Das Virus hat sich über das ganze Land ausgebreitet

Als die Waffen nach 36 Jahren Bürgerkrieg endlich schwiegen, hatten viele GuatemaltekInnen die Hoffnung, dass nun auch die tagtäglich erlebte Gewalt ein Ende haben würde. Doch auch wenn unter Federführung der UNO nun Frieden vereinbart war, blieben viele Kriegsverbrecher auf freiem Fuß. Auch der gewaltige Militärapparat wurde nur geringfügig demontiert. Vor allem die Kaibiles, die Todesschwadronen des guatemaltekischen Terrorregimes, legten einen weitgehend störungsfreien Übergang in die Nachkriegszeit hin. Inzwischen ist die Einheit durch UN-Blauhelmmissionen geadelt und vielen ehemaligen Kämpfern gelang ein gewaltiger Karrieresprung – in die Privatarmeen der internationalen organisierten Kriminalität.
Die Kaibiles entstanden Mitte der 1970er Jahre als Antwort auf den zunehmenden Einfluss der Guerilla in den entlegenen, vornehmlich indigen geprägten Landesteilen. Kaibil ist zunächst der Name der guatemaltekischen Eliteschule für militärische Ausbildung und Spezialoperationen, aber zugleich eine Reminiszenz an den Maya-Führer Kaibil Balam, der in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Mam-Festung Zaculeo monatelang gegen die spanischen Konquistadoren verteidigte. Die Aufgabe der Kaibiles im guatemaltekischen Bürgerkrieg bestand allerdings keinesfalls in der Verteidigung indigener Gemeinden. Im Gegenteil: Ihnen oblag der Kampf gegen die Guerilla mit allen Mitteln. Und diese „Mittel“ schlossen auch Massaker an den indigenen Gemeinden ein, die als soziale Basis der Guerilla gesehen wurden.
Carlos Chávez Menoscal, Redakteur der traditionsreichen guatemaltekischen Tageszeitung Prensa Libre, durfte als erster Journalist einen kritischen Blick in das Ausbildungslager der Kaibiles bei Poptún in Guatemalas Nordprovinz Petén werfen. Auswahlverfahren und Ausbildung bei den Kaibiles sind extrem hart. Menoscal, der eine Woche lang einen Vorbereitungskurs in Poptún beobachten durfte, berichtet von Gewaltmärschen, die regelmäßig zu Kreislaufzusammenbrüchen bei den Teilnehmern führen, von Prügelorgien, mit denen die Schmerzresistenz getestet und gesteigert werden soll. Auch Folter gehöre zum Programm. Der Folter-Gruppe solle dadurch beigebracht werden, wie man sicher verlässliche Informationen erzwinge, der Gefolterten-Gruppe hingegen, wie man der Folter widersteht. Folter an den eigenen Kameraden, eine besonders sadistische Spielweise der Kaibiles. Auch außerhalb der Schule, bei den Übungen im Urwald, würden die Rekruten extremsten Situationen ausgesetzt: „Im letzten Kurs starb ein Rekrut beim Sprung von einem Felsen. Zuvor hatte die Gruppe Tag und Nacht Angriffe simuliert – mit scharfer Munition!“

Menschliche Kriegsmaschinen

Wer schwächelt, fliegt. Wer aber nicht schwächelt, ist äußerst gut gerüstet für den Kampf gegen Feinde, ob der Feind nun die eigene Bevölkerung ist, kongolesische Warlords oder Drogenhändler. Carlos Menoscal ist noch heute erschüttert vom Erlebten: „Das ist eine extreme, eine sehr gefährliche und äußerst rüde Ausbildung. Wer die übersteht, kommt mit einer anderen Mentalität da raus, erträgt ganz andere Sachen als vorher und ist bereit, äußerst skrupellos gegen Menschen vorzugehen.“ Genau das haben die Kaibiles vor allem in den 80er Jahren eindrucksvoll unter Beweis gestellt.
Denn vor allem ihnen werden schwerste systematische Menschenrechtsverletzungen während des Bürgerkrieges vorgeworfen. Dass sie an den Massakern an ganzen Dörfern nicht nur beteiligt, sondern diese auch eigenständig durchgeführt haben, steht für Menoscal außer Frage: „Ja klar, das waren kleine Einheiten und ihre Funktion war es Mann gegen Mann gegen die Guerilla zu kämpfen. Demnach kamen sie auch als erste in den Dörfern an. Sie waren die ersten, die der Zivilbevölkerung gegenüberstanden und ihr Auftrag war es ja, Informationen durch Folter zu gewinnen und der Guerilla Nachschubwege abzuschneiden.“ Menoscal bezieht sich dabei auch auf den REMHI-Bericht, der der Armee 90 Prozent der im Krieg begangenen Menschenrechtsverbrechen zur Last legt und dabei auf die besondere Rolle der Kaibiles ausdrücklich hinweist.
Doch trotz der zahllosen Verbrechen, die den Kaibiles zur Last gelegt wurden, legten die Friedensverträge von 1996 nicht die Auflösung der Eliteschule fest. Nur die Ausbildung der Kaibiles sollte geändert , den Friedenszeiten und dem neuen Menschenrechtsdiskurs angepasst werden. So gebe es heute Kurse, die über die Wichtigkeit internationaler Abkommen und die Universalität der Menschenrechte informierten. „Aber die Kaibiles sind immer noch Mitglieder einer Eliteeinheit, die für das Überleben ausgebildet werden und die, sobald sie wieder im Wald sind, erneut zu blutigen Kriegern mutieren, zu Experten in Sachen Angriff, Folter und Töten.
Dieser Widerspruch zwischen einer recht fundierten Ausbildung in Sachen Menschenrechte und dem nach wie vor bestehenden harten Drill, der aus Rekruten äußerst zähe, verschworene und skrupellose Mitglieder
einer effizienten Todesschwadron macht – dieser Widerspruch hat den Kaibiles nicht nur ihr Überleben in Friedenszeiten gesichert, sondern auch ihr internationales Renommee bis in höchste UNO-Kreise gesichert: Seit der Rehabilitierung der Kaibiles waren und sind Einheiten für UNO-Missionen in Haiti und in Kongo im Einsatz – in Friedensmission! Carlos Menoscal spricht von der Doppelzüngigkeit der UNO, die einerseits den Kaibiles schwerste Menschenrechtsverbrechen während des Bürgerkrieges zuweist, auf deren „Qualitäten“ sie aber gerade bei delikaten Einsätzen in unübersichtlichen Konflikten wie in Kongo heute nicht verzichten will.

Goldene Friedenszeiten

Dass kein einziger Angehöriger der Kaibiles bislang für die Gräuel des Bürgerkrieges zur Rechenschaft gezogen wurde, half der Einheit natürlich, diesen wundersamen Imagewandel zu vollziehen. Auch auf anderem Gebiet geht es den Kaibiles gut. Sie sind die einzige Militäreinheit Guatemalas, die nach dem Krieg keine Einschnitte verkraften musste, weder personell noch finanziell. Nach wie vor besteht das riesige Militärcamp im Petén, nach wie vor verfügen sie über die modernste Ausrüstung für bewaffnete Operationen zu Wasser zu Lande und in der Luft. 40 Prozent des gesamten guatemaltekischen Militärbudgets gehe wohl an die Kaibiles, schätzt Carlos Menoscal. Genaue Zahlen sind ein Staatsgeheimnis.
Es sind aber längst nicht nur die Friedensmissionen, mit denen die Kaibiles, das gesamte guatemaltekische Militär und somit Guatemalas Regierungen versuchen, das durch Militärdiktaturen ramponierte Image des Staates wiederherzustellen. Im Norden des Petén obliegt ihnen auch der Schutz der letzten Urwälder und der Kampf gegen die Narcos, die Drogenhändler. So spuckt die PR-Maschinerie der Armee regelmäßig Erfolgsmeldungen aus: Hier ein Drogennest ausgehoben, dort geheime Landebahnen gesprengt. Die Kaibiles sorgen also wieder für Recht und Ordnung in den unzugänglichen Regionen Guatemalas, sei die Botschaft, so Carlos Menoscal. Dabei würden auch Gemeinden vertrieben, die seien schließlich die soziale Basis der Narcos. „Fällt Euch was auf“, fragt Menoscal. „Früher wurden die Indígena-Gemeinden als soziale Basis der Guerilla bezeichnet“.

Idealbesetzung für Drogenbarone

Der Krieg, die Kaibiles und die Gegenwart. Da gibt es noch mehr Zusammenhänge. Die Narcos haben sehr viel Geld. Ein Kaibil verdiene etwa 110 US-Dollar im Monat, berichtet Menoscal, bis zu 10.000 Dollar würden dagegen für einen Job als Bodyguard herausspringen. Wer eine Ausbildung als Kaibil durchlaufen hat, ist für die kleinen und großen Drogenbarone eine Idealbesetzung. „Es liegt auf der Hand, dass ehemalige Kaibiles heute für das organisierte Verbrechen arbeiten, nicht nur in Guatemala, vor allem auch in Mexiko“, erklärt Menoscal. Der blutige Drogenkrieg derzeit in Mexiko trage ganz deutlich die Zeichen der Kaibiles. 15 Kaibiles im Ruhestand habe man bislang in Mexiko und an der guatemaltekisch-mexikanischen Grenze festgenommen, weil sie als Ausbilder für die Narcos fungierten.
Vor allem in Guatemala selbst ist die Handschrift der Kaibiles, die Handschrift des guatemaltekischen Völkermordes, tagtäglich zu erkennen. Eine schier endlose Reihe politischer Attentate und anderer Gewaltverbrechen trage die professionell präzise Handschrift der Kaibiles. Das weiß auch Lourdes Despenado, Forensikerin bei der Nichtregierungsorganisation Cafca, deren Aufgabe es originär ist, die Gewaltopfer des Bürgerkrieges zu identifizieren und ihre Leidensgeschichte möglichst genau aufzuzeichnen: „Ich glaube, die größte Ähnlichkeit zwischen damals und heute liegt in der exzessiven Gewaltanwendung, ausgeführt mit extremer Grausamkeit. Auch bei den Frauenmorden ist das festzustellen: der Einsatz von Hieben und Schlägen, von Stich- und Schusswunden in großer Anzahl. Und hinterher wirft man die toten, zerfetzten Körper einfach weg. Dieses Vorgehen zeigt vielleicht am deutlichsten die Ähnlichkeiten mit der systematischen Gewalt der Diktatur“.

Gewalt von heute trägt Handschrift der Kaibiles

Auch für Lourdes Despenados Chef, den Sozialpsychologen Julio Valdéz, ist die anhaltende Straffreiheit der Hauptgrund für die Gewaltexzesse der guatemaltekischen Gegenwart: Die Täter und die geistigen Urheber der Verbrechen des Krieges arbeiteten heute auf eigene Rechnung für das organisierte Verbrechen, andere für private Sicherheitsunternehmen und wieder andere – und das sei eigentlich das Schlimmste – weiterhin für den Staat: „Dieser Virus wurde nie bekämpft, stattdessen verließ er nach dem Friedensschluss die Kasernen und breitete sich über ganz Guatemala aus, griff sogar auf die Nachbarländer über.“
So steht Mord als Mittel der Problemlösung in Guatemala nach wie vor hoch im Kurs. Gerade einmal 2.000 Quetzales (circa 200 Euro) kostet ein Auftragsmord in der Hauptstadt. Das kann erheblich billiger sein, als die Behörden oder die Polizei zu bestechen und sicherer, als auf AnwältInnen oder gar RichterInnen zu vertrauen. Abner Paredes, Jugendsozialarbeiter beim renommierten Menschenrechtszentrum CALDH, sieht in den nach wie vor bestehenden autoritären Strukturen in Staat und Gesellschaft den Hauptgrund für die heutige Gewalt in Guatemala. Die Antwort des Staates auf die Probleme sei bis heute fast Null und beschränke sich fast ausschließlich auf repressive Maßnahmen, besonders gegenüber Jugendlichen: „Wir brauchen Sozialprogramme und Gewalt-Präventionsprojekte, wir brauchen Strukturen, in die sich gerade Jugendliche einbringen können. Und wir müssen endlich die Ursachen der Gewalt angehen.“
Doch daran hat kaum einer der politisch Verantwortlichen bislang irgendein Interesse gezeigt. Zu gut leben die Unternehmerschicht, die Militärs und das organisierte Verbrechen, die sämtliche Regierungen seit dem Friedensschluss beherrschten, mit einer zahnlosen Justiz, einer korrupten Polizei und einer immer noch eingeschüchterten Zivilbevölkerung. Gerechtigkeit wird es mit ihnen sobald nicht geben. Zumindest nicht kampflos, das führen die täglichen Morde allen anderen sehr deutlich vor Augen. Dafür werden nicht zuletzt die Kaibiles sorgen, die heutigen wie die ehemaligen.

Glauber Rocha: Ein Kinorevolutionär in Trance

Ziel des Cinema Novo war die „Entkolonisierung der Köpfe“. Glauber Rocha proklamierte ein visuell und politisch radikales Kino, eine „Ästhetik des Hungers“, der Wut, der Gewalt. Bereits in seinem ersten Spielfilm Barravento (1962) thematisierte er das Elend der Fischer in seiner Heimatprovinz Bahia. Ähnlich wie viele seiner Kollegen vom Cinema Novo zog es Rocha immer wieder in den Sertão, den bitterarmen Nordosten Brasiliens. Dort drehte er Filme wie Deus e o diabo na terra do soll (Gott und Teufel im Land der Sonne, 1964). Im Gegensatz zu Regisseuren wie Nelson Pereira dos Santos oder Ruy Guerra, deren frühe Filme von einem erbarmungslosen Realismus zeugten, hatten bei Glauber Rocha alle Figuren etwas Übersteigertes, waren symbolisch aufgeladene Akteure eines Dramas, das wie ein atavistischer Kampf anmutete. Die Ästhetik war kontrastreich und sprunghaft. Hier ging es nicht nur darum, soziale Ungerechtigkeiten anzuklagen. Hier war jemand am Werke, der auch die Bildsprache des Kinos revolutionieren wollte – auch wenn dies teilweise auf Kosten der Verständlichkeit seiner Werke für ein breites Publikum ging. In dieser Hinsicht gab es eine Seelenverwandtschaft zwischen Glauber Rocha und der Avantgarde des europäischen Autorenkinos á la Jean Luc Godard, von welchem er fasziniert war.

„Der trikontinentale Filmemacher” und seine „Ästhetik des Hungers”

Gleichzeitig fühlte Glauber Rocha sich, ebenso wie seine Mitstreiter vom Cinema Novo, als Avantgarde einer internationalistischen Bewegung, die eines Tages Filmemacher aus ganz Lateinamerika sowie aus den anderen Ländern des Südens umfassen sollte. So schrieb er 1967: „Für den Filmemacher aus der Dritten Welt beginnt die Verpflichtung mit dem ersten Lichtstrahl. Denn die Kameralinse öffnet sich zur Dritten Welt hin, einem besetzten Land. (…) Diese Filme aus Asien, Afrika und Lateinamerika sind unbehagliche Filme. Das Unbehagen beginnt mit dem grundlegenden Material: minderwertige Kameras und Laboratorien, und von daher krude Bilder und gedämpfte Dialoge, unerwünschte Geräusche auf der Tonspur, Unfälle beim Schnitt, unklare Angaben in Einblendungen und Abspann: Und auf dem Bildschirm krümmt sich ein verzweifelter Körper, bewegt sich krampfhaft vorwärts, nur um sich im Regen zusammenzukauern.”
1965 proklamierte Glauber Rocha in seinem programmatischen Essay „Eine Ästhetik des Hungers”: „Der Hunger in Lateinamerika ist nicht nur ein Alarmzeichen: er ist die Essenz unserer Gesellschaft. Darin liegt die tragische Originalität des Cinema Novo in Bezug auf das Weltkino. Unsere Originalität liegt in unserem Hunger, und unser größtes Elend besteht darin, dass der Hunger gespürt wird, aber nicht intellektuell verstanden. Für die Europäer ist dies ein merkwürdiger tropischer Surrealismus. Für die Brasilianer ist es eine nationale Schande. Wir wissen – seitdem wir diese traurigen, hässlichen Filme gemacht haben, diese schreienden, verzweifelten Filme, wo die Vernunft nicht immer die Vorherrschaft hat –, dass dieser Hunger nicht mit moderaten Reformen beseitigt werden kann und dass die Technicolor-Schicht dessen Krebsgeschwüre nicht verbergen kann, sondern sie noch verstärkt. Die erhabenste Manifestation des Hungers ist die Gewalt.”

„Land in Trance“: Brasilien während der Diktatur

Der Militärputsch 1964 in Brasilien versetzte sämtlichen sozialen und kulturellen Bewegungen des Landes einen harten Schlag. Nichtsdestotrotz zogen es die meisten Filmemacher des Cinema Novo vor, nicht ins Exil zu gehen. Viele verlegten sich auf einen metaphern- und anspielungsreichen „tropikalistischen“ Stil, versteckten die Kritik an den herrschenden Zuständen in Symbolismen und Metaphern, Allegorien und historischen Anspielungen.
Einer der Filme, der am stärksten die damalige Orientierungslosigkeit und abgrundtiefe Verzweiflung vieler Linker widerspiegelt, ist Glauber Rochas Terra em transe (Land in Trance) aus dem Jahre 1967. Angesiedelt ist das bild- und wortgewaltige Drama in einem fiktiven lateinamerikanischen Staat namens „El Dorado“ – eine bitter ironische Anspielung auf jenen mythischen Ort, der zu Zeiten der Eroberung Lateinamerikas die Gier und Sehnsucht der Konquistadoren entfachte.
Der Held von Terra em transe kommt wie die Karikatur des Künstlers und Intellektuellen daher, der so in seiner Mischung aus Egomanie und Erlösungssehnsucht gefangen ist, dass er die politischen Realitäten einzig durch die Brille seiner Obsessionen wahrnimmt. Paulo Martins ist ein Mann der Poesie und der pathetischen Gesten. Attraktiv, gebildet und wohlhabend, ein Mann zwischen den Stühlen, ein Schwärmer und Schwätzer, hin- und her gerissen zwischen Links und Rechts, Kunst und Politik, euphorischem Überschwang und abgrundtiefem Sturz in die Depression. Selbstverliebt und gleichzeitig auf der Suche nach einem starken Mann, einem Führer. Den glaubt der junge Dichter und Journalist Paulo zunächst in Porfirio Díaz gefunden zu haben, einem eiskalten Reaktionär mit aristokratischem Auftreten. Später schwört Paulo, tief enttäuscht, dem „Gott meiner Jugend“ und politischen Ziehvater ab und begeistert sich für Díaz` Erzrivalen, den linken Populisten Felipe Vieira. Er verliebt sich in die Kommunistin Sara, eine der engsten Mitarbeiterinnen Vieiras, und unterstützt dessen Wahlkampagne.
Doch wieder werden Paulos Heilserwartungen tief enttäuscht. Kaum hat Vieira den Posten als Provinzgouverneur eingenommen, beginnt er systematisch, seine Versprechungen zu brechen. Den armen Bauern, die Vieira gewählt haben, geht es so dreckig wie zuvor. Und als einer ihrer Anführer von den Schergen der Großgrundbesitzer umgebracht wird, tut Vieira, als gehe ihn dies nichts an. Er schreitet nicht einmal zur Tat, als er erfährt, dass der Präsident von El Dorado ihn auf Betreiben Porfirio Díaz’ seines Amtes entheben will. Paulo, der sich lange im Glanz des neuen Hoffnungsträgers gesonnt hat, fühlt sich wieder betrogen. Wütend verlässt er den Gouverneurspalast und rast mit dem Auto durch die Gegend. Dabei wird er von einer Polizeistreife abgeknallt.
Glauber Rocha erzählt Terra em transe aus der Perspektive Paulos, der im Todesdelirium liegt. So wirr und luzide wie der Strom der Gedanken und Assoziationen, der den Sterbenden durchzuckt, ist auch der Erzählfluss des Films: Eine Collage aus Erinnerungsfragmenten, die zwischen verschiedenen Zeitebenen hin und her springen. Die Mischung aus Chaos und kunstvoller Diskontinuität, aus abgebrochenen Gedankengängen und vollendetem Pathos erinnert an Orson Welles’ Citizen Kane, in dem ja ebenfalls eine Lebensgeschichte aus der Perspektive eines Sterbenden erzählt wird. Und ebenso wie in Citizen Kane ist auch bei Terra em transe der Protagonist alles andere als eine Identifikationsfigur. Die Art, wie Paulo sich zuerst dem einen, dann dem anderen Politiker andient, lässt ihn zu einer innerlich relativ substanzlosen Figur verkommen, die zwar nicht gänzlich unsympathisch ist, aber höchstens müdes Mitleid verdient. In gewisser Weise ist Paulo Täter und Opfer zugleich.
So dreht Paulo, nachdem er der Politik Porfirio Diaz´ abgeschworen hat, den Dokumentarfilm „Porfirio Díaz – Porträt eines Abenteuers“. Eine furiose Demontage seines Ziehvater, gedreht mit der Mischung aus Abrechnungswut und latenter Selbstgeißelung – denn schließlich richtet Paulo damit auch seine eigene „abenteuerliche“ Vergangenheit.
Terra em transe übt zum einen harte (Selbst-) Kritik an der Handlungsblockade und Weltfremdheit vieler progressiver Intellektueller. Gleichzeitig ist der Film eine Abrechnung mit der politischen Klasse, die nicht nur Brasilien, sondern ganz Lateinamerika fest im Griff hat. So lässt allein der Name Porfirio Díaz – in Anspielung auf den Diktator, der Mexiko Anfang des 20. Jahrhunderts beherrschte – keinen Zweifel daran, dass es sich hierbei um eine allegorische Figur, gewissermaßen den Prototypen des lateinamerikanischen Despoten alter Schule handelt, der sich mit anachronistischem Pomp und den Machtinsignien der iberischen Aristokratie und der Inquisition umgibt. Auch Vieira ist eine Figur, die für viele populistische Führer und deren wirre Mischung aus linken Versatzstücken und autoritärer Machtpolitik steht – angefangen von den Brasilianern Getulio Vargas und João Goulart bis hin zu dem Argentinier Juan Domingo Perón. Terra em transe lässt keinen Zweifel daran, dass der rechte Despot und der linke Caudillo im Grunde genommen zwei Seiten einer Medaille sind. Allein die Art, wie ihre Wahlkämpfe in Parallelmontage inszeniert sind, zeigt, dass jeder auf seine Art das Volk verachtet und benutzt. Die einzige Figur des Films, die innere Kohärenz und Integrität ausstrahlt, ist Sara. Sie, die eines Tages ins Paulos Büro hineingekommen ist, um ihn für den Kampf gegen die Armut zu gewinnen, bringt ihn immer wieder auf den Boden der Realität zurück. Wenn Paulo sich mal wieder in Wortkaskaden hineinsteigert und von seinem „Hunger nach dem Absoluten“ schwadroniert, redet Sara schlicht und präzise von existentiellen Dingen: von Hunger, von der Trauer um getötete Freunde und von der Sehsucht, einmal Kinder zu haben und ein ruhigeres Leben zu führen. Ähnlich wie bei Glauber Rochas Deus e o diabo na terra do sol (Gott und Teufel im Land der Sonne) ist auch bei Terra em transe die Frau diejenige, die das Realitätsprinzip verkörpert und eine gesunde Skepsis an den Tag legt, während die männlichen Protagonisten ständig falschen Propheten hinterher rennen.
Terra em transe ist eine Mischung aus moderner Collage, düsterer Oper, shakespeareschem Drama und groteskem Karneval. Der Film strahlt eine tiefe Verzweiflung und Agonie aus. Gleichzeitig schafft Rocha für die Zuschauer immer wieder eine Distanz zu den Protagonisten und zum Geschehen, fordert den kritischen Verstand heraus. Das Frappierende und Beklemmende an Terra em transe ist, dass der Regisseur Glauber Rocha selbst zeitlebens zwischen luzider Gesellschaftsanalyse und Konfusion hin und her schwankte. Rocha, der bild- und wortgewaltigste Visionär des Cinema Novo, fuhr in den Siebzigern einen wirren ideologischen Zickzack-Kurs: 1971 begab er sich ins Exil nach Europa, wo er verschiedene Filme drehte, die allerdings keinen großen Anklang fanden. Als er 1976 nach Brasilien zurück kehrte, bezeichnete er plötzlich – zum Entsetzen seiner alten Freunde – die Generäle der Militärjunta öffentlich als Hoffnungsträger für Brasilien, als „Vertreter des Volkes“. Rochas letzter Film A idade da terra (Das Alter der Erde, 1980), den er kurz vor seinem frühen Tod 1981 fertig stellte, steckte voller faszinierender Bilder, Gedanken und Visionen, die allerdings wie disparate Elemente über die Leinwand flimmern.
Glauber Rocha ist sicher der Cinema Novo-Regisseur, dessen Person und Werk nach wie vor am stärksten den Widerspruch zwischen revolutionärem Anspruch und intellektueller Selbstbezogenheit symbolisiert. Während zahlreiche seiner Weggefährten, wie etwa Nelson Pereira dos Santos oder Carlos Diegues, ihren Stil im Laufe der Zeit immer mehr dem klassischen Erzählkino annäherten, was ihren Filmen auch einen entsprechend breiteren Publikumserfolg sicherte, blieb Rocha Zeit seines kurzen Lebens ein kompromissloser Avantgardist, ein Kultregisseur für einen kleinen Kreis von Cineasten auf beiden Seiten des Atlantiks.

