch besteht irgendeine Beziehung zum laufenden Wahlkampf oder den beteiligten Kandidaten“.
Die genauen Vorwürfe hat die Generalstaatsanwaltschaft bisher noch nicht veröffentlicht. Auch wurde bisher noch nicht formal Anklage erhoben. So bleibt vieles spekulativ. Die juristische Figur der Untersuchungshaft von 40 Tagen erlaubt es den Behörden, die Beschuldigten solange festzuhalten ohne Beweise vorlegen zu müssen oder Anklage zu erheben, wie die Untersuchungen andauern.
Einige Beobachter_innen und der Präsident selbst versuchen, die Inhaftierung der Generäle als Erfolg im Kampf gegen die Kartelle zu verkaufen. Man gehe gegen Korruption vor. Doch angesichts der Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft in der Vergangenheit oft Delikte „erfunden“, Verdächtige „fabriziert“ und Recht und Gesetz mehr als einmal als Instrument gegen politische Gegner eingesetzt hat, erscheint es keineswegs sicher, dass Anschuldigungen auch wirklich Substanz haben. Zu oft wurden in der Vergangenheit spektakuläre Festnahmen inszeniert, nach denen es danach nicht einmal bis zum Prozess kam oder die Prozesse verloren wurden.
Wie man es auch dreht, entweder wird die Staatsanwaltschaft wieder politisch instrumentalisiert, oder die Beschuldigungen erweisen sich als stichhaltig, was beweisen würde, dass auch die Streitkräfte bis in höchste Stellen unterwandert sind. Angesichts der Schlüsselrolle, die die Armee in Calderóns Drogenkrieg einnimmt, wären das fatale Aussichten. Der Präsident verteidigte hingegen die Armee und würdigte ihre „Anstrengung und patriotische Aufgabe im Kampf gegen die Drogenkartelle. Ohne die Präsenz der mexikanischen Streitkräfte wäre das Land wahrscheinlich schon in die Hände der Kriminellen gefallen“, versucht Calderón ein optimistisches Bild seiner Amtszeit zu zeichnen.
Verlautbarungen, nach denen ein Rückgang der Gewalt zu verzeichnen sei, erscheinen angesichts der Realität aber fast zynisch. Vielmehr hat seit dem offiziellen Beginn des Wahlkampfes vor zwei Monaten die Gewalt erneut zugenommen. Bei Schießereien zwischen Drogenbanden in Sinaloa gab es mehr als 30 Tote, Massaker in Tamaulipas, Jalisco und Nuevo León in den vergangenen Wochen kosteten mehr als 100 Menschenleben; hinzu kommen die Morde an vier Journalisten in Veracruz. Mexiko ist heute ein bedeutend unsichereres Land als zu Calderóns Amtsantritt; der institutionelle Zerfall, vor allem von Polizei und Justiz, und die soziale Auflösung der mexikanischen Gesellschaft sind in den vergangenen fünfeinhalb Jahren vorangeschritten. Die Armee als zentrales Element im Kampf gegen die Drogenkartelle übernimmt dabei Aufgaben, für die sie weder vorgesehen, noch ausgebildet ist. Auch verstößt ihr Einsatz in Teilen gegen die Verfassung; immer wieder kommt es zu Gesetzesüberschreitungen, Missbrauch und Menschenrechtsverletzungen. Erst Ende Mai beklagte der Jahresbericht des US-Außenministeriums, das keineswegs verdächtig ist, ein besonderer Kritiker repressiver Maßnahmen gegen die Drogenkartelle zu sein, das dritte Jahr in Folge ein Klima der Straflosigkeit durch das „Verschwinden“ von Personen, außergerichtliche Exekutionen, Folter und brutale Maßnahmen gegen Zivilpersonen durch die mexikanische Armee.
Man müsste meinen, dass angesichts der Situation die Frage um die zukünftige Sicherheitsstrategie einen zentralen Platz im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf einnimmt. Doch andere Themen dominieren. Von den Kandidaten, die sich um die Nachfolge Calderóns streiten, gibt es bisher allenfalls vage Versprechungen, die Gewalt „einzudämmen“ und das Land zu „befrieden“. Wie das geschehen soll, bleibt unklar.
Keiner der Bewerber_innen glaubt, die gegen die Kartelle eingesetzte Armee bald in die Kasernen zurückbeordern zu können. Peña Nieto, der die PRI nach zwölf Jahren zurück an die Macht führen soll, die sie mehr als 70 Jahre uneingeschränkt inne hatte – in gewisser Weise ist die Macht der Drogenkartelle ein historisches Erbe seiner Partei – will das Militär weiter in den gewalttätigsten Regionen des Landes einsetzen und zur Unterstützung eine militarisierte Polizei unter ziviler Führung schaffen. Zudem soll die Bundespolizei aufgestockt, die Polizeiausbildung verbessert, sowie das Justizsystem und die Gefängnisse modernisiert werden. Die an den Plan Colombia angelehnte Mérida-Initiative, über die US-Militärhilfe in Millionenhöhe ins Land fließt, will Peña Nieto fortsetzen. Der Schlüssel, um der Gewalt Einhalt zu gebieten, sei aber „wirtschaftliches Wachstum, um Arbeitsplätze zu schaffen“, so der PRI-Kandidat.
Die Kandidatin der regierenden konservativ-katholischen PAN, Josefina Vázquez Mota, unterstützt Präsident Calderón in seinem Feldzug gegen die Kartelle. Doch damit gewinnt man in Mexiko, das die Gewalt leid ist, keine Wahl. Sie wirkt verloren zwischen Ankündigungen, die Politik von Calderón weiterzuführen oder damit zu brechen. Eine klare Strategie hat auch sie nicht. Vázquez Mota bekräftigt immer wieder, nicht mit dem Organisierten Verbrechen zu „paktieren“; mehr als einmal hat sie angedeutet, dass die PRI genau dies getan habe, als sie noch an der Regierung war. Sie will die Armee weiter in den Straßen belassen, da eine „vertrauenswürdige“ Polizei fehlt. Parallel soll eine nationale Polizei mit 150.000 Einsatzkräften geschaffen werden. Ganztagsschulen sollen die soziale Gefüge stärken und die 32 Polizeikörperschaften der einzelnen Bundesstaaten unter einem einzigen Kommando vereinigt werden. Auch müsse die US-Regierung mehr Verantwortung übernehmen und den Drogenkonsum in ihrem Land reduzieren, so die Kandidatin der PAN.
Mit einer versöhnenden Botschaft wartet Andrés Manuel López Obrador, genannt AMLO, von der sozialdemokratischen PRD auf. Er wolle „mehr Umarmungen und weniger Kugeln“. Man müsse bei den sozialen Ursachen ansetzen, mehr Arbeitsplätze schaffen. Zudem sprach er sich für eine Legalisierung auch harter Drogen aus, wenn dies „Frieden garantiere“, eine Position, die in Lateinamerika in den vergangenen Monaten an Raum gewonnen hat. Auch er will die Armee in den Straßen belassen, solange die Polizei nicht in der Lage ist für Sicherheit zu sorgen, da bei einem Rückzug die Bevölkerung „schutzlos“ allein gelassen würde.
Alle drei Kandidat_innen wollen die endemische Korruption und Vetternwirtschaft, die als Nährboden für die Drogenbanden gilt, bekämpfen. Wie genau das geschehen soll, deuten sie nur an. AMLO beispielsweise hat vorgeschlagen, ein Ministerium für Ehrlichkeit zu schaffen. Die astronomischen Gehälter der Politiker_innen in Mexiko will er drastisch kürzen und die Einsparungen für Sozialprogramme und höhere Mindestlöhne verwenden. Der Eindruck bleibt, dass alle drei ein wenig hilflos vor dem vom aktuellen Amtsinhaber losgetretenen „Krieg gegen die Drogen“ und der überbordenden Gewalt stehen. Die Bevölkerung dringt auf mehr Sicherheit. Dafür aber sind mehr als nur gute Vorsätze nötig.

„Geht oder sterbt“

Der Horizont über dem Juáreztal ist wolkenlos, vereinzelte Raubvögel fliegen über den blauen Himmel. Man sagt, hier draußen habe selbst der Wind Angst. In der Einsamkeit der Wüste werden die Drogen Richtung USA gebracht. An Anwohner verteilte das ansässige Juárezkartell einst Flugblätter: „Geht oder sterbt.“ Viele nahmen ihre Sachen, viele wurden umgebracht. Nur der Friedhof San Rafael, 29 Kilometer von der Stadt entfernt, hat durch den Drogenkrieg mehr Besucher_innen erhalten.
Vor seinen Toren betreibt Julio Hernández einen der Verkaufsstände mit Kreuzen, Plastikblumen und Grabstatuen. „Die gesteigerte Zahl der Beerdigungen bringt jedoch nicht automatisch mehr Gewinne für uns. Oftmals werden die Toten anonym bestattet“, berichtet der Grabausstatter. „Hierhin werden viele Leichen gebracht, die niemand identifizieren konnte oder wollte.“ Hernández zeigt auf ein Feld voller anonymer Grabhügel aus roter Erde. „Manche haben nie von dem Tod ihrer Familienangehörigen erfahren. Andere fürchten, dass die, die sie umbrachten, auch an ihnen noch Rache nehmen könnten.“ Denn zu vielen Beerdigungen in den Wirren des Drogenkrieges erscheinen auch die Auftragsmörder der Kartelle.
„Einst war ein Mord hier ein Skandal“, erinnert sich Miguel Perrea, der seit Jahrzehnten als Chronist und Fotograf in Ciudad Juárez arbeitet. „Nicht immer lebten wir im Krieg. Ciudad Juaréz war ein beliebter Ausgehort für Touristen aus den USA. Am Wochenende kamen die Leute über die Grenze, um sich zu vergnügen. Im Gegensatz zu heute ging es dabei recht friedlich zu, auch wenn die Besucher_innen oft nach all dem suchten, was in den USA tabu war.“ Seit den Zeiten der Prohibition in den USA lebte Ciudad Juárez von Kabaretts, Bars und Bordellen. „Die Großväter und Urgroßväter der heutigen Narcos haben ein kleines Vermögen gemacht, als in den USA der Alkohol verboten wurde.“
Aus dem nahe gelegenen Fort Blis in Texas reisten die Soldaten an, bevor sie in die Kriege des Imperiums zogen, nach Korea, Vietnam, in den Irak. In Ciudad Juárez suchten die Männer ein letztes Mal das Vergessen in den Drogen. Diese wurden offen und mit dem Wissen der Regierung in den Häusern im Zentrum der Stadt verkauft. „Nahe dem Grenzübergang konnte man in fast jedes Haus eintreten und sich einen Schuss setzen. Doch es gab klare Abkommen, Haschisch und Heroin nur an Ausländer zu verkaufen. Sollten sich doch die Amis daran vergiften, die Mexikaner machten ihren Gewinn.“
Spätestens in den 1980er Jahren wandelte sich die staubige Wüstenstadt Ciudad Juárez vom verruchten Ausflugsort zu einer der wichtigsten Industriezonen des Landes mit der Implementierung von Freihandelsfabriken. Mit Mexikos Beitritt zum NAFTA-Abkommen intensivierte sich die Produktion in Maquilafabriken außerhalb der Stadt nochmals. Auf die Arbeitsplätze in den Freihandelszonen strömten Binnenmigrant_innen aus dem ganzen Land. Viele von ihnen waren auf ihrem Weg in die USA an der Grenze gestrandet. Im Jahr 2005 sprengte die Einwohnerzahl der ehemaligen Kleinstadt die Zwei-Millionen-Marke.
„Bedingt durch die starke Ökonomie der Freihandelszonen, war Ciudad Juárez lange Zeit eine Stadt der Einwanderer_innen. In den Maquilas wurden jedoch vor allem Frauen eingestellt“, berichtet Imelda Marufo vom Runden Tisch der Frauen in Ciudad Juárez. Sie steht vor einem der zahlreichen Industrieparks. Große geschlossene Fabrikhallen glänzen einsam in der Sonne. Nur zu Beginn der Tag- und Nachtschicht strömen hier Menschen an die Ausfallstraßen, um Busse ans andere Ende der Stadt zu nehmen. Dort, wo manche Häuser notdürftig aus Wellblech und Holz zusammengesetzt sind. „In dieser Stadt überleben nur die, die wirklich hart arbeiten. Die Menschen in Juárez haben meistens nicht nur einen, sondern zwei Jobs. Und das trotz der widrigen klimatischen Bedingungen in der Wüste.“ Im Sommer steigen die Temperaturen in Ciudad Juárez auf bis zu 40 Grad plus, im Winter sinken sie auf minus 20 Grad.
Doch die multinationalen Unternehmer interessierte nie die kulturelle und soziale Entwicklung der Stadt. „Wie ihre Angestellten in den Vorstädten lebten, war ihnen schlichtweg egal. Je ärmer und abhängiger sie von ihrer Arbeit waren, umso besser.“ Rund 60 Prozent der Straßen von Ciudad Juárez sind ungepflastert. Ein großer Teil der Häuser, die sich die kahlen Hügel in den Außenbezirken hochziehen, hat kein fließendes Wasser. Der Strom wird direkt von den Masten abgezapft. „Hier werden zwar die neuesten Produkte für die Erste Welt hergestellt – die Black Berry-Produktion ist fast vollständig in Ciudad Juárez ansässig. Doch die Menschen, die diese Black Berrys kaufen, interessiert es nicht, ob die Arbeiter_innen, die sie zusammenbauen, auch einen angemessenen Lohn dafür erhalten.“
Um vier Uhr morgens fahren die ersten Busse zu den Maquilafabriken heraus, in denen es keine gewerkschaftliche Vertretung und keine Arbeitsrechte gibt. Die Angestellten in den Maquilas verdienen 50 US-Dollar die Woche, dafür arbeiten sie 9 Stunden am Tag. Eine halbe Stunde haben sie zum Essen, 10 Minuten am Tag, um auf die Toilette zu gehen. „Die gesellschaftliche Ungleichheit ist ein fundamentales Problem in Ciudad Juárez“, konstatiert Imelda Marrufo. „Der Drogenhandel basiert auf eben dieser Armut und sozialer Ungleichheit. Die Drogenkartelle übernehmen oftmals die Aufgaben des Staates und stellen Arbeit, Infrastruktur und eine soziale Absicherung.“
Doch seitdem Präsident Felipe Calderón im Jahr 2006 den Krieg gegen die Kartelle ausrief und Militär und Bundespolizei in die Stadt Einzug gehalten haben, ist die Gewalt explodiert. Auch wenn Calderón zu regelmäßigen Wirtschaftsmessen in die Stadt lädt, wie letztmals Mitte März, wird die Maquilaindustrie durch den Drogenkrieg zurückgedrängt. „Im Jahr 2001 gab es noch 400.000 Stellen in der Stadt; 10 Jahre später sind es jetzt nur noch 300.000“, gibt Genaro Crúz, Redakteur der Tageszeitung El Diario de Juárez an. Diese verzeichneten Finanzeinbußen, da Unternehmen keine Werbung mehr in der Zeitung schalten – aus Angst vor Erpressungen und Entführungen, haben in den letzten vier Jahren dramatisch zugenommen . Nicht selten sind die in der Stadt stationierten Polizeieinheiten direkt an ihnen beteiligt.
„Im Zentrum von Ciudad Júarez stehen 25 Prozent der Geschäfte und Wohnhäuser leer. Heute gibt es in der Stadt keine Arbeit mehr. Doch gleichzeitig sind die Mauern gen USA zu sehr gewachsen, als dass die Menschen eine Zeit lang auf die andere Seite der Grenze abwandern könnten, wie dies früher der Fall war.“ Die Zwillingsstadt El Paso auf der US-amerikanischen Seite der Grenze empfängt nur die wohlhabenden Bewohner_innen der Stadt. Diese haben nun zumindest einen Zweitwohnsitz in den USA, wenn sie nicht permanent vor der Gewalt in Ciudad Juárez die Flucht ergriffen haben. Den ärmeren Bewohner_innen der Stadt bleibt nur die Rückkehr an ihre Herkunftsorte im Süden Mexikos.
„Im Juáreztal haben sich so ganze Siedlungen in Geisterstädte verwandelt“, berichtet Genaro Crúz. „In Riveras del Bravo kauften einst Maquilaarbeiter Häuser auf Kredit, bezuschusst vom mexikanischen Staat.“ Es sind kleine Reihenhäuser, die hier stehen, weit weg vom Zentrum der Stadt. Nur selten geht eine Brise um die Häuser, die Wüstensonne brennt erbarmungslos auf den Asphalt. Einst stellten sie dennoch eine beliebte Möglichkeit dar, im eigenen Haus zu leben. Doch heute muten ganze Straßenzüge der Wohnsiedlung verödet an. Zwei Drittel der ebenerdigen Häuser sind verlassen, denn als die Maquilas schlossen, konnten ihre Bewohner_innen bald nicht mehr ihre Schulden abbezahlen.
Florierende Geschäfte werden in Ciudad Juárez nur noch mit der Angst gemacht. Private Sicherheitsfirmen können steigende Gewinne verzeichnen. Doch die Menschen greifen angesichts von täglichen Morden auch auf skurrilere Schutzmethoden zurück. So ist an einer der Schnellstraßen im Inneren der Stadt eine Kultstätte der Santa Muerte entstanden, einer Heiligen in Gestalt eines Skelettes. Am Sonntag besuchen ihre Anhänger_innen in einem schwarz gestrichenen Hinterhaus die Messe und zünden Kerzen und Räucherstäbchen für sie an. „Die Santa Muerte ist eine sehr mächtige Heilige“, sagt Yolanda Salazar, die sich als Priesterin der Knochenfrau bezeichnet. Ihre Anhänger_innen, so sagt sie, kämen aus allen Schichten, Alters- und Berufsgruppen. Die meisten bäten die Heilige um den Schutz ihres Lebens und das ihrer Familie. „Es sind schlimme Zeiten“, seufzt Yolanda Salazar und streicht einer der lebensgroßen Skelettstatuen den Umhang glatt.

