EVOS UNVOLLENDETER SCHACHZUG


Salzhügel im Salar de Uyuni Unter den bolivianischen Salzseen liegen die größten Lithiumreserven der Welt (Foto: Pierre Doyen via flickr.com, CC BY-NC-ND 2.0)

Irgendwann in den turbulentesten Tagen der jüngeren bolivianischen Geschichte schickte die bolivianische Regierung eine kurze Mitteilung an die Öffentlichkeit. Zehn Tage nachdem sich Evo Morales zum Sieger in der ersten Runde der Stichwahl erklärt hatte und sechs Tage vor dem Putsch der Opposition erklärte der Präsident die Rücknahme des Dekrets über die Gründung eines deutsch-bolivianischen Joint Venture zur Lithiumindustrialisierung. Gründe nannte er nicht.

Und so tappten in den Tagen darauf selbst Insider im Dunkeln. Wolfgang Schmutz, Chef des deutschen Unternehmens ACI Systems, das den Zuschlag für den Abbau der Lithiumvorkommen erhalten hatte, erklärte, er habe beim Duschen morgens im Radio von der Entscheidung der bolivianischen Regierung erfahren. Da er noch nicht offiziell informiert worden sei, arbeitete seine Firma erst einmal weiter an den Plänen für die Lithiumförderung. Die Bundesregierung erklärte sich genauso ahnungslos und selbst in höheren Kreisen von Morales’ Partei MAS, der Bewegung zum Sozialimus, wusste man nichts.

Umso überraschender war es, als Evo Morales eine Woche nach seiner Flucht nach Mexiko vor einer dpa-Kamera erzählte, dass er, wäre er noch Präsident, das Projekt doch realisieren wollte. Ein in Bolivien weitgehend unbekanntes Interview. Was war passiert, dass Evo Morales so kurzfristig eines seiner Paradeprojekte stoppte?

Noch im Dezember 2018 sah die deutsch-bolivianische Lithiumwelt ganz anders aus. Beide Seiten sparten bei der Vertragsunterzeichnung zur Förderung des bolivianischen Lithiums nicht mit Superlativen. Für die einen sollte es der große, selbstbestimmte Schritt zur Industrialisierung werden, für die anderen die Zukunftsgarantie der nationalen Automobilindustrie. Neben dem Präsidenten war der bolivianische Außenminister Diego Pary extra gekommen, und auch der deutsche Wirtschaftsminister Peter Altmaier ließ es sich nicht nehmen, die Gründung des Gemeinschaftsunternehmens aus der bolivianisch-staatlichen YLB und der baden-württembergischen ACI Systems zu verkünden.

Kurzfristig stoppte Morales sein Paradeprojekt

Ab 2022 sollten 30.000 bis 40.000 Tonnen Lithiumhydroxid pro Jahr gefördert und eine Batteriefabrik gebaut werden. Die deutsche Seite (ACI mit Unterstützung des Fraunhofer-Instituts und der thüringischen K-Utec) sollte die Technik liefern, die bolivianische trug derweil die Hauptinvestitionslast, sollte dafür aber auch mit 51 Prozent Anteilen die Oberhand über das Unternehmen behalten. Als Teil des Deals sollte das Lithium zunächst einmal exklusiv nach Deutschland exportiert werden, das sicherte der deutschen Automobilindustrie den Zugriff auf das Basismaterial für Elektroautobatterien und der bolivianischen Seite einen Abnehmermarkt.Es sollte der erste Schritt der Ausbeutung der größten Lithiumreserven der Welt sein, die unter den bolivianischen Salzseen liegen. Die Regierung Evo Morales wollte die Asymmetrien der Weltwirtschaft brechen und nicht wie seit 400 Jahren nur Rohstofflieferant für die Industrienationen sein, sondern weitere Wertschöpfungsketten im eigenen Land behalten.

Statt der vorgesehenen 70 Jahre hielt der Deal wohl nicht einmal ein Jahr – zumindest nach aktuellem Stand.

Ausbeutung der größten Lithiumreserven der Welt

„Die Hauptmotivation für Evos Entscheidung war, die Proteste in Potosí einzudämmen“, vermutet Ressourcenexperte Oscar Campanini vom bolivianischen Dokumentations- und Informationszentrum CEDIB. Diese Protestbewegung entwickelte sich von April bis August 2019 in der Stadt Potosí, Hauptstadt der Region Potosí in deren Westen in Uyuni die großen Lithiumreserven liegen.Dabei ging es der Widerstandsbewegung vor allem um die niedrige regionale Beteiligung an den Gewinnen des Lithiumprojekts. Gerade einmal die gesetzliche Mindestquote von drei Prozent wurde dem Departamento Potosí zugestanden und das auch nur auf die Gewinne der reinen Rohstofferlöse. Beim Erlös aus weiterverarbeiteten Produkten wie Batterien greift die Beteiligung nicht.