Welche Bedeutung hat Glauber Rocha heute?

Die junge Filmemachergeneration Brasiliens, die in den letzten Jahren mit Filmen wie Cidade de Deus große Erfolge beim einheimischen Publikum landete, sieht das künstlerische Erbe des Cinema Novo nicht nur mit Bewunderung, sondern durchaus auch mit kritischen Augen. So bemühen sich mittlerweile auch die meisten politisch engagierten Filmleute, ein breites Publikum zu erreichen. Entsprechend meinte der brasilianische Schriftsteller Fernando Bonassi, der das Drehbuch für Hector Babencos Film Carandirú über die blutig niedergeschlagene Revolte im gleichnamigen Gefängnis schrieb, 2003 im LN-Interview: „Dem Cinema Novo gelang nie der Kontakt mit der Bevölkerung, es handelte sich um ein Kino, dass keine Zuschauer hatte. Es war ein Kino von hoher stilistischer Komplexität, ein vom erzählerischen Standpunkt her sehr ausgefeiltes Kino, wenn auch in produktionstechnischer Hinsicht wenig glamourös. Die Filme von Glauber Rocha waren jedoch von extremer stilistischer Komplexität.” (siehe LN 356/ Februar 2004).
Sowohl in Brasilien als auch international gilt Glauber Rocha längst als eines der großen Genies des lateinamerikanischen Kinos. Seine „Ästhetik des Hungers” gehört allerdings längst der Filmgeschichte an. Die wichtigen brasilianischen Filme der letzten Jahre, wie etwa Cidade de Deus von Fernando Meirelles über den Drogenkrieg in einer Favela, erzählen ihre Geschichten, so hart sie vom Inhalt her auch sein mögen, mit stilistisch virtuosen Mitteln. An die Stelle der löchrigen Tonspuren und des minderwertigen, malträtierten Zelluloids ist eine hochgetunte Ästhetik getreten, die sich nicht schämt, von Werbung und Videoclips beeinflusst zu sein. Unterhaltung und Gesellschaftskritik im Kino werden mittlerweile nicht mehr als Gegensätze betrachtet. Nichtsdestotrotz existiert eine Seelenverwandtschaft des heutigen brasilianische Kinos mit dem Cinema Novo, was die Themen angeht. So ist nach wie vor in vielen Filmen die Gewalt allgegenwärtig. Ein fundamentaler Unterschied zum Cinema Novo besteht allerdings darin, wie diese dargestellt und interpretiert wird: Glauber Rocha bezeichnete die Gewalt noch provokativ als “erhabenste Manifestation des Hungers”. In heutigen Filmen wie Cidade de Deus oder Carandirú produzieren Armut und Ausbeutung ebenfalls Gewalt. Diese hat allerdings keine befreiende, kathartische Wirkung, sondern führt nur noch tiefer in einen Teufelskreis aus Verrohung und Ausweglosigkeit. Das revolutionäre Subjekt, von dem die Filmemacher des Cinema Novo einst träumten – wie andere Linke weltweit ebenfalls – existiert in aktuellen Filmen nicht.
In Werken wie Cidade de Deus, Carandirú oder O invasor von Beto Brant sind die Gewaltverhältnisse kein Grund, sich aufzulehnen, sondern lassen vielmehr den Kampf aller gegen alle eskalieren. So skandiert, wenn gegen Ende des Films „O invasor” jemand verzweifelt um sein Leben rennt, im Hintergrund ein harter Rap folgende Zeilen: „Die Sache wird explodieren, die Gesellschaft zerstört unser Leben, die Leute sterben ringsum, im selbstmörderischen Kapitalismus”. Brasilien erscheint in Filmen wie diesem immer noch als „Land in Trance”, auch wenn sich einiges geändert hat seit Glauber Rochas verzweifeltem filmerischen Aufschrei während der Zeit der Militärdiktatur. Zumindest sind die Filmemacher mittlerweile nicht mehr gezwungen, sich groteske, operettenhafte Szenarien wie den Staat “El Dorado” ausdenken, um ihre Kritik an den herrschenden Verhältnissen auszudrücken.

Bettina Bremme

Terra em transe, Regie: Glauber Rocha; Brasilien 1967; Schwarzweiß, 103 Minuten läuft im Forum der Berlinale (10. bis 22. Februar 2005)
Näheres zu Glauber Rocha und zumCinema Novo siehe auch Bettina Bremmes Buch Movie-mientos. (Schmetterling Verlag Stuttgart, 2000).

Wenig Aussicht auf Reformen

Laute Kritik an der Drogenpolitik der USA gibt es seit langem. US-amerikanische Forschungsinstitute, Nicht-Regierungsorganisationen, Universitäten und Teile der öffentlichen und veröffentlichten Meinung bezeichnen sie als gescheitert und schädlich für die USA oder andere Staaten. Die Kritik verhallt zwar nicht mehr völlig ungehört in Washington, doch sie ändert wenig. Beispielhaft für die militärisch-repressive Ausrichtung der internationalen US-Drogenpolitik steht der Plan Kolumbien.

Die negative Bilanz

Illegal in die USA importierte Drogenmengen konnten bisher nicht wesentlich verringert werden, obwohl das Bundesbudget gegen Drogen ständig größer wird und mittlerweile fast 20 Milliarden US-Dollar jährlich beträgt. Indikatoren für den Misserfolg sind relativ niedrige Preise, ein hoher Reinheitsgrad und eine weit verbreitete Verfügbarkeit von Kokain, Heroin, Cannabis und zunehmend auch synthetischen Drogen. Die Zahl der US-Drogenkonsumenten nahm zwar ab – am deutlichsten in den Jahren von 1985 bis 1993 –, doch dies ist kein Resultat internationaler Programme. Auch ist das Drogenproblem der USA weiterhin gravierend: 14 Millionen US-Amerikaner haben im Jahr 2000 mindestens einmal pro Monat illegale Drogen konsumiert.
Es ist die aus der Prohibition resultierende Ökonomie des Drogenmarktes, die die internationale Drogenpolitik vor Schwierigkeiten stellt. Große Gewinnspannen locken risikobereite Unternehmer an und ermöglichen es ihnen oftmals, staatlicher Verfolgung durch Bestechung, Gewalt oder technischer Innovation zu entgehen. Staatliche Erfolge sind kurzlebig, da neue Händler Lücken füllen und Schmuggelrouten sich verlagern. Dies gilt auch für die Drogenproduktion, weil Händler einer verarmten Landbevölkerung finanzielle Anreize zum illegalen Koka-Anbau bieten können. Doch nur ein geringer Teil der Einnahmen aus dem Drogengeschäft geht an Koka-, Mohn- und Cannabisbauern. Die größten Gewinne werden dort erzielt, wo es am risikoreichsten ist, nämlich innerhalb der USA. Daher sind Programme umso ineffektiver und ineffizienter, je näher sie an der Quelle ansetzen. Um den Kokainkonsum um ein Prozent zu reduzieren, sind einer Studie der US-Forscher Rydell und Everingham zufolge Initiativen in Drogen-Herkunftsstaaten 23 Mal teurer als Therapieprogramme in den USA.
Programme zum Stopp von Drogenlieferungen in Grenznähe (interdiction) und solchen in Herkunfts- und Transitstaaten haben in den vergangenen Jahren nur rund ein Fünftel des Drogenbudgets der US-Regierung ausgemacht. Die meisten Gelder investiert Washington in Aktionen gegen Händler und Konsumenten innerhalb der USA. Trotzdem garantieren die investierten Mittel eine Dominanz der USA in der internationalen Drogenpolitik.
Versuche zur repressiven Umsetzung der Entscheidung, bestimmte Suchtstoffe zu verbieten, erzeugen unbeabsichtigte Nebeneffekte. Eine Vernichtung von Feldern kann Rebellenbewegungen stärken oder die Landbevölkerung mobilisieren. Maßnahmen zur Unterdrückung traditioneller Konsumgewohnheiten führen möglicherweise zum Konsum schädlicherer Drogen. So löste in Südostasien und Südwestasien intravenöser Heroinkonsum das Rauchen von Opium ab. Solche Veränderungen steigern die Drogennachfrage. Und indem die USA eine Beteiligung von immer mehr Stellen an der Drogenbekämpfung verlangen, fördern sie indirekt deren Korrumpierung durch Händler und Kompetenzstreitigkeiten zwischen Polizei und Militär.
Außerdem verschärfen die USA das Drogenproblem, indem sie die Drogenpolitik anderen Interessen unterordnen. So unterstützte die CIA wichtige Gruppen wie chinesische Nationalisten in Burma, Exilkubaner in Miami, Contras in Nicaragua oder Mudschahedin in Afghanistan, die in den Drogenhandel verwickelt waren. Mögliche Profite aus dem Drogenhandel betonen die USA meist nur dann, wenn diese US-Interessen gefährden. Beispiele sind Anschuldigungen gegen chinesische Kommunisten, gegen Kuba, die Sandinisten oder die Taliban.
Die von den USA mitproduzierten Nebeneffekte sind auch für die Gesellschaften anderer Staaten schädlich. Die US-Drogenpolitik trägt zu Menschenrechtsverletzungen, Unterminierung von Demokratie, Verschärfung innenpolitischer Konflikte und Armut bei. Mit US-Material ausgerüstet, gehen autoritäre Regime oder für Gewalttaten bekannte Streitkräfte nicht nur gegen Drogenhändler, sondern gegen Bauern, Oppositionelle und Minderheiten vor. So profitierte in Peru das Fujimori/Montesinos-Regime von politischer und wirtschaftlicher Unterstützung der USA, und in Bolivien verletzen von den USA ausgerüstete Polizeieinheiten massiv Menschenrechte. Für eine Eskalation innenpolitischer Konflikte steht Kolumbien, wo sich die Gewaltspirale auf Grund der Verknüpfung von Aufstands- und Drogenbekämpfung immer höher dreht.
Die USA verschärfen die Armut, weil sie von den betroffenen Staaten fordern, ohnehin knappe Ressourcen in eine erfolglose repressive Drogenpolitik zu investieren. Auch gefährden lokale Sicherheitskräfte und US-Agenten die Lebensgrundlage von Teilen der Landbevölkerung, indem sie deren Felder vernichten. Wenn dies durch das Versprühen von Herbiziden oder sogar biologischen Stoffen geschieht, leidet zudem noch die Gesundheit betroffener Menschen und die Flora und Fauna.
Die Rhetorik in der US-Politik wechselt, doch die Politik bleibt kriegerisch. Unter Bill Clinton verlor die Metapher des Drogenkriegs an Bedeutung, doch die Repression im In- und Ausland nahm zu. Unter George W. Bush ist die Rhetorik widersprüchlich und die Politik relativ konstant. Während sich Bush, Außenminister Colin Powell und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld gegen eine Eskalation ausgesprochen haben, symbolisieren Justizminister John Ashcroft und der vor kurzem vom Senat in seinem Amt bestätigte neue ‘Drogenzar’ Walters Kontinuität.

War on drugs – war on terror

Die aktuelle politische Realität: Obwohl die Andean Regional Initiative soziale Entwicklung und Hilfe für Kolumbiens Nachbarstaaten stärker betont als das Vorgängerprojekt Plan Kolumbien, geht der Großteil des Betrages für Kolumbien an die Sicherheitskräfte. Weil das US-amerikanische Drogenproblem aus Sicht der US-Drogenbehörde DEA hauptsächlich ein Kokain-Problem ist, Kokain größtenteils aus Kolumbien kommt und kolumbianische Händler eine wichtige Rolle bei der Verteilung der Drogen innerhalb der USA spielen, konzentriert sich die US-Drogenpolitik weiterhin auf dieses Land. Hinzu kommt kolumbianisches Heroin, das asiatisches Heroin weitgehend vom Markt verdrängt hat. Neben Kolumbien bereitet Mexiko Washington die größten Sorgen, weil mexikanische Händler zunehmend am Heroinschmuggel partizipieren (Miami Herald, 5.12.2001). In Asien sind die USA jedoch weiterhin aktiv. So bildeten US-Spezialkommandos im vergangenen Jahr thailändische Truppen an den Grenzen zu Burma und Laos und unweit von China im Dschungel- und Drogenkrieg aus.
Nach wie vor vernachlässigen die USA internationale Organisationen: Nur knapp zwei Prozent seines Drogenkontroll-Budgets von insgesamt 893 Millionen US-Dollar hat das Außenministerium im Finanzjahr 2002 für diese vorgesehen. Das zeigt, dass die USA Forderungen lateinamerikanischer Staaten und der Europäischen Union, Drogenkontrolle zu multilateralisieren, nicht nachkommen will. Innerhalb der USA geht die Nationalgarde weiterhin gegen Cannabispflanzer vor, und die Gefängnisse sind dermaßen überfüllt, dass sich viele Richter weigern, Drogenfälle zu übernehmen.
Eine zusätzliche Konstante ist die Instrumentalisierung von Drogenpolitik für andere Interessen. Nach den Anschlägen vom 11. September unterstrichen US-Politiker und auch der neue DEA-Direktor Asa Hutchinson die Verquickung von Terrorismus und Drogenhandel, um dem war on drugs und dem war on terror zusätzliche Legitimität zu verleihen. Im Falle Afghanistans konnte die DEA überzeugende Hinweise jedoch allenfalls zur Besteuerung von Opiumfeldern durch die Taliban und deren Verbindungen zu Osama bin Laden vorlegen. Die Finanzierung der Nordallianz aus Drogeneinkünften thematisierte Washington nicht.
Die Erklärungsfaktoren für die kontinuierlich repressive Politik: Traditionell nehmen Politiker und die Öffentlichkeit Drogen als importiertes Problem wahr und nicht als Folge eigener gesellschaftlicher Umstände. Weiterhin sehen die USA im Drogenhandel, aus dem Gewalt, Korruption und Instabilität entstehen, eine Gefahr für die nationale Sicherheit der USA. Kritiker, die in der auswärtigen Drogenpolitik nur einen Vorwand für Hegemonialpolitik sehen, unterschätzen die Angst der US-amerikanischen Gesellschaft vor Drogen.
Von dieser Angst profitieren Kandidaten für hohe politische Ämter, die sich mit einer tough on drugs-Rhetorik gegenseitig übertrumpfen. In der Repressionsspirale sind Legislative und Exekutive gefangen. So hat der Kongress dank seiner Budgetkompetenz das Weiße Haus häufig zu einer energischeren Drogen-Außenpolitik gezwungen. Repressiv orientierte Behörden wie die DEA, CIA oder auch das Pentagon sehen im Drogenkrieg eine Chance, ihr Budget aufzustocken. Diese Motivation ist stärker als die Ansicht von vielen Militärs und Polizisten, Repression sei das falsche Mittel.

Chancen für Reformen

Es gibt Anzeichen für Veränderungen. Beispielsweise hat der Kongress im vergangenen Oktober die Mittel gekürzt, die das Weiße Haus für die Andean Regional Initiative beantragt hatte. Auch hat der Senat ein einjähriges Moratorium über den Zertifizierungsprozess verhängt, über dessen Multilateralisierung seit längerem diskutiert wird. Die Einbettung der Zertifizierung in einen Evaluierungsprozess der Organisation Amerikanischer Staaten würde die Beziehungen etwa zu Mexiko deutlich verbessern, dessen Präsident Vicente Fox eine enge Zusammenarbeit mit Washington anstrebt. Angedrohte Wirtschaftssanktionen stehen dem im Wege, da sie den mexikanischen Nationalismus und das alte Argument bestärken, die USA würden andere Staaten für ein Problem verantwortlich machen, das sie durch Drogennachfrage selbst geschaffen hätten.

Der Glaube an die Abschreckung

Die Aussichten auf einen grundsätzlichen Kurswechsel sind dennoch gering. Rationale und ethische Bewertungskriterien spielen in der US-Politik eine viel geringere Rolle als innenpolitische Faktoren oder kulturelle Phänomene wie eine religiös und historisch motivierte Kriminalisierung von Drogen und ein tief sitzender Glaube an Abschreckung. Hinzu kommt, dass Untersuchungen zufolge auch die Förderung alternativer Agrarprodukte und ländlicher Entwicklung in drogenproduzierenden Regionen die Drogenherstellung nicht nachhaltig und wesentlich verringert. Therapieprogramme, so kriminalitätsreduzierender, gesundheitsfördernder und dadurch kostengünstiger sie gegenüber Repression auch sein mögen, verzeichnen hohe Rückfallquoten. Politiker, die den Glauben an Patentlösungen aufrechterhalten wollen, können sie deshalb als ineffektiv darstellen und an alten Strategien festhalten.
Kritiker fordern indes schon seit Jahren, nicht zwei Drittel des Drogenkontrollbudgets für Repression im In- und Ausland und ein Drittel für Prävention, Therapie und Forschung auszugeben, sondern umgekehrt. Tatsächlich will die Regierung Bush für Therapieprogramme in den kommenden fünf Jahren 1,6 Milliarden US-Dollar zusätzlich bereitstellen. Einer wirklichen Umverteilung der Mittel stehen allerdings Interessen diverser Bundesbehörden und der Industrie entgegen. Diese profitiert beispielsweise von Waffenverkäufen an ausländische Sicherheitskräfte und der Entwicklung biologischer Kampfstoffe zur Pflanzenvernichtung, die das Biowaffen-Kontrollregime untergraben.
Eine Richtungsänderung wird es nur mit Unterstützung der US-Öffentlichkeit geben. Ergebnisse von Meinungsumfragen sind widersprüchlich. In einer Umfrage vom März 2001 bezeichneten rund zwei Drittel der Befragten den Drogenkrieg als verloren und führten dies auf die hohe Drogennachfrage zurück. Trotzdem sind alternative Strategien wie mehr Behandlungsangebote und Entkriminalisierung von Drogenkonsum weiterhin unpopulär. Die Reformbewegung bleibt eine – wenn auch lautstarke – Minderheit in den USA. Im Falle einer Freigabe illegaler Drogen würde die Zahl der Konsumenten wahrscheinlich ansteigen (Economist, 28.7.2001), weshalb kaum jemand, der politische Ambitionen hat, diese Option vorschlägt.

Agent Green – Mit Biowaffen gegen Drogenpflanzen

Ende der 80er Jahre schickte das US-Landwirtschaftsministerium Forscher weltweit auf die Suche nach möglichen Schädlingen von Koka, Cannabis und Schlafmohn. Bei Coca-Cola und in einem Biowaffenlabor wurden sie fündig. Fusarium oxysporum, ein Pilz, der in kürzester Zeit ganze Kokafelder vernichten kann, wurde auf einer ehemaligen Kokaplantage des Getränkeherstellers auf Hawaii gefunden. Ein effektiver Schädling der opiumproduzierenden Mohnpflanzen war hingegen bereits vom offensiven Biowaffen-Programm der früheren Sowjetunion isoliert und dann in einem Labor in Taschkent im heutigen Usbekistan eingelagert worden, wo er von den USA schließlich gefunden wurde.
In der Folgezeit wurde der Mohnschädling mit US-Geldern in einem usbekischen Labor weiterentwickelt. Im Sommer 2001 sollten die Arbeiten beendet sein und ein einsatzfertiges Produkt zur Vernichtung der umfangreichen Schlafmohnfelder in der Region zur Verfügung stehen. Noch ist unklar, ob sich die beteiligten Länder und vor allem das UN-Drogenkontrollprogramm UNDCP, unter dessen formalen Leitung das Projekt durchgeführt wurde, tatsächlich für einen Einsatz entscheiden werden.
Die Koka vernichtenden Pilze wurden parallel in US-amerikanischen Labors getestet. Für das Jahr 2000 standen erste Freilandversuche in Kolumbien an. Auch hier sollte formal das UNDCP die Abwicklung übernehmen, um, so die damalige Außenministerin Madeleine Albright, „den Eindruck zu vermeiden, dass es sich um eine reine US-Initiative“ handele.
Nachdem der Plan bekannt wurde, regte sich massiver Widerstand in Kolumbien und anderen Andenstaaten. Im Sommer 2000 verboten Ecuador und Peru gesetzlich die Anwendung der Pilze in ihren Ländern, hohe Politiker anderer Anrainerstaaten sprachen sich gegen eine „biologische Kriegsführung“ aus, wie es der frühere Drogenbeauftragte Brasiliens, Walter Maierovich, nannte. Auch das deutsche und das europäische Parlament machten ihre Ablehnung der Killerpilze deutlich, und selbst innerhalb der USA waren die Pilze nicht willkommen. Der Umweltminister von Florida erteilte Plänen zum Einsatz von Agent Green gegen Cannabis-Felder in Florida eine klare Absage.
Andererseits befand sich die kolumbianische Regierung unter dem massiven Druck der US-Amerikaner. Der milliardenschwere Plan Colombia wurde an die Versuche mit Agent Green gekoppelt. Erst im August 2000 ruderte die damalige Clinton-Administration zurück und hob diese Verknüpfung wieder auf. Im Januar vergangenen Jahres zog dann die kolumbianische Regierung nach und verkündete, dass keine Verträge zur Entwicklung von Agent Green mit der UNDCP oder den USA geschlossen würden.
Doch noch ist das Projekt nicht endgültig vom Tisch. In den USA wird weiterhin kräftig an den Pilzen geforscht. Auch andere Schädlinge – zum Beispiel Insekten – werden mit Mitteln des Landwirtschaftsministeriums mittlerweile daraufhin untersucht, ob sie sich nicht für den Drogenkrieg eignen.

Die Risiken

Eine Freisetzung dieser Pilze in die südamerikanische Umwelt könnte katastrophale ökologische Folgen nach sich ziehen. Einmal in die Umwelt entlassen, werden die Anti-Drogen-Pilze nicht mehr zu kontrollieren sein. Als infektiöse Organismen können sie sich schnell auch außerhalb des Zielgebietes verbreiten und lange Jahre im Boden überleben. Bereits bei ersten Gewächshausexperimenten haben sich die Pilze als unkontrollierbar erwiesen.
Die größte ökologische Gefahr droht von einer mangelnden Spezifität der Pilze. Wenn nicht nur die Zielpflanzen – Koka, Schlafmohn oder Cannabis – befallen werden, sondern auch andere, nahe verwandte Arten, kann das in den fragilen Ökosystemen zum Beispiel des Amazonasgebietes einen katastrophalen Effekt haben. Mit einer unglaublichen Ignoranz haben die beteiligten Forscher diese Frage bislang völlig vernachlässigt. Die Pilzstämme wurden zwar an verschiedenen Nahrungsmittelpflanzen getestet – man möchte ja schließlich keinen Schaden in der Landwirtschaft anrichten – aber Wildpflanzen und natürliche Ökosysteme wurden praktisch völlig ausgeblendet. Dabei ist bekannt, dass viele Stämme des Koka-Killers Fusarium oxysporum ein großes Wirtsspektrum haben. Bei ersten Infektionstests wurden bereits zwei weitere Pflanzenarten von dem Pilz geschädigt, die nicht besonders eng mit den Kokapflanzen verwandt sind. In Südamerika wachsen über 200 verschiedene Arten der Gattung Erythroxylum, zu der auch der Kokastrauch gehört. Vier von ihnen stehen bereits auf der roten Liste und gelten als bedroht. Viele andere Organismen sind wiederum auf die Erythroxylum-Pflanzen als Nahrungsquelle und Lebensraum angewiesen. Eine unkontrollierte Ausbreitung von Agent Green würde dieses fragile Netzwerk zu zerstören drohen.
Auch die gesundheitlichen Gefahren sind enorm, denn Fusarium gehört heute zu den häufigsten lebensbedrohlichen Pilzinfektionen. Zwar werden in der Regel nur immungeschwächte Personen von Pilzen infiziert, doch in solchen Fällen kommt oft jede Hilfe zu spät. So haben Fusarium-Infektionen eine Sterblichkeitsrate von circa 70 Prozent, das heißt über zwei Drittel der Infizierten sterben an dem Pilz. Interne Dokumente belegen, dass dieses Risiko den Entwicklern von Agent Green bereits früh bekannt war. Trotzdem wurde ein großflächiger Einsatz geplant, bei dem sicherlich Zehntausende von Menschen mit dem Pilz direkt in Kontakt gekommen wären.