Schattenmacht der Kartelle

Diesem Bild des narcotráfico in Mexiko begegnet das im Verlag Assoziation A erschienene Buch NarcoZones – Entgrenzte Märkte und Gewalt in Lateinamerika entschieden. Bereits im Vorwort wird deutlich, dass die Sicht auf die Kartelle als klassische „Drogenmafia“ zu kurz greift und der Handel mit Rauschmitteln nur noch einen Teil ihrer Gewinne der Organisationen ausmacht. So ist der Drogenkrieg zum Ringen um Kontrolle und Macht auf den Gebieten des Drogen-, Waffen-, Menschen- sowie Raubkopienhandels geworden, verbunden mit weiteren illegalen sowie legalen Geschäften, in denen die Kartelle als transnationale Unternehmen operieren.
Der Band versammelt eine Vielzahl von Autor_innen und Herausgeber_innen und bietet dem Leser eine hintergründige, kritische und perspektivenreiche Analyse der Geschichte und des Handelns der Drogenkartelle sowie deren Auswirkungen auf Kultur und Lebensweise der Menschen in der Region. Der Fokus der Interviews, Reportagen und Aufsätze liegt nicht nur auf Mexiko, sondern beinhaltet ebenso Guatemala und Brasilien. Auch die transnationalen Netzwerke der Kartelle sind dargestellt. Analysen der Situation und mögliche Lösungsansätze treffen auf Fallbeispiele und persönliche Schicksale.
Immer wieder entlarvt das Buch schonungslos das derzeitige Handeln der Politik und des Militärs gegenüber der Kriminalität als ineffektiv. Effektiv hingegen ist der bewaffnete Kampf bei der Schaffung neuer Gewaltökonomien. Die großflächige Zerstörung von Kokafeldern in Kolumbien im Rahmen des „Plan Colombia“ unter Führung der USA beispielsweise kriminalisiert Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, die sich oft ohne Lebensgrundlage wiederfinden. Die großen Profiteure des Drogengeschäftes tastet das Programm nicht an.
Zugleich baut die Militarisierung der lateinamerikanischen Gesellschaften durch staatliche und private Sicherheitskräfte demokratische Elemente weiter ab. Korruption und Straflosigkeit sind an der Tagesordnung, gewaltsames Vorgehen gegen Oppositionelle und Zivilbevölkerung sind die Folge. Am sichtbarsten ist dieser Prozess zurzeit sicherlich in Mexiko, wo der Krieg gegen die Kartelle seit 2006 rund 60.000 Opfer forderte. In gleichem Maße gibt es eine hohe Rate an verschwundenen Personen. Kaum ein Todesfall wird von den Behörden aufgeklärt. Das Militär selbst hingegen gilt als derzeit größter Aggressor gegen die Zivilbevölkerung. So zeigt das Buch als Erfolge präsentierte Verhaftungen und Erschießungen von Drogenbossen und -dealern als PR-Aktionen, während „die politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Strukturen des Geschäfts völlig intakt“ bleiben.
Ein roter Faden, der sich durch alle Analysen zieht, ist die Korruption in demokratischen Institutionen in den untersuchten Ländern. Die Beiträge des Buches verdeutlichen: Wo Wahlkämpfe durch Kartelle finanziert werden, Polizisten erst durch illegale Zusatzverdienste ihre Familien ernähren können und das Geld der Kartelle die Wirtschaft stützt, ist die militärische Bekämpfung dieser aussichtslos. Gleichzeitig brauchen die Kartelle stabile Ökonomien, wie z.B. Deutschland, um ihre gewaschenen Gewinne sicher anzulegen. Ein sinnvoller Kampf gegen das Verbrechen muss demnach nicht lediglich in Lateinamerika erfolgen, sondern weltweit. Aufmerksamkeit bekommt dieses Problem jedoch kaum. Dass dies hier doch geschieht, ist ein wichtiges Verdienst des Buches.
Neben der Kritik an der bestehenden angebotsorientierten, also auf die Vernichtung der Drogen produktion zielenden militärischen Bekämpfung des Drogenhandels, bieten viele Autor_innen denn auch andere Lösungsansätze an. Dazu gehören die Säuberung der Parteien und Institutionen von korrupten Funktionär_innen genauso wie die Schaffung einer sozial ausgeglicheneren Gesellschaft. Solange kriminelle Organisationen die einzigen sind, die in Armenvierteln für Infrastruktur und Verdienstmöglichkeiten sorgen, haben die Kartelle eine fast unerschöpfliche Quelle, um ihren Nachwuchs zu rekrutieren. Der ethnographische Bericht über das Selbstverständnis eines Drogenchefs in einer brasilianischen Favela zeigt diese Funktion der lokalen Gruppierungen sehr plastisch. So hat dieser beispielsweise den Bau eines Schwimmbads organisiert. In Mexiko ist es die Família Michoacana, die in ihrem Territorium für Recht und Ordnung sorgt, jedenfalls nach ihrem Rechtsverständnis.
Der im Titel des Buches verwendete Begriff „NarcoZones“ beschreibt nicht ausschließlich die von Kartellen kontrollierten transnationalen Gebiete, sondern auch die sozialen und kulturellen Folgen des narcotráfico. In diesem Zusammenhang enthält das Buch mehrere Kolumnen von Alfredo Molano Bozano aus Kolumbien, der die Realität seines Landes aus Sicht der Zivilbevölkerung schildert. Ebenso sind Beiträge zu öffentlichen Diskursen in Mexiko und Verwertungsformen des Drogenkonfliktes innerhalb der erzählenden Literatur Lateinamerikas vorhanden. Gerade diese Beiträge machen den Leser_innen die gesamtgesellschaftliche Dimension des narcotráfico bewusst und ein genaueres Verständnis der Geschehnisse möglich. Erst so wird eine Beschäftigung mit dem Thema jenseits von Opferzahlen und Gewinnstrategien der Kartelle möglich und die Bedeutung des Drogengeschäftes für den Alltag der Bevölkerung in Lateinamerika erfassbar.
Der zivile Widerstand dieser Bevölkerung gegen den gewaltsamen Alltag ist ein weiterer Bestandteil der sorgfältig ausgewählten Beiträge des Buches. Berichte behandeln beispielsweise die Einrichtung sicherer Häuser für Migrant_innen, die von Verschleppung bedroht sind. Kunstaktionen bis hin zu den großen Karawanen durch Mexiko unter dem Motto „Estamos hasta la madre“ – „Wir haben die Schnauze voll“ lassen die Zivilbevölkerung der betroffenen Regionen nicht länger als inaktive Opfer wirken. Sie zeigen, dass die Missstände nicht mehr länger hingenommen werden.Vielleicht sind ihre Anstrengungen einen Schritt zur Lösung der Probleme.
Die Lektüre des Buches lässt den weiten Weg dorthin jedoch erschreckend klar werden. Zu tief sind die Vermengungen von staatlichen und privaten Institutionen und den narcos. Zu wenig nachhaltige und mutige Lösungsversuche gibt es seitens der Politik. Die eindrucksvoll geschriebenen und gut recherchierten Beiträge des Buches zeigen, dass die als „Politik der harten Hand“ bezeichnete Strategie der Drogenbekämpfung ein Händeschütteln zwischen Politikern, Eliten und Profiteuren des Drogengeschäfts bleibt.

Anne Huffschmid / Wolf-Dieter Vogel / Nana Heidhues / Michael Krämer / Christiana Schulte (Hg.) // NarcoZones. Entgrenzte Märkte und Gewalt in Lateinamerika // Assoziation A // Berlin 2012 // 272 Seiten // 18 Euro // www.assoziation-a.de

Startschuss für den Eiertanz

Der Wahlkampf hat offiziell begonnen. In den Wochen um Ostern hatten sich die drei aussichtsreichsten Kandidat_innen für die Präsidentschaftswahlen Chiapas ausgesucht, um ihre Kampagnen zu starten. Enrique Peña Nieto, Kandidat der Allianz zwischen der Partei der Institutionellen Revolution PRI und der Grünen Ökologischen Partei Mexikos PVEM, versammelte seine Anhänger_innen in der PRI-Hochburg San Juan Chamula und später in Comitán, nahe der Grenze zu Guatemala. Josefina Vázquéz Mota, die für die Partei der Nationalen Aktion PAN antritt, wählte die Grenzstadt Tapachula aus, um für sich zu werben. Und Andrés Manuel López Obrador – auch AMLO genannt –, der zum zweiten Mal nach 2006 für die Wahlallianz zwischen der Partei der Demokratischen Revolution PRD, der Partei der Arbeit PT und der Bürgerbewegung MC ins Rennen geht, trat vor der Kathedrale im Herzen von San Cristóbal de Las Casas auf.
Während Vázquez Mota in Chiapas vor allem mit Unternehmer_innen sprach, war bei den Auftritten von Peña Nieto und AMLO mehrheitlich die indigene Wähler_innenschaft präsent. Dass beide sich dementsprechend für Respekt gegenüber den indigenen Traditionen und Gebräuchen aussprachen, verwunderte nicht wirklich. Lediglich López Obrador erwähnte in seiner Rede die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung EZLN, der er nach eigenen Worten „die Hand zur Versöhnung und Zusammenarbeit“ ausstrecke. Eine Antwort der Zapatist_innen ließ bisher auf sich warten. Wer für die Region nach Unterschieden in den Vorschlägen der Anwärter_innen auf das höchste mexikanische Amt suchte, wurde enttäuscht. Denn alle versprachen Investitionen in die Infrastruktur in Chiapas und mehr oder weniger ähnliche Maßnahmen zum Ankurbeln der Wirtschaft, um den Lebensstandard der vor allem auf dem Land sehr armen und marginalisierten Bevölkerung zu verbessern.
Für die beiden derzeit wichtigsten Politikfelder in Mexiko, die Sicherheits- und die Wirtschaftspoliti gilt – mit ein paar Ausnahmen — dasselbe. Peña Nieto und AMLO haben angekündigt, die aktuelle Sicherheitsstrategie überprüfen zu wollen, bevor sie Änderungen daran vornehmen. Und Vázquez Mota sprach sich für die Fortführung der Politik von Calderón in diesem Bereich aus. Somit ist nicht zu erwarten, dass die mexikanische Armee und Marine bald von den Straßen in die Kasernen zurückkehren. Momentan haben sie Polizeiaufgaben übernommen.
Im Bereich der Wirtschaftspolitik unterscheiden sich die drei Kandidat_innen in ihren Wahlversprechen vor allem im Umgang mit dem staatlichen Ölunternehmen PEMEX. Die Kandidatin der PAN und der Kandidat der PRI sprachen sich für Investitionen aus der Privatwirtschaft in den Konzern aus. López Obrador dagegen erklärte, PEMEX würde unter einer von ihm geführten Regierung komplett in staatlicher Hand bleiben. Am erstaunlichsten in Bezug auf Wirtschaftsfragen ist, dass López Obrador auf den Unternehmer_innensektor zugegangen ist, obwohl dieser noch vor sechs Jahren eine öffentliche Kampagne gegen ihn geführt hatte. Anfang März traf er sich mit Vertreter_innen des mexikanischen Unternehmer_innenverbandes Coparmex, um ihnen seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen zu erläutern. Auch wenn die mexikanische Presse das Treffen als eher kühl beschrieb, erklärte López Obrador, man sei auf der Suche nach „Versöhnung, die die Umstände erfordern, denn um vorwärts zu kommen, braucht das Land Einigkeit“.
Über allen Fragen schwebt aber der Drogenkrieg. Zum einen ist da die Gewalt zwischen den verschiedenen Kartellen. Diese hat sich seit Beginn der Amtszeit von Felipe Calderón vor fast sechs Jahren aufgrund seines „Krieges gegen den Drogenhandel“ so sehr verstärkt, dass manche Beobachter_innen davon ausgehen, dass sie die Durchführung und den Ausgang der Wahlen mit beeinflussen wird. Wozu die Narcos fähig sind, haben sie im Juni 2010 bewiesen, als sie den PRI-Kandidaten für die Gouverneurswahl in Tamaulipas ermordeten. So hat der mexikanische Verteidigungsminister Guillermo Galván Galván im Februar erklärt, dass in manchen Regionen des Landes das organisierte Verbrechen „den Staat verdrängt hat“. Ob sich in diesen von Gewalt geplagten, vor allem im Norden des Landes gelegenen Gebieten der Gang zu den Urnen entsprechend demokratischen Kriterien durchführen lässt, kann man durchaus in Frage stellen. Andererseits wird schon seit einer Weile öffentlich über die Verbindungen von Teilen der politischen Klasse zu im Drogenhandel tätigen Kreisen diskutiert. Dabei geht es um personelle Verbindungen, aber auch um die Finanzierung von Wahlkampagnen, die normalerweise ohne Konsequenzen bleibt. Fälle wie der von Gregorio Sánchez, der 2010 als Kandidat der PRD für das Gouverneursamt in Quintana Roo durch Kronzeugen der Bestechung durch den Drogenhandel beschuldigt und daraufhin inhaftiert wurde, sind eher die Ausnahme. Die Bundeswahlbehörde IFE erklärte, es gebe Mechanismen, um die Herkunft von Spendengeldern an die Parteien und Kandidat_innen aufzuklären. Jedoch hat Mexiko im Vergleich zu anderen Ländern in der Region kaum eine umfassende Gesetzgebung gegen Geldwäsche. So bleiben Zweifel, ob die Kampagnen ausschließlich mit „sauberem” Geld finanziert werden.
Zwei Monate vor den Wahlen ist noch relativ unklar, wie sich die sozialen Bewegungen zu den Kandidat_innen positionieren. Die Bewegung für Frieden in Gerechtigkeit und Würde, die sich im April 2011 um den Schriftsteller Javier Sicilia gebildet hatte und seitdem für einen Strategiewechsel in der Sicherheitspolitik kämpft, war in den letzten Wochen hauptsächlich mit internen Prozessen beschäftigt. Sie versteht sich vor allem als Sammelbecken für Familienangehörige von Opfern eben der Gewalt, die der Einsatz des Militärs in der Bekämpfung des organisierten Verbrechens hervorgerufen hat. Daher kann man eine einheitliche Position zu den verschiedenen Präsidentschaftsanwärter_innen nicht unbedingt erwarten. Dennoch erklärte Sicilia jüngst, dass Peña Nieto „der Schlimmste von allen“ sei, da er „die Rückkehr zur Geringschätzung der Bürger“ und „eine Legalisierung des Verbrechens im weiteren Sinne“ bedeute. AMLO sei „der Beste“ und Josefina Vázquez Mota „eine gute Frau, eine ehrliche Frau“. Das Problem seien jedoch die Strukturen hinter den Kandidat_innen. Denn solange „nicht konsequent an der Transformation der staatlichen Strukturen gearbeitet wird“, werde Mexiko nicht aus dieser Krise der Korruption und Gewalt herauskommen.
In Chiapas, wo der Wahlkampf offiziell noch gar nicht begonnen hat, laufen dennoch die Kampagnen schon seit einiger Zeit auf Hochtouren. Vom Kandidaten mit den besten Aussichten auf das Gouverneursamt, Manuel Velasco Coello von der PVEM, kann sogar behauptet werden, dass er die letzten fünf Jahre bereits Werbung für sich gemacht hat. Der erst 32-jährige Senator hat in dieser Zeit fast jeden Tag eine bezahlte Anzeige in den Lokalzeitungen geschaltet. Diese kamen als ausschließlich positive Berichterstattung über seine politischen Aktivitäten und Meinung zu aktuellen Fragen daher. Als Anzeigen muss das für ‚normale‘ Zeitungsleser_innen nicht unbedingt ersichtlich sein, doch diese Methode ist eine mittlerweile gängige Praxis in den Printmedien. Selbst in der überregionalen linken Tageszeitung La Jornada hat sie Einzug gehalten, und auch die chiapanekische Regierung von Juan Sabines Guerrero hat sich ihrer ausführlich bedient.
„Güero“ Velasco, wie der junge Senator auch genannt wird, gilt als Sabines‘ Wunschkandidat. Es ist ein offenes Geheimnis, dass letzterer zu Beginn seiner Amtszeit die wichtigsten Medien des Bundesstaats mit Geschenken und Geld bedacht hat, um deren Berichterstattung zu beeinflussen und kritische Meldungen zu unterbinden. Insofern wäre die Medienkampagne von Velasco Coello gegen den Willen des amtierenden Gouverneurs gar nicht denkbar gewesen. Sabines hatte zwar versucht, seinen politischen Ziehsohn Yassir Vázquez bei der PRD als Kandidaten durchzusetzen, war damit aber gescheitert.
Dass der „Güero“ für die PVEM antritt und das mit Wohlwollen des amtierenden Gouverneurs, hat mit der chiapanekischen Eigenheit zu tun, dass hier die Parteizugehörigkeit eigentlich keine Rolle spielt. Sabines hatte bis kurz vor den Gouverneurswahlen 2006, für die er im Namen der PRD kandidierte, als Bürgermeister der chiapanekischen Hauptstadt Tuxtla Gutiérrez ein Parteibuch der PRI. Ähnlich wie damals bestimmte diesmal maßgeblich der politische Zirkel der Bundeshauptstadt die Kandidat_innen-Kür der PRD. Die Wahl fiel auf María Elena Orantes. Die ehemalige PRI-Senatorin hatte vergeblich darauf gesetzt, von ihrer Partei nominiert zu werden. Die PRI ließ jedoch aufgrund der Allianz zwischen PRI und PVEM Velasco Coello den Vortritt. So trat Orantes kurz darauf aus jener Partei aus. Weitere potentielle Anwärter_innen der PRI oder solche, die sich Chancen ausgerechnet hatten, begnügten sich letztlich mit einer Kandidatur für den Senat bzw. das Bundesparlament. Bei der PAN ist noch nicht entschieden, wer im Wettkampf um die Stimmzettel antritt. Da die Partei abgesehen von einigen sehr wenigen Bastionen aber keine Basis in Chiapas hat, wäre ein Sieg der PAN bei den Gouverneurswahlen wohl eine große Überraschung. Sowohl Velasco Coello als auch María Elena Orantes waren bei den eingangs erwähnten Veranstaltungen „ihrer“ Präsidentschaftskandidat_innen anwesend, durften aber aufgrund rechtlicher Bestimmungen keine Wahlwerbung in eigener Sache betreiben.
Doch wofür steht nun eigentlich Manuel Velasco? Abgesehen von allgemeinen Versprechen wie z.B. mehr Unterstützung für alleinstehende Mütter war von ihm bisher nicht viel zu hören. Wahrscheinlich ist aber, dass er die Politik von Juan Sabines fortsetzt, der vor allem Infrastrukturprojekte und den Ausbau des Tourismus-Sektors sowie die Entstehung von so genannten „Ländlichen Städten” gefördert hat. Dies meist ohne Rücksicht auf die Interessen der lokalen Bevölkerung; Protest und Widerstand wurde in den letzten Jahren entweder kooptiert oder unterdrückt. Die verschlechterte Situation von Menschenrechtsverteidiger_innen im Bundesstaat ist dafür nicht das einzige Zeichen, wenn auch das deutlichste. Insofern ist nach den Wahlen in Chiapas keine große Veränderung der Politik zu erwarten, die Frage ist eher, ob es schlimmer oder nicht ganz so schlimm wird wie unter dem amtierenden Gouverneur wird.
Bei den Präsidentschaftskandidat_innen führt derzeit Peña Nieto die Umfragen vor Vázquez Mota an, an dritter Stelle kommt López Obrador. Viele Beobachter_innen gehen davon aus, dass PRI-Kandidat tatsächlich der nächste Präsident wird. Obwohl eine Rückkehr zum alten PRI-Regime, das im Jahr 2000 nach 70 Jahren die Macht abgeben musste, unwahrscheinlich ist, kann man doch einen populistischen und zugleich autoritären Regierungsstil erwarten, wie er bei Peña Nieto in seiner Zeit als Gouverneur des Bundesstaates Mexiko zu sehen war. Absehbar ist zudem die Fortsetzung einer neoliberalen Politik, wie sie schon unter den Regierungen ab 1982 praktiziert wurde, als mit der Privatisierung von Staatsbetrieben begonnen wurde und Mexiko den Vorgaben supranationaler Institutionen wie dem Internationalen Währungsfond (IWF) und der Weltbank zu folgen begann. Wie lange aber die mexikanische Gesellschaft die Verschärfung sozialer Ungleichheit als Folge dieser Politik – die Militarisierung zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens – sowie die Repression von Protesten und Widerstand aushalten wird, ist fraglich.