Während der Gouverneur von Potosí seiner Partei MAS und seinem Chef Evo Morales die Treue hielt und die Pläne der Regierung unterstützte, führte das Bürgerschaftskomitee (Comité Cívico Potosinista) die Proteste an. An der Spitze: Marco Pumari – ein bisher national unbedeutender Lokalpolitiker, der Sohn eines Bergmanns ist und seine indigenen Wurzeln verleugnet. Unter Pumari forderte das Komitee elf statt drei Prozent Beteiligung und schaffte es außerdem, ein schon lange schwelendes Gefühl der Benachteiligung in einen immer stärker werdenden Regionalismus umzuwandeln. In Potosí lagern historisch einige der größten Schätze des Landes und trotzdem ist es bis heute eine der ärmsten Regionen Boliviens. Auf den Anti-Lithium-Demonstrationen wurde die Flagge von Potosí zum Standardutensil.

Das Bürgerschaftskomitee von Potosí, getragen von lokalen Vereinen, Unternehmer*innen und Organisationen, rief zum regionalen Streik gegen das Projekt auf und entwickelte sich zu einer wichtigen oppositionellen Kraft des Moments. So sehr, dass sich die Regierung der MAS kurz vor den Wahlen auf einen Dialog einließ. Morales versprach, in eine Batteriefabrik in Potosí zu investieren und den Hauptsitz der staatlichen Lithiumfirma YLB nach Uyuni zu verlagern.

30.000 bis 40.000 Tonnen Lithiumhydroxid pro Jahr

Doch an den Beteiligungsquoten wollte die Regierung festhalten und deswegen war es für Campanini auch „kein wirklicher Dialog auf Augenhöhe“.

Als dann in den Nachwahl-Wirren der Druck auf Morales und die MAS stieg, zogen von Potosí mehrere Karawanen Richtung La Paz um den Rücktritt des Präsidenten zu fordern. Als sich auch die Bergbau-Kooperativen, die trotz eines angespannten Verhältnisses immer hinter der MAS gestanden hatten, als wichtiger Machtfaktor den Protesten anschlossen, stoppte Evo Morales kurzerhand die bisherigen Pläne für den Lithiumabbau, um die frühere MAS-Hochburg Potosí zu besänftigen. Es konnte ihn nicht retten.

Das Militär putschte und Evo Morales meldete sich aus dem Exil per Video: Wäre er noch Präsident, würde das Lithiumprojekt umgesetzt. Im selben Video sagte er, die Opposition in Potosí wüsste nicht, wie viel Schaden sie dem Land verursache und sei von chilenischen Berater*innen über die Lithiumpläne getäuscht worden. Chile dient dabei in Bolivien durch die Wegnahme des Meerzugangs als Dauerfeindbild. Evo erklärte im selben Video noch etwas Bemerkenswertes: Die Verhandlungen mit den Bürgermeister*innen und Vertreter*innen der Region Uyuni im Westen des Departamento Potosí über eine Autonomie von Potosí seien schon sehr fortgeschritten gewesen. Wollte Evo also die lithiumreiche Region aus dem Departamento Potosí abspalten und sich so der lauten Beteiligungsforderungen entledigen? Dabei hätte ihm in die Karten spielen können, dass in Uyuni wiederum ein Benachteiligungsgefühl gegenüber der Stadt Potosí herrscht.

Zumindest spielte dieses zentralistische Politikverständnis einer zweifelhaften Opposition in die Hände. Das Bürgerschaftskomitee und Marco Pumari konnten so eine durchaus legitime Forderung nach höherer Beteiligung für sich vereinnahmen. Nach dem Sturz der MAS-Regierung hatte sich Pumari mehrfach an der Seite des rechtsradikalen Bürgerkomitee-Führers Luis Fernando Camacho aus Santa Cruz gezeigt. Zuletzt erklärte er, bei den nächsten Präsidentschaftswahlen gemeinsam mit Camacho kandidieren zu wollen.

Die Bundesregierung soll vermitteln

Somit scheint das Lithium statt zum Segen der Ära Morales zu ihrem Fluch geworden zu sein. Während Pumari sich als Regionalist einen Namen gemacht hat, musste Juan Carlos Cejas, MAS-Gouverneur von Potosí, unter Bedrohungen zurücktreten. Immerhin schaffte es die MAS, jemand aus den eigenen Reihen als Nachfolger einzusetzen.
Inwieweit sich die deutsche Seite auf Neuverhandlungen mit einer zukünftigen Regierung einlässt, bleibt abzuwarten. Von Seiten des Unternehmens ACI Systems wurde geäußert, dass man dort von einer Fortsetzung des Projekts ausgehe, jedoch die rechtliche Situation gemeinsam mit bolivianischen Partnern prüfe. ACI Systems will am bisherigen Vertrag festhalten und fordert die Bundesregierung zur Vermittlung auf. Auch Ressourcenexperte Campanini kann sich nicht vorstellen, dass mit der Rücknahme des Dekrets das letzte Wort im deutsch-bolivianischen Deal bereits gesprochen ist: „Ich glaube nicht, dass es so einfach ist, eine solche Entscheidung zu treffen, die so sehr die bilateralen Beziehungen zu Deutschland betrifft.“

“DIE REPRESSIVEN STRATEGIEN HABEN SICH VERÄNDERT”

Ist ein nachhaltiger und verantwortungsvoller Bergbau im großen Umfang überhaupt möglich?