Biologische Waffe

Vor allem aber droht bei einem Einsatz von Agent Green die Unterminierung des globalen Biowaffen-Verbotes. Nach dem Geist und Wortlaut der Biowaffen-Konvention sind Entwicklung, Produktion und Einsatz der Killerpilze eindeutig verboten, denn jede feindselige Anwendung biologischer Mittel fällt unter das Verbot. Gerade im kolumbianischen Bürgerkrieg steht der Waffencharakter der Pilze außer Frage. Diese Auffassung wird auch von vielen Vertragsstaaten der Konvention geteilt. Die USA können sich aber offensichtlich darauf verlassen, dass kein anderes Land der Supermacht offiziell einen Verstoß gegen die Biowaffen-Konvention vorwerfen wird.
Gegen Ende der Clinton-Administration begann ein langsames Umdenken. So begründete Bill Clinton die Streichung von Agent Green aus dem Plan Colombia damit, dass hier auch mögliche Probleme mit Bezug „auf die Verbreitung von Biowaffen und auf den Bioterrorismus“ eine Rolle spielen könnten. Doch es steht zu befürchten, dass George W. Bush auch hier das Rad der Geschichte zurückdrehen wird. So sagte erst im Dezember 2001 der US-amerikanische Chefunterhändler bei den Biowaffen-Verhandlungen in Genf, es müsse doch wohl noch möglich sein, das Medellín-Kartell zu bekämpfen.
Die beteiligten Wissenschaftler versuchen, Agent Green in eine Methode der biologischen Schädlingsbekämpfung umzudefinieren und so zu legitimieren. Tatsächlich sind Koka, Mohn oder Cannabis jedoch kein Unkraut, keine Schädlinge, sondern sie werden von den Bauern als Nutzpflanze und Lebensgrundlage angebaut. Ihr Anbau zur Herstellung illegaler Drogen ist aus europäischer oder US-amerikanischer Sicht vielleicht nicht wünschenswert, aber das macht sie noch nicht zum Unkraut. Biologische Schädlingskontrolle dient dem Schutz der angebauten Nutzpflanze, nicht ihrer Zerstörung.
Wenn Agent Green tatsächlich zum Einsatz kommen sollte, wäre das ein schwerer Schlag für die Biowaffen-Konvention, denn es würde ein Präzedenzfall sein für die Anwendung von biologischen Mitteln für feindselige Zwecke. Eine Unterscheidung zwischen „guten“ und „schlechten“ Biowaffen wird schnell zur Entwicklung einer ganzen Bandbreite verschiedener biologischer Waffen führen, die Materialien zersetzen, Nutzpflanzen angreifen oder andere „nicht-tödliche“ Missionen erfüllen. Bislang gelten biologische Waffen ohne jede Ausnahme und kompromisslos weltweit als geächtet. Der Einsatz von Agent Green droht diesen Konsens in den Grundfesten zu erschüttern und eine Tür zum biologischen Wettrüsten aufzustoßen.

Der Autor ist promovierter Zellbiologe und Mitarbeiter des Sunshine-Projects, einer internationalen Organisation mit Sitz in Hamburg und Austin / Texas, die zum militärischen Missbrauch der Bio- und
Gentechnologie arbeitet. Internet: www.sunshine-project.de.

Es lebe der Mainstream!

So einfach ist das. Die arme Regierung steht im Kreuzfeuer der „Terrororganisationen“. Infamerweise beruft sich der Ex-Linke Volmer für diese Interpretation auf kolumbianische NGOs, die seit Jahren im „schmutzigen Krieg“ von Paramilitärs und ihren Helfershelfern in den „Sicherheitskräften“ dezimiert werden. Bei den AktivistInnen, die auch heute unter ständiger Bedrohung arbeiten, haben die Auslassungen des Drittweltexperten aus dem Auswärtigen Amt Kopfschütteln hervorgerufen.
Volmer vergröbert noch das Argumentationsmuster der kolumbianischen Regierung, die sich im Ausland gerne als Opfer der Gewalt von „links“ und „rechts“ geriert. So hofft sie, die Milliardenbeträge für ihren Plan Colombia lockermachen zu können. Washington soll dabei seine Militärhilfe weiter aufstocken, die gleichermaßen in den Drogenkrieg wie in die Aufstandsbekämpfung wandert. Die EU wäre schwerpunktmäßig für die soziale Seite des Aufbauprogramms zuständig.
Die Paras sind zwar keine Marionetten der Regierung. Ihr Wachstum hat – vor allem auch als Reaktion auf die Größe der Guerilla – schon längst eine Eigendynamik entfaltet, die langfristig Friedensverhandlungen auch mit ihnen erforderlich machen wird. Aber nach wie vor führen sie Massaker unter Tolerierung oder aktiver Unterstützung von Teilen der Armee aus. Wie ihren Vorgängerinnen fällt der Regierung wenig mehr ein, als diese vielfach dokumentierten Verbindungen herunterzuspielen.
Auch die moralisierende Disqualifizierung der Guerilla als „Terrororganisationen“ führt in eine Sackgasse. Bei aller berechtigter Kritik an Anschlägen auf Pipelines und Strommasten, Zwangsrekrutierungen, Entführungen, der Hinrichtung von Zivilisten und last but not least – im Falle der FARC – der taktischen Zusammenarbeit mit den Narcos: Der Krieg in Kolumbien kann nur durch Verhandlungen beendet werden, und dann werden vielleicht aus sogenannten „Terroristen“ plötzlich Minister – siehe Nordirland.
Zu kurz greift Volmers Vorwurf, die Guerilla habe ihre sozialen Ziele verraten und sei zu bloßen „Handlangern der Drogenmafia“ mutiert. Die Guerilla war in ihrer Entstehungsphase eine Antwort auf das geschlossene Zweiparteiensystem, das Sozialreformen und eine politische Partizipation dritter Kräfte konsequent unterdrückte. Heute haben die FARC aufgrund ihrer militärischen Stärke die Oligarchie ernsthaft in Bedrängnis gebracht und zumindest die Perspektive auf eine Gesellschaft jenseits neoliberaler Parameter aufrechterhalten – was von ihrer sozialistischen Rhetorik in der Praxis übrigbleiben wird, wird sich zeigen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren besteht jedoch jetzt die reale Chance, durch Fortschritte in den Friedensverhandlungen den Falken auf allen Seiten das Wasser abzugraben.
Doch auf diesem Ohr stellt sich die Bundesregierung taub. Man muß ja nicht die Fehler des Geheimdiplomaten Schmidbauer wiederholen, der Gespräche zwischen ELN und kolumbianischer Regierung im Kanzleramt einfädeln wollte, gleichzeitig aber dem damaligen Präsidenten Samper die regen Vermittlerdienste des Agentenpärchens Mauss bei Entführungen verschwieg – mit den bekannten Folgen.
Gewiß, auch die kolumbianische Diplomatie hat wegen ihrer Fixierung auf Washington gegenüber der EU noch keine klare Linie gefunden. Aber die Lage in Kolumbien entzieht sich simplen Schwarz-Weiß-Mustern, wie Volmer spätestens bei seinem Besuch in Bogotá erkannt haben dürfte. Was hindert die Bundesregierung eigentlich daran, stärker als bisher üblich, Druck auf Pastrana wegen der katastrophalen Menschenrechtslage zu machen? Oder, wenn die ELN – wegen Mauss und wegen ihren wohlbegründeten Vorbehalten gegenüber den Gringos – Gesprächspartner in Europa sucht: Wäre dies nicht die Chance, die Entführungen und die anderen zahlreichen Verletzungen des humanitären Völkerrechts durch die Guerilla in direkten Gesprächen zum Thema zu machen?
Die repressive Antidrogenpolitik, die Kolumbien – und ganz Lateinamerika – von den USA aufgezwungen wird, ist grandios gescheitert: Sie kann den Drogenhandel nicht eindämmen und heizt die Konflikte in und um Kolumbien an. Hier vor allem wäre dringend ein Gegengewicht seitens der EU gefragt und nicht ein bequemes Lavieren im Mainstream, damit man nur ja keine Empfindlichkeiten im US-“Hinterhof“ ankratzt. Aber von grünen Renegaten ist das wohl am allerwenigsten zu erwarten.

Opfer der Öffnung

Wenn Frau Adelfa Valencia am Abend nach Hause kommt, bringt sie gerade genug Reis mit, damit die Kinder nicht mit knurrenden Mägen ins Bett müssen. Die Zwiebeln, die sie auf dem Markt von Altos de Cazuká anbietet, finden kaum Käufer. Denn hier, am äußersten Südrand von Bogotá, wo vor allem Vertriebene aus anderen Landesteilen siedeln, sind alle arm. Man kauft gerade das Nötigste. Aber die Krise ist nicht nur in den Elendsvierteln spürbar. Jaime Benavides, ein Ingenieur, der mit seinen Brüdern in einem Familienbetrieb Maschinenersatzteile und Qualitätswerkzeug für die Industrie herstellt, klagt über die Absatzflaute: „Wir machen nicht einmal die Hälfte des Umsatzes von vor zwei Jahren. Die Produktion stagniert landesweit.“ Selbst die Allergrößten machen sich Sorgen. So wurde ein Mitglied der mächtigen Santodomingo-Gruppe – eines der größten Wirtschaftsimperien des Landes – in einem Billig-Supermarkt mit dem Einkaufswägelchen gesehen. Man müsse heute beim Geldausgeben aufpassen, erklärte er einem erstaunten Journalisten.
1998 verzeichnete Kolumbiens Wirtschaft ein prekäres Wachstum von 0,2 Prozent. Das waren, wie die Statistiker meldeten, die schlechtesten Werte seit der großen Depression der 30er Jahre. Doch es sollte noch dicker kommen: im ersten Quartal 1999 wurde erstmals ein Negativwachstum gemessen, stolze -4,0 Prozent im Vergleich zum ersten Vierteljahr 1998. Kolumbien, das trotz Guerilla und Drogenkrieg selbst in den 80er Jahren, im „verlorenen Jahrzehnt“ Lateinamerikas, ein robustes Wachstum vorweisen konnte, befindet sich auf einer wirtschaftlichen Talfahrt, deren Ende, allen Beschwichtigungsversuchen der Wirtschaftsverantwortlichen zum Trotz, noch nicht abzusehen ist. Die Arbeitslosigkeit, derzeit auf einem Rekordhoch von offiziell 19,5 Prozent, dürfte sich kaum vermindern, solange die Betriebe massenweise zusammenbrechen. Und der Konjunkturmotor Privatkonsum wird sich schwerlich einstellen, wenn immer mehr KolumbianerInnen kein Einkommen haben.
Externe Ursachen wie die Asienkrise, der russische Wirtschaftskollaps und die Erschütterungen im benachbarten Brasilien reichen als Erklärung nicht aus. Auch die Zerschlagung der Kokainkartelle von Medellín und Cali haben sich auf die Gesamtwirtschaft nur marginal ausgewirkt, denn die Drogenbarone hatten ihre Millionen in erster Linie in Immobilien und Luxusgüter investiert. Allenfalls die Baubranche wurde durch die Festnahme der Spitzen des Cali-Kartells geschädigt. Die Verringerung der Bautätigkeit kann vor allem in Cali, aber auch in Bogotá visuell wahrgenommen werden.

Fehler vergangener Wirtschaftspolitik

Für den Wirtschaftsprofessor Jorge Iván Rodríguez liegen die Wurzeln für den wirtschaftlichen Niedergang in der falschen Politik der Regierung von César Gaviria (1990-1994). Noch im Jahre 1987 hatte die Zentralbank eine äußerst positive Bilanz über 20 Jahre Wechselkurskontrolle gezogen. Die Einnahmen aus dem Kaffeeboom konnten zum Beispiel dank der Devisenkontrollen für ganz Kolumbien genutzt werden. Ohne sachliches Argument, einzig als Gebot der neoliberalen Mode, wurde dann 1991 der Wechselkurs freigegeben. Dazu Rodríguez: „Plötzlich strömten aus ganz Lateinamerika Dollars ins Land, denen die Wirtschaft nicht gewachsen war. Ziel war es, die Inflation zu dämpfen. Doch gleichzeitig wurde der Peso aufgewertet.“ Die starke Währung wiederum ermunterte zu Importen im großen Stil, während die Exporte schwieriger wurden. Noch 1991 hatte die Außenhandelsbilanz einen positiven Saldo von 5,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP), 1995 gab es bereits ein Defizit in derselben Höhe. Ein Verlust von elf Prozentpunkten in nur vier Jahren ließ die Alarmglocken schrillen. Tatsächlich hatte der folgende Präsident Ernesto Samper mit seiner Sozialpolitik im Sinne, den Wirtschaftsliberalismus abzumildern. Im November 1994 zog sein Wirtschaftsminister Guillermo Perry allerdings in einem Disput mit der Zentralbank den Kürzeren, als er die Abwertung des Peso forderte. Wenige Monate später war die Regierung durch den Skandal um die Drogengelder im Wahlkampf handlungsunfähig. Den Rest seiner Amtszeit war Samper mit Schadensbegrenzung beschäftigt und konnte keine visionären Projekte mehr angehen.
Also wurde das Land weiterhin mit Dollars überflutet, die aus spekulativen Gründen kurzfristig angelegt wurden. Für die Spekulanten ein sicheres Geschäft: drei Jahre lang wurde die Parität von US-Dollar und Peso von 1:1000 gehalten, während die Inflationsrate sich mit rund 20 Prozent in kontrollierbaren Grenzen hielt. Die Banken boten damals bis zu 45 Prozent Nominalzinsen. Das entsprach real immerhin 15-17 Prozent – mehr als das Doppelte dessen, was auf dem internationalen Kapitalmarkt verzinst wurde. Da die kolumbianischen Banken keine Kredite in Fremdwährung vergeben dürfen, konnten sie die überschüssigen Dollars nur zu den gängigen Bedingungen im Ausland veranlagen.

Importe bestimmen die Ökonomie

Die mit Hartwährungspolitik gekoppelte Öffnung hat die kolumbianische Wirtschaft nachhaltig geprägt. Produkte, die früher im Lande veredelt wurden, können jetzt billiger aus dem Ausland importiert werden. Autoersatzteile oder pharmazeutische Produkte, die früher ganz oder teilweise in Kolumbien hergestellt wurden, sind jetzt im Originalwerk in Europa oder den USA preiswerter zu haben. So wurden industrielle Betriebe nach und nach zu Importhäusern.
Daß ein so fruchtbares Land wie Kolumbien zwei Drittel seiner Grundnahrungsmittel importieren muß, ist skandalös. Schuld am Niedergang der Agrarproduktion ist einerseits die politische Gewalt, die mehr als eine Million Bäuerinnen und Bauern von ihrem Boden vertrieben hat, andererseits die ausländische Konkurrenz, die die Waren billiger auf den Markt werfen kann. Vor allem die Nachbarländer Ecuador und Venezuela, die aus ihren weichen Währungen Kapital zu schlagen verstehen, sind zu den wichtigsten Handelspartnern nach den USA geworden.
Warum die kolumbianischen Unternehmer sich diese Politik gefallen ließen, erklärt Jorge Iván Rodríguez damit, daß die großen Konsortien sich vor allem auf Produkte spezialisierten, die kaum von ausländischer Konkurrenz betroffen sind, etwa Bier und Erfrischungsgetränke oder Zement. Die Großen steckten ihr Kapital außerdem in Banken, Bauunternehmen und Telekommunikation.
Ihre Kredite nahmen die großen Konzerne wie Santodomingo oder Ardila Lulle in den USA in Dollars auf. Das war billiger, als sich im Inland zu verschulden. Deswegen sind sie auch jetzt gegen eine Abwertung, weil damit ihre Schulden steigen würden.

Der Trend wird fortgesetzt

Unter der neuen Regierung, die seit August im Amt ist, gebe es weniger Korruption, meint der Maschinenfabrikant Jaime Benavides. Aber sein Vertrauen in die Wirtschaftspolitik ist beschränkt. Präsident Andrés Pastrana, der in der Konservativen Partei groß geworden und gewohnt ist, die Interessen der Wirtschaft zu vertreten, hat sein Wirtschaftskabinett mit Leuten bestückt, die schon unter Gaviria die Liberalisierung betrieben haben. Daß sie ihre eigene Politik verurteilen und den Rückwärtsgang einlegen würden, war nicht zu erwarten. Im Gegenteil: bei der Privatisierung wurden ein paar Gänge zugelegt. Nicht einmal der Gesundheits- und der Erziehungsbereich sind davon ausgenommen. Außerdem sind auch die angeblich so sauberen Technokraten nicht vor den Versuchungen des Kapitalismus gefeit. So werden Staatsbetriebe vor der Privatisierung gezielt entkapitalisiert und dann unter dem Wert verkauft. Die Streiks im öffentlichen Dienst, die Ende April Bogotá und andere Großstädte für einen Tag lahmlegten, dürften nur der Beginn größerer sozialer Auseinandersetzungen gewesen sein.
Als einziger Rettungsanker in der Depression wird derzeit die Erdölindustrie betrachtet, die dank des steigenden Ölpreises deutlich mehr abwerfen wird als prognostiziert. Erdöl hat den Kaffee als wichtigstes Exportprodukt längst überholt. Einen stetigen Zuwachs verzeichnen auch die Schnittblumenexporte, ein Wirtschaftszweig, der die Savanne von Bogotá in ein riesiges Treibhaus verwandelt hat. Allerdings ist auch in der Blumenindustrie bald der Zenit erreicht, denn trotz Sozialdumping können die Produzenten nicht mit den Produktionskosten der ecuadorianischen Konkurrenz mithalten.

“Wir mußten alles zurücklassen“

Früher erlebten wir keine Gewalt. Wir waren arme Leute, aber wir haben von der Landwirtschaft, vom Fischfang und von der Viehzucht gelebt. Ausreichend Werkzeuge und medizinische Versorgung hatten wir. Gekauft haben wir das, was benötigt wurde.“ So beschreiben Familien aus 49 Gemeinden der Region Medio y Bajo Atrato Chocoano y Antioqueño ihre Vergangenheit. Vor zwei Jahren begann dort eine ökonomische Blockade durch paramilitärische Gruppen, so daß die Menschen keine Möglichkeit mehr hatten, weiter Handel zu treiben. Die Massaker durch Paramilitärs und Operationen der Armee, wie massive Bombardements dieses Gebietes, führten dazu, daß alle dort Lebenden in den Urwald flüchteten. „Wir mußten verschwinden, mit unseren Kindern, und alles zurücklassen. Frauen mit Babies, die nicht sofort fliehen konnten, wurden mit Waffengewalt davongejagt. Frauen wurden vergewaltigt, ihre Genitalien verstümmelt, die Brüste abgeschnitten…“ – so die Frauenorganisation La Ruta Pacífica de Las Mujeres. Selbst die Gewaltstatistik der lokalen Behörden vom Mai 1996 bestätigt, daß die Mehrzahl der Frauen in der Region Urabá Antioqueño vergewaltigt wurden.

Zwei Wochen ohne Essen

In den Bergen konnten die Vertriebenen jedoch nicht lange überleben, also mußten sie zum nächstgelegenen Dorf ziehen. „Wir mußten manchmal mehr als zwei Wochen ununterbrochen laufen, weil die Armee hinter uns her war und weiterhin auf uns schoß. Viele von uns haben die Strapazen nicht überlebt.“ Allein 3.000 Menschen aus den erwähnten 49 Gemeinden flüchteten nach Mutatá (Bezirk Urabá). Eine Vertreterin von La Ruta Pacífica de Las Mujeres vergleicht die Zustände im Flüchtlingslager Pavarando (Mutatá) mit denen eines Konzentrationslagers. Das Flüchtlingslager ist von der Armee eingekreist – niemand kann rausgehen, arbeiten oder dergleichen. Nahrung von Bienestar Familiar, der staatlichen Sozialversorgung, erhalten nur schwangere Frauen, Kinder und alte Leute. Alle anderen müssen manchmal zwei Wochen ohne Essen ausharren. Die Regierung schaut weg, als gäbe es keine Vertriebenen. Vor kurzer Zeit kamen noch einmal 600 bis 700 Vertriebene – die meisten von ihnen Frauen mit Kindern – ins Lager nach Mutatá. Repression und direkte Androhung von Gewalt durch die Armee sind ständig präsent. „Im Dezember wurde ein Mann von Soldaten aus dem Lager geführt, gefoltert und gezwungen wegzulaufen, mit der Aufforderung zu schweigen, ansonsten würde seine Frau bald Witwe sein.“
Solche Aufforderungen muß man in Kolumbien sehr ernst nehmen. Denn wer offen sagt, daß die Ursache für die Vertreibungen diejenige politische Gewalt ist, die von den Paramilitärs ausgeht und von staatlicher Seite unterstützt wird, oder wer gar versucht, die Zustände zu verändern und sich beispielsweise für die Vertriebenen einsetzt, der hat mit Gefängnis, Folter, Exil oder Mord zu rechnen. Der Staat läßt unter dem Vorwand der Guerillabekämpfung Menschen aus dem Weg schaffen, die unbequem werden könnten, wenn es darum geht, die eigene Macht und den Wohlstand der politischen und wirtschaftlichen Elite zu sichern.
Die massiven Abwanderungen sind laut eines Berichtes der „Gruppe zur Unterstützung der Organisationen der internen Vertriebenen“ hauptsächlich auf die Intensivierung des bewaffneten Konflikts zwischen Armee, paramilitärischen Gruppen und der Guerilla zurückzuführen, in den zunehmend die Zivilbevölkerung hineingezogen wird.
Die Einrichtung von „Sonderzonen für öffentliche Ordnung“, die in großen Teilen des Landes existieren, ordnet die Zivilbehörden den Militärkommandos unter, wodurch bürgerliche und politische Rechte stark eingeschränkt und somit die Bevölkerung den Repressalien von Militär und Paramilitärs schutzlos ausgeliefert sind.
Ein weiterer Grund ist der seit Jahren anhaltende Drogenkrieg in Form einer meist militärisch betriebenen Rauschgiftbekämpfung, bei der die Coca- und Schlafmohnpflanzer wie militärische Gegner behandelt werden. Mit der chemischen und mechanischen Vernichtung der Anbaufelder wird die Bevölkerung gezwungen, neue Gebiete zu besiedeln. Dabei dringen die Menschen immer weiter in den Regenwald vor, was dessen Zerstörung vorantreibt.