„Unbequeme werden aus dem Weg geräumt“

Wie erklären Sie die massive Zunahme an Verschwundenen in Mexiko, die nichts mit dem Drogenkrieg zu tun haben?

Reveles: Seit ein paar Jahren verschwinden täglich wahllos Menschen in Mexiko, Bürger wie Arbeiter. Es werden Menschen entführt, um Lösegeld zu erpressen. Aber neuerdings handelt es sich oft um Entführungen, bei denen kein eindeutiges Motiv erkennbar ist. Ich kann aus dem Gedächtnis mindestens zwanzig solcher Fälle aufzählen. Da sind Farbenverkäufer aus Mexiko Stadt im Norden des Landes verschwunden oder neun Telefontechniker des Unternehmens Nextel aus Senaloa. Sie waren auf Montage in Nuevo Laredo und wurden entführt, als sie schliefen.
Laut Regierung entführen kriminelle Banden ihre Feinde. Oder es handle sich um unschuldige Opfer, die auf Drogentransportwegen reisen, auf denen es sehr viel Gewalt gibt. Aber wir müssen davon ausgehen, dass die Regierung über paramilitärische Gruppen eine soziale Reinigung vornimmt. Die Zahl der Verschwundenen ist seit 2006 enorm angestiegen, als die Regierung die Armee, die Bundespolizei und die Marine gegen die eigene Bevölkerung einsetzte. Aber die Verschwunden sind ja nur ein Teil der Gewaltopfer, da sind ja noch die Toten. Nach offiziellen Angaben sind in Mexiko bis 2010 rund 35.000 Menschen ermordet worden. Die Wochenzeitung Seta aus Tijuana spricht aber von mehr als 50.000 Morden. Es handelt sich um Exekutionen. Mexiko ist heute eines der gewalttätigsten Länder der Welt. Und jeder kann in dieses Meer der Gewalt hineingezogen werden.

Sie sind Experte auf dem Gebiet des Drogenhandels und des organisierten Verbrechens in Mexiko und haben dazu acht Bücher veröffentlicht. Ihr kürzlich erschienenes Buch heißt „Erhebungen, Narcogräben und gefälschte Erfolge“. Was meinen Sie mit dem Begriff gefälschte Erfolge?

Reveles: Der Begriff falsos positivos stammt aus Kolumbien und bezieht sich auf Morde an Unbeteiligten, die „positiven“ Statistiken über die Drogenbekämpfung dienen. Dies können auch Morde sein, die darauf abzielen, „Unbequeme“ aus dem Weg zu räumen oder soziale Bewegungen zu kriminalisieren. Da ja so viele umkommen, kann man es leicht so darstellen, als stünden die Narcos hinter allen Morden.
In Mexiko herrscht in ganzen Landstrichen das organisierte Verbrechen. Im Bundesstaat Tamaulipas werden so viele Menschen ermordet, dass sie nicht mehr wissen wohin mit den Leichen. Im August 2010 wurden 72 Tote – es handelte sich um Leichen zentral- und südamerikanischer Migranten ohne Papiere – in einem Lastwagen nach Mexiko Stadt gebracht. Bei dieser Gelegenheit entdeckten sie weitere 230 Leichen, die unweit der Hauptstadt San Fernando Tamaulipas vergraben waren. Laut der Regierung wurden sie ermordet, weil sie sich dem Drogenkartell der Zetas nicht anschließen wollten. Aber so einfach ist das nicht. Die Narcos verstecken die toten Körper nicht, erklärte mir Emílio Álvarez Icaza, von der Bewegung für Frieden, Gerechtigkeit und Würde, einer Organisation von Angehörigen von Ermordeten und Verschwundenen um den Dichter ­Javier Sicilia.

Was geschah mit den Leichen in MexikoStadt?

Reveles: Sie wurden in die Forensik gebracht und es kamen 700 bis 800 Familien, die ihre Familienangehörigen suchen. Das Tragische war aber, dass nur 32 Leichen identifiziert werden konnten. Der Großteil der Toten konnte von keiner Familien identifiziert werden. Und die wenigen, die identifiziert werden konnten, waren keine Kriminellen, sondern Händler, die in die USA emigrieren wollten.

Warum gibt es kaum Daten über die Ermordeten und Verschwundenen?

Durán de Huerta: Die meisten Familienangehörigen zeigen die Verbrechen nicht an. Bei Entführungen besteht die Gefahr, dass die Polizei mit den Entführern oder Mördern unter einer Decke steckt. Dies trägt zu mehr Straflosigkeit bei.

Reveles: Die Regierung gibt auch keine Daten über die Morde heraus. Die verschiedenen Behörden schicken einen hin und her oder sagen, dass die Daten in Bearbeitung sind. Es ist absurd, dass es in einem Land mit soviel Gewalt keine Statistiken gibt. Vor weniger als einem Monat sagte Präsident Felipe Calderón, es sei schlimm, dass so viele Menschen verschwänden. Gleichzeitig meinte er: Aber wir wissen nicht, wie viele es sind. Es gibt zwar Zahlen, aber diese haben keine Vor- und Nachnamen. Es ist notwendig, die Fälle wirklich aufzuklären, mit Daten über Personen, die gestorben oder verschwunden sind. Wir befinden uns in einer humanitären Krise in Mexiko, und erst seit kurzer Zeit wird von Familienangehörigen sozialer Druck ausgeübt, durch Proteste und die Karawane der Bewegung für Frieden, Gerechtigkeit und Würde.

Gibt es Beweise für Verbrechen von Seiten des Staates?

Durán de Huerta: Viele Verbrechen sind denunziert und nachgewiesen worden, zum Beispiel Verbrechen von Gouverneuren, die mit Amtsmissbrauch und Menschenrechtsverletzungen zu tun haben. Da gibt es das Beispiel des Gouverneurs Ulisses Ruiz in Oaxaca [dieser setzte 2006 Militär gegen streikende Lehrer ein, es gab Tote und Verschwundene, Anm. d. Red]. Danach haben politische Verhandlungen stattgefunden und Ruiz wurde trotz massiver Menschenrechtsverletzungen nicht bestraft.
Ende November letzten Jahres hat eine Gruppe von Rechtsanwälten und sozialer Aktivisten eine Klage gegen die gesamte mexikanische Staatsklasse, gegen Präsident Calderón und seinen Sicherheitssekretär Garcia Luna beim Internationalen Menschengerichtshof in Den Haag eingereicht. Sie richtet sich auch gegen die Bosse der mexikanischen Drogenkartelle wie Chapo Guzmán. Damit der Gerichtshof etwas macht, denn die Staatsklasse bestraft sie nicht, obwohl offensichtlich ist, dass sie Mörder und Räuber sind.

Wie schätzen Sie die Aussichten der Klage auf Erfolg ein?

Reveles: Falls die Klage akzeptiert wird, wird die mexikanische Regierung erstmal um eine Stellungnahme gebeten. Die Schwierigkeit besteht eben darin, dass es keine Daten gibt. Um Dich an ein internationales Organ zu wenden, brauchst Du genaue Daten. Es gibt aber nur Statistiken und Zeugenaussagen. Diese Zeugenaussagen sind sehr wichtig. Sie reichen aber für eine genaue Untersuchung nicht aus. Es gibt keine Namen, keine DNA-Datenbanken. Außerdem kannst Du einen Fall nur vor den Interamerikanischen Gerichtshof, den internationalen Menschenrechtsgerichtshof in Den Haag oder die Vereinten Nationen bringen, wenn Du die lokalen Instanzen ausgeschöpft hast. Und diese arbeiten sehr langsam. Es gibt Fälle von Verschwundenen, die seit drei Jahren von Instanz zu Instanz geschoben werden. Dann bleibt der Fall an einem falschen Gutachten einer staatlichen Institution hängen, falsch, in dem Sinne, das der Tathergang oder dessen Gründe nicht richtig dargestellt werden.

Gibt es Polizisten, die bestraft wurden?

Reveles: Ja, einige wenige Polizisten sind im Gefängnis. Zu den 270 Leichen, die in Durango auftauchten, gibt es sogar Erklärungen des Präsidenten, in denen er die lokale Polizei bezichtigt, die Menschen zu den Hinrichtungsplätzen geschickt und mitgeholfen zu haben, sie in den Gruben zu vergraben. Deswegen sind 17 lokale Polizisten ins Gefängnis gekommen. So etwas passiert, wenn die Bundesregierung die lokale Polizei beschuldigt und für die Gewalt verantwortlich macht.

Wie schätzen Sie die Entwicklung der Gewalt im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen im Juli 2012 ein?

Durán de Huerta: Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Gewalt zunehmen wird, je näher die Präsidentschaftswahlen kommen. Denn der „schmutzige Krieg“ zwischen den Parteien fördert die Gewalt. Sie werden sich gegenseitig beschuldigen. Einer wird zu dem anderen sagen: Du Gouverneur bist verantwortlich für die Gewalt, Du Bürgermeister, Du von dieser Partei förderst die Gewalt. Alle Parteien sind in das organisierte Verbrechen involviert. Auch in Bundesstaaten, wo die Opposition regiert, wie in Michoacán. Dort hat sich die Mafiaorganisation „Familia Michoacana“ zwar in verschiedene Segmente von Nachkommen aufgespalten, aber sie macht dort, was sie will. Auch dort, wo die PRI regiert oder die PAN. Alle sind involviert. Die Zivilgesellschaft müsste sich in Netzwerken dagegen organisieren.

Wie reagieren die Familien der Opfer?

Durán de Huerta: Die Familien der Opfer organisieren Proteste, wie die Bewegung für Frieden, Gerechtigkeit und Würde von Javier Sicilia. Als der Sohn des Dichters ermordet wurde, prangerte er die Regierung und das ganze korrupte System an. Daraufhin trafen sich einige Angehörige von Opfern mit ihm. Sie fingen an, ihre Geschichten zu erzählen. Sie fordern von der Regierung Aufklärung über die Toten und Gerechtigkeit. Sie verlangen, dass eine Liste der Toten erstellt wird und nachgeforscht wird, wie sie gestorben sind und von wem sie ermordet wurden. Und die Verschwundenen: Wo sind sie?
Aber die Bewegung von Sicilia geht noch weiter. Sie verlangt, dass die Ursachen des organisierten Verbrechens bekämpft werden, die Armut, das Fehlen von Möglichkeiten, von Schulen, die Arbeitslosigkeit. Aber nicht mit Soldaten, sondern durch die Schaffung von Schulen und Möglichkeiten. Denn man kann die Korruption nicht mit Maschinengewehren bekämpfen.

Infokasten:

José Reveles ist seit den 1970er Jahren investigativer Journalist zum Thema Verschwundene und Ermordete in Mexiko. Seine Untersuchungen trugen dazu bei, das Geflecht von Korruption und Komplizenschaft zwischen der Regierung und dem organisierten Verbrechen bekannt zu machen.

Marta Durán de Huerta ist Journalistin, Soziologin, Dozentin und Menschenrechtlerin. Sie forscht und publiziert seit Jahren über indigene Kulturen Mexikos wie auch über die zapatistische Bewegung.

Auf der Spur von Chapo Guzmán

Badiraguato gilt als Wiege des mexikanischen Opiumanbaus. In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts gelangte der Schlafmohn von der Küstenregion ins arme Hinterland vom Bundesstaat Sinaloa. Die Pflanze verschaffte den Kleinbauern, die sich bis dahin als Tagelöhner auf den Baumwoll- und Tomatenplantagen der Großgrundbesitzer verdingen mussten, eine neue ökonomische Perspektive. Daran hat sich bis heute nicht allzu viel geändert, denn die Gemeinde mit ihren rund 45.000 Einwohner_innen, davon rund 6.000 in der gleichnamigen Kleinstadt, gilt als Rückzugsgebiet. Nicht für irgendjemanden, sondern für Joaquín Guzmán. Der 1,68 Meter kleine Mann wird in unzähligen Drogenballaden, den Narco-Corridas, besungen und stammt aus La Tuna. Das windige Kaff, nur ein paar Kilometer von Badiraguato entfernt, hat kaum mehr als 200 Einwohner_innen. Hier soll der Chapo, der Kurze, wie Guzmán gern genannt wird, noch ein paar Opiumfelder in den zerklüfteten Bergen haben.
Daher kommen immer mal wieder Journalist_innen in die Stadt, um sich ein Bild zu machen, wo zentrale Figuren des Drogenhandels in Mexiko aufwuchsen. Ernesto Fonseca, Rafael Coro Quintera, aber auch die Brüder Beltrán Leyva und eben Chapo Guzmán stammen aus der Region. Laut den US-Geheimdiensten ist der Letztgenannte derzeit die große Nummer im mexikanischen Drogensumpf. Selbst auf die Forbes-Liste der mächtigsten Menschen der Welt hat es Guzmán, Chef des Sinaloa-Kartells, geschafft. Sehr zum Ärger der mexikanischen Regierung, denn die fahndet seit 2001 erfolglos nach Guzmán, der seit Jahren Kokain und Amphetamine en Gros durch Mexiko in die USA schmuggelt. Trotz des von Präsident Felipe Calderón ausgerufenen Krieges gegen die den Staat unterwandernden Drogenkartelle ist der Radius des Sinaloa-Kartells eher größer als kleiner geworden. Das hat seinen Grund wie Jeanette Erazo Heufelder in Drogenkorridor Mexiko aufdeckt. Von Culiacán, der Hauptstadt des Bundesstaats Sinaloa, ist sie auf den Routen der Kuriere gen Norden bis zur US-Grenze gereist und zeigt auf, wie Landkonflikte, Armut, Schmuggel, Korruption und Gewalt ineinandergreifen.
So trauen sich die Taxifahrer in Culiacán kaum mehr an der Ampel zu hupen, wenn der Wagen vor ihnen nicht anfährt. Schließlich könnte es ein Narco sein, der aussteigt und losballert. Keine Szene aus einem schlechten Film, sondern blutige Realität im mexikanischen Drogenkrieg, der von allen Seiten mit unglaublicher Brutalität geführt wird. Auch von den staatlichen Akteuren, ob Armee, Bundespolizei oder lokaler Polizei, ist für die Zivilbevölkerung nicht klar, auf welcher Seite die Staatsmacht steht. Soldaten, die die Seiten wechseln, sind genauso real wie Polizeibeamte, die auf der Soldliste der Kartelle oder Großgrundbesitzer und Unternehmensgruppen stehen, die mit ganzen Landstrichen spekulieren. „Der Kampf gegen die Drogenkartelle ist zur Zerreißprobe für den Staat geworden, gerade weil die Demokratisierung und Durchsetzung der Menschenrechte in Mexiko nie abgeschlossen wurde“, urteilt der mexikanische Historiker Jesús Vargas in einem der spannenden Kapitel. Die bringen Licht ins Dunkel des Drogenkriegs in Mexiko, zeigen Facetten auf, beleuchten aber auch Verbrechen, die unter dem Deckmantel des Drogenkonflikts unsichtbar werden wie die Frauenmorde von Ciudad Juárez oder die sozialen Säuberungen in Regionen mit klassischen Landkonflikten. Davon gibt es einige im Drogenkorridor den Jeanette Erazo Heufelder mit Anwält_innen, Kirchenvertreter_innen, Sozial­arbeiter_innen oder Menschenrechtsaktivist_innen bereist hat. Station in Ortschaften an der Drogenroute wie Creel, Namiquipa oder Madera hat sie gemacht, während die Federales, die Bundespolizisten, die Überlandstraßen kontrollieren und die Zivilbevölkerung mit ihrem martialischen Auftreten einschüchtern.
Doch nicht alle lassen sich einschüchtern, wie die Beispiele von Marisela Escobedo, die bis zu ihrem Tod nach ihrer verschwundenen Tochter suchte, oder Luz María Davila zeigen. Die streitbare Frau aus Ciudad Juárez stellte den Präsidenten Felipe Calderón öffentlich zur Rede, weil er ihre von einem Killerkommando ermordeten Kinder grundlos als Bandenmitglieder bezeichnete. Der Auftritt hat in ganz Mexiko Schlagzeilen gemacht, weil Davila auf die Versäumnisse der Politik hinwies. Die bilden schließlich den Nährboden für einen Krieg, für dessen Ende sich mehr und mehr Mexikaner_innen engagieren. Ein Hoffnungsschimmer am Ende einer Reise durch das Hinderland des Drogenkriegs.

Jeanette Erazo Heufelder // Drogenkorridor Mexiko. Eine Reportage // Transit Verlag // Berlin 2011 // 240 Seiten // 19,80 Euro

Partner statt Chefs

Bolivien ist ein typischer Fall des Ressourcen-Fluchs. Das südamerikanische Binnenland ist reich an Rohstoffen, doch seine Einwohnerinnen und Einwohner sind mehrheitlich arm. Im Jahr 2006 begann der linke indigene Präsident Evo Morales mit einer Neuausrichtung der Ressourcenpolitik. Der Großteil der Gewinne aus dem Gasgeschäft kommt seitdem nicht mehr multinationalen Konzernen, sondern der bolivianischen Bevölkerung zu Gute. Die jahrhundertelange Zeit der Plünderung soll an ihr Ende kommen.
Die Chancen dazu stehen tatsächlich nicht schlecht, meint der Journalist und Bolivien-Kenner Benjamin Beutler. In seinem Buch „Das weiße Gold der Zukunft. Bolivien und das Lithium“ beleuchtet er die Schattenseiten von Boliviens Rohstoffreichtum und zeigt die mögliche Befreiung vom Ressourcen-Fluch durch die Förderung des Leichtmetalls Lithium auf. Denn Bolivien verfügt im Salzsee Salar de Uyuni über die größten Lithium-Vorkommen der Welt.
Schon heute gelten Lithium-Ionen-Batterien in Laptops oder Mobiltelefonen als unverzichtbar. Zukünftig könnte das „weiße Gold“ für die Weltwirtschaft aber noch wesentlich wichtiger werden. Sollte etwa dem Elektroauto der wirtschaftliche Durchbruch gelingen, dürfte gar ein wahrer Lithium-Boom bevorstehen. Zwar kann Bolivien das Leichtmetall nicht ohne ausländisches Know-How im industriellen Maßstab fördern und verarbeiten, doch internationale Konzerne sollen als „Partner, nicht als Chefs“ an der Ausbeutung der Bodenschätze beteiligt werden. Ziel der Morales-Regierung ist nicht nur ein möglichst hoher Anteil an den Einnahmen, sondern auch die Weiterverarbeitung vor Ort. Beutler sieht darin eine immense Hoffnung für das verarmte Andenland. So könnte Bolivien seiner Ansicht nach „den Beweis führen, dass Rohstoffreichtum den Entwicklungsländern nicht zwangsläufig zum Fluch wird“.
Entgegen des Buchtitels wird das Thema Lithium relativ kurz abgehandelt und bildet lediglich die Klammer des Buches. Im Hauptteil geht es allgemein um die neue politische Ära und deren Ursachen, die der Autor kenntnisreich und in lockerem, journalistischem Ton aufzeigt. Bereits die Spanier plünderten während der Kolonialzeit das Silber aus Potosí. Im Laufe der Jahrhunderte kamen Kupfer, Zinn und Gas hinzu. Auf die letztlich gescheiterte bürgerliche Revolution von 1952 folgten Militärdiktaturen, US-gestützter Anti-Drogenkrieg und neoliberale Umstrukturierung.
Der Ausverkauf des Landes brachte aber auch einen schlagkräftigen Widerstand hervor. Im so genannnten Wasserkrieg konnte im Jahr 2000 der Verkauf der kommunalen Wasserwerke an den Multi Bechtel in der Stadt Cochabamba durch die sozialen Bewegungen rückgängig gemacht werden. Drei Jahre später verjagte die Bevölkerung den Präsidenten Gonzalo Sánchez de Lozada, der maßgeblich Privatisierungen vorangetrieben hatte. El Alto, der riesige Vorort von Boliviens Regierungssitz La Paz, wurde zum Symbol für neue Organisationsformen der Marginalisierten. Beutlers Schilderungen zeigen eindrücklich, dass die Regierung Morales das Ergebnis vielschichtiger sozialer Kämpfe ist und stellen eine gut lesbare Einführung in das politische Bolivien dar.
Es bleibt die Frage, ob nun tatsächlich Strukturen geschaffen werden, die das Land dauerhaft verändern oder die internationalen Konzerne am Ende nicht doch den längeren Atem haben. Ihre Verhandlungsposition ist jedenfalls schlechter denn je.

„Guten Tag, hier spricht das Golfkartell“

Monterrey, die drittgrößte Stadt Mexikos im nordöstlich gelegenen Bundesstaat Nuevo León, befindet sich im Schockzustand. Während die Grenzregion im Norden schon seit Jahren unter den harschen Auswirkungen des Drogenkriegs zu leiden hat, lag Monterrey behütet inmitten der Gebirgskette Sierra Madre wie ein Küken in seinem Nest. Trotz einer fast ganzjährig herrschenden Bruthitze hat sich ausgerechnet hier Mexikos wichtigster Industriestandort entwickelt. Die 3,5 Mio. EinwohnerInnen Metropole weist das höchste Pro-Kopf-Einkommen des Landes auf, der Großteil ausländischer Geschäfte wird hier abgewickelt. Das vergleichsweise gute Bildungs-angebot und die Partyszene locken vor allem junge MexikanerInnen in die Stadt. Monterrey beherbergt mit San Pedro die reichste Siedlung und mit dem Tecnológico die prestigeträchtigste Privatuniversität des gesamten lateinamerikanischen Kontinents. „Monterrey ist der Traum, der nicht in Erfüllung ging. Es war die Stadt, die Mexiko retten sollte“, lamentierte Ende Juni Luis Petersen von der Tageszeitung Milenio gegenüber der BBC. Nun fällt auch die einst sichere Bastion dem grausamen Krieg um das Drogengeschäft zum Opfer. Für viele ist es ein symbolischer Fall.
Heute lebt Monterrey im Belagerungszustand. Die BewohnerInnen gewöhnen sich allmählich an die Präsenz des Militärs, an vermehrte Schießereien, kreisende Militärhubschrauber und das beständige Getöse von Sirenen. Dabei fordern die Feuergefechte auch immer mehr zivile Opfer. In den ersten vier Monaten des Jahres 2010 wurden im Großraum Monterrey 284 Tötungsdelikte registriert. Das war zu diesem Zeitpunkt schon mehr als im gesamten Vorjahr zusammen. Die Gewaltwelle hat fast die gesamte Stadt erfasst: Wer zur falschen Zeit am falschen Ort ist, hat Pech gehabt.
„Bei uns gab es schon immer viele Schießereien im Viertel. Aber heute haben sie nicht mehr nur Pistolen, sondern Maschinengewehre und andere automatische Handfeuerwaffen“, erzählt Esteban. Gemeinsam mit seinem Vater und seinen zwei Brüdern betreibt er eine Tischlerei in der Independencia. Dieses Viertel wird vom Kartell Los Zetas kontrolliert. Die paramilitärische Organisation, die bis vor kurzem noch als bewaffnete Exekutive des Golfkartells arbeitete, gilt als besonders gewalttätig. Mittlerweile operieren die Zetas eigenständig und bekriegen nicht nur offen die Regierung, sondern nehmen auch Teil an den Territorialkämpfen der Kartelle untereinander um die besten Handelsrouten und größten Marktanteile. Neben der Kontrolle des Nordens haben die Zetas ihren Aktionsraum auf ganz Mexiko und bis weit in die USA ausgeweitet. Anfang Juni wurden sechs Leichen in einer Höhle auf der Halbinsel Yucatán, nahe der Touristenhochburg Cancún gefunden. Drei Körpern war das Herz herausgetrennt und jeweils ein „Z“ in den Bauch und in das entnommene Organ geschlitzt worden. Solche Morde sichern aufgrund ihres morbiden Sensationswertes die Aufmerksamkeit der Medien. Als bewusste Akte der Gewaltverherrlichung zeigen sie aber auch, wie tief sich die so genannte Narcokultur in der mexikanischen Gesellschaft verwurzelt hat. „Einer meiner Bekannten hat eine hohe Position bei den Zetas. An seinem Geburtstag hat er mir seine Waffe gezeigt, eine vergoldete Maschinenpistole mit Versace-Schriftzug aus Diamanten.“, erzählt Esteban. Der ehemalige Schulkamerad, dessen Waffe er angemessen würdigen musste, hatte einige Zeit versucht, Esteban für eine Narcokarriere zu gewinnen. Nur aus persönlicher Sympathie hatte der Bekannte letztlich von ihm abgelassen.
Auf einer Geburtstagsfeier sehe ich auf einer Leinwand zwischen beliebten Cumbia- und Reggaeton-Hits zum ersten Mal den Videoclip eines Narcocorridos, den Lobeshymnen auf die Heldentaten der Drogenbosse. Gefeiert wird in einem Restaurant, denn das frühere Partyviertel ist zu einem der gefährlichsten Drogenumschlagplätze der Stadt geworden. Während die Gäste in bunte Tröten blasen und Konfetti streuen, zeigt das Video auf einem eingängigen Polka-Rhythmus Bilder von Schießereien und blutgebadeten Leichen.
Abgeleitet vom Wort narcótico (Betäubungsmittel) hat sich der Begriff Narco fest etabliert. Von ihm leiten die MexikanerInnen eine Reihe von Kulturphänomenen ab. Die erwähnten Narcocorridos zum Beispiel, aber auch Narcoblogs, Narcofilme, Narcobloqueos (Straßenblockaden) und den Narcosanto, ihren Schutzheiligen. Narco ist, wenn gleich auch pervertierte, Kultur. Mit ihrem hohen Grad an Verrohung und ihrer schamlosen Gewaltglorifizierung hat sie den Staat über Jahrzehnte hinweg von innen ausgehöhlt und seine Autorität unterwandert. Die mexikanische Regierung ist nicht mehr in der Lage sich selbst, geschweige denn die Bevölkerung zu schützen. Seit Präsident Calderón 2006 die Bekämpfung der Drogenkriminalität zu seinem obersten Regierungsziel erklärte, eskaliert die Lage, sind laut offizieller Statistik an die 30.000 Menschen getötet worden. Trotzdem hält Calderón an seinem Kurs fest: Mitte Juni ließ er das nationale Fernsehprogramm zwecks einer Ansprache an die Nation unterbrechen, in der er seine Strategie rechtfertigte und für Verständnis warb. Dieser Kampf sei es wert gekämpft zu werden. Trotz der zivilen Opfer, die er gekostet habe, die er auch weiterhin kosten werde.
In diesem Klima der Angst wagen es viele Menschen nicht, den Namen Los Zetas überhaupt auszusprechen. Zu viele Menschen sind selbst direkt oder indirekt betroffen. Denn die Narcos, die in medialen Darstellungen so gern als tätowierte Bestien gezeigt werden, sind allzu oft die eigenen Söhne, Brüder, Cousins, Onkel oder Väter. Die Gesellschaft ist fast vollständig infiltriert. Selbst dann, wenn nur den Schutzgeldforderungen der Drogenkartelle Folge geleistet wird. Auch Estebans Familie wurde in der Tischlerei, die vor allem Möbel für das reiche San Pedro fertigt, angerufen. Die Narcos stellten Geldforderungen und drohten mit Gewalt. Wie sie sich gemeldet haben, möchte ich wissen. „Guten Tag, hier spricht das Golfkartell“, sollen sie gesagt haben. So lapidar, so absurd.
Narco-Nachschub wird aus Gegenden wie der Nachbarschaft Estebans rekrutiert: den marginalisierten Jugendlichen bieten sie sozialen Zusammenhalt, schnelles Geld und steile Karrierechancen. Etwa 200 Problemviertel gibt es in Monterrey, die geschätzten 900 Banden haben um die 30.000 Mitglieder. Laut Schätzungen ist etwa die Hälfte davon selbst abhängig von den Drogen, mit denen sie ihr Geld verdient. Auf die Hilfe der Polizei kann die Zivilbevölkerung jedoch nicht hoffen. Wenn die Polizisten sich nicht selbst ihr mageres Gehalt mit der Kollaboration im Drogengeschäft aufbessern, haben sie zu große Angst, sich einzumischen. In den wenigsten Fällen werden Meldungen über Strafdelikte weiterverfolgt. Monterreys Bürgermeister Fernando Larrazábal weiß dabei nur zu gut, wie es um seine Mannschaft bestellt ist. Im Juni entließ er nach einer dreitägigen „Säuberungsaktion“ fast zwei Drittel der örtlichen Polizeiangestellten. Es besteht wenig Zweifel daran, wem sich ein Großteil der entlassenen Polizisten zukünftig in den Dienst stellen wird.
Ohne staatlichen Schutz kann so jeder Einzelne seine persönliche Geschichte von Gewalt erzählen. Einige wurden überfallen, andere bekamen Entführungsdrohungen per Telefon. Viele wissen von Menschen, die verschwunden, entführt oder getötet wurden. „Freunde von mir waren an einem Fluss campen. Plötzlich kam ein Militärfahrzeug in den Wald gefahren und eine Truppe Soldaten stieg mit einem Dutzend Gefangenen aus. Die Männer wurden an dem Fluss aufgestellt und einer nach dem anderen exekutiert. Ihre Leichen fielen der Reihe nach in den Fluss“, erzählt Pako, ein stadtbekannter Liedermacher und einer der wenigen, der offen über die Situation sprechen will. Seine Freunde konnten unbemerkt entkommen. In den nächsten Tagen durchsuchten sie vergeblich die Medien nach einer Nachricht oder einem Hinweis, der Aufschluss über den Vorfall gegeben hätte.
Viele der jungen zugezogenen MexikanerInnen kennen das Gewaltpotenzial ihres Landes aus ihren Heimatstädten. So wie die Studentin Marisol. Ihre Familie lebt im fünf Stunden entfernten Torreón im Bundesstaat Coahuila. Dort sind die Straßen nach 20 Uhr wie leer gefegt, niemand geht mehr aus dem Haus. Allein während meines fünfwöchigen Aufenthalts werden dort drei Männer in einer Bar erschossen, wenig später sterben sechs Menschen während einer Schießerei in den Mittagsstunden auf offener Straße.
Zwei Tage danach gerät eine Gruppe junger Menschen vor einem Club in der Innenstadt in einen Kugelhagel, neun davon sterben. Mit einem von ihnen ist Marisol zur Grundschule gegangen. „Er wollte eine gute Note feiern. Seine Familie hat ihn gebeten, zu Hause zu bleiben aber er ließ sich nicht abbringen. Er hat gesagt: Ich bleibe nicht lange, aber ich gehe“, berichtet sie achselzuckend. In Reynosa, der Bundeshauptstadt von Tamaulipas östlich von Monterrey, herrschen ähnliche Verhältnisse. Hier hat der Drogenkrieg ganze Ortschaften in Geisterstädte verwandelt. Mit dem Galgenhumor der Mexikanerinnen spricht man auch von Mataulipas, ein Wortspiel, das vom Verb matar („töten“) abgeleitet wird oder von Ta-Ta-Tamaulipas, das wortmalerisch das Rattern von Maschinengewehren imitiert.
In der Nacht vom 18. auf den 19. März hörte auch Marisol in Monterrey die Schüsse der Maschinengewehre ganz nah. Während sie im Bett lag, an die Decke schaute und viele Male bis zehn zählte, wurden drei Querstraßen weiter auf dem Campus des Tecnológico zwei Studenten erschossen. Militäreinheiten hatten die beiden versehentlich für Narcos gehalten. Vor dem Feuergefecht hatte es mehrere Straßenblockaden gegeben, auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen waren Granaten gezündet worden. Die getöteten Studenten des Tecnológico waren nicht nur ein Stich ins stolze Herz der Vorzeigeuniversität, sie waren auch ein herber Rückschlag für die Stadt. Die Gegend im Süden hatte als attraktiv und sicher gegolten. Nun verließen die internationalen StudentInnen das Land, überließen das ohnehin isolierte Monterrey wieder sich selbst.
Obwohl die Angst allgegenwärtig ist, wird sie im Alltag verdrängt. Spricht man über die Vorgänge, so raunt man von der „Situation“ – einerseits ein hilfloser Begriff, um das Unfassbare zu benennen, andererseits eine beschönigende Umschreibung, um der konkreten Benennung der Tatsachen zu entfliehen. Das Reden über die „Situation“ gleicht einem Affront. Wozu solle das gut sein, es verschlimmere nur ihre Lage, meinen sie. „Man muss doch leben“, sagt Marisol. Arbeiten, seinen Hobbys nachgehen, Freunde treffen. „Alles andere ist kein Leben, es ist, wie lebendig begraben zu sein.“ Doch unter der sorglosen Oberfläche ist die Stimmung hypernervös aufgeladen. Dies wurde BesucherInnen eines Konzerts Anfang Mai zum Verhängnis: als in der Nähe des Veranstaltungsortes plötzlich vereinzelte Schüsse zu hören sind, werden fünf Menschen unter einer panisch flüchtenden Menschenmenge zu Tode getreten. Wer die Schüsse abgab und warum ist bis heute ungeklärt. Doch galten sie weder der Musikgruppe noch den BesucherInnen. „Niemand auf dem Konzert sollte zu Schaden kommen. Was diese Menschen getötet hat, war nicht der Drogenkrieg. Es war ihre eigene Angst. Die Angst der Masse und die Ohnmacht, mit der sie ihr begegnen“, kommentiert Pako. In dieser kollektiven Psychose werden selbst banalste Alltagssituationen zu Sinnbildern des Ganzen: Als ich von lautem Knallen aufgeschreckt am Fenster stehe, ruft mir der Nachbarsjunge zu: „Mach dir keine Sorgen, das sind keine Schüsse. Es ist ein Feuerwerk, die Kirche feiert ein Fest!“ Und als uns ein Freund bei einem Kinobesuch spaßeshalber von hinten erschreckt, bricht Marisol in Tränen aus. „Mach das nicht mit mir, das geht jetzt nicht.“
Oft bleiben nur digitale Kommunikationsplattformen wie Facebook oder Twitter als Ventil. Ein junges Mädchen schreibt auf Facebook: „Ich höre gerade meine erste Schießerei, es ist furchtbar.“ Eine Stunde später kommentiert sie: „Es hört nicht auf, sie kommen näher, ich hab `ne Scheißangst.“ Eine Bekannte postet: „Man denkt immer es wäre schlimm, einen Toten zu sehen. Ich habe heute meine erste Leiche gesehen und es hat mich gar nicht berührt.“ Über die neuen Medien werden auch Hinweise über Verschwundene ausgetauscht. Über sogenannte Narcoblogs warnt man sich vor Straßensperren und Schießereien. Und auch die Profile der Toten werden weiter gepflegt, dienen als Raum, um Wut und Trauer auszuleben. Auf der Facebook-Seite von Mauricio, des ehemaligen Mitschülers von Marisol aus Torreón, haben FreundInnen zu seinen Profilbildern Fotos seiner Beerdigung hinzugefügt. Zwei Monate nach seiner Ermordung schreiben sie noch immer auf seine Pinnwand, veröffentlichen Termine zum Gottesdienst, erzählen dem Toten Neuigkeiten aus der Uni und vom Basketball-Team, in dem er spielte. „Ich wünschte, der Himmel hätte Telefon, um deine Stimme zu hören“, steht da. Oder: „Ich vermisse dich, du bist jetzt unser Schutzengel.“ Oder: „Heute habe ich mich endlich dazu durchgerungen, deine Mutter zu besuchen. Ich wusste gar nicht, dass du einen Hund hast.“
Vereinzelt äußert sich auch leiser Protest: „Trotz meines Schmerzes bin ich sehr empört. Auf der Beerdigung hat jemand gefragt: Warum unsere Kinder? Weil sie uns damit am Schwersten treffen. Sie wollen uns sagen, dass es nicht aufhören wird. Aber statt uns Angst zu machen, bestärken sie uns nur.“ Aktiver Widerstand hingegen ist auch dort gering. Die mexikanische Bevölkerung lebt den orwellschen Alptraum deutscher DatenschützerInnen: Im rechtsfreien Raum kann die permanente Zurschaustellung des Selbst zur realen Lebensgefahr werden.
Am Nachmittag vor meiner Abreise wird der Chef der Zetas, Héctor Raúl Luna Luna, auch als „El Tory“ bekannt, festgenommen. Als Antwort darauf erlebt Monterrey den größten Narcobloqueo seiner Geschichte: eine bewaffnete Jugendarmee im Alter von 14 bis 17 Jahren zwingt Menschen aus ihren Fahrzeugen und legt mit den geraubten Autos und Bussen den gesamten Stadtverkehr lahm. Ihre Botschaft: Monterrey steht nicht mehr unter staatlicher Kontrolle, wer hier herrscht sind wir. Fünf Stunden lang dauert die Blockade. Es ist eine direkte Attacke auf die Zivilbevölkerung: Nicht nur der Staat hat in den Straßen Monterreys nichts mehr verloren. Auch seine BürgerInnen nicht. Marisol erträgt die Fernsehbilder mit der für die Stadtbewohner so faszinierenden Fassung. Eigentlich hatte sie an diesem Nachmittag eine Freundin treffen wollen. Stattdessen beginnt sie Kuchen zu backen.
Der Tag meiner Abreise fällt mit der Ausliefung „El Torys“ nach Mexiko Stadt zusammen. Es ist auch der Tag, an dem Bürgermeister Larrazábal zum Eröffnungsspiel der Fußballweltmeisterschaft fliegen wird: Mexiko gegen Südafrika. Nach einigen gescheiterten Versuchen telefoniere ich mit Esteban. Während des Narcobloqueos ist das Telefonnetz so belegt wie in Deutschland nur kurz nach Neujahr. Jeder ruft FreundInnen und Familie an, um sich nach ihrem Wohlbefinden zu erkundigen. Ich äußere die Sorge, auf dem Weg zum Flughafen in eine Blockade zu geraten. Doch ich spreche mit dem Falschen: Esteban muss morgen eine Möbellieferung nach Tamaulipas ausfahren und dafür die Autobahn in Richtung Reynosa nehmen. „Ich schätze, mich trifft es härter als dich.“
Am nächsten Tag fährt mich Pako zum Flughafen. Die Präsenz des Militärs ist überwältigend. Ich solle mich nicht sorgen, nichts würde passieren, meint Pako. „Alles nur Teil der Show.“ Ein Schaukampf, wie er in den Arenen der Lucha Libre, dem beliebten mexikanischen Showkampf, ausgetragen wird und wo Regierung und Narcos um den spektakulärsten Auftritt ringen. Und wo als Austragungsort der Rücken einer in den kollektiven Schockzustand versetzten Gesellschaft herhalten muss. Sie hatten die Schweinegrippe und sie haben den Drogenkrieg. Vor einiger Zeit hatten sie gar ein Ungeheuer, das die Bauern in Angst und Schrecken versetzte, weil es sich nachts auf ihre Höfe schlich, um Ziegen zu fressen. All dies sind für Pako nur Inszenierungen, die allesamt dem gleichen Zweck dienen: der Verschleierung der politischen und wirtschaftlichen Interessen, um die es in dem erodierenden Krieg um die Drogen in Wirklichkeit geht.