Das paramilitärische Projekt

Die kolumbianische Pazifikküste ist eine der ärmsten Regionen des Landes. Dieses Gebiet soll zukünftig für Megaprojekte herhalten, wie dem Bau des „Interozeanischen Kanals“, zur Erschließung von Rohstoffquellen (Erdöl, Uran u.a.) sowie zur Nutzung der enormen Genreservoirs des Tapón del Darién (Edelhölzer, Rohstoffe für die Gentechnologie, reiche Fischbestände). Die schwarze und indigene Bevölkerung dieser Region hat in diesen Plänen keinen Platz. „Wenn man die nationalen und internationalen Interessen an diesem Gebiet in Betracht zieht, so versteht man, warum wegen dieser Interessen die jetzige Bevölkerung ermordet und vertrieben wird. Man begreift, warum die Wirtschaftsinteressen sich auf dieses Gebiet konzentrieren und der Paramilitarismus hierher vordringt“, so die örtlichen Organisationen auf die Frage nach den Gründen der gewaltsamen Vertreibungen.
Laut kolumbianischen Sozialwissenschaftlern bewegt sich das paramilitärische Projekt in seiner 15jährigen Entwicklung innerhalb eines autoritären Modells eines agrarkapitalistischen Modernisierungsprozesses, das mehrere Etappen umfaßt. Zuerst dringen die Paramilitärs in ein Gebiet ein und „reinigen“ es von der Guerilla und deren sozialer Basis mit militärischem Terror und Vertreibungen. Dann beginnt ein Prozeß der Bodenkonzentration in den Händen von Großgrundbesitzern, Drogenbaronen und multinationalen Unternehmen, die die Infrastruktur und die öffentlichen Dienstleistungen modernisieren. In einigen Gebieten wird das Land unter 50 Prozent des eigentlichen Wertes verkauft, so daß dieses fast gratis an neue Eigentümer übergeht.
Die nächste Phase stützt sich auf Sozialmaßnahmen und Landverteilungen an SiedlerInnen, um das Projekt zu konsolidieren. Bei diesen Personen handelt es sich oft um Angehörige paramilitärischer Gruppen, die für ihre Dienste mit billig abgegebenem oder geschenktem Land von ihren militärischen Chefs belohnt werden. Nach dem Aufbau von Selbstverteidigungsgruppen gilt die Kontrolle dieses Gebietes als abgesichert.
Die letzte Etappe ist die Legitimation. Mit der brutalen Umstrukturierung für eine kapitalistische Expansion auf dem Land werden die Paramilitärs praktisch überflüssig und ziehen in das nächste Gebiet. Nun steht das Land dem Privatsektor nach den Anforderungen des internationalen Marktes und der neoliberalen Wirtschaftsentwicklung zur Verfügung, ohne daß Gewerkschaften oder linke Bewegungen die Pläne von Unternehmen behindern können.
Die Zahl interner Flüchtlinge – inzwischen über eine Million (etwa 2,5 Prozent der Bevölkerung) – hat ein Ausmaß wie in Ruanda oder Burundi angenommen. Aber mit der kolumbianischen Regierung lassen sich gute Geschäfte machen, und so rügt man sie wegen „angeblicher“ Verbrechen nicht. Obwohl gerade jene internen Vertriebenen Schutz und Unterstützung bräuchten, überläßt die Weltöffentlichkeit sie ihrem Schicksal – einer brutalen Logik von Gewaltherrschaft, ausgeführt von den Paramilitärs, deren erklärtes Ziel es ist, Aufstände und Widerständler wie Guerillaorganisationen und Oppositionsgruppen zu bekämpfen, sämtliche Basisorganisationen und -projekte zu eliminieren und den Plänen des Staates im Sinne des „Fortschritts und der Entwicklung“ einen „sauberen Platz“ zu hinterlassen. Eine brutale Logik, die von Seiten der USA technisch und finanziell unterstützt, von der kolumbianischen Armee forciert und gedeckt und von der staatlichen Bürokratie durch ihr Leugnen getragen wird.

“Operación returno“

Bis jetzt konnten Pläne zur Rückkehr der Vertriebenen nicht umgesetzt werden, weil es keine Garantien seitens der Regierung gibt, daß die Armee die Zivilbevölkerung nicht angreift. Alle Versuche, neue Gemeinden für die Vertriebenen zu errichten, wurden von den Soldaten im Keim erstickt. Die Vertreterin von La Ruta Pacífica de Las Mujeres weist auf ein Dokument hin, in dem die Vertriebenen ihre Forderungen darstellen: „(…) Wir wollen keine Gewalt mehr – weder den offenen Krieg, noch die psychische Gewalt. (…) Wir wollen eine Garantie dafür, daß ab sofort internationale Beobachter und Menschenrechtsorganisationen zum Schutz aller Menschen zugelassen werden und daß NGOs wie zum Beispiel das Internationale Rote Kreuz sowie Diözesen und internationale Beobachter die Rückführung der Vertriebenen begleiten. (…) In unseren Regionen wollen wir nach der Rückkehr frei arbeiten, Landwirtschaft betreiben, fischen, Tiere halten sowie materielle und finanzielle Entschädigung bekommen. (…) Wir benötigen psychologische Unterstützung, um über die Schmerzen, Traurigkeit und Angst zu sprechen. Wir wollen die Möglichkeit haben, der ganzen Welt bekannnt zu machen, was mit uns passiert.“

Drogenkrieg im Chapare

Ein Tag wie jeder andere in Chimoré, dem Hauptort des Chapare und Sitz der von der USA trainierten Drogenpolizei UMOPAR (Unidades Móviles de Patrullaje Rural). Um sechs Uhr morgens startet eine Kolonne von 19 Militärfahrzeugen. Etwa 400 Polizisten von UMOPAR und von der „ökologischen Polizei“, die für die eigentliche Kokazerstörung zuständig ist, sowie Repräsentanten der zivilen Kokakontrollorgane DINACO und DIRECO (Konversionsbehörde) nähern sich der kleinen Ortschaft Litoral, 70 km nördlich von Chimoré. Die schon früh morgens auf den Feldern arbeitenden Bauern werden vollkommen überrascht. Die Polizisten, zum Teil schwer bewaffnet und martialisch gekleidet umstellen eine Gemeinde von 100 wehrlosen, allenfalls mit Macheten bewaffneten Bauern, um der „ökologischen Polizei“ den Weg zu ihrer täglichen Arbeit frei zu machen: Die Kokazerstörung in Erfüllung der von den USA diktierten jährlichen Zerstörungsziele kann beginnen. 1997 sollen bis August 8.000 ha Kokapflanzungen zerstört werden, nachdem 1996 das Soll von 6.000 ha erreicht wurde.
Auf Proteste der Bauern wird wenig Rücksicht genommen. Vor dem Hintergrund des jährlichen US-Solls verschwimmen menschliche Einzelschicksale, werden irrelevant. Der Polizeiapparat handelt wie eine Maschine. Wenn es dabei auch zu Ungerechtigkeiten kommt, dann seien dies, so Polizeivertreter, Einzelfälle, die man hinzunehmen habe. Die Argumentation erinnert an das zu Zeiten der Aufstandsbekämpfung übliche: „Wo gehobelt wird, da fallen Späne“. Doch was die einen als Einzelfälle bezeichnen, ist für die anderen Normalität. Kokapflanzungen – eigentlich erlaubt im Rahmen des traditionellen Anbaus und Konsums – werden gegen den Willen der Bauern ebenso regelmäßig zerstört wie sogar legale alternative Pflanzungen von beispielsweise Platanen und Zwergpalmen.
Die gesetzlich vorgesehenen Entschädigungen für die Zerstörung von Kokapflanzungen in Höhe von 2000 US-Dollar pro Hektar werden nicht, oder erst nach Druck der Bauern verspätet gezahlt. Nicht selten wird die Zahlung zurückgehalten, um die Bauern zu weitergehender Kokazerstörung zu drängen. Daß dies illegal ist, muß auch der Direktor der zuständigen Konversionsbehörde (DIRECO) zugeben: „Aber sehen Sie, ich bin kein Jurist, ich bin Agronom“. (Diese Zahlungen sind von der neuen Regierung Banzer völlig abgeschafft worden, Anm. d. Red.)

Die Polizei sucht wie immer den Konsens

Die Bauern sind verbittert. „Die Polizei“, so einer der Führer des Dorfes Litoral noch unter dem Eindruck der erwähnten Operation, „provoziert uns ständig. Die spritzen Tränengas, schlagen uns, schießen in die Luft und nehmen keine Rücksicht auf unser Eigentum“. Eine andere Version liefert der zuständige Polizeikommandant: „Wir haben, wie immer, den Konsens gesucht. Es gab keine Gewalt. Wir haben unsere Aufgabe, wie immer, friedlich erledigt.“ Ähnlich äußern sich auch andere Vertreter der Drogenkontrollorgane. „Wir erfüllen nur unsere Pflicht“ erklärt der Direktor von DIRECO den Vertretern des Menschenrechtsbüros des Justizministeriums. „Hier gibt es keine Koordination“. Während er dies sagt, ist die Drogenoperation in Litoral schon fast zu Ende. Kein Wort davon in seinen Erklärungen. Gibt es wirklich keine Koordination?

Polizeiliche Übergriffe ohne Ende
In einer Bauernversammlung in Alto San Pablo, 25 km südlich von Chimoré, lassen die Bauern ihrer Verbitterung freien Lauf. Einige der kürzlich in einer Drogenoperation Festgenommen erzählen, wie sie von der Polizei mißhandelt wurden. Ein Ehepaar berichtet unter Tränen, daß seine Tochter nach einer Vergewaltigung durch die Polizei von zu Hause weggelaufen sei. Der Vater habe nur einen Brief seiner Tochter erhalten, in dem sie geschrieben habe, daß sie sich schäme, ihm nochmal unter die Augen zu treten. Ein anderer Bauer beschreibt, wie die UMOPAR tagtäglich agiert: „Sie beschimpfen und schlagen uns. Sie nehmen nicht einmal auf unsere Frauen Rücksicht, stoßen und schlagen sie“. Er unterbricht seine Erklärungen, weil er vor ohnmächtiger Wut zu weinen beginnt. Eine ältere Bäuerin tritt vor und zeigt einen alten Kokastrauch, jammernd, daß die Polizei nicht nur ihre traditionelle Koka zerstört, sondern sogar von ihr verlangt habe, die tiefsitzende Wurzel mit eigenen Händen herauszureißen: „Nur dann erhältst Du die Entschädigung“ tönen die Polizisten.
Andere Bauern melden sich und erzählen weitere Geschichten. Wie die UMOPAR in ihre Häuser eindringt und ihre ohnehin spärlichen Habseligkeiten mitgehen läßt. Wie sie wie Tiere, nicht aber wie Menschen mit einer entsprechenden Würde behandelt werden. Die Zeugnisse der Bauern machen deutlich, wie wichtig eine zivile und rechtsstaatliche Kontrolle der Drogenkontrollaktivitäten in der Region ist. Das im Dezember 1995 vom Justizministerium eingerichtete Menschenrechtsbüro ist angesichts der ständigen und überall stattfindenden Exzesse völlig überfordert. Seine Repräsentanten, ein Arzt und ein Jurastudent, tun zwar, was sie können, indem sie die Vorwürfe der Bauern entgegennehmen und an die zuständigen Stellen weiterleiten. Doch es ist unmöglich, mit zwei Personen die Polizeioperationen auf einer Fläche von 24.000 qkm mit 240.856 Einwohnern zu überwachen. Trotzdem ist das Büro die einzige staatliche Stelle, zu der die Bauern – mehr und mehr – Vertrauen gewinnen, weil es in zahlreichen Fällen zur Verteidigung ihrer Menschenrechte eingeschritten ist.

Willkürliche Festnahmen und unmenschliche Haftbedingungen

In der Kaserne der UMOPAR in Chimoré werden die während der Drogenoperationen Festgenommenen „aufbewahrt“. Es handelt sich um eine „Aufbewahrungsstelle, nicht um ein Gefängnis“, so der zuständige Kommandant. Die Bedingungen entsprechen allerdings denen anderer lateinamerikanischer Gefängnisse: 200 Inhaftierte bei einer Maximalkapazität von 50 Personen, bis zu 25 Personen in einer Zelle, 3 Toiletten und 3 Duschen, eine erbärmliche Hitze und stickige Luft, die selbst in der Nacht nicht verschwindet und so das Schlafen fast unmöglich macht. Hier befinden sich nur Kokabauern, pisacocas (Kokatreter, sie stampfen die Kokablätter zusammen mit Chemikalien zu einem Brei, die erste Stufe der Kokainproduktion) und allenfalls Kleintransporteure. Von wirklichen Drogenhändlern keine Spur. Die meisten Inhaftierten kennen den Grund ihrer Haft überhaupt nicht. Sie befinden sich schon seit Monaten hier, ohne einen Richter gesehen zu haben.
Die zur Verteidigung sozial Schwacher eingerichtete „Defensa Pública“ ist nur mit einem Anwalt vertreten und dementsprechend überfordert. Diese „Marktlücke“ füllen skrupellose freie Rechtsanwälte und bieten ihre Dienste zu horrenden Preisen an: ein einseitiger „Schriftsatz“ kostet zwischen 100 bis 500 US-Dollar und wird aus den überwiegend hilflosen und unwissenden Bauern unter dem (falschen) Versprechen sofortiger Freilassung herausgepresst. Besonders eine Rechtsanwältin wird von den Vertretern des Menschenrechtsbüros des Justizministeriums und der Defensa Pública angegriffen. Bei einem nachfolgenden Gespräch mit den Inhaftierten in Anwesenheit der zwei zuständigen Drogenstaatsanwälte verläßt die betreffende Anwältin das Gefängnis erst nach zahlreichen Aufforderungen der Staatsanwälte und der Vertreter des Menschenrechtsbüros. Dann brechen die Vorwürfe aus den Inhaftierten heraus: Viele Anwälte versprächen ihnen die sofortige Freilassung und verlangten dafür unglaubliche Gebühren, wollten dann aber von diesen Versprechen nichts mehr wissen. Vielmehr drohten sie ihnen vielfach mit harten Strafen und härteren Haftbedingungen, sollten sie es wagen, sich zu beschweren. Die Staatsanwälte wiesen ihnen sogar häufig diese Art von Anwälten zu, ohne daß sie sich dem widersetzen könnten. Die Haftbedingungen seien unerträglich, der Zellenschluß sei zu früh, Ausgang zu wenig, Verwandtenbesuch kurz und mit erheblichen Wartezeiten verbunden.

Von Menschenrechten und Staatsgewaltigen

Die Drogenstaatsanwälte nehmen die Anzeigen kühl und distanziert auf. Im nachfolgenden Gespräch beim zuständigen UMOPAR-Kommandanten kommt es zu einem heftigen Schlagabtausch zwischen den Vertretern des Menschenrechtsbüros und der Defensa Pública auf der einen, sowie den Staatsanwälten und der Polizei auf der anderen Seite. Weder Polizei noch Staatsanwälte wollen die Verantwortung für die Unregelmäßigkeiten in der „Aufbewahrungsanstalt“ übernehmen. Erst auf Druck der Vertreter des Menschenrechtsbüros und der Androhung disziplinarischer Schritte verpricht einer der Staatsanwälte, die Fälle zu untersuchen.
Die Sonne ist schon lange untergegangen. Es ist 21.00 Uhr. Unser Besuch in der Kaserne der UMOPAR – man sollte vielleicht besser sagen in der Haftanstalt auf dem Kasernengelände – hat länger gedauert als geplant. Die Inhaftierten haben den Strohhalm ergriffen, den wir ihnen anbieten konnten. Es ist kein Zufall, daß wir sie zuletzt besuchen. Hier schließt sich der Kreis: Der Drogenkrieg im Chapare beginnt am Morgen mit Polizeieinsätzen gegen wehrlose Bauern und endet vielfach mit ihrer Verhaftung oder Inhaftierung der mulas, der bäuerlichen Transporteure von geringfügigen Mengen an – nicht registriertem – Koka, Kokapaste oder manchmal auch Kokain. Die großen Fische sitzen in den Handelsmetropolen und Kokainumschlagplätzen Kolumbiens, Venezuelas, Mexikos, der USA und Europa, einige auch in Bolivien, in Cochabamba und Santa Cruz. Doch von ihnen ist hier nicht die Rede. Der Drogenkrieg im Chapare ist ein von den USA auf dem Rücken der Bolivianer geführter symbolischer Krieg ohne Auswirkungen auf die Nachfrageseite in den Industrieländern.
Im Rahmen der Zuständigkeit des bolivianischen Justizministeriums für die Wahrung und Förderung der Menschenrechte wurde am 6.12.1995 in Chimoré das erste Menschenrechtsbüro (Oficina de Derechos Humanos-ODDH) eröffnet.Weitere Menschenrechtsbüros sollen, so der „Nationale Menschenrechtsplan“, in Challapata (Potosí), Monteagudo (Chuquisaca) und Riberalta (Beni) eröffnet werden. Das Büro von Chimoré hat seinen Sitz in einem schlichten Haus, in dem auch die Filiale der staatlichen Pflichtverteidigung (Defensa Pública) untergebracht ist, und besitzt eine technische Mindestausstattung (Computer, Drucker, Telefon, Fax). Von Chimoré aus soll das gesamte Gebiet des Chapare kontrolliert werden, was natürlich ein Ding der Unmöglichkeit ist. Bei Kenntnis eines Drogeneinsatzes informieren die Bauern umgehend die ODDHH, deren Mitarbeiter, sofern möglich, sofort zum Einsatzort fahren, um zwischen Sicherheitskräften und Bauern zu vermitteln und größere Gewaltausbrüche zu verhindern. De facto garantiert die Präsenz der ODDHH zwar einen größeren Respekt der Menschenrechte durch die Sicherheitskräfte, doch kommen seine Vertreter häufig wegen der großen Entfernungen und der Unzugänglichkeit der Kokaanbaugebiete zu spät oder auch gar nicht (wenn etwa mehre Operationen gleichzeitig stattfinden). Wenn die ODDH allerdings rechtzeitig eintrifft oder bei den Sicherheitskräften und den Drogenstaatsanwälten vorspricht, wird seine große Autorität als Vertreter der Exekutive deutlich.

Anträge an das BMZ

Aufgrund der Probleme seiner Arbeit wegen der Größe des Chapare und des Ausmaßes der Menschenrechtsverletzungen hat das Büro, das inzwischen von der Schweiz, Kanada und der Bundesrepublik unterstützt wird, weitere Unterstützungsanträge an die EU-Kommission und das BMZ (Bundesministerium für wirtschafliche Zusammenarbeit) gerichtet. Es will mehrere „Unterbüros“ einrichten und die Bauern selbst zu Beschützern ihrer Menschenrechte ausbilden. Es ist zu hoffen, daß die entsprechenden Anträge positiv beschieden werden.

Frieden, aber wie?

Nach seinem Amtsantritt im Juni 1994 hatte Samper Carlos Holmes Trujillo, der den Friedensprozeß in Mittelamerika aus eigener Anschauung kennt, zum obersten Friedensberater ernannt. Aber nach der Krise um die Gelder der Mafia im Wahlkampf für Samper fiel die Friedensinitiative der Regierung in sich zusammen. Die Armeeführung weigerte sich, ein großes Gebiet im Südosten des Landes zu räumen, was die FARC als Vorbedingung für die Aufnahme von Verhandlungen genannt hatte. Der Präsident gab klein bei und verlangte wenig später nach einer militärischen Lösung. Das Amt des Friedensberaters blieb lange Zeit unbesetzt, aber das Büro mit seinen Mitarbeitern funktionierte weiter. Holmes Trujillo ist seit einigen Monaten Innenminister.
Im Juni hatte Präsident Samper nach der Übergabe der 70 von den FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) festgehaltenen Militärs angekündigt, daß innerhalb von 100 Tagen die Möglichkeiten für eine neue Friedensinitiative geprüft werden. Er schlug drei Themen vor, über die möglichst bald eine Einigung erfolgen soll: Entführungen (nach der kolumbianischen Presse gab es 1996 1.439 Fälle), Sprengungen von Ölpipelines (Schaden in den letzten sieben Jahren: 2 Mrd. US-Dollar) und Kinder als Kriegsteilnehmer.

Friedensprozeß und Vorwahlkampf

Im Oktober finden in Kolumbien Kommunalwahlen statt. Von den 1994 gewählten sind bisher 20 Bürgermeister und 226 Gemeinderäte ermordet worden. Die schon von früher bekannte Zunahme politischer Gewalt in der Vorwahlzeit zeigt sich auch dieses Mal wieder. Nach Regierungsangaben sind in rund 400 (nach anderen Quellen: 600) der über eintausend Gemeinden Guerillagruppen und in 450 Gemeinden Paramilitärs aktiv.
Zwischen 16.000 und 18.000 Frauen und Männer sollen in der Guerilla kämpfen. Der Krieg hat sich nach dem Analytiker Alfredo Rangel qualitativ verändert – von einem “klassichen” Guerillakrieg zu einem Bewegungs- und Positionskrieg. Die Rebellen treten zunehmend in größeren Verbänden auf. Gleichzeitig versuchen paramilitärische Gruppen mit etwa 5.000 Angehörigen, ihren Einfluß im Land auszudehnen, hinzu kommen Tausende Mitglieder legaler “Sicherheitskooperativen”, der sogenannte CONVIVIR (Asociaciones Comunitarias de Vigilancia Rural). Das Kriegsgeschehen und politischer Druck der verschiedenen Gewaltakteure haben die Zahl der intern Vertriebenen auf etwa eine Million anschwellen lassen.
Die These Alfredo Rangels, nur durch ein deutliches politisch-militärisches Auftreten könne die Guerilla zu Verhandlungen gezwungen werden, wird heftig diskutiert. Eduardo Pizarro von der Nationaluniversität widerspricht jedoch energisch. Rangel vernachlässige den internationalen Kontext wie den Fall der Mauer 1989 und die Friedensprozesse in Zentralamerika. Er vergesse, daß die Guerillagruppen durch ihre Aktivitäten ihre Feinde multiplizierten und dies zu einer Eskalation des Konfliktes auf einem immer höheren Niveau führe. Für den früheren Außenminister Ramírez Ocampo existiert in Kolumbien zwischen den beiden Seiten kein militärisches, wohl aber ein strategisches Gleichgewicht: Keine Seite könne die andere besiegen.
Im Juli legte die Regierung dem Kongreß einen Gesetzentwurf zur Einrichtung eines Nationalen Friedensrates vor. Dem Rat sollen rund 40 Mitglieder angehören, die eine breite Palette von staatlichen Stellen und gesellschaftlichen Kräften abdekken. Er soll u. a. die Regierung beraten, die Bevölkerung motivieren, Eigeninitiativen zu starten und jährlich dem Kongreß über den Friedensprozeß berichten. Als Hauptmotiv für die Einrichtung wird angeführt, der Friedensdialog müsse einer permanenten staatlichen Stelle anvertraut werden, die diese Arbeit unabhängig von den wechselnden Regierungen wahrnehmen soll. Gleichwohl soll das Gremium unter dem Vorsitz des Präsidenten tagen, und wichtige Vertreter der Regierung wie die Ministerien für Inneres, Verteidigung und Justiz wären vertreten.
Es wird nicht recht deutlich, wie dieser offenkundige Widerspruch – Beziehung zu Regierung und Staat – gelöst werden soll.
Die Skepsis gegenüber den Erfolgschancen der neuen Initiative ist groß, denn sie kommt am Ende der Amtszeit Sampers, in der die Regierung traditionell geschwächt ist. Das Ausmaß politischer Gewaltanwendung ist auch weiterhin hoch. Die Guerillagruppen arbeiten daran, ihren Einfluß über Teile des Landes zu konsolidieren. Es ist unklar, warum sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt in einen Friedensprozeß eintreten sollten.
Auch hat besonders die FARC deutlich gemacht, daß sie der Regierung Samper aufgrund der Drogengelder während des Wahlkampfes jegliche Legitimation abspreche. Ein FARC-Sprecher lehnte bereits die Initiative eines zivilgesellschaftlichen Friedensnetzes ab, eine Volksabstimmung für den Frieden im Oktober abzuhalten. Die Guerilla verlangt bei den Gemeindewahlen eine Stimmenthaltung. Eine größere Anzahl von Kandidaten wurde bereits entführt, einige von ihnen wieder freigelassen, andere ermordet.
Nur wenige Gründe sprechen für Erfolgschancen der Initiative. Mit der Zwangspensionierung des Oberkommandierenden der Streitkräfte, General Bedoya, wurde ein prominenter Gegner von Verhandlungen aus einer Spitzenposition entfernt. Sein Nachfolger, General Bonett, gilt als flexibler.
Zweitens wird das Bewußtsein in Politik und Zivilgesellschaft (wieder einmal!) stärker, daß eine militärische Lösung nicht möglich ist und nach einem Verhandlungsfrieden gesucht werden muß.
Drittens scheint die US-Regierung keine verhandlungsfeindliche Position einzunehmen. Ihr scheint der Drogenkrieg mehr am Herzen zu liegen als die Gegnerschaft zu linken Guerilleros. So hat sie die Militärhilfe für Anti-Drogeneinsätze in Höhe von 70 Mio. Dollar wieder aufgenommen. Die Regierung mußte sich verpflichten, Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen und die Überwachung der Einhaltung dieses Versprechens durch die US-Regierung akzeptieren. Eine Suspendierung der Hilfe bei Nichteinhaltung ist möglich. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Diskussion über eine mögliche Auslieferung kolumbianischer Drogenhändler, die in der Verfassung von 1991 verboten wurde. Sie wird jetzt im Kongreß neu behandelt. Die Auslieferung war in der Amtszeit Barcos Ende der achtziger Jahre der entscheidende Faktor für terroristische Aktionen des Medelliner Kartells gegen Regierung und Bevölkerung.
Schließlich spielen bei der Initiative parteipolitische Interessen eine Rolle. Einer der Favoriten für die Präsidentschaftswahl 1998 ist die rechte Hand Sampers: der liberale Ex-Innenminister Horacio Serpa. Der Beginn von Verhandlungen würde seine Wahlchancen ohne Zweifel deutlich erhöhen.
Kolumbianische Regierungen interessieren sich seit einiger Zeit für die Erfahrungen in Zentralamerika, gelten doch die dortigen Friedensschlüsse bei allen aktuellen Problemen immer noch als stabil. Mit dem neuen UN-Büro zur Beobachtung der Menschenrechtslage existiert zum ersten Mal eine Vertretung des UN-Hochkommissars für Menschenrechte (Genf) in der westlichen Hemisphäre. Unter Leitung der spanischen Botschafterin Mazarrasa arbeiten fünf Experten an der Berichterstattung zur Lage in Kolumbien. Mehrfach hat sich das Büro kritisch in der Öffentlichkeit geäußert, etwa aus Anlaß des Mordes an den beiden Mitarbeitern des jesuitischen Forschungsinstitutes CINEP, Elsa Alvarado und Mario Calderón, im Mai und über die Rolle der CONVIVIR-Gruppen, vor allem in Antioquia. Der dortige Gouverneur Alvaro Uribe hat im August in Genf gegenüber den Vereinten Nationen die Existenz dieser Gruppen gerechtfertigt; Kritiker sehen in ihnen eine legale Form des Paramilitarismus.