Mehr als nur Drogenkrieg

Es war ein geschichtsträchtiges Jahr, das für Mexiko gerade zu Ende geht. Nicht nur feierte das Land im September mit viel Pomp den zweihundertsten Jahrestag der Unabhängigkeit von Spanien. Am 20. November vor einhundert Jahren begann zudem die mexikanische Revolution, deren Versprechen von Land und Freiheit bis heute aktuell, weil uneingelöst sind.
Nicht wenige linke AktivistInnen erwarteten, dass 2010 wieder etwas passieren würde, ein Aufstand oder gar Umsturz. Es scheint als war die Hoffnung vergebens. Wer heute über Mexiko spricht oder liest, hat weniger aktuelle linke Revolten, als vielmehr den eskalierenden Drogenkrieg vor Augen. An die 30.000 Menschenleben hat dieser alleine in den vergangenen vier Jahren gekostet.
Die Kulturwissenschaftlerin und Mexiko-Expertin Anne Huffschmid beschäftigt sich in ihrem neuen Buch mit dem Mexiko von Gestern und Heute. Dabei spannt sie gekonnt einen Bogen von den geschichtlichen Mythen und Erinnerungskämpfen um Unabhängigkeit und Revolution, „in denen sich mexikanisches Selbstverständnis spiegelt“, bis ins vielfältige Mexiko des 21. Jahrhunderts. Die Drogenmafia, „ohne die, ob man mag oder nicht, über das heutige Mexiko nicht sinnvoll zu sprechen ist“, macht dabei nur eines von sechs spannenden Kapiteln aus.
Anhand des Bundesstaates Oaxaca, der 2006 durch einen breiten gesellschaftlichen Aufstand gegen den korrupten Gouverneur Schlagzeilen machte, zeigt Huffschmid die Ambivalenz „indigener Zivilgesellschaft“ auf. Im Kapitel über den Aufschwung von Frauen in der mexikanischen Politik wird eine Krise der „starken Männer“ konstatiert, die aufgrund der brachialen Gewaltinszenierungen der Drogenkartelle zunächst überraschen mag. Mit vielen kleinen Beispielen beschreibt Huffschmid „die Erosion gesellschaftlicher und symbolischer Ordnungen“ und widmet sich der von Frauen ausgehenden „anderen Macht“. Im Mittelpunkt steht die Chefin der früheren Staatspartei PRI, Beatriz Paredes, die viele schon als nächste Präsidentin Mexikos sehen.
Der Imagination des „monströsen Megamolochs“ Mexiko Stadt, der sich nicht nur durch progressive Gesetzgebung in den Bereichen Abtreibung und gleichgeschlechtliche Ehe „in mancher Hinsicht als Oase ziviler Modernität“ darstellt, setzt die Autorin ein buntes, vielseitiges Stadtporträt entgegen. Im kulturellen Teil des Buches werden zuletzt einige „GrenzgängerInnen“ vorgestellt, wie der dieses Jahr verstorbene Schriftsteller Carlos Monsiváis und die Sängerin Lila Downs. Durch das gesamte Buch hindurch ziehen sich Kurzporträts wichtiger Persönlichkeiten oder Orte. Zwei eigenständige Fotostrecken runden das Buch ab.
Huffschmid erzählt in lockerem, journalistischen Ton, so dass sich das Buch streckenweise wie eine lose Aneinanderreihung von Reportagen liest. Dabei hat sie einen sehr persönlichen Zugang und reflektiert immer wieder die eigene Wahrnehmung. Etwa wenn sie von Orten oder Personen erzählt, die ihr früher bereits begegnet sind. Die Mischung aus Analyse und Anekdoten machen diese Länderkunde zu einem informativen Lesevergnügen und sehr gelungenen Einblick in zentrale Aspekte des heutigen Mexiko.

Anne Huffschmid // Mexiko – Das Land und die Freiheit // Rotpunktverlag // Zürich 2010 // 288 Seiten // 24 Euro // www.rotpunktverlag.ch

Der andere Wahlkampf

Regelmäßig zu den Wahlen in Brasilien beschweren sich die Leute über die Verschmutzung, die die Werbekampagnen der Parteien verursachen. Die KandidatInnen umwerben die WählerInnen, damit diese sie als Präsidenten/in, als GouverneurIn, oder AbgeordneteR für das Bundesparlament oder die Parlamente der einzelnen Bundesstaaten wählen. Und dies tun die PolitikerInnen vor allem auf der Straße. Ignorieren kann man das Spektakel nicht. Überall hängen Plakate, Handzettel werden verteilt. Einige KandidatInnen ließen auch schon überlebensgroße Kostüme von sich selbst anfertigen, mit denen dann bezahlte HelferInnen herumlaufen mussten. In den Zeitungen fragen sich dann immer wieder KommentatorInnen, ob man diesem Aufwand nicht per Gesetz Einhalt gebieten sollte. Denn nach der Wahl hängen noch Wochen die Plakate an den Wänden und viele Straßenzüge sind mit tausenden Handzetteln verunreinigt.
Mindestens ein Kandidat, der sich derzeit zur Wiederwahl stellt, beteiligt sich nicht an dieser Verschmutzung des öffentlichen Raums – allerdings tut er das nicht freiwillig. Der 43-jährige Marcelo Freixo ist Abgeordneter für die kleine Linkspartei P-SOL (Partei für Sozialismus und Freiheit) in der ALERJ, dem Parlament des Bundesstaates Rio de Janeiro. Vor vier Jahren beendete er seine Arbeit als Forscher bei der Menschenrechtsorganisation Justiça Global um in die Politik zu gehen. Nun stellt er sich der Wiederwahl. In den vier Jahren in der ALERJ hat sich Freixo als Abgeordneter zahlreiche Feinde gemacht – so viele und so mächtige, dass er nicht mehr gefahrlos Wahlkampf betreiben kann. Es gibt Morddrohungen gegen ihn und jeden, der für ihn Wahlkampf betreibt.In seiner Zeit bei Justiça Global beschäftigte sich Freixo hauptsächlich mit der Gewalt, die von der Polizei Rio de Janeiros ausgeht und sich vor allem gegen die Unterschichten richtet. Er denunzierte immer wieder die Verflechtung von Polizei mit Drogen- und Waffenhandel über korrupte Netzwerke. In Interviews, unter anderem mit den Lateinamerika Nachrichten, skandalisierte er, dass die Polizei rechtsstaatliche Standards systematisch missachte. Für ihn sei die enorm hohe Zahl von Tötungen durch die Sicherheitskräfte Rio de Janeiros ein Zeichen dafür, dass die Polizei weniger den Auftrag habe, die Rechte der BürgerInnen zu schützen, als die Klassenstruktur des Landes zu bewahren (siehe LN 397/398). Der Diskurs von einem Drogenkrieg, so Freixo, würde nur ein Klima der Angst erzeugen, das ganze Bevölkerungsteile – nämlich die BewohnerInnen der Favelas – kriminalisiere und so unmittelbar zu Menschenrechtsverbrechen durch die Polizei führe (siehe LN 415).
Bei den Wahlen 2006 entschloss sich Freixo dann, für das Landesparlament zu kandidieren. Er erhoffte sich davon die Möglichkeit, effizienter für die Einhaltung von Menschenrechten und rechtsstaatlichen Standards einzutreten. Dies tat er dann auch. Gegenüber den Lateinamerika Nachrichten erklärte er, dass er sich weniger als Repräsentant seiner Partei sehe, denn als Vertreter der Interessen der Basisorganisationen von Rio de Janeiro.
Dies behaupten allerdings praktisch alle Abgeordneten der Parlamente Brasiliens – zumindest vor der Wahl. Einmal in die Parlamente gewählt, geht es vielen von Ihnen nur noch darum, in die entscheidenden Kommissionen zu gelangen, um zum Beispiel Aufträge für öffentliche Bauvorhaben befreundeten UnternehmerInnen zukommen zu lassen. Diese zeigen sich im Gegenzug mit Spenden erkenntlich. Oft besuchen die Abgeordneten nicht einmal die Pflichtsitzungen der Parlamente. Diese Schamlosigkeit im Umgang mit den staatlichen Institutionen ist denn auch einer der Hauptgründe für die Politikverdrossenheit in Brasilien und der weit verbreiteten Meinung, dass es den PolitikerInnen ohnehin nur darum gehe, öffentliche Gelder zu veruntreuen. Dieses Verhalten wird regelmäßig in der Presse skandalisiert, auch von konservativen Medien, ohne dass diese Kritik aber irgendetwas ändern würde.
Auch Marcelo Freixo bemühte sich um Plätze in parlamentarischen Kommissionen. Von einer wurde er sogar der Präsident. Doch handelte es sich nicht um eine Kommission, mit der viele Gelder bewegt werden können. Freixo wurde zum Präsident der parlamentarischen Kommission für Menschenrechte. In dieser Funktion konnte er zahlreiche Menschenrechtsverbrechen durch öffentliche Institutionen des Bundesstaates Rio de Janeiro untersuchen. Als Präsident dieser Kommssion versuchte Freixo auch Mechanismen einzuführen, um die Anti-Folter-Gesetze des Staates Rio de Janeiro auch tatsächlich bei den Polizeikräften durchzusetzen und deren Einhaltung zu kontrollieren.
Doch die Leistung des Abgeordneten Freixo, die ihn am bekanntesten gemacht hat, war die Parlamentarischen Untersuchungskommission (CPI) zu den Milizen, die durch seine Initiative geschaffen wurde. Als Milizen werden Mafiagruppen bezeichnet, die meist von ehemaligen und aktiven Polizisten angeführt werden und die Schutzgelder aus der informellen Ökonomie einziehen. Die Milizen zielen dabei auf die Kontrolle ganzer Stadtteile ab und schüchtern alle ein, die eventuell gegen sie vorgehen könnten.
Die CPI zu den Milizen war ein mächtiges Instrument, um diese Mafias zu bekämpfen, deren Beziehungen bis tief in den Staatsapparat reichen, Im Zuge der Ermittlungen wurden hunderte Personen angeklagt und viele wurden zu langen Haftstrafen verurteilt. Darunter waren etliche Polizisten und sogar Kollegen von Freixo im Parlament von Rio de Janeiro. Eine ganze Welle von Hausdurchsuchungen und Verhaftungen war die Folge der CPI zu Milizen (siehe LN 425).
Bei zwei dieser Razzien wurden detaillierte Pläne gefunden, um Marcelo Freixo umzubringen. Seitdem kann sich der Abgeordnete nicht mehr frei in Rio de Janeiro bewegen. Sobald er sein Haus verlässt, wird er von mindestens fünf Leibwächtern begleitet. Die Milizen ließen nun zum Wahlkampf die Bevölkerung der Viertel, die sie kontrollieren, wissen, dass jede Person, die Wahlwerbung für Marcelo Freixo mache, „Blei abbekommen wird“. Deshalb verzichtet Freixo ganz auf Werbung in den Straßen der Westzone von Rio de Janeiro; Niemand verteilt dort für ihn Handzettel oder klebt Plakate. Freixo möchte nicht, dass jemand für ihn sein Leben aufs Spiel setzt. Und auch er selbst erklärte gegenüber dem Nachrichtenmagazin Istoé, dass er kein „toter Held“ sein möchte.
Deshalb verlässt sich Freixo ganz auf die ihm gesetzlich eingeräumte Sendezeit im Fernsehen, aber vor allem auf das Internet. Über Webseiten wie Twitter und Facebook informiert er die WählerInnen über seine bisherige Arbeit und seine weiteren Projekte. „Sehr große Teile der Bevölkerung haben inzwischen Zugang zum Internet, auch die ärmeren Bevölkerungsteile“, erklärte er der Internetzeitung terra. Dies haben inzwischen alle KandidatInnen Brasiliens im Wahlkampf erkannt. Auch die Präsidentschaftskandidaten José Serra und Dilma Roussef twittern ihre Botschaften im weltweiten Netz. Doch Freixo ist ausschließlich auf diese Form der Wahlwerbung angewiesen. Die größte Herausforderung ist es, seine Webseiten im Datenchaos des Internets hervorzuheben. „Wir nutzen die kurze Sendezeit im Fernsehen vor allem, um auf meine Webseiten hinzuweisen“, erklärte er gegenüber terra.
Die Presse kann dabei hilfreich sein, ist es aber nicht immer. Zwar nahmen sich einige Zeitungen und Magazine der Situation Freixos an und berichteten darüber, doch einige Zeitungen missachteten auch seinen Beitrag im Parlament. Die konservative Zeitung O Globo brachte zum Beispiel am 20. Juni einen Artikel, in dem wieder einmal die Respektlosigkeit der Abgeordneten gegenüber dem Parlament angeprangert wurde. Doch die Zeitung zitierte auch einige positive Bespiele für die Arbeit von Abgeordneten. Eines davon war die CPI der Milizen. Doch wer diese CPI eingeführt hatte, verschwieg die Zeitung. Dies kann als bewusste Desinformationspolitik ausgelegt werden. Offenbar hat die Zeitung doch kein Interesse daran, dass alle wissen, welche Abgeordneten ihre Aufgabe ernst nehmen.