Eine Rolle für die Vereinten Nationen?

Im August schlug eine Gruppe von Intellektuellen um Eduardo Pizarro eine Vermittlungsrolle der Vereinten Nationen vor; ein Blauhelmeinsatz wurde hingegen abgelehnt. Bisher ist ein solcher Vorschlag am Widerstand des Establishments gescheitert. Angesichts der Verschlechterung der Lage ist eine solche Lösung für die Zukunft nicht mehr auszuschließen – zumindest dann nicht, wenn der neue Friedensrat kurzfristig keine Erfolge aufweist. Falls eine solche Initiative von den UN beschlossen würde, würde die politische Abteilung in New York die Vermittler bestimmen. In der Vergangenheit haben bereits Costa Rica, Mexiko und Venezuela den Dialog zwischen der Guerilla und der Regierung gefördert.

Mauss’sche Missionen auf dem Holzweg

Im Januar hat die Affäre Mauss in Kolumbien kaum noch Wel­len geschlagen. Stärker in den Vordergrund gerückt sind da­gegen die ersten Geplänkel des Wahl­kampfvorjahres 1997, die Ver­bindungen zwischen Armee und paramilitäri­schen Banden in Ura­bá, der “wirtschaftliche Not­stand”, den die Regierung Sam­per ausrief, um die prekäre Haus­halts­lage zu stabilisie­ren, die lä­cher­lich geringen Gefäng­nis­stra­fen gegen die Drogen­bosse Ro­drí­guez Orejuela und last but not least die Be­ziehungen zu den USA: Be­kommt die Regierung am 1. März die heißbegehrte “Be­schei­nigung” des Lehrmei­sters aus dem Nor­den (siehe LN 262), daß sie sich diesmal aus­rei­chend im “Drogenkrieg” en­ga­giert hat?
In diesem Zusammen­hang gab der oft als kolumbianischer “Vi­ze­könig” titulierte US-Bot­schafter Myles Fre­chette der Zeitung El Tiempo ein viel­be­achtetes Interview, in dem er auch auf die angeblichen Ver­mitt­lungsversuche der Bun­des­re­gie­rung im Som­mer 1996 ein­ging: “Zu kei­ner Zeit (…) ha­ben sich Herr Kohl und Herr Clin­ton per­sönlich über Kolum­bien aus­ge­tauscht, weder telefo­nisch noch schriftlich. Ebenso­wenig ha­ben nordamerikanische und deut­sche Regierungs­beamte den Fall Kolumbien besprochen (…) In der zweiten Juliwoche 1996 teil­te dieser Minister Schmid­bau­er amerikani­schen Diplomaten in Deutschland mit, daß er in Deutschland mit der ko­lum­bi­a­ni­schen Regierung und dem Cali-Kartell zu verhandeln ge­denke, und frag­te, ob die ame­ri­kanische Re­gierung an ei­ner sol­chen Ver­hand­lung interessiert sei. Wir lehn­ten das sofort strikt ab.”
Die deutsche Botschaft de­men­tierte diese Version und be­ton­te hingegen – ganz im Sinne Schmidbau­ers – die Bemühungen um einen Friedensprozeß, über die die USA informiert worden sei­en. In die gleiche Richtung läuft die Verteidi­gungsstrategie von Werner und Ida Mauss, die von Anfang an den angeblich hu­ma­nitären Charakter ih­rer Mis­sionen hervorgeho­ben haben. Kurz vor Weih­nachten richtete Isa­bel Sei­del alias Ida Mauss ein recht pathetisches Schrei­ben an den Gouverneur der Provinz An­tioquia, in dem sie auf einen Friedensplan zu sprechen kam, “der sich in Eu­ropa mit der Unterstüt­zung mehrerer Regie­rungen entwickelt hat­te”.
Unter anderem sei ein Waf­fen­stillstand vorgesehen gewe­sen; die Guerilla sollte in der Über­gangsphase fi­nanziell unter­stützt werden, um sich nicht durch Entführungen finanzieren zu müssen. Außerdem hät­ten die so­ziale Entwicklung, das Erzie­hungs­wesen und der Umwelt­schutz vorange­trieben werden sol­len. Schließlich beklagte sie “das Schicksal Kolumbiens (…), wenn seine Bürger (…) nicht nur an sich selbst dächten, sondern an die anderen und an das Ge­mein­wohl, gäbe es keine Aus­län­der, die das Land ausbeuten.”

Mauss in der Falle

Die unfreiwillige Iro­nie des letzten Satzes wird wohl erst deutlich, wenn man sich den Einsatz von Wer­ner Mauss für Siemens (siehe oben und vgl. LN 271) und sein Eingreifen in den Entführungsfall Brigitte Schoene vor Augen hält. Schmidbauer und selbst der Spiegel, wenn auch nur zwischen den Zeilen, brin­gen Verständnis für die “un­kon­ventionellen Metho­den” des Agenten in einem so chaoti­schen Land wie Kolum­bien auf. So soll die ziemlich undiploma­tische Vor­gehens­weise der Möch­te­gern-Groß­macht Deutschland ver­tuscht wer­den, die die ko­lum­bi­anische Regie­rung nur sehr spär­lich über die Mauss’schen Machenschaften in­formiert hatte.
Das eigenmächtige Vorbei­agie­ren an den ko­lumbianischen Be­hörden bei den Verhandlun­gen in mehreren Entführungs­fäl­len rächte sich mit der Fest­nahme von Werner und Ida Mauss. Offenbar waren die bei­den im Oktober und November 1996 beschattet und ihre Ver­haftung von langer Hand vorbe­reitet worden. Ulrich Schoene wollte die Freilassung sei­ner Frau unter Einschal­tung der Po­lizei und der britischen Firma Control Risks Group er­reichen und unterbreitete den Entfüh­rern ein erstes Angebot über 250 000 US-Dollar. Auf Anregung des In­te­rims-Bot­schafters Vor­werk je­doch traf er sich mit Mauss, der sich als Jür­gen Seidel vor­stellte und seine Dienste anbot. Er wisse über Kontakte mit dem ELN (Heer zur nationalen Be­freiung), daß sich Bri­gitte Schoe­ne in der Ge­walt von Paramili­tärs befinde, und könne inner­halb von zwei Wochen ihre Frei­las­sung errei­chen; allerdings müs­se ein Löse­geld von bis zu 1,5 Millionen US-Dollar gezahlt werden.
Schoene lehnte dankend ab, doch sein ursprüngli­cher Kon­takt­mann ließ wochenlang nichts von sich hören. Mauss meldete sich erneut, Vorwerk bestärkte Schoene, und dieser ließ sich schließlich auf die “un­kon­ven­tio­nel­le” Variante ein. Das Ende dieser Epi­sode ist be­kannt, nicht je­doch, ob und wie­viel Löse­geld floß.

Kompromittierendes Tonband wird den Medien zugespielt

Der Niedergang des deutschen Multiagenten Werner Mauss scheint eine längere Vorgeschichte zu haben als bisher angenommen: Offenbar be­kamen einige kolumbianische Behörden bereits Wind von seinen Aktivitäten, als er monatelang in einem komplexen Entführungsfall ermittelte. Nun wurde den Behörden ein Tonband mit meh­reren Telefongesprächen über diesen Fall zuge­spielt, die ein Mitarbeiter der dänischen Firma F.L. Schmidt mit dem deutschen Ingenieur Karl-Heinz Dressel und einem Herrn Weber geführt hatte. Bei Weber handelt es sich eindeutig um Werner Mauss.
Was war passiert? Vor rund einem Jahr, am 5. Februar 1996, hatte das ELN (Heer zur nationa­len Befreiung) bei San Luis südöstlich von Me­dellín drei ausländische Ingenieure, den Deutsche Karl-Heinz Dressel, den Dänen Ulrich Schulz, den Engländer Philip Halten und Diego Blandón, ihren kolumbianischer Chauffeur gekidnappt. Die Mitarbeiter von F.L. Schmidt waren auf dem Rückweg von Wartungsarbeiten an einer Anlage, die die Zementfabrik Cementos Rioclaro von die­ser Firma F.L. Schmidt gekauft hatte.
Als erster erlangte überraschend schnell Karl-Heinz Dressel die Freiheit wieder. Bereits am 11. März meldete er sich in Deutschland zurück. Mauss’ Erklärung: “Wir haben ja nun diese Ver­bindung für die anderen Konzerne in Deutsch­land. Und deswegen ist er frei, reiner Zufall.” Später bezieht sich Mauss noch einmal “auf die Firma, mit der wir hauptsächlich zusammenar­beiten” – nach allem was inzwischen bekanntge­worden ist, liegt es nahe, Siemens dahinter zu vermuten.
Aus den Aufnahmen geht auch die große Ent­täuschung Dressels hervor, dem der Agent ver­sprochen hatte, seine Kollegen würden sieben bis zehn Tage später ebenfalls freikommen, was nicht eintraf. Nur mit Mühe konnte er von dem dänischen Firmenmitarbeiter davon abgehalten werden, die Presse zu verständigen.
Die brisantesten Passagen sind zweiffellos jene, in denen Mauss versucht, den gewitzten Mit­ar­bei­ter von F.L. Schmidt zum Eingehen auf die For­de­run­gen der Entführer zu bewegen. Denn obwohl Mauss die ELN wiederholt als “Ter­ror­or­ga­ni­sa­tion” bezeichnet, dramatisiert er die Lage, um die dä­nische Firma einerseits zur Zahlung ei­nes Lö­se­gel­des von mindestens fünf Millionen US-Dollar zu bewegen, andereseits soll sich sein Ge­sprächs­par­tner in Kolumbien dafür einsetzen, eine “Frie­dens­lösung” zwischen Ce­mentos Rio­cla­ro und der ELN herbeizuführen. Die Me­de­llí­ner Firma hatte sich nämlich stand­haft ge­weigert, Schutzgelder an die Guerilla ab­zuführen.
Mehrfach erwähnt Mauss in den Telefonge­sprächen einen “Herrn S.” in Bonn, der über “viele Er­kenntnisse” verfüge und der doch von den Dä­nen konsultiert werden sollte. Ein anderes Mal soll­te der dänische Mitarbeiter einen hoch­ste­hen­den kolumbianischen Industriellen zu ei­nem “Frie­dens­gespräch” ins Kanzleramt lotsen, “da sind sie doch anders beeindruckt, aber man sollte die ko­lum­bianische Regierung rauslassen.” Offenbar scheiterte der quirlige Hobbydiplomat hier, wie auch beim “großen” Friedensprozeß.
Dressels Freunde wurden schließlich am 15. Sep­tember freigelassen. Bei dieser Gelegenheit kri­tisierte der Gouverneur Antioquias, Alvaro Uribe Vélez, vehement die Zahlung des Lösegel­des von angeblich über zwei Millionen US-Dollar und forderte: “Die deutsche Regierung und die deut­schen Firmen müssen unserer Provinz die Wahr­heit über ihre Abkommen mit der Guerilla sagen.”
Das vom ELN angestrebte Stillhalteabkommen mit Cementos Rioclaro kam nie zustande. Auf­grund zahlreicher Anschläge auf ihre Stromlei­tungen durch das ELN mußte die Zementfabrik von Mitte Oktober bis Ende November den Be­trieb ein­stellen. Die Gegend um Cementos Rio­claro ist heute ein von paramilitärischen Gruppen und den ELN-Guerillaverbänden heiß umkämpf­tes Terri­to­ri­um.

Die Drogenhändler müssen sich totlachen

Nach einer Reihe von Treffen mit ho­hen Funktionären des State Department in Washington schloß Justizminister Néstor Humberto Martínez Neira daß “die Stati­stiken, die wir hier in Washington vorge­legt haben, zeigen, daß leider im Gegen­satz zu dem, was in Peru und Bolivien ge­schieht, in Kolumbien der (Koka-) Anbau weiter im Wachsen begriffen ist”. Hiermit war klar, daß die kolumbianische Regie­rung auch in diesem Jahr nicht ohne Wei­teres ihr Wohlverhalten von der US-Re­gierung bescheinigt bekommen würde.
Bereits 1993 hatte es nicht gut ausgese­hen für besagte Wohlverhaltensbescheini­gung durch die USA, aber, so die kolum­bianische Zeitung El Espectador, “wie immer am Ende des Jahres strengte sich der gute Schüler an, und… lieferte den to­ten “Kopf” des Medellín-Kartells Pablo Emilio Escobar Gaviria”. Daraufhin be­kam die Regierung Gaviria zuletzt doch die volle Bestätigung seitens der USA und bleibt dadurch in dem Genuß finanzieller Hilfen durch die US-Regierung, die Welt­bank und den internationalen Währungs­fonds.
In diesem Jahr jedoch konnte die neue Regierung unter Samper bislang keinen nennenswerten Erfolg im Kampf gegen die Drogenproduktion in Kolumbien vor­weisen, und so mehrten sich die Stimmen in den USA, die neben der Verweigerung der Wohlverhaltensbescheinigung auch drastische Sanktionen forderten.
Der US-amerikanische Botschafter in Kolumbien, Myles Frechette, äußerte, “daß sein Land Schwierigkeiten habe, Kolumbien die volle Mitarbeit im Kampf gegen den Drogenhandel zu bescheini­gen”. Währenddessen ging der ehemalige “Antidrogenzar” William Bennet weiter: “Solange die Regierung (Samper) keine wirklichen Anstrengungen im Kampf ge­gen den Drogenhandel unternimmt, müs­sen wir sowohl den Import kolumbiani­schen Kaffees, wie auch aller anderen Produkte aus diesem Land verbieten”.
Die Reaktionen der kolumbianischen Presse waren dementsprechend heftig. Eine Bogotaer Zeitung forderte, den Bot­schafter zur persona non grata zu erklä­ren. Die Krise, die in dieser Auseinander­setzung zutage trat, hat freilich tiefere Wurzeln.
Die Wohlverhaltensklausel
Bereits seit 1961 existiert in den USA ein Gesetz, das zur Bekämpfung des Han­dels und der Produktion illegaler Drogen die Befugnisse der Exekutive erweitern soll. 1986, als in der Ära Reagan die Ko­kainproduktion vor allem in Kolumbien ihre größte Blüte erreichte, verabschiedete der US-amerikanische Kongress ein Ge­setz, das es dem Präsidenten gestattete, eine Länderliste der bedeutendsten Drogenproduzenten und -transporteure zu erstellen und nach eigenem Ermessen de­ren Kooperation bei der Bekämpfung des Drogenhandels einzustufen. Für ein Land, das sich voll der Bekämpfung des Dro­genhandels verschreibt und die US-ameri­kanischen Auflagen erfüllt, fließen militä­rische, wirtschaftliche und humanitäre Hilfe ungehindert weiter. Vor allem aber werden weiterhin intensive logistische und finanzielle Hilfen für die Drogenbekämp­fung zur Verfügung gestellt.
Wird ein Land allerdings nicht als be­dingungslos kooperativ eingestuft, ist die Exekutive berechtigt, die nicht-humanitäre Hilfe an dieses Land solange auszusetzen, bis sich dessen Regierung dem Kampf ge­gen die Drogenwirtschaft anschließt. Gleichzeitig verpflichtet ein negatives Votum die Regierung bei den internatio­nalen Finanzinstitutionen ein Veto gegen Kredite an das in Ungnade gefallene Land einzulegen.
Der kolumbianische Fall
Das strategisch wichtigste Land für Drogenhändler, und -produzenten auf dem amerikanischen Kontinent ist mit Sicher­heit Kolumbien. Fast die gesamte Kokain­produktion und Distribution läuft in Ko­lumbien ab; dort befinden sich fast sämtli­che Labore, in denen mithilfe von Chemi­kalien wie Äther und Aceton die Droge Kokain aus der – zum großen Teil aus Peru und Bolivien importierten Kokapaste raffiniert wird. Allgemein wird der Anteil allein des sogenannten Cali-Kartells an sämtlichem in den USA konsumierten Kokain auf etwa 80 Prozent geschätzt. In den letzten Jahren haben sich die Anbau­flächen für Koka, sowie von Schlafmohn, dem wichtigsten Rohstoff zur Herstellung von Heroin, vor allem in Kolumbien ra­sant vergrößert. Es ist davon auszugehen, daß die Einnahmen aus Drogengeschäften teilweise für die niedrige Inflationsrate in den letzten zehn Jahren mitverantwortlich sind, da der starke Zustrom von Dollars aus Drogengeschäften dessen Wert ge­genüber dem Peso drückt.
Im Gegensatz zu dem Kartell von Me­dellín, dessen Mitglieder nie die Integra­tion in die gesellschaftliche Elite des Lan­des erlangt haben, ist das Kartell von Cali bis hinein in die Regierung mit dieser ver­flochten und somit weitaus schwerer an­zugreifen. Gerüchte sprechen auch davon, daß ein Teil der Präsidentschaftskampa­gne des jetztigen Präsidenten Samper mit Geldern des Cali-Kartells finanziert wurde (vgl. LN 241/242). Gerade in diesen Tagen brachte die kolumbianische Zeit­schrift Cambio 16 eine Liste zutage, auf der eine Reihe von Namen auftauchen, die in Sampers Wahlkampf wichtige Positio­nen einnahmen und angeblich auf der “Gehaltsliste” von Gilberto Rodríguez Orejuela, dem mutmaßlichen Kopf des Kartells standen.
Clinton und die Republikaner über­zeugen
Es ist daher nicht verwunderlich, daß man in den Vereinigten Staaten den Be­mühungen der Regierung Samper bei der Vernichtung von Anbauflächen und der Bekämpfung des Kartells von Cali mit ei­nem gewissen Mißtrauen begegnet. Zumal die Clinton-Administration der Ansicht ist, daß Samper seit seinem Amtsantritt vor einem halben Jahr keine signifikanten Ergebnisse vorweisen kann.
In Kolumbien sieht man das freilich anders. Aber da die Regierung nicht auf die Hilfen aus den USA und den interna­tionalen Institutionen verzichten will, flo­gen in der vergangenen Woche der kolumbianische Botschafter in den USA, Carlos Lleras de la Fuente, Verteidi­gungsminister Fernando Botero Zea und der Außenminister Rodrigo Pardo García Pena (der den Platz des unter Korrupti­onsvorwürfen ausgeschiedenen General­staatsanwalts Gustavo de Greiff einnahm) in die USA, um dort mit verschiedenen Mitgliedern des Kongresses zusammen­zutreffen. Ihre Aufgabe war in den letzten Tagen eine positive Stimmung für Ko­lumbien zu hinterlassen, bevor Bill Clin­ton dem Senat die Untersuchungen und Einschätzungen zur Abstimmung über die Wohlverhaltensbescheinigung für das süd­a­merikanische Land unterbreitet. Keine ein­fache Aufgabe angesichts der Tatsache, daß seit den letzten Wahlen der Kongreß von den Republikanern be­herrscht wird. Auch Clinton mußte sich bereits den neu­en Machtverhältnissen beugen und eine här­tere politische Gangart einschlagen, um sich nicht vor­zeitig die Chancen auf eine Wiederwahl in zwei Jahren zu verbauen.
Auch aus diesem Grunde hat Bill Clin­ton nun die Flucht nach vorn angetreten und nach zwei Jahren verminderter Inten­sität im Drogenkrieg nun, wie bereits seine republikanischen Vorgänger Reagan und Bush, den Kampf gegen den Drogen­handel zur obersten Priorität erklärt. Auf 14,6 Milliarden US-Dollar will der ame­rikanische Präsident nun die Mittel zur Drogenbekämpfung aufstocken, was ei­nem Anstieg von fast 10 Prozent ent­spricht. Davon sollen etwa 64 Prozent (9,3 Milliarden US$)in die Bekämpfung von Anbau und Transport im Ausland aufge­wendet werden, während 34 Prozent (4,9 Milliarden US$) in die Prävention und den Drogenentzug fließen sollen. Da der damals demokratisch dominierte Kongress be­reits im letzten Jahr die vorgeschlage­nen Aufwendungen für Prävention und Be­handlung zusammenstrich, ist aller­dings die Frage, ob Clinton sich bei den Re­publikanern mit seinem Vorschlag durch­setzen kann.
Die Tendenz jedoch wird klar bei der Betrachtung des neuen Vorstoßes von Clinton, mit dem er seinen politischen Feinden, wie dem republikanischen Sena­tor Jesse Helms, den Wind aus den Segeln zu nehmen versucht. Und ver­ständlich wird so auch, daß die kolumbia­nische Re­gierung nach beendeter Mission in den USA viel ruhiger ist: nach Ein­schät­zung des kolumbianischen Botschaf­ters Carlos Lle­ras de la Fuente ist die Wahr­schein­lichkeit einer negativen Beur­tei­lung durch die US-amerikanische Re­gie­rung nur gleich 5 Prozent, während er mit 75prozentiger Sicherheit von zu­min­dest einer bedingt positiven Einschät­zung (im nationalen Interesse der USA) aus­geht. Zu diesem Ergebnis kam der Di­plo­mat, nachdem die jeweiligen “Gesprächs­partner auf die von Außenmi­nister Rodri­go Pardo vorgelegten Fakten in Sachen Ver­nich­tung von Anbauflächen durchweg positiv reagiert hätten”. Die Ankündigung Sampers, im Falle einer nur bedingten Approbation durch die USA zu prüfen, ob man die Hilfen der USA über­haupt annehmen will, darf aber lediglich als eine starke Geste verstanden werden, mit der Samper versuchen will, in der ko­lum­bianischen Öffentlichkeit nicht als Hand­langer der US-Amerikaner dazuste­hen.
Für dieses Jahr scheint die Krise be­wältigt, wenngleich sich dies letztendlich erst nach dem 1. März entscheidet, wenn Clinton dem Kongreß seine Fakten auf den Tisch legt. Aber es kann mit Sicher­heit davon ausgegangen werden, daß sich die USA in den kommenden Jahren bei steigendem Koka-Anbau in Kolumbien nicht mit einer PR-Veranstaltung der ko­lumbianischen Regierung zufriedenstellen lassen werden. Der Druck, den die Repu­blikaner auf Clinton ausüben, wird sich in den nächsten Jahren mit einer ständigen Verschärfung der US-amerikanischen An­ti­drogenpolitik bemerkbar machen. Die Dro­genbarone aus Cali, die sich in diesem Jahr nach den Worten von Vizepräsident Humberto de la Calle angesichts des pein­lichen Verlaufs der Debatte in Kolumbien noch “totlachen müssen”, werden sich in den nächsten Jahren zunehmend leiser gebärden.

In Rio greift das Militär ein

Tatsächlich hat in den letzten Jahren die Gewalt in Rio immer bedrohlichere Aus­maße angenommen. In dem Zeitraum von 1985 bis 1991 sind in Rio 70 061 Men­schen ermordet worden, und die Tendenz ist weiter steigend. In der Altersgruppe von 15 – 45 Jahren ist der gewaltsame Tod die häufigste Todesursache. Die alltägli­che Gewalt in Rio existiert in vielfachen Formen. Am augenfälligsten ist die Ver­bindung von bewaffneter Macht und Dro­genhandel. In den Armenvierteln von Rio, den Favelas, haben lokale Drogenbosse das Sagen. Sie verfügen über bestens aus­gerüstete bewaffnete Gefolgschaft, um den Drogenhandel zu kontrollieren. Seit dem letzten Jahr hat, anscheinend auf­grund der Verhaftung einiger Schlüsselfi­guren, der Kampf unter den Drogen­banden um Einflußgebiete zugenommen. Diese Kriege werden mit aller Heftigkeit geführt und lassen immer wieder die Be­völkerung ins Kreuzfeuer der rivalisieren­den Gruppen geraten. Im größten öf­fentlichen Krankenhaus Rios hat sich die Zahl der Personen, die wegen Schußver­letzungen behandelt werden müssen, seit 1984 vervierfacht.
Der Staat hat in den Favelas offensichtlich das Gewaltmonopol verloren. Die Dro­genbanden verfügen über das im Golf­krieg eingesetzte Maschinengewehr AR 15, das auch über hunderte von Metern tötet. Sie greifen Polizeistationen an oder befreien verhaftete Kumpane aus dem Krankenhaus. Würde sich das alles in ent­fernten Vororten der Peripherie abspielen, wäre die Beunruhigung der Öffentlichkeit sicherlich nur halb so groß. Aber die Hü­gel, auf denen sich die Favelas zumeist angesiedelt haben, sind in der gesamten Stadt verstreut. So grassiert bei der Mittel­schicht nun die Angst vor den verirrten Kugeln. Angeblich sind dieses Jahr schon mehr als zehn Menschen Opfer von verirrten Kugeln geworden.
Es ist diese Form von Gewalt, die Presse und Fernsehen ausführlich zeigen. Fast je­den Abend kann der Drogenkrieg in Rio im Fernsehen verfolgt werden. Und die damit vermittelte Botschaft ist klar: Die Polizei versagt, weil sie zu schwach ist, wir brauchen die Aufrüstung des Staates. Die Kampagne der Massenmedien hat an­scheinend Wirkung gezeigt. Inzwischen befürwortet nach Meinungsumfragen eine Mehrheit der Einwohner Rios ein Eingrei­fen der Militärs.

Massaker auf dem Hügel ‘des Deutschen’
Für die BewohnerInnen in den Favelas stellt allerdings eher die Polizei als die lo­kalen Drogenbosse eine Bedrohung dar. Letz­tere bemühen sich in der Regel um ein gutes Verhältnis zu den BewohnerIn­nen, fi­nanzieren sogar soziale Einrichtun­gen, und viele der Bewaffneten stammen aus der Favela. Die Polizei hingegen stürmt wahllos die Viertel und tötet, was ihr in den Weg kommt. In dieser alltägli­chen Gewalt ragte im Oktober eine Poli­zeiaktion auf dem ‘Hügel des Deutschen’, mit 200.000 BewohnerInnen einer der größten Favelakomplexe von Rio, heraus. 13 Tote in einer Schlacht von wenigen Stunden, das ist weder in Bosnien noch in Rio normal. Vorausgegangen war ein An­griff der Drogenbande des Hügels auf ein Polizeirevier, bei dem ein Polizist so schwer verletzt wurde, daß ein Bein am­putiert werden mußte. Der Angriff auf die Favela trug also Züge einer Racheaktion. Für die Polizei war das Ergebnis der Ak­tion ein voller Erfolg: “Das Gesetz erlaubt uns zu töten, ohne ein Verbrechen zu be­gehen”, erklärt der Chef der Drogenpolizei Maurilo Moreira und fährt fort: “Wir wer­den uns nicht wie Schafe von den Hügeln vertreiben lassen. Die Waffe ist das Sym­bol unserer Autorität. Wenn wir sie nicht gebrauchen, sind wir Feiglinge. Wenn wir 100 töten müssen, dann töten wir 100.”
Für die Polizei war das Massaker offen­sichtlich ein großes Fest, wie Mitschnitte vom Polizeifunk beweisen. Die Zahl der Getöteten wurde als Erfolgsziffer mit Ju­bel begrüßt. Selbst der Gouverneur von Rio, Nilo Batista, der die Aktion angeord­net hatte, kritisierte die Feststimmung und mußte eine Untersuchungskommission anordnen. Denn an Merkwürdigkeiten fehlt es nicht: Wenn die Polizisten tatsächlich in Notwehr gehandelt haben, wie kann es möglich sein, daß 13 getöte­ten Drogenhändlern nur ein verletzter Po­lizist gegenübersteht? Von den dreizehn Getöteten waren nur drei vorbestraft, vier waren minderjährig. Bewohner der Favela beschuldigen die Polizei, ein wahres Mas­saker veranstaltet zu haben. Eine Mutter erkannte ihren Sohn bei Fernsehaufnah­men wieder: “Er war von der Polizei ver­haftet worden. Aber wenig später lag sein Körper auf dem Haufen der Toten.” Am Tag nach dem Massaker schlossen alle Geschäfte der Favela im Zeichen der Trauer.
Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, daß trotz solcher martialischen Aktionen ein großer Teil der Polizei zu­tiefst im Drogenhandel verstrickt ist, in der Regel durch Abkassieren von Be­stechungsgeldern. Diese spannungs­geladene Symbiose führt natürlich immer wieder zu Auseinandersetzungen, wie im vergangenen Jahr in der Favela Vigario Geral. Dort hatten die lokalen Drogen­bosse vier Polizisten offensichtlich wegen zu hoher Schmiergeldforderungen umge­bracht. Die Polizei reagierte mit einem Massaker an 21 völlig unbeteiligten Be­wohnern der Favela.
Polizei: eine kriminelle Vereini­gung
Das eigentliche Problem ist also nicht das Scheitern des staatlichen Gewaltmonopols in Rio, sondern dessen Umwandlung in eine weitere Räuberbande. Dieser krimi­nell-polizeiliche Komplex steht dazu in vielfältigen Verbindungen mit der Politik, die immer mehr einer Mafia gleicht. Hö­hepunkte waren die massiven Fälschungen bei den allgemeinen Wahlen am 3.10., die schließlich zu deren Anullierung führten. Am 15.11. mußten in Rio sowohl die Bundestags- wie die Landtagswahlen wie­derholt werden! Gegen all dies hilft gewiß nicht das Militär. Die Verbindung der Po­lizei zum organisierten Verbrechen ist al­lerdings inzwischen so offensichtlich, daß sie auch von Seiten der Bundesregierung nicht geleugnet wird. Presseberichten zu­folge sollen die Militärs über ein internes Dossier verfügen, nach dem 70 Prozent der Zi­vilpolizei (policia civil) und 30 Pro­zent der Mi­litärpolizei (policia militar) in illegale Ma­chenschaften verstrickt sind. Dem jetzigen Gouverneur von Rio, der seine politische Karriere dereinst als Menschenrechtsan­walt begonnnen hatte, ist es offensichtlich nicht gelungen, den Polizeiapparat in den Griff zu bekommen. Inzwischen ist er an­scheinend dessen Komplize geworden. Wäre es der Bundes­regierung mit der Be­kämpfung des Dro­genhandels wirklich ernst, so müßte sie nicht in den Favelas ansetzen, sondern bei der Polizei und den Hintermännern des Waffenhandels und der Drogenbeschaf­fung. Diese wird sie si­cherlich nicht in den Favelas finden. So zielt der geplante Militäreinsatz im besten Fall auf die un­terste Riege des Handels: die Jugendli­chen, die an den Umschlag­plätzen Wache schieben und den Verkauf an die Mittel­schichtskunden bewerkstelli­gen. Gegen­über der Komplexität des kri­minellen Mi­lieus in Brasilien gibt der be­waffnete Dro­genhändler auf dem Hügel eher die Kari­katur eines Feindbildes ab, das sich aber gerne durch seine martiali­sche Ausstaffie­rung gut für die mediale Ausschlachtung eignet. Die Medien haben die vielen Fa­cetten der Gewalt auf das Feindbild des Drogenbosses reduziert, der, weil identifi­zierbar, auch gezielt zu be­kämpfen ist. Gleichzeitig erfolgte die Be­richterstattung immer aus der Sicht der normalen Bevöl­kerung außerhalb der Fa­velas. Diese wer­den so zu einem feindli­chen Territorium erklärt, das es zu erobern gilt, um es wie­der in die staatliche Kon­trolle einzubezie­hen. Wie Militärs feindli­che Territorien erobern, ist allerdings nur allzu bekannt. Bestürzend ist, daß nur zehn Jahre nach dem Ende der blutigen Militärdiktatur die Streitkräfte sich wieder als interner Ord­nungsfaktor profilieren können. Hierin liegt vielleicht die langfri­stige politische Bedeutung des Militärein­satzes in Rio. Ob die Militärs nämlich in der Lage sind, vielmehr als ein blutiges Spektakel zu veranstalten, ist äußerst fraglich. Die 158 Favelas, in denen es nach Anga­ben des militärischen Geheimdienstes Drogenum­schlagplätze gibt, sind auf die Dauer gar nicht zu besetzen. Es wird erwartet, daß militärische Aktionen erst nach dem 15. November beginnen, also nach den Wah­len in den Bundesstaaten, in denen die Gouverneurswahlen nicht im ersten Durchgang zusammen mit den Präsident­schaftswahlen am 3. Oktober entschieden wurden. Zunächst also lebt Rio seine fragwürdige Normalität weiter. Am ersten Sonntag nach der Vereinbarung über den Einsatz der Streitkräfte waren die Strände an einem wunderschönen Sonntag über­voll.

Lesetip: T. W. Fatheuer: Jenseits des staatli­chen Gewaltmonopols. Drogen­banden, Todesschwadronen und Profi­teure: die an­dere Privatisierung in Rio de Janeiro. In: Lateinamerika – Analysen und Berichte Nr. 18, Horlemann-Verlag.

Pablo Escobars verwaiste Kindersoldaten

Der neunzehnjährige Chucho redet sehr angeregt über das Begräbnis von Pablo Escobar, dem Chef des Drogenimperiums von Medellín. El Patrón, wie Chucho ihn nennt, wurde am 3. Dezember 1993 von staatlichen Sicherheitskräften getötet. “Ich mußte es sehen, um es zu glauben”, sagt er. “Ich hätte nie gelglaubt, daß die Regie­rung in der Lage wäre, Pablo zu töten. Ich glaubte, dieser Mann sei unbesiegbar.”
Chucho war einer der 5.000 – überwie­gend jungen und armen – EinwohnerInnen von Medellín, die zu der Beerdigung des Drogenbosses kamen. Die aufgewühlte Menge der Trauernden zerbrach die Fen­ster der Beerdigungshalle und trug den Sarg von Escobar spontan auf ihren Schultern. Schließlich mußte die Armee eingreifen, um die Ordnung wiederherzu­stellen und die Beerdigung zu beenden.
Selbstverständlich waren die meisten Ko­lumbianerInnen über den Tod von Escobar erfreut. Sie sahen in ihm den gewalttäti­gen Protagonisten eines Jahrzehntes voller Drogenhandel, Terrorismus, Morde und politischer Attentate. Zum ersten Mal nach vielen Jahren fühlten sie den Tri­umph, den Staat wieder als ihren eigenen anzusehen. Es entstand die Hoffnung, daß sie endlich beginnen könnten, die lange Phase der Gewalt und des Leidens zu überwinden.
Chucho dagegen glaubt, daß alles beim alten bleiben wird. Wenn er dies bekräf­tigt, denkt er an sein eigenes Schicksal. “Schau Bruder”, sagt er, “Pablo starb, aber wir haben immer noch die gleiche Armut, die gleiche Arbeitslosigkeit, die gleichen korrupten Autoritäten. Welcher Weg soll uns also offen stehen?”
Der junge Mann lebt im nordöstlichen Di­strikt der Stadt Medellín, einem dicht be­siedelten Gebiet, das bis an steile Berg­hänge heranreicht. Dort schloß Chucho sich mit vierzehn Jahren einer Bande an. Wie bei den meisten aus der Gruppe be­gann mit einfachen Aktivitäten wie dem Transport von Waffen. Eines Tages wurde ihm während einer Aktion der Bande be­fohlen zu schießen.
Aus Chucho wurde ein sicario, ein be­zahlter Killer im Dienste der Drogen­händler. Obwohl er viel von dem Geld, was ihm zwischen die Finger geriet, ver­schwendete, vergaß er nicht das Verspre­chen, das er ablegte, als er sich entschloß, in die Welt der Kriminalität einzutreten: seiner Mutter ein Haus zu bauen.
Von ihrem Ehemann verlassen, arbeitet Chuchos Mutter als Hausangestellte für eine wohlhabende Familie. Obwohl sie Angst hat, daß ihr Sohn wie so viele sei­ner Freunde einen tragischen frühen Tod stirbt, ist sie dankbar, daß er ihr ein Dach überm Kopf verschafft hat. “Armut ist besser als das Risiko des Todes”, sagt sie Chucho, und hakt die Namen all seiner Freunde ab, die ein gewalttätiges Ende ge­funden haben. Chucho zuckt nur mit den Schultern und wiederholt den gleichen Satz: “Nur Gott weiß, wann du sterben sollst”.
Von Hungerleidern
zu Kanonenfutter
Die ersten mit dem Kartell verbündeten Jugendgangs entstanden Ende der siebzi­ger Jahre. Für die Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Drogenbanden wurden Heranwachsende aus den Armen­vierteln als sicarios rekrutiert. Spä­ter, als der Staat versuchte, diese Banden unter Kontrolle zu bringen, begannen die glei­chen Jungen Polizisten und Richter zu er­morden. 1983 feuerte ein Sechzehnjäh­riger die Maschinengewehrkugel ab, die den Justizminister Rodrigo Lara Bonilla tötete. Präsident Belisario Betancur setzte unverzüglich einen Auslieferungsvertrag mit den Vereinigten Staaten in Kraft, nach dem Drogenhändler schärfer verfolgt wer­den. So begann eine Schlacht, bei der die jungen sicarios in der vordersten Frontli­nie der Drogenkartelle standen.
Morde an hohen Staatsvertretern bildeten die Höhepunkte der Beteiligung junger Berufskiller an diesem Krieg. Viele von ihnen haben Ähnlichkeiten mit Chucho: Sie stammen aus Armenvierteln, wurden von ihren Eltern fallengelassen, besuchten nicht regelmäßig die Schule, waren ar­beitslos. Junge Männer mit ähnlichen so­zialen Profilen ermordeten Zeitungsverle­ger, linke Politiker und staatliche Funktio­näre.
Eine der für die KolumbianerInnen er­schreckendsten Episoden war der Mord an Carlos Pizarro León Gómez, dem Prä­sidentschaftskandidaten der M-19. Die frühere Guerilla hatte sich gerade als Par­tei formiert und angefangen, sich am par­lamentarischen System zu beteiligen. Am 26. April 1990 bestieg Pizarro in Bogotá ein Linienflugzeug, um in den Nordosten des Landes zu fliegen. Wenige Minuten nach dem Start zog ein junger Passagier eine Schußwaffe, richtete sie auf den Kandidaten und tötete ihn. Pizarros Leib­wächter erwiderten das Feuer und töteten den Mörder.
Nach diesem Vorfall bezeichneten die Medien diese jungen Killer als kamikazes. Die jungen Männer führ­ten ihre Aktionen auf eine so überra­schende und furchtlose Weise durch, daß es für die Regierung quasi unmöglich wurde, die Sicherheit von Personen zu ga­rantieren. Gepanzerte Fahrzeuge und Leibwächter wurden Teil des alltäglichen Lebens im Lande.
Drogenhandel und Brutalisierung des Alltags
Zu Beginn der siebziger Jahre begann der Drogenhandel, sich in Medellín und der umliegenden Region auszubreiten. Die Zahl der Jugendbanden wurde Mitte die­ses Jahrzehnts von der Polizei auf 200 Gruppen mit ca. 5.000 Mitgliedern ge­schätzt. Die meisten davon hatten nichts mit den Drogenhändlern zu tun, aber alle versuchten, deren Stil zu imitieren. Schon bald wurden die Jugendgangs in die bluti­gen territorialen Auseinandersetzungen verwickelt, die sich in den Armenvierteln Medellíns abspielten. Während der acht­ziger Jahre stieg in der Stadt die Zahl der Morde drastisch an. 1980 starben in Me­dellín 730 Personen eines gewalttätigen Todes. 1985 war Mord mit 1.684 Opfern zur Haupttodesursache geworden. 1990 wurden in der 1,7 Millionen Einwohner-Stadt 5.500 Morde registiert.
Was veranlaßte viele Jungen zu solch selbstmörderischem Verhalten? Warum beteiligten sich sicarios an Aktionen, bei denen sie wahrscheinlich sterben wür­den? Das Problem liegt selbstverständlich nicht nur bei diesen jungen Delinquenten, son­dern auch in der Gesellschaft, die diese hervorbringt. Bevor Jugendkriminalität sich so weit verbreitete, hatten sich in Kolumbien viele dramatische Verände­rungen vollzogen. Die Banden entstanden in Gegenden, die von massiver Landflucht geprägt sind und während der siebziger Jahre vom Staat fast vollständig vergessen worden waren. Die BewohnerInnen wur­den in die “informelle” Welt verbannt – eine Welt, in der bürgerliche Rechte und Pflichten kaum existierten. Die Söhne die­ser MigrantInnen wuchsen am äußersten Rand der Legalität auf. Sie wurden als BürgerInnen zweiter Klasse behandelt, mit denen von staatlicher Seite aus ledig­lich die Polizei zu tun hatte. Als die Be­völkerung sich selbst organisiserte, um gegen ihre Lebensbedingungen zu prote­stieren, antwortete das politische System mit Kriminalisierung und Unterdrückung und verschloß die legalen Kanäle politi­scher Beteiligung. Die Migrantenfamilien verblieben unter der Kontrolle der kor­rupten traditionellen liberalen und konser­vativen Parteien. Gleichzeitig zersetzten sich ihre traditionellen Formen des Zu­sammenhalts.
Als in diesen Gemeinden Mitte der siebzi­ger Jahre eine verstärkte Kriminalität zu verzeichnen war, bestand die Antwort an­derer gesellschaftlicher Bereiche und der staatlichen Sicherheitsorgane in Ausrot­tungskommandos zur sogenannnten “sozialen Säuberung”. Anstatt sich um die Resozialisierung der jungen Leute zu be­mühen, wurden viele in den Straßen und Außenbezirken der Städte einfach nieder­geschossen. Nach Berichten der General­staatsanwaltschaft beteiligten sich auch Mitglieder der Streitkräfte an diesen To­desschwadronen. Auf diese Weise be­gann der Staat seine grundlegendsten öf­fentlichen Funktionen zu verlieren: die Verteidigung der BürgerInnen, die Schlichtung von Konflikten und die Ver­waltung der Justiz.
Narcos als Jugendidole
Der Tod wurde zur Routine – zunächst für Staat und Gesellschaft, dann für die Grup­pen von Jugendlichen, die in diesem Kreuzfeuer aufwuchsen, inmitten der Gleichgültigkeit gegenüber den Leichen auf den Straßen. Die jungen sicarios wur­den in eine Welt hineingeboren in der keine verbindlichen Prinzipien existierten, die ihnen gegenseitigen Respekt und Achtung vor dem Leben selbst hätten vermitteln können. Hinzu kamen die viel­fältigen Einflüsse neuer sozialer Akteure wie etwa der Drogenhändler, die brutale Gewalt und die Liebe zum Luxus zur Grundlage sozialer Beziehungen machten. Die Jugendgangs waren das Resultat nicht nur einer sozialen und wirtschaftlichen Krise, sondern auch einer Legitimitäts­krise der sozialen Institutionen. Die Ak­tionen dieser jungen Leute stellten die Be­deutung von Leben und Tod in Frage. Wir reden von einer Generation, die ihre Stärke in einem Bereich fand, wo sämtli­che Grenzen aufgelöst waren.
Pablo Escobar selbst stieg durch brachiale Gewalt zum Chef des Medellín-Kartells auf. Während eines Jahrzehntes erlangten sein Leben und seine Aktivitäten mythi­sche Dimensionen. Für die armen Leute wurde er zum Idol, zum Symbol der Re­bellion gegen das Establishment. Unter seiner Führung brachten sogenannte “Büros” die Aktivitäten der Jugendgangs unter den Einfluß des Medellín-Kartells. Es handelte sich hierbei um Tarnfirmen in Form von Autowerkstätten oder Immobi­lienbüros, wo Männer des Kartells die Bosse der städtischen Jugendbanden für sich rekrutierten. Nach wie vor kontrollie­ren diese Anführer den Stadtteil, in dem sie leben. Ihre Macht ist so groß, daß kein Krimineller ohne ihr Einverständnis ope­rieren kann.
Die meisten Gangs identifizieren sich mit den Namen ihrer Anführer: Nachos Bande, Crazy Uribes Bande etcetera. Der Boß hält die Bande zusammen und agiert mit absoluter Autorität. Er entscheidet über Fragen von Leben und Tod. Logi­scherweise ist er großzügig mit seinen loyalen Anhängern und und unerbittlich gegenüber denen, die ihn betrügen oder sich gegen ihn stellen.
Die meisten Jugendlichen in der “Armee” der Drogenhändler sterben in einem der vielen Kriege, für die sie rekrutiert worden sind. Einigen ist es gelungen, eine gewisse Machtstellung zu erreichen, selbst zu We­stentaschen-Capos zu werden und einen gewissen Wohlstand anzuhäufen.
Die Bande als Ersatzfamilie
Während der achtziger Jahre stieg die Kriminalitätsrate bei den Jungen zwischen 12 und 18 Jahren. Dies hat mehrere Gründe: Die traditionellen Institutionen, die für die Vermittlung zwischen dem In­dividuum und der sozialen Ordnung ver­antwortlich waren, hatten ihre Wirkung verloren. Bei der Entstehung von Lebens­stilen spielten jetzt neue Akteure eine ent­scheidene Rolle. Blutrachen wurden im­mer häufiger, ebenso die Aktionen pa­ramilitärischer Gruppen, Guerillas und Gruppen zur “sozialen Säuberung”. Die Gesellschaft begann, sich aufzulösen.
Weder in der Schule noch in der Familie oder in der Kirche fanden sich moralische, soziale oder kulturelle Vorbilder, die die neuen städtischen Generationen anspra­chen. Die Banden wurden zum alternati­ven Sozialisationsmittel. Sie wurden zu dem Weg, auf dem sich viele junge Leute in die symbolische und “normative” Welt einfügten.
Gleichzeitig machte die Familie in allen gesellschaftlichen Schichten eine grundle­gende Krise durch. Bei den armen Leuten kamen noch besondere Faktoren hinzu. So erziehen immer mehr Frauen ihre Kinder alleine. Gleichzeitig sind immer mehr von ihnen berufstätig. Alkoholismus und Dro­genabhängigkeit, der Mangel an Verant­wortungsbewußtsein bei den Vätern und die hohe Arbeitslosenrate tragen dazu bei, daß der Vater aus vielen Haushalten ver­schwunden ist.
Hinzu kommt eine wachsende Gewalt ge­gen Frauen und Kinder. Statistiken des Kolumbianischen Instituts für Familien­wohlfahrt zufolge hat es seit 1980 in je­dem Jahr einen Anstieg der registrierten Fälle von Kindesmißbrauch gegeben. Das Institut schätzt, daß es pro Jahr zwischen 50.000 und 100.000 Fälle von körperlicher und seelischer Mißhandlung oder sexuel­lem Mißbrauch im Lande gibt. Allein in der ersten Hälfte des Jahres 1986 wurden in den verschiedenen Sozialstationen in Medellín 7.500 Fälle von Gewalt gegen Minderjährige behandelt. Im größten Krankenhaus der Stadt wurden in diesem Jahr 3.073 Kinder wegen Verletzungen behandelt, 74 davon hatten Schußwunden. Die Statistiken beleuchten die Auswir­kungen von Gewalt auf Kinder und die Ef­fekte eines autoritären und intoleranten Familienmodells.
In vielen Familien mangelt es nicht nur an Liebe, sondern auch an positiven Model­len von Autorität. Dies ist besonders of­fenkundig, wenn der Vater seiner Rolle in der Familie nicht gerecht wird. Wenn sich ein Junge einer Bande anschließt, findet er in dem Anführer eine Identifikationsper­son, wie er sie in der Familie nicht hatte. Die Mütter verhalten sich gegenüber ihren delinquenten Söhnen oft zwiespältig. Oft mißbilligen sie zwar das, was ihre Kinder tun. Gleichzeitig beschützen sie sie und halten bis zum Ende zu ihnen. Wenn es den Kindern gelingt, einen höheren Le­bensstandard zu erreichen, erhöht sich der Toleranzlevel.
Pablo Escobar – ein verkannter Wohltäter?
Die Jugendgangs werden zum Ausdruck der Subkultur der Drogendealer, wo Ideale und Helden gefunden werden können. Entsprechend werden narcos, in eini­gen Regionen auch sicarios, ideali­siert. Dazu gehört in manchen Fällen auch das Image als “Wohltäter” der Gesell­schaft. Pablo Escobar wurde zum Beispiel zum gleichen Zeitpunkt, als er vom Staat und den Me­dien geächtet wurde, von vielen, insbe­sondere armen Kolumbianer­Innen my­thologisiert. Sie hielten ihn für einen guten und mächtigen Mann, dem die traditionell Herrschenden im Lande unfai­rerweise al­les Übel anhängen wollten.
In einer Umfrage, die letztes Jahr in den Schulen des nordöstlichen Distriktes durchgeführt wurde, wurden Schüler ge­fragt, wen sie für die wichtigste Person des Landes hielten. 21 Prozent der Be­fragten nannten Pablo Escobar, 19,6 Pro­zent den Präsidenten César Gaviria, 12,6 Prozent René Higuita, den Torwart der Nationalmannschaft. Von allen befragten Kindern hatten 56,5 Prozent eine positive Meinung über Escobar.
In weiten Kreisen der Gesellschaft hält sich immer noch die Einstellung, daß Es­cobar eigentlich Gutes bewirken wollte. Der Krieg der Regierung habe ihn ge­zwungen, Dinge gegen seinen Willen zu tun. In geringerem Ausmaß werden auch die mittleren capos und die sicarios aus den Vierteln als Wohl­täter angesehen – als Verteidiger des Wohlstandes der Gemein­schaften.
Die Jungen aus den Hüttenstädten wach­sen mit dem Bedürfnis auf, intensiv zu le­ben, ihren eigenen Willen durchzusetzen, zu sagen: “So sind wir: Wir existieren!”. Die Gewaltausübung ist zu einem Weg geworden, die Gesellschaft zur Anerken­nung ihrer Existenz zu zwingen. In den Banden haben sie etwas gefunden, was die Gesellschaft nicht bieten kann: Freunde und Verbündete, mit denen sie grundle­gende Lebensbereiche teilen. Es gibt keine Unterordnung unter eine äußere Autorität. Dies verleiht den Banden eine große Por­tion Vitalität.
Die größeren Gangs haben ein System von Codes und Beziehungen, auf denen ihr Zusammenhalt beruht. Hier werden Auto­ritätsbeziehungen mit Loyalität und Soli­darität kombiniert. Innerhalb einer Sub­kultur werden Verbrechen und Gewalt nicht notwendigerweise als illegitim ange­sehen. Die Subkultur bezieht die Jugendli­chen in ein Wertesystem ein, daß sich bei weitem von den formalen Maßstäben der Gesellschaft unterscheidet. Die Bande funktioniert als eine isolierte Umgebung, in welcher die Mitglieder von Angriffen auf ihre Selbstachtung geschützt sind. Den Jungen fehlen die gesellschaftlichen Kon­zeptionen von “gut” und “schlecht”. Viele werden zu Delinquenten, ohne sich selbst als “anders” anzusehen. Sie haben ihr ei­genes positives Selbstbild.
Die Jungen werden Linie von der Aussicht auf Abwechslung, Vergnügen und Aben­teuer wie von einem Magneten angezo­gen. In dieser maskulinen Welt werden Status und Führerschaft durch Tapferkeit und Machtausübung bestimmt. Dies bein­haltet das Wissen über den Gebrauch von Waffen. Alle kolumbianischen Bandenan­führer sind perfekte Schützen und wissen, wie man glatt und effizient vorgeht.
Wenn wir Städte wie Caracas und Rio de Janeiro betrachten, finden wir eine ähnli­che Situation wie in Medellín. Dort haben größere Drogendealer Armeen von Her­anwachsenden aufgestellt, um ihr Territo­rium in den Armenvierteln zu sichern. Sie benutzen diese Jugendlichen als Kanonen­futter in ihren Konfrontationen unterein­ander und mit staatlichen Autoritäten. Wenn die narcos nicht so immense Ge­winnspannen hätten, wäre es praktisch unmöglich, so viele Heranwachsende zu rekutieren und modernste Waffen zu be­schaffen.
Der staatliche Drogenkrieg – ein Schuß nach hinten
Nach dem Mord am liberalen Präsident­schaftskandidaten Luís Carlos Galán star­tete die Regierung 1990 eine frontale At­tacke gegen das Medellín-Kartell. Die Si­cherheitskräfte begannen mit Angriffen auf die Jugendbanden, die sie für die Re­servearmee der Drogenhändler hielten. Diese Offensive fand ohne den geringsten Respekt für Menschenrechte statt. Sie be­diente sich derselben Logik wie der Krieg zur Aufstandsbekämpfung: Ganze Ge­meinden wurden zu Feinden der Gesell­schaft erklärt. Heranwachsender in einem Armenviertel zu sein bedeutete, als sicario klassifiziert zu werden. Die staatliche Of­fensive, bei der Tausende von Menschen illegal verhaftet wurden, ver­stärkte die Abneigung gegen die Sicher­heitsorgane und den Staat.
In diesem Sinne war die Strategie ein Schuß nach hinten. Viele junge Leute identifizierten sich mit den Drogenhänd­lern und radikalisierten sich gegen die Re­gierung. Zu spät wurden sich die nationa­len und regionalen Regierungen darüber bewußt, daß die Anwendung von coun­terinsurgency-Methoden ein Fehler war, und gingen weniger brachial vor.
Nach wie vor sind weder eine grund­legende Umstrukturierung des Justiz- und Polizeisystems noch eine substantielle Umverteilung des Wohlstandes zu erwar­ten. Trotzdem gibt es einige “soziale Ak­tions-Programme” zur Resozialisierung von Jugendlichen, die zu begrenzter Hoff­nung Anlaß geben. Einige öffentliche und private Organisationen bieten mittlerweile Beschäftigungsprogramme an.
Die Jugendbande als Mittel zur Resozialisierung?
Gleichzeitig wird versucht, Mechanismen zu entwickeln, mit denen der negative Charakter der Banden unter Berücksichti­gung ihrer Gruppenstrukturen verändert werden kann. Letzteres bedeutet, mit dem gesellschaftlichen und persönlichen Selbstbild der Jungen zu arbeiten. Von der Erkenntnis ausgehend, daß in der Gewalt­ausübung ein Bedürfnis liegt, sich selbst zu erkennen und auszudrücken, versuchen die Resozialisierungsprojekte, neue For­men der gesellschaftlichen Darstellung zu finden, die für diese Jungen von Bedeu­tung sind.
Einige dieser Vorgehensweisen sind offen politisch. Durch die Bemühungen um eine lokale Entwicklung sind aus einigen Jun­gen, die vorher gefürchtete Kriminelle wa­ren, herausragende kommunale Führer geworden. Gruppen, die sich vorher bis aufs Messer bekämpften, haben Friedens­abkommen unterzeichnet und sich zu­sammengetan, um für soziale Entwick­lungsprogramme auf kommunaler Ebene zu kämpfen.
Medellín vollzieht heute eine Anzahl in­teressanter Versuche, sich als Gesellschaft neuzukonstituieren. Dies geschieht jedoch im vollen Bewußtsein, daß jede Lösung für eine so tiefgreifende Krise eine lange Entwicklung erfordert.
Pablo Escobar ist gestorben. Dies bedeutet allerdings nicht das Ende des Drogenhan­dels. Jeder weiß, daß sich, solange der Markt für Drogen weiter wächst, immer wieder neue Organisationen bilden wer­den, um von diesem lukrativen Geschäft zu profitieren. Die Indudtriestaaten ver­langen von den Anbauländern, diesen Krieg fortzusetzen, obwohl wir alle wis­sen, daß dieser hart und nutzlos ist. Die Logik des illegalen Drogenmarktes ist un­erbittlich. Jungen aus Medellín wie Chucho hat der Drogenhandel für ihr Le­ben geprägt. Er brachte ihnen den Traum vom Reichtum und die Realität des Todes. Zunächst wurde es normal, Zeuge des Tötens und Sterbens zu sein, dann, selbst zu töten und zu sterben.
Gewalt wurde zu einem Mittel, mit dem traditionell ausgegrenzte Gruppen von Ju­gendlichen die Anerkennung des Staates und der “anderen” Gesellschaft suchten. Mit ihrem abweichenden Verhalten stell­ten die jungen Bandenmitglieder die so­ziale Ordnung, die auf Diskriminierung beruhte, grundlegend in Frage. Die Ge­walt ermöglichte es der “vergessenen Stadt”, auf der Landkarte des öffentlichen Bewußtseins zu erscheinen. Sie brachte soziale und wirtschaftliche Ungleichheit stärker ans Licht. Das Drama der Ärmsten wurde publik. Jugendgewalt veranlaßte den Staat, der die Armenviertel jahrelang der Polizei überlassen hatte, über seine Legitimität und sein Verhältnis zu deren BürgerInnen nachzudenken.