Ein Staat wie jeder andere?

Begonnen hatte alles mit vielversprechenden Ankündigungen. Noch vor dem Amtsantritt ihres Chefs im Weißen Haus am 19. Januar 2009 versprach die designierte Außenministerin Hillary Clinton gegenüber Lateinamerika „direkte Diplomatie“, basierend auf „intelligenter Macht“. Aber bereits hier zeigte sich auch die andere Hauptlinie: „Wir müssen eine positive Agenda für die Hemisphäre haben – als Antwort auf die Angst machende Propaganda von Chávez und Evo Morales.“ Ein halbes Jahr später, Ende Juli, präzisierte Clinton die US-Außenpolitik als smart power vor dem gleichen Ausschuss: Darunter sei zu verstehen, dass die USA ihre Instrumente intelligent einsetzen und dabei weiterhin auf ihre Führungsstärke setzen wolle. Dabei war die Wortwahl von Vizepräsident Biden auf dem Amerika-Gipfel von Viña del Mar Ende März 2009 noch eine andere: „Die Epoche, in der wir Befehle gaben, ist vorbei“.
Welchen Stellenwert die oberste US-Außenpolitikerin dann vier Monate später Lateinamerika zumaß, erschloss sich aus der Agenda: Nach Europa und vielen anderen Regionen tauchte Lateinamerika unter den Stichworten Guantánamo und Drogenkrieg erst am Ende auf. Abraham F. Lowenthal, Professor für Internationale Beziehungen der University of Southern California, sieht das anders. In einem umfangreichen Beitrag in der August Ausgabe der Zeitschrift „Nueva Sociedad“ nennt er vier Gründe, warum die Lateinamerika-Politik für die USA besonders wichtig ist: Mit der zunehmenden Migration sind die amerikanischen Staaten näher zueinander gerückt; die Hälfte der Energie-Importe der USA kommen aus Lateinamerika; internationale Probleme wie die globale Erwärmung oder die Verbrechensbekämpfung sind nur überregional zu lösen, und es gibt gemeinsame Werte wie die grundlegenden Menschenrechte. Insofern sei die westliche Hemisphäre der natürliche Rahmen der USA in einer Welt, die immer unübersichtlicher werde und immer weniger attraktiv sei. Lowenthal macht zudem drei Prinzipien der Obama-Politik gegenüber Lateinamerika aus: Den Versuch, verloren gegangenes Vertrauen wieder zurück zu gewinnen; die Fokussierung auf einige wenige Probleme wie Energie, Umwelt und öffentliche Sicherheit sowie die Anerkennung von Unterschieden in Lateinamerika. Insofern sei die US-Politik auch eher bilateral ausgerichtet. Brasilien, Mexiko, aber auch Kuba stünden hier im Vordergrund. Dass die US-Politik in den kommenden Monaten oder Jahren in Missklang oder Schweigen enden könne, will Lowenthal nicht ausschließen. Auch Widersprüche sieht er. Etwa, wenn Hillary Clinton das propagierte Recht der Völker Amerikas auf Selbstbestimmung mit der Aussage konterkariert, dass die zunehmende Präsenz Chinas auf dem Kontinent für die US-Regierung Grund zur Besorgnis sei. Was Lowenthal allerdings zuversichtlich stimmt, ist die relative Schwächung von Lobby-Gruppen, die gegen den eingeschlagenen Kurs sind: die Exilkubaner in Florida etwa oder die US-Waffenlobby. Das könnte der Regierung mehr Handlungsspielräume eröffnen. Eine strategische Vision für Lateinamerika habe die US-Regierung jedenfalls.
Die Reaktion in Lateinamerika war von Beginn an mehrheitlich von kritischer Distanz geprägt. Emir Sader, brasilianischer Linksintellektueller, sprach bereits im Januar vom „schlechten Anfang Hillary Clintons“ und konstatierte, sie spreche, als ob sie sich im leeren, a-historischen Raum bewege. Er verlangte zuerst eine Selbstkritik der Politik unter Bill Clinton und Bush. Frau Clinton solle sich zunächst darüber bewusst werden, dass Amerika nicht mehr der gleiche Kontinent sei wie zur Regierungszeit ihres Mannes, als noch der Neoliberalismus und der amerikanische Freihandelsvertrag „regierten“. Im Februar präzisierte er: Wenn Obama den minimalen Respekt der lateinamerikanischen Länder erreichen wolle, müsse er nur dafür sorgen, dass Nordamerika sich einfach so verhalte wie all die anderen Staaten, die es auf der Welt gibt. In Saders Forderungskatalog finden sich: Einfrieren der Liste der Länder, die nicht mit den USA oder der Antidrogenbehörde DEA kooperieren sowie der Liste der als „terroristisch“ eingestuften Länder oder politischen Kräfte, sofortiger Rückzug der US-Truppen aus Guantánamo und Rückgabe des Territoriums an die kubanische Regierung. Atilio Borón, Soziologe an der Universität in Buenos Aires, sah in Obama einen „tío (Onkel) Tom: Ein deklassierter Schwarzer, der die Seinen verrät und sich in den Dienst der Herren stellt.“ Statt mit den Wall Street-Machern zu kungeln, hätte Obama sich mit den Führungspersonen der sozialen Bewegungen treffen sollen, die ihn überhaupt erst ins Weiße Haus katapultiert hätten.
Gleich nach dem Amtsantritt verkündete Obama sein Ziel, Guantánamo zu schließen, Reiseerleichterungen für ExilkubanerInnen und eine Lockerung der Bestimmungen zum privaten Geldtransfer (remesas) einzuführen. Borón war dies einen Applaus wert. Doch auf dem OAS-Gipfel in Trinidad und Tobago vom April machten lateinamerikanische Betrachter die Beobachtung, dass sich die großen Orientierungspunkte der Außenpolitik der Ära Bush „bester Gesundheit erfreuten“: Krieg und Ökonomie. Die Weichen hinter dem change scheinen auf Kontinuität gestellt, so Borón, der jenseits der Gesten wie dem Händedruck mit Chávez oder dem Gesprächsangebot an Kuba als ersten konkreten Schritt die Aufhebung des Embargos gegenüber der Karibikinsel verlangte. Das Verhalten der USA gegenüber Kuba könnte zu einer Nagelprobe seiner Lateinamerika-Politik werden. Obama dürfte es daran gespürt haben, dass ausgerechnet der erklärte USA-Bewunderer Álvaro Uribe, Kolumbiens konservativer Staatspräsident, formulierte: „Kolumbien spürt, dass die kubanische Regierung für den Frieden in der Region arbeitet.“
Ende Juni kam dann die nächste Nagelprobe für die US-Lateinamerika-Politik: der Putsch in Honduras. Von Beginn an kursierten Gerüchte, wonach die CIA daran beteiligt gewesen sei und die Vermutung, die honduranischen Militärs hätten niemals ohne „Rückfrage“ in Washington gehandelt. Die konkreten Schritte der US-Administration geben jedenfalls ein uneindeutiges Bild ab. Einerseits wurde der Putsch verurteilt, Zelaya als rechtmäßiger Präsident anerkannt, einigen Putschisten die Einreise in die USA verweigert, die aktuelle Militärhilfe in Höhe von 16,5 Millionen Dollar eingefroren und mit Costa Ricas Präsident Arias eine diplomatische Vermittlungsoffensive gestartet. Andererseits wird letzterer in Lateinamerika auch als „Sprecher des Imperiums“ (Borón) wahrgenommen und den USA Doppelzüngigkeit vorgeworfen. Die mehr als zehnmal höhere Wirtschaftshilfe für Honduras laufe weiter, zur andauernden Repression gegen Demonstranten, zu Ausgangssperren und Pressezensur schwiegen die USA. Obama habe noch ganz andere Waffen in der Hand, etwa die bürokratische Behinderung von remesas der Exil-Honduraner oder die Bitte an die europäischen Freunde, die Beziehungen mit der Putschisten-Regierung in Tegucigalpa einzufrieren. Unbestritten war Honduras die erste Krise in den US-lateinamerikanischen Beziehungen in der Obama-Ära. Emir Sader sah im Verhalten der USA die Handschrift Hillary Clintons, die durch die Vermittlung Arias einen einzigartigen Weg gefunden habe: Ohne Wahlmanipulation und ohne sich selbst die Hände schmutzig zu machen, in die inneren Angelegenheiten eines Landes einzugreifen. Noam Chomsky hatte bereits im März – also noch vor dem Putsch – an die Domino-Theorie der US-Lateinamerikapolitik ab den 50er Jahren erinnert. „Die Bedrohung durch das gute Beispiel“ zwingt dazu, jedes Abfallen eines lateinamerikanischen Staates vom US-dominierten Weg zu verhindern, da sonst weitere wie Domino-Steine fallen würden. Viele Staaten hatten geglaubt, dass so etwas im 21. Jahrhundert in Lateinamerika nicht mehr passieren könne – und wenn, dann eben nur unter tatkräftiger Mithilfe der USA. Obama verteidigte sich gegen die Kritiker, die ein Eingreifen Washingtons zugunsten Zelayas forderten, mit dem Argument: „Das sind dieselben, die sonst immer sagen, wir intervenieren immer, und dass die Yankees Lateinamerika verlassen sollen.“
Als Uribe im Juli ankündigte, er werde in seinem Land sieben US-Militärbasen zur Verfügung stellen, waren die Flitterwochen zwischen der neuen US-Regierung und Lateinamerika endgültig vorbei. Selbst gemäßigte Linke wie Brasiliens Lula da Silva reagierten arg reserviert. Auf dem Treffen der UNASUR (südamerikanisches Staatenbündnis) artikulierten denn auch nahezu alle Staatschefs – Uribe hatte kurzfristig abgesagt – ihre Kritik an der kolumbianisch-amerikanischen Kooperation. Zu sehen ist sie im Kontext des bereits unter Bill Clinton im Jahr 2000 initiierten „Plan Colombia“, der Drogenproduktion und Drogenhandel unterbinden sollte. Viele Regierungen in Lateinamerika sahen darin von Anfang an einen Deckmantel zur Sicherung der US-Präsenz in der Region. Daher kam bald der Gedanke auf, die USA verfolgten andere Ziele: geostrategische Sicherung des Zugangs zum Erdöl der Andenregion, Ausbau Kolumbiens als Brückenkopf in Südamerika, Ersatz für die bisherige Militärbasis im ecuadorianischen Manta, die die neue linke Regierung nicht verlängert hatte. Befürchtet wird nun eine Rüstungsspirale. Immerhin ist Kolumbien nach Israel bzw. Ägypten der größte Empfänger US-amerikanischer Militärhilfe. Andererseits zeigte sich Hillary Clinton im September besorgt über die Waffenkäufe Venezuelas in Russland: immerhin 92 russische Panzer im Wert von 1,5 Milliarden Euro – als Reaktion auf die Bedrohung durch Kolumbien, hieß es aus Caracas. Brasilien hatte bereits zuvor durch eine „strategische Rüstungs- und Atompartnerschaft mit Frankreich“ für Aufsehen gesorgt: 36 Kampfflugzeuge für 5 Milliarden Euro. Man muss dies allerdings auch als Ausdruck des Anspruchs einer Regionalmacht auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat sehen. Die BBC wiegelte daher auch ab: „Washington weiß, sobald es Brasiliens Anspruch auf die regionale Führungsrolle akzeptiert, wird viel von Chávez´ Donnern verschwinden.“ Allerdings rücken sich zwei Hauptkontrahenten in der westlichen Hemisphäre durch die geplante US-Stationierung bedrohlich nahe. So sieht es auch Fidel Castro, der sich am 6. November 2009 dazu unter dem Titel „Die Annexion Kolumbiens durch die USA“ publizistisch äußerte. Er habe den kolumbianisch-amerikanischen Vertrag gelesen und darin keine glaubhafte Begründung für diesen Kontrakt gefunden. Erinnert fühle er sich an die von den USA mit vorbereitete und unterstützte Invasion in der kubanischen Playa de Girón. Die B-26 Bomber operierten von Nicaragua aus. Heute stehe das US-Kriegsgerät in Kolumbien und bedrohe nicht nur Venezuela, sondern alle Mittel- und Süd­amerikanischen Staaten. Es hat den Anschein, dass in Amerika aktuell wieder alles beim Alten ist: dieselben Kontrahenten, dieselben Argumentationsmuster. Interessanterweise hatten schon Condoleezza Rice und Noam Chomsky – aus zwei politisch total gegensätzlichen Positionen – das Gleiche prophezeit: Obamas Außenpolitik werde sich kaum von der zweiten Amtsperiode George Walker Bushs unterscheiden.
Das militärische Auftreten der USA nach dem Erdbeben in Haiti untermauert die Richtigkeit dieser Einschätzung. Von vielen in Lateinamerika wird die US-Militärpräsenz nach dem Beben bereits als „kalte Intervention“ gesehen, die gegen eine stärkere Rolle Kubas in der Karibik und gegen Brasilien – als Führungsmacht der UN-Friedensmission auf der Insel – gerichtet sei.

Den Hunger aus den Augen verloren

Im vergangenen Oktober wurde offiziell, was sich zuvor bereits angedeutet hatte: In ihrem Welthungerbericht 2009 zählte die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) erstmals mehr als eine Milliarde hungernder Menschen. Die meisten davon leben in Asien und Afrika, doch auch in Lateinamerika nimmt der Hunger mittlerweile wieder zu. 2009 waren dort über 50 Millionen Menschen betroffen. Damit rückt das erste der acht Millenniumsziele, welche die Vereinten Nationen im Jahr 2000 beschlossen haben, in erschreckend weite Ferne. Dieses sieht vor, die Anzahl der in extremer Armut lebenden und hungernden Menschen bis 2015 zu halbieren.
Doch auch wenn in den Jahren 2007 und 2008 kurzzeitig Hungerrevolten in mehreren afrikanischen Ländern, in Mexiko und Haiti Eingang in die internationalen Medien fanden, ist das Thema Nahrungsmittelkrise derzeit kaum präsent. Die Titelschlagzeilen im Jahre 2009 gehörten vor allem taumelnden Banken und Rettungspaketen, sprich den Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise aus Sicht der Wohlgenährten.
Das neue Jahrbuch Lateinamerika, das den Titel Über Lebensmittel trägt, beleuchtet die Ursachen dieser Dauerkrise, die von den MitherausgeberInnen Karin Gabbert und Michael Krämer im Editorial mit falscher Prioritätensetzung des Nordens und verfehlter marktwirtschaftlicher Agrarpolitik benannt werden. Für effiziente Hungerbekämpfung werde im Gegensatz zur Stabilisierung maroder Banken kaum Geld mobilisiert. Die Förderung industrieller Agrarbetriebe schädige zudem die kleinbäuerliche Landwirtschaft. Dass die bisherige agrarpolitische Ausrichtung gescheitert und ein Paradigmenwechsel nötig sei, werde mittlerweile zwar sogar vom Weltagrarrat der Vereinten Nationen in seinem 2008 veröffentlichten Weltagrarbericht anerkannt. Doch setzten UN-Organisationen wie die FAO noch immer auf Freihandel, Großinvestitionen oder Exportstrategien. Zumindest habe aber der Begriff der Ernährungssouveränität erstmals Einzug in einen UN-Bericht erhalten. Dieser Begriff wird von dem Agrarhandelsexperten Armin Paasch im ersten Beitrag des Buches als eines von drei Paradigmen im Kampf gegen Hunger vorgestellt und auf Implikationen für die internationale Handelspolitik hin analysiert. Das bisher vorherrschende Konzept der Ernährungssicherheit betont alleine die globale und nationale Verfügbarkeit von Lebensmitteln, ohne die lokale Dimension im Blick zu haben. In diesem Rahmen sind somit auch die Öffnung von Märkten und unnachhaltige Produktionssteigerungen erwünscht. Das Menschenrecht auf Nahrung, das sich bereits in Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 findet, geht als zweites Konzept über Ernährungssicherheit hinaus. Es stellt eine qualitative, quantitative und kulturelle „Angemessenheit“ der Nahrung und somit den Zugang zu produktiven Ressourcen wie Land, Saatgut oder Wasser in den Mittelpunkt. Die Ernährungssouveränität gilt schließlich als Gegenentwurf sozialer Bewegungen zum Begriff der Ernährungssicherheit. Das 1996 von der Bauern- und Bäuerinnenorganisation Vía Campesina vorgestellte Paradigma sieht die Landbevölkerung, die paradoxerweise am meisten von Hunger betroffen ist, als Protagonistin der Hungerbekämpfungsstrategien. Es geht dabei darum, dass ländliche Gemeinschaften ihre natürlichen Ressourcen wie Land oder Wasser demokratisch kontrollieren, um Selbstbestimmung sowie eine nachhaltige und würdevolle Ernährung zu erreichen. In Lateinamerika ist das Konzept der Ernährungssouveränität heute nicht mehr nur innerhalb der sozialen Bewegungen populär, sondern wurde in den vergangenen Jahren von mehreren linken Regierungen aufgegriffen. Dies sei zwar als Erfolg zu verbuchen, doch laufen die Bewegungen Gefahr, die Deutungshoheit über ihr Konzept zu verlieren. Deshalb bestehe die große Herausforderungen laut Paasch darin, „jeder Verwässerung oder Instrumentalisierung ihrer Begriffe konsequent entgegenzutreten und auf einer starken und umfassenden Interpretation zu bestehen.“ Dass die Verwendung neuer Begriffe nicht automatisch zu grundlegenden Veränderungen führt, zeigt der Beitrag von Frank Braßel. Der Autor zeichnet die Geschichte bisheriger Landre-
formen sowie die aktuellen Debatten um Agrarpolitik in Lateinamerika nach. Die Ernährungssouveränität habe demnach ohne Zweifel Eingang in die agrarpolitischen Diskurse gefunden, real bewege sich hingegen wenig.
Nach einem Beitrag von Ingo Malcher über die argentinische Agrarwirtschaft, die fortwährenden Verteilungskonflikte und die profitable Rolle transnationaler Agrokonzerne wendet sich das Buch verstärkt kulturell-kulinarischen Besonderheiten des Subkontinents zu. Gemäß dem Titel des Jahrbuchs geht es nicht nur um die Mittel zum Überleben, sondern berichten die verschiedenen AutorInnen auch „über Lebensmittel“ in Lateinamerika. Den Anfang macht ein kurzer Essay des mexikanischen Agrarsoziologen und Anthropologen Armando Bartra über die milpa. Diese traditionelle Art der Maispflanzung, bei der Mais typischerweise mit Bohnen, Kürbis und Chili eine Symbiose bildet, wird von ihm als Inbegriff der mesoamerikanischen Kultur beschrieben. Es folgt ein Beitrag von der Historikerin Ute Schüren über das Aktionsbündnis Sin maíz no hay país (Ohne Mais gibt es kein Land) und die kulturelle Bedeutung des Mais in Mexiko. Dessen traditioneller Anbau ist unter anderem durch zunehmende Importe aus den USA und die Verwendung als Biokraftstoff gefährdet, wurde aber von den Eliten des Landes seit jeher als wirtschaftlich und kulturell rückständig betrachtet. Ein locker geschriebener Beitrag des Journalisten Thomas Schmid beleuchtet den Austausch von Kulturpflanzen zwischen Lateinamerika und Europa. So sind viele der heute als „typisch“ betrachteten Lebensmittel erst durch das Verbrechen der Conquista verbreitet worden, was zur Veränderung von Ernährungsgewohnheiten auf beiden Seiten des Atlantiks führte. Wie sich heute der Anbau regional untypischer, ausschließlich für den Export kultivierter Gemüsesorten auf regionale Strukturen auswirkt, beschreiben Edward F. Fischer und Mareike Sattler in ihrem leicht verwissenschaftlichten Beitrag zu Brokkolianbau in Guatemala, dem sie keineswegs nur Negatives abgewinnen können. Zwei Beiträge über konkrete Projekte im Kleinen runden den Themenschwerpunkt ab. David Höner stellt als Mitbegründer der Küche ohne Grenzen sein eigenes Projekt als „neues Instrument der zivilen Friedensförderung“ vor. Maria Dabringer beschreibt am Beispiel einer von Frauen gegründeten Cateringfirma die Probleme und Potenziale von Ernährungs- und Versorgungspraxen für Frauen in der ecuadorianischen Hauptstadt Quito. Außerhalb des Schwerpunktes finden sich Beiträge zum Drogenkrieg in Mexiko, dem Putsch in Honduras und Kommunalräten in Venezuela.
Das Jahrbuch besticht durch seinen breiten Fokus, der sich nicht auf die Ernährungsproblematik beschränkt, sondern auch kulturelle Facetten der Ernährung in Lateinamerika gewinnbringend mit einbezieht. Als Kehrseite dieser thematischen Bandbreite lassen die für den Schwerpunkt ausgewählten Beiträge keinen durchgehend roten Faden erkennen. Das Buch stellt vielmehr ein äußerst lesenswertes Mosaik und somit eine glänzende Einführung in Agrarpolitik und Ernährungskultur in Lateinamerika dar.

Karin Gabbert, Michael Krämer et al. (Hg.) // Jahrbuch Lateinamerika 33. Über Lebensmittel // Westfälisches Dampfboot // Münster 2009 // 198 Seiten // 24,90 Euro

Gescheiterter Staat vor der Haustür

Mexiko Stadt, 18. Februar, kurz nach Mitternacht. Am frühen Mittwoch schlägt ein „gescheiterter Staat“ zurück. Im Nobelviertel Lomas del Pedregal stellen Militärs den 34-jährigen Vicente „El Vicentillo“ Zambada Niebla, seines Zeichens Sohn und Angestellter von Ismael „El Mayo“ Zambada, einem der meistgesuchten Drogencapos der Welt. Der Vorfall, wie ihn die mexikanische Staatsanwaltschaft zwei Tage später der Presse schildert, entspricht einer Bilderbuchfestnahme. Mutigen Bürgern erschienen „El Vicentillo“ und seine fünf Leibwächter mit ihren Sturmgewehren verdächtig und so alarmierten sie die Behörden. Und die Armee ist anders als die unnütze Polizei sogleich zur Stelle und zwingt die Drogenhändler mit ihrem überraschenden Auftreten zur sofortigen Aufgabe. So schön kann der Krieg gegen die Drogen mitunter aussehen. Zumindest in staatlichen Presseerklärungen.
Überraschend ist jedoch ein anderer Umstand, nämlich dass gegen den „kleinen Vicente“ in Mexiko nicht ein einziger Haftbefehl vorliegt. Dafür wird er in den USA gesucht und demnächst auch den dortigen Behörden übergeben werden. Von „einem Geschenk“ sprach deshalb die mexikanische Wochenzeitung Proceso – und noch dazu einem zur rechten Zeit. Denn Tage später stand der Staatsbesuch Hillary Clintons beim mexikanischen Präsidenten Felipe Calderón auf dem Programm. Und eigentlich wollten von der „second Lady“ alle nur eins hören, nämlich ob das von Gewalt, Korruption und Drogenhändlern geplagte Mexiko nun ein failed state sei oder nicht.
Wie es überhaupt zu dieser Debatte gekommen ist, scheint rückblickend nicht mehr so klar zu sein. Fest steht, dass der US-amerikanische think tank Fund for Peace Mexiko im Juli letzten Jahres auf Rang 105 potentiell vom Scheitern bedrohter Staaten gesetzt hatte. Dabei gehört das Land jedoch lediglich zu 92 Ländern, zu welchen eine „Warnung“ ausgesprochen wird und nicht zum illustren Club jener 35 Staaten die offiziell zu „Alarm“-Fällen abgestempelt werden.
So wirklich ernst nahm diese „Warnung“ in Mexiko niemand. Lediglich in den Meinungsspalten und Leitartikeln der linken Tageszeitung La Jornada wurde der failed state ab und zu bemüht um das allgemeine Scheitern der landesweiten „Militarisierung“ zu belegen, mit denen die rechts-konservative Regierung dem Verteilungskrieg der Drogenkartelle beikommen will. Erst Joel Kurtzman, Mitbegründer des neoliberalen Milkin Institutes regte mit einem Beitrag im Wall Street Journal Mitte Februar wirklich eine Debatte an, in dem er vor einem „gescheiterten Staat vor der Haustür“ warnt und in Berufung auf US-Verteidigungsplaner über einen „völligen Zusammenbruch der Zivilregierung wie in Pakistan“ spekuliert. Anders als die mexikanische Linke lobt Kurtzman den Einsatz von 45.000 Militärs im „Krieg gegen die Drogen“. Allein, dies reiche nicht aus und wenn die „epidemische Gewalt“ in Mexiko anhalte, dann „sind die USA gezwungen, Personal an die Grenze zu verlegen.“
Wer so etwas sagt, der wird in Mexiko ganz schnell als „Feind der nationalen Souveränität“ gehandelt. Auch wenn der US-mexikanische Krieg 150 Jahre zurückliegt, der damals erlittene Gebietsverlust des dünn besiedelten Wüstenlands im Norden beschäftigt die patriotische Seele vieler MexikanerInnen bis heute. Ohne das Konzept des failed state auch nur ansatzweise zu diskutieren, versicherte die regierende Partei der Nationalen Aktion PAN geschlossen, wider dem Geschrei „katastrophischer Totenvögel“, den Staat im Griff zu haben. Und Präsident Calderón soll sich laut La Jornada dazu entblödet haben, auszurufen „das Gewaltmonopol bin ich“. Die parlamentarische Linke wiederum, zog sich auf eine revanchistische Verschwörungstheorie zurück. „Der mexikanische Staat ist zumindest politisch gescheitert“ erklärte Porfirio Muñoz Ledo, dessen „Breite Progressive Front“ FAP das Ergebnis der umstrittenen Präsidentschaftswahlen 2006 nicht anerkennt. „Die usurpatorische Regierung darf nicht die Nation in den Abgrund stürzen“ fordern andere linke Kritiker weil sie so „der US-Mafia den Weg ebnen, um Mexiko wie den Irak militärisch zu zerstören“.
Solche Vorwürfe mögen absurd klingen, doch gepaart mit der Kritik der US-Heimatschutzministerin Janet Napolitano, die mexikanischen Drogenkartelle seien „völlig außer Kontrolle geraten“, steht die Regierung Calderóns unter Handlungszwang. Die Entsendung zusätzlicher Militärs und BundespolizistInnen in die Grenzstadt Ciudad Juárez Ende Februar, um aus der bis dato am härtesten umkämpften Stadt Mexikos ein Beispiel für die staatliche Rückeroberung von Territorien zu machen ist das ambitionierteste Beispiel.
Waren es bisher vor allem mutmaßliche Drogenhändler oder Informanten die nach ihrer Festnahme gefoltert wurden, geht die bundestaatliche Menschenrechtskommission von Chihuahua (CEDH) inzwischen von über 3.000 verfassungswidrigen Verhaftungen, 4.000 illegalen Hausdurchsuchungen und über 1.000 Fällen von Folterungen durch die Militärs aus, wovon sie nach eigenen Angaben 140 genau dokumentiert haben. Präsident Calderón stellt diesbezügliche kritische Nachfragen als „Informationsproblem“ hin, spricht von „notwendigen Maßnahmen“, davon, „dass die Bekämpfung der Unsicherheit ihren Preis hat“ und dass der „größte Feind der Menschenrechte letztlich das organisierte Verbrechen“ sei. Unterstützung erhält er bei solchen Ausflüchten inzwischen sogar vom scheidenden Ombudsmann der Nationalen Menschenrechtskommission CNDH José Luis Soberanas, welcher eine wachsende Bereitschaft des mexikanischen Verteidigungsministeriums SEDENA zu erkennen glaubt, „vermutlichen, von Soldaten begangenen Menschenrechtsverletzungen“ nachzugehen.
Bisher ist in Mexiko jedoch noch nie ein Militärangehöriger vor ein ziviles Gericht gestellt worden. Dabei ist die Aufhebung einer solchen „Immunität“ sogar als Forderung im „Plan Mexiko“ festgeschrieben, innerhalb welchem die USA den mexikanischen Staat finanziell, materiell und organisatorisch beim „Kampf gegen die Drogen“ unterstützt. Vom 400 Millionen Dollar schweren Budget des letzten Jahres sind wegen fehlender Kooperation in Punkto Menschenrechte 15 Prozent eingefroren worden. Der Ende Februar verabschiedete neue „Plan Mexiko“ für 2009 erhält diesen Anspruch zwar aufrecht, gleichzeitig deutet vieles darauf hin, dass das zurückgehaltene Geld vom letzten Jahr ohne Auflagen ausgeschüttet wird.
Ebenso großzügig zeigt sich die mexikanische Regierung in ihrer jüngsten Medienoffensive gegen den Drogenkrieg. Bis zu 1,5 Millionen Euro Kopfgeld gibt es für Hinweise die zur Ergreifung der Führungspersonals mexikanischer Drogenkartelle führen. Wohin gefördertes Denunziantentum führen kann, zeigt jedoch der aktuelle Wahlkampf zu den anstehenden Abstimmungen auf Gemeindeebene und im Senat. Senatoren- und Bürgermeisterkandidaten aller Parteien werfen sich gegenseitig vor, von Narcos gesponsert zu werden. Und solche öffentlichen Verlautbarungen werden von US-Seite nur zu gern wieder aufgegriffen, um die These vom zumindest „scheiternden Staat“ wieder aufzugreifen.
Ein Stückweit findet hier jedoch eine diskursive Bloßstellung mexikanischer Politik statt. Es mag stimmen, dass Genaro García Luna, Mexikos Minister für Öffentliche Sicherheit „mit den Kartellen arbeitet“, wie das neuerlich der Leiter der US-amerikanischen Antidrogeneinheit DEA Anthony Placido andeutete. Aber warum dies öffentlich machen? Warum die mexikanische Drogengröße „El Chapo“ auf die Forbes-Liste der Superreichen hieven, ohne dessen Privatvermögen auch nur annähernd schätzen zu können? Warum gestützt auf fragwürdige Statistiken insistieren, dass der Süden der USA von „grenzübergreifenden Banden“ und der „mexikanischen Entführungsindustrie“ erobert wird?
Eine vorsichtige Antwort auf diese Frage gibt Edgardo Buscaglia, Forscher des Mexikanischen Technologischen Instituts ITAM, der darin einen Versuch der USA sieht, den Druck auf Mexiko zu erhöhen. Denn vor allem die finanzielle Infrastruktur der narkotischen Großunternehmen sei bisher so gut wie unberührt von der mexikanischen Antidrogenpolitik geblieben. Buscaglia selbst will herausgefunden haben, dass „Drogengeld heute mit 78 Prozent der legalen wirtschaftlichen Aktivitäten Mexikos verbunden ist“.
Das Journalistenkollektiv Narconews antwortet mit einer Gegenfrage. „Sind Gangs die neue Zielscheibe des Antidrogenkriegs?“ Nicht nur die frisierten Statistiken aus dem Rathaus in Phoenix, auch journalistische Artikel über die massive Rekrutierung Jugendlicher als „Fußsoldaten“ der Kartelle oder Berichte des mexikanischen Ministeriums für Öffentliche Sicherheit SSP legen einen Zunahme von Gangaktivitäten beim Drogenhandel nahe. Narconews sind jedoch einige der wenigen DrogenkriegsberichterstatterInnen, die auch das Konzept der „Gangs“ und ihren Entstehungskontext hinterfragt. Den Bericht der SSP über 26.000 bewaffnete Gangmitglieder in der nordmexikanischen Großstadt Monterrey, kontrastierten sie mit dem Zitat des dort lebenden sozialen Aktivisten Guillermo Martinez Berlanga: „Eine große Stadt, die ihre Jugend allein und ohne Möglichkeiten lässt, ist eine Gesellschaft, die früher oder später den Bach runtergeht.“
Die mexikanische Journalistin Lydia Cacho, geht einen Schritt weiter, wenn es um die politischen Antworten auf diese Entwicklungen geht. Sie spricht von einer Neubestimmung des Drogenhandels auf US-Seite als „terroristische Gefahr.“ In Berufung auf kanadische Geheimdienstunterlagen zitiert Cacho aus einem „Plan A“, der eine „grenzübergreifende Kooperation bei der Antidrogenpolitik“ vorsieht, und einem „Plan B“, „der darin besteht alles Nötige zu tun, um sich gegen die kriminellen Gruppen zu schützen, mexikanische Militärs und Regierende eingeschlossen.“
Und dann sollte endlich Hillary Clinton zu Wort kommen. Ihre eigene Regierung steckte der mexikanischen Presse jedoch schon am Abend vor ihrer Ankunft, dass zwischen 300 bis 400 Mitglieder der Nationalgarde an die US-mexikanische Grenze verlegt und dort außerdem ein regionales FBI-Büro eröffnet werden würden. So blieb es Außenministerin Clinton vorbehalten, diplomatisch die Mitverantwortung der USA am Drogen- und Waffenhandel zu betonen und dem südlichen Nachbarn gleichzeitig 60 Millionen Dollar zum Kauf von Black Hawk-Hubschraubern zu leihen. Und auf der Pressekonferenz dann die alles entscheidende Antwort. Nein, Mexiko sei kein failed state. „Ich glaube nicht, dass es in Mexiko ein nicht-regierbares Territorium gibt“, sagte Clinton. Im Budget des aktuellen „Plan Mexiko“ liest sich das anders. Dort werden dem mexikanischen 12 Millionen Dollar für Ausbildungsprogramme zur Verfügung gestellt, „um die Zahl nicht-regierbarer Territorien zu verringern.“
// Nils Brock