Der Autor ist kolumbianischer Journalist und Sozialarbeiter; Verfasser des Buches “Born to die in Medellín”, Latin American Bureau, 1990; deutsch: “Totgeboren in Me­dellín”, Wuppertal: Peter Hammer Verlag 1991, 174 S., 16,80 DM

Clintons Lateinamerikapolitik

Der Amtsantritt der Clinton-Administration und der Schichtwechsel nach Jahren unter Reagan und Bush scheint einen grundlegenden Wandel der US-amerikanischen Außenpolitik zu versprechen. Neue Persönlichkeiten sind nunmehr verantwortlich für die Diplomatie Washingtons – Persönlichkeiten, die in den letzten zwölf Jahren immer wieder grundsätzliche politische und ideologische Bedenken gegen die Außenpolitik ihrer Amtsvorgänger geäußert haben(…).
Allerdings verstellt ein Vergleich von Amtsträgern den Blick auf die grundlegende Kontinuität der Außenpolitik im Übergang von Bush zu Clinton. Die globalen Rahmenbedingungen haben sich in den letzten Jahren dramatisch gewandelt, und sowohl Bush als auch Reagan hatten sich gezwungen gesehen, ihre Politik seit den späten 80er Jahren langsam zu verändern. Im Falle Lateinamerikas nahm bereits Bush bedeutende politische Kurskorrekturen vor, und allem Anschein nach wird Clinton nicht viel mehr tun, als ein wenig an diesen grundsätzlichen Veränderungen herumzubasteln.

Der Fall Haiti: Realpolitik statt Menschenrechte

Clintons erster Sprung in die Lateinamerikapolitik – der Fall Haiti – enthüllt, wie stark er sich an die Politik seines Vorgängers anlehnt. Während des Wahlkampfes betonte Clinton seine Differenzen mit Bush, als er eine weniger restriktive Einwanderungspolitik gegenüber den verfolgten Flüchtlingen aus Haiti forderte. Aber noch vor seinem Amtsantritt brach er dieses Wahlversprechen und erklärte, daß es bei der alten Immigrationspolitik bleiben würde. Das Team von Clinton befürchtete eine Welle von Flüchtlingen, die Gegenreaktionen auslösen und damit die innenpolitischen Vorhaben der Regierung gefährden würde.
Auch die generelle Politik gegenüber den haitianischen Militärs hat sich nicht wesentlich geändert. Clinton mag zwar etwas stärker als Bush auf der Wiedereinsetzung von Jean-Bertrand Aristide als Präsidenten Haitis bestehen. Aber wie unter Bush werden die Bedingungen, unter denen Aristide zurückkehren kann, dessen Handlungsspielraum einengen, um die sozialen und politischen Reformen durchzuführen, für die er anfangs gewählt wurde. Im Interesse von “Aussöhnung” werden, wenn überhaupt, nur wenige AnhängerInnen und Mitglieder der Militärregierung für ihre barbarischen Aktivitäten gegenüber dem haitianischen Volk zur Rechenschaft gezogen werden. Die Ähnlichkeiten der Haiti-Politik beider Administrationen wurden dadurch unterstrichen, daß Clinton für eine Übergangszeit an Bernard Aronson festhielt, der von Bush als Staatssekretär für Interamerikanische Angelegenheiten eingesetzt worden war.

Entwürfe der Republikaner – Umsetzung durch Demokraten

Bush nahm zwei grundsätzliche Kurskorrekturen der Lateinamerikapolitik vor, die als Grundlage für Clintons Politik dienen. Erstens ging die Bush-Administration dazu über, Verhandlungslösungen für Bürgerkriege und Guerilla-Konflikte, besonders in Mittelamerika, zu suchen. Bush und Außenminister James Baker erkannten schon früh die Notwendigkeit für eine Politik, die über die Forderung des rechten Flügels der Republikaner hinausging, am totalen Krieg gegen linke Bewegungen und Guerillas festzuhalten. Diese Haltung wurde deutlich durch die Besetzung des zentralen Postens für die Lateinamerika-Politik mit Bernard Aronson, einem Demokraten, der der Verhandlungspolitik gegenüber Nicaragua und El Salvador vorstand.
Die zweite grundsätzliche Veränderung trat ein, als die Bush-Administration einen neuen ökonomischen Ansatz verfolgte, um die lateinamerikanischen menschlichen und materiellen Ressourcen auszubeuten. Bush propagierte leidenschaftlich das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) und verkündete die export-orientierte “Enterprise for the Americas” (Ein vager Plan zur Schaffung einer gesamtamerikanischen Freihandelszone; Anm.d.Red.), und verschob somit den Schwerpunkt der Politik von verdeckter Kriegsführung hin zu Wirtschaft und Handel.
Grundlegende Veränderungen der Lateinamerikapolitik waren schon zuvor von Republikanern vorgenommen und dann von Präsidenten der Demokraten fortgeführt worden. Franklin Roosevelts Politik der “Guten Nachbarschaft”, die die “Kanonenboot”-Diplomatie des frühen 20.Jahrhunderts beendete, wurde schon von Henry Stimson, dem Außenminister unter Präsident Herbert Hoover, eingeleitet, der eine fortgesetzte Interventionspolitik in Mittelamerika als eher schädlich erachtete.
Später, in den 60er Jahren, wurde viel Wirbel um John F. Kennedys “Alliance for Progress” gemacht und um das große Gewicht, das Kennedy auf lateinamerikanische Entwicklung legte. Aber es wurde zumeist übersehen, daß diese Politik bereits in der zweiten Amtszeit von Dwight D. Eisenhower angelegt worden war. 1958 wurde Eisenhowers Bruder Milton auf eine Informationsreise durch Lateinamerika geschickt, der nach seiner Rückkehr empfahl, der Region mehr Aufmerksamkeit und Wirtschaftshilfe zukommen zu lassen, um der politischen Unruhe entgegenzuwirken, der er dort begegnet war. Die ‘Inter-American Development Bank’ wurde aufgebaut, und Präsident Eisenhower selbst unternahm 1960 eine Lateinamerikareise. Diese Visite führte zur ‘Deklaration von Bogotá’, die grundlegenden sozialen Wandel forderte, nun auch mit dem direkteren Ziel, ein Ausbreiten der 1959 siegreichen kubanischen Revolution zu verhindern.
Die Veränderungen der Lateinamerikapolitik in der Bush-Clinton-Periode gehen aus neuen internationalen Gegebenheiten hervor. Das Ende des Kalten Krieges fiel zusammen mit der Erkenntnis, daß die revolutionären Bewegungen in Mittelamerika militärisch nicht zu besiegen sein würden. Insbesondere das negative öffentliche Echo in den USA auf die fortgesetzte Interventionspolitik ließen Verhandlungslösungen in Mittelamerika als politische Option in den Vordergrund treten. Auf wirtschaftlicher Ebene erklärt die zunehmende Konkurrenz mit Japan und der EG sowie die allgemeine Schwäche der US-Wirtschaft das verstärkte Engagement der Bush-Administration in dieser Region. Die Präsidenten zahlreicher lateinamerikanischer Länder begannen, den ökonomischen Rezepten von Reagan und Bush zu folgen, die Freihandel und die Privatisierung des öffentlichen Sektors der Wirtschaft verlangten. Um in wirtschaftlich schwieriger Situation einen neuerlichen Fluß von privaten und öffentlichen Geldern aus den USA zu erlangen, verordneten lateinamerikanische Regierungen einschneidende Sparprogramme. Die Schulen, medizinischen Einrichtungen und die soziale Infrastruktur Lateinamerikas wurde geplündert, während Hunger und Unterernährung zunahmen.

Wirtschaftspolitik im Vordergrund

Die Clinton-Regierung hat keine grundsätzliche Kritik an diesem Zeitraum der wirtschaftlichen Verwüstung Lateinamerikas geübt. Wenn überhaupt, so hat sie im Gegenteil ihre Bereitschaft erklärt, die Wirtschaftspolitik der Bush-Administration mit nur unwesentlichen Veränderungen fortzuführen. Von der immer größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich in dieser Region ist überhaupt nicht die Rede. Clinton, der sich gerne mit Kennedy vergleichen läßt, hat nichts Vergleichbares zu dessen reformistischer “Alliance for Progress” zu bieten.
Tatsache ist, daß Clintons Erklärung, er werde sich “wie ein Laser” auf die US-Wirtschaft konzentrieren, ihr Gegenstück findet in dem Versuch, Wirtschaft und Handel zum zentralen Bestandteil seiner Lateinamerikapolitik zu machen. Während der Übergangszeit vor dem Amtsantritt sprach sich herum, daß das Clinton-Team Wirtschaftsexperten suche, um die wichtigsten Posten im Bereich der Lateinamerikapolitik zu übernehmen, was ein Grund für die Wahl Richard Feinbergs als Lateinamerika-Verantwortlichen im Nationalen Sicherheitsrat ist. Obwohl Feinbergs frühere politische und wirtschaftliche Ansichten eher linksliberal waren, lehnen sich seine jüngeren Schriften eher ans Establishment an und spiegeln häufig die Bedenken von Institutionen wie dem IWF oder der Weltbank wider. Selbst das “Wall Street Journal” nahm ihn in Gnaden auf und salbte ihn als “Gemäßigten”.
Die allgemeine Auffassung in Washington ist, daß der Nationale Sicherheitsrat unter Anthony Lake eine Schlüsselstellung in der Formulierung außenpolitischer Ziele einnimmmt, während das Außenministerium unter Warren Christopher für die Umsetzung zuständig ist. Clintons Haltung, direkt in alle politischen Entscheidungsprozesse eingreifen zu wollen, wird durch diese Arbeitsteilung unterstützt, da der Nationale Sicherheitsrat im Weißen Haus ansässig ist. Lake kommt wie Feinberg vom progressiveren Flügel der Demokraten. Aber auch Lake hat in den letzten Jahren eine zunehmend gemäßigtere Haltung angenommen, und es wird nicht erwartet, daß er oder Feinberg kühne neue Positionen im Nationalen Sicherheitsrat vertreten. (…)
Die Bedeutung Lateinamerikas für Clintons gesamte Wirtschaftsstrategie wird unterstrichen durch die Anzahl von Personen, die Schlüsselpositionen in der Regierung besetzen und ghleichzeitig Mitglieder der Denkfabrik “Inter-American Dialogue” sind, die in den frühen 80er Jahren gegründet wurde. Diese Organisation entwarf zunächst eine alternative Lateinamerikapolitik, die sich deutlich von der Reagans unterschied. In den letzten Jahren allerdings entwickelte sich der “Dialogue”, mit Mitgliedern aus den USA, Kanada und zahlreichen lateinamerikanischen Ländern, immer mehr zu einem hochrangigen Forum, in dem sich politische, akademische, ökonomische und sogar militärische Eliten regelmäßig zum Gedankenaustausch zusammenfinden. Neben Christopher und Feinberg sind auch Clintons Innenminister Babbitt, Wohnungsminister Cisneros und Verkehrsminister Peña Mitglieder dieses Forums, welches nationale und internationale Persönlichkeiten zusammenbringt, um Strategien zur Stabilisierung der kapitalistischen Welt zu entwerfen.

Clintons Strategie-Papier: Wenig Neues aus der Denkfabrik

Der jüngste Bericht, der vom “Dialogue” herausgegeben wurde, “Convergence and Community: The Americas in 1993” spiegelt die Themen wider, die viele Mitglieder der Regierung am meisten beschäftigen. Er ist ähnlich bedeutsam, wenn auch weniger spektakulär als die Strategiepapiere voriger Administrationen, in denen Carter zur Formulierung einer Menschenrechtspolitik und der Neuverhandlung der Panama-Verträge aufgefordert wurde (Linowitz-Bericht 1976) oder sich Reagan gegenüber für eine aggressive Politik gegenüber revolutionären Bewegungen in Mittelamerika ausgesprochen wurde (Santa Fe-Bericht 1980). “Convergence an Community” ist ein Dokument der liberalen politischen Mitte und spiegelt als solches die zunehmend geringere Bedeutung des Gegensatzes konservativ versus progressiv in weiten Teilen der Außenpolitik wider. Seine zentralen Vorschläge unterscheiden sich nur wenig von der Poliik der Bush-Administration. Der erste Abschnitt des Berichtes ist eine volltönende Zustimmung zur NAFTA und fordert ähnliche Handelsabkommen mit anderen lateinamerikanischen Staaten, in erster Linie mit Chile.
Der zweite Abschnitt befürwortet eine “kollektive Verteidigung der Demokratie”, weicht aber nur wenig von der Politik von Baker und Bush ab. Es gibt keine Diskussion über Basisdemokratie oder die Schaffung neuer demokratischer Institutionen, durch die die verarmten und entrechteten Massen der Region in den politischen Entscheidungsprozeß einbezogen werden könnten. Wenn Militärregime die Macht ergreifen, schlägt der Bericht Verhandlungen ála Haiti vor, um die Machthaber zur Abgabe der Regierungsgewalt an Zivilisten zu bewegen. Der bericht proklamiert keinen grundsätzlichen Wandel in den traditionellen militärischen oder politischen Institutionen, die überhaupt erst zu Machtergreifungen des Militärs führen.
Der Schlußteil von “Convergence and Democracy” fordert tatsächlich eine Auseinandersetzung mit “den Problemen von Armut und Ungleichheit” in der Hemisphäre. Aber es gibt nichts Neues oder Innovatives in diesem Abschnitt. (…) Tatsächlich lesen sich die ersten Thesen dieses Teils wie ein Auszug aus neoliberalen Wirtschaftsprogrammen, insbesondere durch die Behauptung, daß fiskalische Zurückhaltung und “nicht ausufernde” Staatsausgaben Grundlage für die Bekämpfung von Armut seien.

Ökologie und Auslandshilfe: Kosmetik oder Kurswechsel?