Ganz oben in der Mordstatistik

„Alle sollen abhauen“. „Wenn ihr unfähig seid, tretet zurück“. So hießen die Aufforderungen an die argentinischen PolitikerInnen in den Jahren 2000/2001. Ende August 2008 war die mexikanische Politikerklasse Adressat. „Que se vayan todos“, „Si no pueden, renuncien“ waren die am häufigsten skandierten und immer wieder auf Spruchbändern zu lesenden Worte während der landesweiten Demonstrationen gegen Gewalt und Unsicherheit im Land. Insgesamt gingen am 30. August mehrere hunderttausend MexikanerInnen auf die Straße. Die meisten davon in der Hauptstadt. Ganz in Weiß waren sie gekommen und mit einer Kerze in der Hand, so wie es die bürgerlichen und konservativen OrganisatorInnen vorgeschlagen hatten. Letztere wollten wohl vor allem der rechten Regierung von Präsident Felipe Calderón den Rücken stärken für seine mit einer Militarisierung ganzer Bundesstaaten einhergehenden Bekämpfung des Drogenhandels. Stattdessen kam aber mehrheitlich die Wut über den gesamten Staatsapparat zum Ausdruck. Dieser scheint weder in der Lage noch wirklich Willens zu sein, die das Land überziehende Gewaltwelle zu stoppen.
Vielfach bleibt den MexikanerInnen nur der Galgenhumor. Bevor es ihr Olympia-Team in Peking nach einer mageren Bronzemedaille am Ende doch noch auf zwei Goldmedaillen brachte, machte ein Witz die Runde. Wenigstens bei der Zahl der Drogenmorde und der organisierten Kriminalität sei das Land unangefochten die Nummer Eins. Die Medien hatten gerade hochgerechnet: Waren in 2007 gut 2.650 Menschen dem sogenannten Drogenkrieg zum Opfer gefallen, wurde diese Zahl in diesem Jahr bereits Mitte August erreicht. Dazu kam der Aufsehen erregende Fall des 14-jährigen Fernando Martí, Sohn eines bekannten mexikanischen Unternehmers. Als der Vater eine hohe Lösegeldsumme für den entführten Fernando zahlte, war dieser längst ermordet worden. Ermittlungen ergaben, dass sehr wahrscheinlich Polizei- und Sicherheitskreise die Entführer mit Informationen über die Familie Martí versorgten. Unabhängig vom konkreten Fall gehen ExpertInnen davon aus, dass die Drogenmafia im Kidnapping längst ein weiteres lukratives Betätigungsfeld entdeckt hat.
Der makabre Verbrechensrekord war im August Anlass für einen beispiellosen, von höchster Stelle initiierten „Sicherheitsgipfel“. Die GouverneurInnen aller 31 mexikanischen Bundesstaaten, der Bürgermeister der Hauptstadt, Präsident Felipe Calderón und VertreterInnen der Justiz, der Medien, der Kirchen und der Gewerkschaften unterschrieben als Ergebnis einen „Nationalen Pakt“ für Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit. Mit mehr als 70 Einzelmaßnahmen soll laut Abkommen die Sicherheitslage im Land in den nächsten Jahren drastisch verbessert werden. Viele BeobachterInnen bezweifeln allerdings positive oder entscheidende Wirkungen des Paktes. Das Wochenmagazin Proceso schrieb sogar von einem „zur Show gewordenen Scheitern“.
Trotz einzelner triumphaler Erfolgsmeldungen der Regierung machen los narcos, die Drogenhändler, dem Staat das Gewaltmonopol zusehends streitig. Vordergründig handelt es sich dabei weniger um eine Konfrontation zwischen Staat und Drogenmafia, sondern um eine immer brutaler geführte Auseinandersetzung zwischen den Drogenkartellen selbst. Dabei rollen inzwischen im wahrsten Sinne des Wortes die Köpfe, wie zuletzt im südlichen Bundesstaat Yucatán, wo elf in Drogengeschäfte verwickelte Männer enthauptet wurden. In erster Linie sind es das Juárez- und das Sinaloa-Kartell im Landesnorden, die sich im Streit um Transport-routen und Verkaufsplätze bekriegen. Doch die Drogenfehden haben sich praktisch auf das ganze Land ausgeweitet. Die ebenfalls konservative Vorgängerregierung von Vicente Fox (2000-2006) vermittelte lange Zeit den Eindruck, die Lage sei nicht so schlimm, solange sich die Kartelle gegenseitig umbrächten. Eine krasse Fehleinschätzung. Denn möglich war die Entwicklung der vergangenen Jahre nur in einem Umfeld der Straffreiheit und dadurch, dass die narcos anscheinend immer größere Teile des Polizeiapparates und der Justiz übernehmen. So liegt die Aufklärungsrate von Straftaten in Mexiko bei gerade einmal einem Prozent.
Die Calderón-Regierung hat als Antwort bisher den repressiven Weg gewählt. Der massive Einsatz des als weniger korrupt geltenden Militärs beim Vorgehen gegen die Drogenkartelle zeitigt aber nach 20 Monaten kaum Erfolge. In acht Bundesstaaten patrouillieren mehr als 25.000 Soldaten. Gemordet wird trotzdem weiterhin, oft nur wenige Straßenzüge entfernt. Kommt es zur direkten Konfrontation zwischen Armee und narcos, so steht die Drogenmafia in Punkto Feuerkraft den Soldaten in nichts nach. Offiziell verzeichnete das Militär in 2007 und 2008 fast 60 Gefallene. Die Zahl der toten PolizistInnen in diesem Zeitraum ist wesentlich höher. Dabei dürften diese meist wegen ihrer Verwicklung ins Drogengeschäft und nicht wegen dessen Bekämpfung umgebracht worden sein. Bei der vorgesehenen Schaffung neuer polizeilicher Elite-Einheiten besteht daher die Gefahr, dass sie wie in der Vergangenheit einfach von den Kartellen abgeworben werden. Höhere Strafmaße und die in den vergangenen Wochen AnhängerInnen gewinnende Forderung nach der Wiedereinführung der Todesstrafe stehen zur Zeit bei der Bevölkerung hoch im Kurs, haben aber nach Ansicht von StrafexpertInnen keine abschreckende Wirkung. Nichtregierungsorganisationen befürchten sogar, dass bei den Rufen nach höheren Strafen und schärferem Vorgehen gegen die Kriminalität die Grundfreiheiten untergehen könnten. Erst Anfang September wies amnesty international mit Blick auf Mexiko darauf hin, dass es öffentliche Sicherheit ohne Menschenrechte nicht geben kann. Negativbeispiel für den Einsatz der neuen Richtlinien auch gegen soziale Bewegungen ist die Verhängung einer absurd hohen Haftstrafe gegen Ignacio del Valle, einen der führenden Köpfe der bäuerlichen Protestbewegung aus dem Dorf San Salvador Atenco (siehe Kurznachrichten), just während auf dem Sicherheitsgipfel über „Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit“ gesprochen wurde.
Das wahre Versagen des mexikanischen Staates zeigt sich aber nicht im militärisch-polizeilichen Schattenboxen gegen die narcos. Vielmehr kann eine sich selber bereichernde politische Elite weiten Teilen der Bevölkerung keine ökonomische Perspektive bieten, geschweige denn ein Leitbild vorgeben. So ist inzwischen in Mexiko eine richtige narco-Kultur entstanden, die bei vielen nicht negativ besetzt ist. Die Kartelle verfügen unter diesen Rahmenbedingungen über eine unerschöpfliche Reservearmee. Diese ist sowohl bei den internen Abrechnungen als auch in den Auseinandersetzungen mit den staatlichen Sicherheitskräften einsetzbar. Die im September 2007 verhaftete Sandra Ávila, von der mexikanischen Bundesstaatsanwaltschaft als „Pazifikkönigin“ zum wichtigen Bindeglied zwischen mexikanischen und kolumbianischen Kartellen hochstilisiert, bestätigte diese Entwicklung: „Der narco breitet sich aus und sein Geld macht es möglich, dass ganze Dörfer und Familien auf dem Land nicht mehr hungern. Die Realität ist wie sie ist.“ Eine Realität, in der die gesamte Gesellschaft immer mehr von den narcos durchdrungen wird. Und in der das Leben nur einen sehr begrenzten Wert hat. In den Tagen nach dem Sicherheitsgipfel in Mexiko-Stadt ist die Zahl neuer Opfer im Drogenkrieg so gut wie jeden Tag zweistellig gewesen.

Dreckige Elite

Bota no saco – Steck ihn in die Tüte. Mit diesem Satz beginnen die Polizisten der Spezialeinheit BOPE ihre Opfer zu foltern. Dies ist der wohl markanteste Satz des neuen Films Tropa de Elite von Regisseur José Padilha, dessen Premiere am 12. Oktober in Rio de Janeiro und São Paulo gefeiert wurde. Bereits in seinem Film Ônibus 174 thematisierte er die Gewalt in brasilianischen Städten.
Tropa de Elite war als Dokumentarfilm geplant, ist aber schließlich zum erfolgreichsten brasilianischen Spielfilm des Jahres geworden und auf Platz eins der Kinocharts gelandet. Nach intensiver Zusammenarbeit mit Mitgliedern der verschiedenen Polizeieinheiten Rios zur Vorbereitung des Films war relativ schnell klar geworden, dass sich keineR der PolizistInnen bereit erklären würde, Interviews vor laufender Kamera zu geben, um nicht direkt ins Visier von Vergeltungsaktionen ihrer KollegInnen zu geraten. So wurde das Projekt kurzerhand geändert und Regisseur Padilha verweist bei Nachfrage auf den rein fiktionalen Charakter seines Werkes.
Der Film handelt von Kapitän Nascimento (Wagner Moura) und dessen Alltag in der Polizeispezialeinheit BOPE, dem Bataillon für spezielle Polizeieinsätze, in den Favelas von Rio. Traumatisiert von den kriegsähnlichen Einsätzen erleidet Nascimento regelmäßig Panikattacken. Auch seine hochschwangere Frau drängt ihn abzutreten und so macht er sich auf die Suche nach einem würdigen Ersatz für seinen Posten.
Es finden sich zwei potenzielle Nachfolger, die mit anderen AnwärterInnen jedoch erst ein abstruses Testprogamm unter Nascimentos Leitung durchlaufen müssen, um beim BOPE aufgenommen zu werden. Kaum im Übungslager angekommen, wird den RekrutInnen schnell klar, dass hier nur die zähesten bestehen können und schon nach wenigen Minuten geben die ersten unter Schlägen und Beschimpfungen auf. Darauf folgt hartes physisches Training mit Schlafentzug und Demütigungen.
Zur Erleichterung des Kapitäns bestehen jedoch beide seiner potenziellen Nachfolger das Martyrium und werden beim BOPE aufgenommen.André, einer der beiden, hat jedoch ganz andere Pläne, als in Nascimentos Fußstapfen zu treten. Er studiert gleichzeitig an einer Universität, wo allerdings niemand von seiner zweiten Identität weiß.
Doch eines Tages erscheint sein Foto auf dem Titel einer Zeitung, die über einen Polizeieinsatz berichtet und so wird sein Geheimnis gelüftet. Dies hat fatale Folgen für einige seiner Uni-Freunde, die mit dem Drogenboss einer nahe liegenden Favela befreundet sind. Der sieht nämlich die Freundschaft zu einem Polizisten als Hochverrat an und so lässt er sie brutal ermorden. Kurz darauf wird sein Freund aus Kindertagen und zweiter potenzieller Nachfolger Nascimentos, Neto, fälschlicherweise an Andrés Stelle vom besagten Drogenboss erschossen.
Damit wird der Auftrag des Bataillons plötzlich zu einem persönlichen Rachefeldzug für den Mord am Kollegen, und André bedient sich, geplagt von Gewissensbissen und voller Hass, mehr und mehr den brutalen Methoden seiner Kameraden. Wer die Hände nicht schnell genug hebt, wird direkt erschossen. Wer Hinweise auf den Verbleib des Mörders verheimlicht, wird bis zur Ohnmacht in eine Plastiktüte gesteckt oder gar bedroht, mit Hilfe eines Besenstiels vergewaltigt zu werden.
Nascimento sieht Andrés Wandlung mit Befriedigung zu. In seinen Augen wird letztlich ein echter Kämpfer aus dem Studenten André und der Kapitän scheint seinen Nachfolger gefunden zu haben.
In diesem Film wird erstmals in der brasilianischen Kinogeschichte der Dauerkonflikt zwischen Polizei und Drogenbanden nicht aus der romantisierten Sicht eines Banditen sondern aus Sicht eines Polizisten präsentiert. Trotz seiner brutalen Methoden schafft es Nascimento als Erzähler, der gute Ambitionen zu haben scheint, Sympathien zu wecken. Es spalten sich die Gemüter und seit Wochen scheint kein eindeutiges Ergebnis gefunden zu sein, weder bezüglich der Rolle Nascimentos und der Einheit BOPE, noch in Bezug auf die Aussage des Films im Allgemeinen.
„Der Film zeigt Folter als etwas natürliches, er verbreitet die Botschaft, dass es kein Problem ist, zu foltern und zu morden. Er gibt vor, dass Gewalt die einzige Lösung für die Probleme ist“, sagte unlängst Camilo Ribeiro, Projektkoordinator der Menschenrechtsorganisation Justiça Global mit Sitz in Rio de Janeiro.
Teile der Presse dagegen, etwa die sonst eher linksliberale Wochenzeitung Carta Capital, feiert Nascimento als den neuen Nationalhelden. Sie sehen ihn als Stellvertreter der Einheit BOPE, als neuer Stern an einem von Kugelhagel getrübten Himmel, der im Kampf gegen den urbanen Drogenkrieg sein Leben riskiert. Die konservative Zeitschrift Veja schrieb vergangenen Oktober: „Der Film Tropa de Elite ist der größte Erfolg des brasilianischen Kinos, weil er Banditen wie Banditen behandelt und Drogenkonsumenten wie Mittäter.“ Und das ist wohl die eigentliche Provokation des Filmes: Er zeigt, dass die Wurzel allen Übels nicht bei den DrogenhändlerInnen liegt oder etwa bei der unbestreitbar korrupten Militärpolizei, die den Handel noch begünstigt. Die Wurzel liegt in den KonsumentInnen der gehandelten Drogen. Der Großteil von ihnen wohnt in den schöneren Vierteln Rios, in den Vierteln der Mittel- und Oberklasse der Stadt. Ihrer Teilhabe an dem Problem scheinen sie sich aber keineswegs bewusst zu sein. Hier tritt die ganze Perversität einer „besseren“ Gesellschaft zu Tage, die sich von einer brutalen Einheit wie dem BOPE vor einem Konflikt beschützt fühlt, den sie selbst mit ausgelöst hat. Und die Gewalt spielt sich größtenteils nicht vor der Haustür der KonsumentInnen sondern in den Wohngebieten der oft verhöhnten FavelabewohnerInnen ab, die so täglich am Konsum der Mittelklasse sterben.
Schon Wochen vor der offiziellen Premiere hatten die Diskussionen begonnen. Etwas verzweifelt wirkte der Versuch einiger Angehöriger der Polizei, die in Tropa de Elite zweifellos eher unvorteilhaft dargestellt wird, die Premiere gerichtlich untersagen zu lassen. Doch dieser Vorstoß hat die Werbemaschinerie nur noch weiter angeheizt. Die KlägerInnen fürchteten angeblich, dass durch den Film Vorurteile gegen die Polizei geschaffen werden könnten. Dagegen argumentierte der zuständige Richter, dass der Film nur die alltägliche Realität der meisten BewohnerInnen der Stadt zeige und lehnte die Klage ab. Das Interesse an der Debatte bleibt seit Wochen ungebrochen und es bleibt weiter spannend. In einem Interview hat José Padilha bereits das Thema seines nächsten Filmprojekts vorgestellt: die Klüngeleien im brasilianischen Parlament.

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