Obwohl Clintons Lateinamerikapolitik im wesentlichen der von Bush ähneln wird, werden andererseits Veränderungen in der Herangehensweise und in der Wahl der Schwerpunkte zu beobachten sein. (…) Dies wird zum Beispiel belegt durch die Zusatzprotokolle zu ökologischen und arbeitsrechtlichen Fragen, die die Clinton-Administration zur NAFTA entwerfen will. Gewerkschaften und Umweltschutzverbände sind einfach wesentlich stärker in der Demokratischen Partei vertreten als bei den Republikanern, und Clinton kann diese Interessengruppen nicht ignorieren.
Man kann außerdem unter Clinton und Gore erwarten, daß die “Agency for International Development” (AID) ihren Schwerpunkt stärker auf “angepaßte Technologie” und “nachhaltige Landwirtschaft” legen wird. Die Berufung von Umweltschützer Timothy Wirth, einem ehemaligen Senator aus Colorado, als Leiter der neuen Abteilung für “Global Issues” im Außenministerium bedeutet, daß ökologische Fragen mehr Berücksichtigung in Entwicklungshilfeprogrammen finden werden.
Eine interessante Frage ist, ob die Regierung so weit gehen wird, den Empfehlungen des Weißbuches “Reinventing Foreign Aid” (in etwa: “Auslandshilfe neu überdacht”) zu folgen. Dieses Papier, ausgearbeitet und unterstützt von einem breiten Spektrum von Einzelpersonen des Kongresses, Washingtoner Denkfabriken und Nichtregierungsorganisationen, fordert die Abschaffung der AID und deren Ersetzung durch eine “Sustainable Development Cooperation Agency”. Dies würde das Ende vieler Hilfsprogramme alten Stils bedeuten, unter anderem für direkte Unterstützung an Regierungen zum Ausbau des Sicherheitsapparates. Stattdessen würden mehr Gelder an Basisgruppen und ökologische Landwirtschaftsprojekte fließen. Der Bericht fordert Vizepräsident Gore auf, einer Koordinationsgruppe für Entwicklungshilfe vorzustehen, die Hilfsprogramme und die damit verbundenen Organsiationen beaufsichtigen würde, die staatliche Gelder beziehen.
Ein zentrales Thema, welches Spannungen und Debatten auslösen und schon sehr bald auf der Tagesordnung stehen wird, ist, wie stark sich die Administration im ökologischen Bereich engagieren sollte. In der Lateinamerikapolitik der Regierung ist ein innerer Widerspruch angelegt zwischen umweltpolitischen Fragen und der Ausdehnung von US-Märkten und Investitionen. Selbst wenn ein relativ striktes NAFTA-Protokoll zum Umweltschutz ausgearbeitet werden sollte, bleibt zweifelhaft, wie energisch es umgesetzt wird.
In den vergangenen Jahren hat die mexikanische Regierung als Reaktion auf US-amerikanische Bedenken eine Reihe von Schutzerlässen im Bereich von Menschenrechten und Ökologie verfügt, obwohl diese häufiger gebrochen als eingehalten wurden. Aber solche Gesetze geben Basisorganisationen in Mexiko und den USA mehr Spielraum, um auf Veränderungen zu drängen. Dieselbe Dynamik des Drucks von unten wird auch während Clintons Amtszeit notwendig sein, um Versuche von multinationalen Konzernen zu vereiteln, bei ihrer Expansion nach Süden im Rahmen der Freihandelsabkommen umweltrechtliche Bestimmungen zu ignorieren.

Die Rechten verlieren an Boden

Ein weiterer Unterschied zwischen den Präsidentschaften von Bush und Clinton ist der nunmehr verringerte Einfluß der extremen Rechten. Im Falle Nicaraguas hatten es Jesse Helms und der rechte Flügel der Republikaner während des letzten Amtsjahres von Bush geschafft, die US-Hilfe zu blockieren, da sich die Regierung von Violeta Chamorro weigerte, Sandinisten aus Schlüsselpositionen des Militärs zu entfernen. Die neue politische Konstellation und der Niedergang der extremen Rechten wurde direkt nach Clintons Wahlerfolg verdeutlicht, als Bush die Mittel für Nicaragua lieber freigab, als vom Kongreß angedrohte Etatkürzungen in einigen seiner Lieblingsprojekte in Kauf zu nehmen. Die extreme Rechte in Lateinamerika fühlt sich nach der Niederlage von Bush ebenfalls verwaist. Besonders rechte Politiker in Mittelamerika kritisierten die neue Regierung sofort heftig. So erklärte ein nicaraguanischer Politiker, daß die Welt auf eine Katastrophe zusteuere, “mit diesen Schwulen, Kommunisten und Liberalen, die unter Clinton an der Macht sind.” Die Entscheidung von Präsidentin Chamorro im Januar, deutlich mit den rechteren Parteien zu brechen und einige Sandinisten ins Kabinett zu berufen, wurde dadurch erleichtert, daß die äußerste Rechte keinen Schutzherren mehr in Washington hat.
Die Drogenpolitik der USA gegenüber Lateinamerika wird sich unter Clinton ebenfalls verändern. Die Aufmerksamkeit wird nun stärker den innenpolitischen Ursachen von Drogenmißbrauch gewidmet werden, während die internationalen Drogenkartelle aus dem Rampenlicht rücken. Im Wahlkampf war der Drogenkrieg praktisch nicht existent. Bush hatte kein Inteesse daran, über seine Drogenpolitik zu debattieren, die von der Öffentlichkeit als Mißerfolg bewertet wurde, während Clinton dieses Thema als eine Ablenkung von seinem Hauptanliegen empfand, den wirtschaftlichen Schwierigkeiten der USA. Im ersten Monat seiner Amtszeit kürzte Clinton bereits die Mittel für die internationale Drogenbekämpfung. Im Unterschied zu Bush hat Clinton außerdem nicht zu erkennen gegeben, daß er die Marines gegen Drogenhändler in Lateinamerika einsetzen will.

Kein Spielraum für eine neue Kubapolitik

Den meisten politischen Sprengstoff für Clintons Administration birgt die Kubapolitik. Der “Inter-American Dialogue” betrat in seiner Schrift “Convergence and Community” Neuland mit der Forderung, die Blockade gegen Kuba zu lockern. Der Bericht plädiert für bessere Post- und Telefonverbindungen und dafür, Tourismus von US-Bürgern nach Kuba zuzulassen. Weitere Schritte zur Verbesserung der Beziehungen, so der Bericht, könnten unternommen werden, wenn Kuba ebenfalls mit ähnlichn Maßnahmen antwortet.
Allerdings schränkte Clinton selbst seinen politischen Spielraum gegenüber Kuba ein, als er im Wahlkampf in Florida um die Unterstützung der kubanischen Exilgemeinde warb. Er forderte eine härtere Gangart gegenüber Castro und erhielt finanzielle Hilfe für seine Wahlkampagne in Millionenhöhe von Jorge Más Canosa, dem Vorsitzenden der rechtsgerichteten Cuban American National Foundation (CANF). Die Spenden an Clinton mögen allerdings nur geringere Bedeutung haben, da Clinton in Florida die realtive Mehrheit verfehlte und Más Canosa zudem auch die Republikaner unterstützte.
Kuba ist ein sensibles Thema, sowohl in der Demokratischen Partei wie auch in den USA allgemein. Von daher ist es unwahrscheinlich, daß Clinton dieses Thema anschneiden wird. Der vergebliche Versuch, Mario Baeza (der als Vertereter einer Politik der Öffnung gegenüber Kuba gilt, die Red.) als Staatssekretär für Interamerikanische Angelegenheiten zu nominieren, verdeutlicht, daß Clinton kaum etwas unternehmen wird, um die jahrzehntelange Isolationspolitik gegenüber Kuba zu verändern.
Clinton hat einfach kein neues politisches Programm für Lateinamerika oder die Karibik. Die riesigen Probleme des Hungers und der Unterernährung in Lateinamerika werden wohl ignoriert werden, während die USA weiterhin den Freihandel und eine Wirtschaftspolitik kultivieren werden, von der in erster Linie die multinationalen Konzerne und die ökonomischen Eliten der Hemisphäre profitieren. Die Clinton-Administration mag sich weigern, sich der strukturellen Probleme der Hemisphaäre anzunehmen, aber die Probleme werden nicht von selbst verschwinden.
Die Rechte in den USA und Lateinamerika hat einiges von ihrer Schlagkraft verloren, und diese Entwicklung öffnet politischen und sozialen Raum für Basisbewegungen, deren Einfluß noch wachsen wird. Diese Bewegungen haben das Potential, um das neue Gerüst lateinamerikanischer Beziehungen zu erschüttern, das Bush aufgerichtet hat und Clinton offensichtlich beibehalten will.

Der Krieg ohne Öffentlichkeit

Kolumbien: Die Mauer von Medellín

Hinter der Nationaluniversität beginnt das andere Me¬dellín, das der barrios populares: unvollendete Hütten ohne Strom und Wasserversorgung, eingeschlagene Fensterscheiben, aufgebockte Autos und die BewohnerInnen, meist arbeitslos oder unterbeschäftigt. Sie nennen die Trennung zwischen Reich und Arm, zwischen Kommerz und Slums die “Mauer von Medellín”.
Pablo Escóbar, Chef des Kartells von Medellín, hat hier in den barrios Straßen, Häuser und sogar einen Sportplatz gebaut und gibt den Leuten Arbeit im Drogengeschäft: “Wenn dir hier jemand eine Arbeit anbietet, wenn du z.B. etwas basuco (umgangssprachlich für pasta básica de cocaina = Vorprodukt von Kokain) verkaufst und damit deiner Familie überleben hilfst, dann fragst du nicht, ob das legal oder illegal, moralisch oder unmoralisch ist. Mann, das kannst du dir gar nicht leisten, sonst macht jemand anders den Job und du hörst noch Vorwürfe, daß du faul seist usw.. Außerdem, hat irgendjemand von Moral geredet, als Escóbar Kongreßabgeordneter war und die Kartelle die politischen Kampagnen der Liberalen und Konservativen finanziert haben?”
Die staatliche Antwort auf die Machtposition des Kartells im Stadtviertel ist rein repressiv. Zum einen werden die barrios zu illegal besetzten Zonen erklärt und so von der Versorgung abgeschnitten, zum anderen findet eine Militarisierung des Gebietes statt. So wurden vermehrt sog. Centros de Atención Inmediata, CAIs, errichtet, feste Polizeiposten zur Verbrechensverhütung und -bekämpfung. Ein Sportplatz wurde von der 4.Brigade des Heeres als Stützpunkt besetzt. Drei Blöcke entfernt vom CAI im barrio 12 de octubre fand vor etwa einem Jahr ein Massaker in der Kneipe Billar Acapulco statt. Drei schwarze Wagen fuhren vor, fünf bis sechs in Zivil gekleidete Männer stiegen aus und eröffneten das Feuer auf die Gäste. AnwohnerInnen beschuldigen das für den Drogenkrieg gebildete Elitekorps der Nationalpolizei der Tat, das damit wieder einmal eine “soziale Säuberung” durchgeführt habe. Auf die Frage nach Beweisen für die Verwicklung der Polizei und anderer Sicherheitskräfte in solche Massaker entgegnet ein Sozialarbeiter: “Was nützt denn ein CAI, wenn drei Blöcke weiter ein Massaker stattfindet und die Polizisten, die die Schüsse und Schreie hören, nicht zu Hilfe kommen?” In einem Flugblatt der hier arbeitenden Organisationen werden zwischen Januar und August 1990 120 Tote in Medellín gezählt, die meisten in den barrios: “Welch ein -Widerspruch”, so das Flugblatt, “je mehr Polizei, Soldaten und Waffen, umso mehr Unsicherheit, Gewalt und Tote in Medellín.”
Die immer wieder reißerisch von den Massenmedien dargestellte unpolitische Bandenkriminalität haben die von den BewohnerInnen der barrios gebildeten Selbstverteidigungskomitees erfolgreicher uner Kontrolle, als die Polizei, zu der hier ohnehin niemand Vertrauen hat. Gegenüber der politischen Kriminalität der gekauften Killer fühlen sich die Menschen nur als Opfer der von oben inszenierten Gewalt. “Für die Menschen hier, die Armen der kolumbianischen Gesell¬schaft”, so eine Sozialarbeiterin, “ist dieser sog. Drogenkrieg der Regierung ein Krieg, der sie nichts angeht, in dem sie aber die meisten Opfer bringen.”
Es handelt sich um einen Krieg zwischen der traditio¬nellen kolumbianischen Oligarchie und dem Medellín-Kartell, das sich erlaubt hat, politische Teilhaber-Ansprüche zu stellen, deren Erfüllung einen Machtverlust der etablierten Eliten bedeuten würde. Alvaro Camacho Guizado, Drogensoziologe aus Cali, beschreibt das sich aus Angehörigen der Unterschicht rekrutierende Medellín -Kartell als “aufstrebende Bourgeoisie”, das der traditionellen Bourgeoisie und dem ihr entstammenden bzw. mit ihr verbundenen Cali-Kartell die politische und wirtschaftliche Macht streitig macht und deswegen bekämpft wird. So erklärt sich auch, daß polizeiliche Erfolge nur gegen das Medellín-Kartell zu verzeichnen sind; niemand spricht in diesem Krieg von den Kartellen von Cali, Bogotá oder der Küste.
Es heißt, es habe Verhandlungen auf höchster Ebene zwi¬schen Escó¬bar und der Regierung gegeben. Es mag dadurch in Medellín zeit¬weise ruhiger geworden sein. Es ist eine Ruhe für das Medellín der Privilegierten. In den barrios gehen die Exzesse des Elitekorps und der 4.Brigade weiter, es interessiert sich nur niemand mehr dafür.
Bolivien: Koka, was denn sonst?
Von Cochabamba, der drittgrößten Stadt Boliviens, aus sind es rund 200 km bis ins Herz des Chapare, der größten Kokaanbauregion des Landes, und zu dem aus einigen Häusern und Projekten des Fonds der Vereinten Nationen zur Bekämpfung des Drogenmißbrauchs (UNFDAC) bestehenden Dörfchen Chimoré.
In Isinuta, das etwa zwei Stunden nördlich von Chimoré liegt, findet die bolivianische Variante des US-Drogenkrieges statt. Offiziell spricht hier zwar niemand von Krieg, sondern von “integraler Entwicklung durch Substitution des Kokablattes” oder, so der Slogan der Koalitionsregierung Paz Zamora-Banzer, “Koka für Entwicklung”. Aber die Realität sieht anders aus: “Die Regierung”, so ein Bauer aus der Region, “nimmt uns auf den Arm. Seit drei Jahren sprechen sie von Substitution und versprechen uns Entwicklung. Wir warten vergeblich darauf.” Im Rahmen des “integralen Plans zur Entwicklung und Substitution” hat die Regierung pro zerstörtem Hektar Koka 2000 US$ bezahlt. Die campesinos haben auch Tausende von Hektar zerstört, aber Entwicklung in Form von rentablen Alternativprodukten blieb aus. “Statt Entwicklung”, so ein anderer Bauer, “findet Zerstörung statt.”
Bomben auf Straßen
Die Zerstörung läßt sich auf dem Weg nach Insinuta erkennen: große Schlaglöcher an den Wegrändern, zerstörte Häuser, herumliegende Gebäudeteile. Am 20.August des vergangenen Jahres hat UMOPAR, die bolivianische Landesdrogenpolizei, zusammen mit der US-amerikanischen Drogenbehörde Drug Enforcement Agency (DEA) zuletzt die von den Bauern und Bäuerinnen als Verbindung hergestellte Straße bombardiert, weil, so ihre Version, diese “als Piste von Drogenhändlern genutzt werden kann.” KennerInnen der Region behaupten, die wirklichen Pisten lägen versteckt in dichtem Dschungel, aber man müsse nun einmal der US-Öffentlichkeit gewisse Erfolge im Drogenkrieg vorweisen. Die von der DEA geleisteten Entschädigungen in Höhe von 200 US$ reichen kaum für neue Dächer, geschweige denn für neue Häuser.
Doch die Bombardierungen sind nur ein Element der von der DEA dirigierten Politik. Die von der Menschenrechtsversammlung von Cochabamba dokumentierten Menschenrechtsverletzungen reichen von direkter Körperverletzung bis zu willkürlichen Verhaftungen. Zwei Beispiele:
– Am 15.8.1990 wurde der Busfahrer Lucio López Claros von der Drogenpolizei ohne Haftbefehl verhaftet und mehrere Stunden verhört. Danach wurde sein Haus einschließlich ihm nicht gehörender Räume durchsucht, schließlich wurden Fingerabdrücke genommen und eine schriftliche Erklärung angefertigt.
– Am 26.7.1990 wurde Víctor Soria Galvarro von der Drogenpolizei festgenommen, danach wurde eine Haussuchung durchgeführt. Bei der Protokollaufnahme auf der Wache wurde ihm bedeutet, daß er für 5000 US$, die von seiner Schwester, einer Apothekerin, in ihrer Apotheke übergeben werden sollten, freigelassen würde. Falls er dieses “Angebot” bekannt werden ließe, würde er erneut festgenommen und ins Gefängnis geworfen.
In vielen dieser Fälle werden einfache Bauern und Bäuerinnen als schwächstes Glied in der Drogenkette Opfer der Korruption in Poli¬zei und Militär. Wer mit Dollars oder pasta básica zahlen kann, wird laufengelassen, wer nichts hat, wird dem Richter übergeben.
Die im Ansatz richtige Substitutionsstrategie leidet aber nicht nur an den oft willkürlichen Verboten durch die DEA und die UMO¬PAR, sondern vor allem unter dem Fehlen wirklicher Produktionsalternativen für die Bauern. “Wir haben”, so Evo Morales von einer der Bauernorganisationen, “den politischen Wil¬len zur Kokareduzierung bewiesen. Die Regierung hat uns jedoch keine wirklichen und praktikablen Lösungen angeboten. Wir sind zur Zeit einfach gezwungen, Koka anzupflanzen, um zu überleben.” So gibt es auf fast jedem Hof in der Region neben den anderen Produkten wie Mais, Reis, Zucker, Kakao, Kaffee etc. ein bis zwei Hektar Koka als eine Art “Überlebensversicherung”, da die Kokapflanze leichter anzubauen ist und einen weit höheren Verkaufspreis hat. Dabei handelt es sich um ein rein marktwirtschaftliches Verhalten.
Trotzdem spricht das “Subsekretariat zur alternativen Entwicklung”, das dem Landwirtschaftsministerium untersteht, vom Erfolg der Substitutionspolitik. “Wir haben”, meint Rechtsberaterin Nancy Romero, “die gesteckten Ziele bei weitem übertroffen, was die Reduzierung angeht.” Das ist zwar richtig, doch gleichzeitig ist die Gesamtanbaufläche ständig gestiegen, was Romero auf weitere illegale Anpflanzungen zurückführt. “Nur wenn wir den Bauern mittels technischer und ökonomischer Hilfe reale Alternativen bieten, werden sie die Substitution unterstützen.” Damit appelliert sie an die Mitverantwortung der Industrienationen, denn nur sie können für eine profitable weltweite Vermarktung der Alternativprodukte sorgen, etwa durch direktere Vermarktungsmechanismen.
Peru: Im Gefängnis San Jorge in Lima
Vom nationalen Strafvollzugsinstitut (INP) geht man am Justizpalast vorbei durch La Victoria, ein unfreundliches Armenviertel mitten im Zentrum von Lima, und gelangt nach etwa 15 Minuten zum Gefängnis San Jorge. Das Tor wird von einem Mitglied der Guardia Republicana widerwillig geöffnet, der Ausweis eingezogen und das Tor wieder geschlossen. Da hilft es auch nichts, daß man vor¬her den Gefängnisdirektor angerufen hat und dies der Guardia mit¬teilt: Seit den Gefängnismassakern von 1986 ist die Guardia alleine für die “innere und äußere Sicherheit” der Gefängnisse zuständig, eine vom zivilen INP und Fachkreisen als “krasse politische Fehlentcheidung” des Ex-Präsidenten García charakterisierte Situation. So bedarf es großer Überredungskunst, um überhaupt zum Chef der Gefängnispolizei zu gelangen, der wiederum die Erlaubnis zum Eintritt in den Innenbereich erteilen muß.
Im Innenbereich mit Polizeibegleitung (zu wessen Sicherheit?) und ohne Kamera und Aufnahmegerät (warum so viel Mißtrauen?) sieht man das typische Bild lateinamerikanischer Gefängnisse: Überfüllung (bis zu acht Personen in einer Zelle), katastrophale hygienische Bedingungen, fehlende Waschgelegenheiten und unzureichende Wasserversorgung, mangelhafte medizinische Versorgung und Gefangene, die zu 80% nicht einmal verurteilt sind und sich – teils auf Hilfe hoffend, teils deprimiert – über die Situation beklagen. “Wir haben alle das Recht, glücklich zu sein”, so ein Gefangener, der wegen “illegaler Ausübung der Medi¬zin” in Untersuchungshaft sitzt: “Der Coronel, der mich festgenommen hat, wollte 5000 US$. Weil ich nicht zahlen konnte, bin ich hier. Seit 40 Tagen habe ich keinen Richter gesehen.” Jeder und jede prangert hier die Korruption an, als ob es etwas ganz Selbstverständliches wäre: “Wenn Du Geld hast, regelst du hier alles, du hast eine bessere Zelle, Frauen, Drogen und du kommst auch früher raus.” Der Satz ist stereotyp, findet auf alle in Kolumbien, Peru und Bolivien besuchten Gefäng¬nisse Anwendung: Ob “El Modelo” in Bogotá, das Frauengefängnis in Medellín, “San Pedro” in La Paz oder “San Jorge” – das System krankt an Korruption, Willkür der Sicherheitsorgane, einer zu langsamen Justiz und der allgemeinen wirtschaftlichen Misere (in den Strafvollzug wird zuletzt Geld investiert, das brächte kaum Wählerstimmen).
Nie war es so leicht, an Drogen heranzukommen, wie im Gefängnis…
Und der Drogenkrieg? Der endet an den Toren der kolumbianischen, peruanischen oder bolivianischen Gefängnisse. In keinem der Länder existiert ein Rehabilitationsprogramm für Drogenabhängige im Strafvollzug, nur in Kolumbien wird zur Zeit ein Entwurf diskutiert. In der Praxis werden die Gefangenen wahllos auf die Zellen verteilt. Die aufgrund der Drogengesetze Festgenommenen werden nicht von den übrigen Gefangenen getrennt, geschweige denn beson¬ders behandelt. Das Ergebnis ist erhöhter Drogenkonsum in den Ge¬fängnissen auch durch Mitgefangene, die vorher keine Schwierigkeiten mit Drogen hatten. Die wenigen PsychologInnen sind völlig überfordert. “Ich kann”, so eine von ihnen, “vielleicht sechs bis acht Patienten am Tag sehen, aber das sind nicht nur Leute, die Probleme mit Drogen haben. Es gibt überhaupt keine Kontrolle. Wenn der Gefangene nicht selbst auf sich aufmerksam macht, wissen wir überhaupt nicht, ob er ein und welches Problem er hat.” Außerdem gibt es überall Drogen: “Ich bekomme”, so ein Gefangener, “hier jeden Tag meine Dosis pasta básica. Du brauchst nur etwas Geld und gute Beziehungen zur Guardia. Hier ist der Konsum viel leichter als draußen.”
Die Frage, wie denn die Droge ins Gefängnis gelangt, wird mit vielsagenden Gesten und Augenzwinkern beantwortet. Es gibt nicht viele Möglichkeiten: BesucherInnen werden in der Regel sehr genau kontrolliert – außer in “San Pedro” in La Paz -, das zivile Personal hat wenig direkten Kontakt mit den Gefangenen, aber die Guardia…Da gibt es jedenfalls genügend Indizien: kaum zum Leben reichendes Gehalt und Verzehn- oder Verzwanzigfachung mit geringem Risiko, niedrige Schulbildung, direkter Kontakt mit den Gefangenen. Im übrigen beschuldigt jeder die Guardia.
Weiter ist interessant zu sehen, wie die soziale Zusam¬mensetzung der Gefange¬nen ist. Nach offiziellen Statistiken verfügt die Mehrzahl über keine oder nur geringe Schulbildung, fast alle stammen aus den Armenvierteln der großen Städte, sie sind diejenigen, die der Polizei ihre Freiheit nicht bezahlen können. Das gilt auch für die aufgrund von Drogendelikten Festgenommenen, was einen Rechtsanwalt beim Gefängnisbesuch in Medellín zu der Bemerkung veranlaßte: “Siehst du, hier wird die Armut bestraft, die Tatsache, daß du kein Geld zur Bestechung hast….deswegen wirst du nie einen größeren Dealer im Gefängnis treffen.
Von denen werden, so ist zu ergänzen, allerdings viele an die USA ausgeliefert und einige, jedenfalls in Kolumbien, ohne Verfahren liquidiert. Tatsache ist jedoch, daß nur ein einziger wirklich “Großer” sitzt, und zwar Roberto Suárez, ehemaliger Kokainkönig Boliviens, in La Paz. Er genießt jedoch eine Sonderbehandlung, lebt in einem eigens für ihn eingerichteten Kellergeschoß und empfängt alle alle BesucherInnen, einschließlich JournalistInnen, sofern er will (bei mir wollte er nicht). Im übrigen, so wird erzählt, hat er sich freiwillig der Polizei gestellt, da er auf der Todesliste des Medellín-Kartells stand (sein Sohn war schon liquidiert worden). Als die Polizei schwerbewaffnet sein Haus betrat, soll er, eine Zigarre rauchend und ein Glas Wein trinkend, sie mit den Worten empfangen haben: “Meine Herren, ich habe Sie etwas früher erwartet.”

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