Danilo Urrea: Einen nachhaltigen und verantwortungsvollen Bergbau gibt es nicht. Das einzige, wofür der Bergbau verantwortlich ist, ist die Vertreibung und die Kriminalisierung von Gegnern, die Verschmutzung von Luft und Wasser sowie daraus resultierende Atemwegs- und Magenerkrankungen. Alles andere ist eine Täuschung. Die Unternehmen haben ein Modell der sozialen Verantwortung konstruiert, das allerdings nur ihr korporatives Modell selbst fördert. Wenn ein Unternehmen etwa ein Heiligenfest sponsert oder Schulen baut – in denen den indigenen Kindern dann eingetrichtert wird, dass sie im Bergbau arbeiten sollen – oder eine Gesundheitsstation ohne Strom für die Geräte errichtet, dann will das Unternehmen eindeutig sein Image reinwaschen. Dadurch sollen einerseits Steuerzahlungen verringert werden, andererseits will sich das Unternehmen dadurch den Zugang in die Gebiete sichern.

Was passiert mit Menschen, die Megaprojekten in ihrer Region verhindern wollen?

D.U.: In den letzten zehn Jahren haben sich die repressiven Strategien verändert – was nicht heißt, dass Menschen nicht mehr ermordet oder verhaftet werden. Neu ist, dass die Arbeit der Menschen delegitimiert und sie selbst stigmatisiert werden. Das hat zu einem großen Misstrauen bei der lokalen Bevölkerung geführt. Diese neue Form der Repression ist bisher sehr effektiv und das Ergebnis einer sehr guten Koordination zwischen den Medien und den sie finanzierenden Unternehmen.

Blanca Nubia Anaya: Als das Unternehmen [in Sogamoso; Anm. der Red.] begann, gewaltsam in das Gebiet vorzudringen, um den Staudamm zu bauen, wurden vier führende Persönlichkeiten ermordet. Bei diesen und in anderen Fällen wurde nach wie vor niemand zur Rechenschaft gezogen. Manche Gefährtinnen und Gefährten haben eine derartige Rufschädigung erlitten, dass es ihnen fast unmöglich geworden ist, das Vertrauen der anderen zurückzugewinnen.

Jonathan Ospina: In Cajamarca ist das Gleiche passiert, 2013 wurden zwei Menschen ermordet und 2014 ein weiterer. Den Ermittlungen zufolge soll es sich um isolierte Straftaten handeln, die nichts mit der führenden Rolle der Ermordeten beim Kampf um ihr Territorium zu tun haben. Allerdings zeigten sich bei diesen Ermittlungen auch Widersprüche. Außerdem erhielten die Bewegung und ihre Protagonisten vielfache Drohungen von Seiten paramilitärischer Gruppen oder unbekannter Personen. Das Unternehmen war früher in Skandale wegen Verbindungen zu paramilitärischen Gruppen in anderen Teilen der Welt verstrickt, in Ghana und Südafrika zum Beispiel. Es ist auffällig, dass die paramilitärische Gruppe Las Águilas Negras („Schwarze Adler“) bei ihren Drohungen die gleiche Sprache verwendet wie das Unternehmen: die berühmte Rede vom Fortschritt.

Sie sind Repräsentant*innen lokaler Widerstandsprozesse: In Cajamarca sprachen sich bei einem Referendum 97 Prozent der Beteiligten gegen die Goldmine La Colosa aus. Am Staudammprojekt Hidrosogamoso wurde festgehalten, der Widerstand der lokalen Gemeinde zwang Regierung und Unternehmen jedoch zu Verhandlungen mit der Bevölkerung. Wie hat sich diese Situation ergeben?

B.N.A.: Es war nicht einfach in Sogamoso. Wir protestierten und streikten sechs Monate lang in einem Park vor Ort. Zuletzt bot uns die Gewerkschaftszentrale CUT, vor allem für die Alten und Kinder unter uns, ein Dach und Schutz in ihrer Niederlassung an. Das Unternehmen bot uns 1.300 Millionen Pesos (etwa 37.000 Euro) an, damit wir den Protest beenden. Aber das war überhaupt keine Lösung. Wir sind mehr als 2.000 Familien und uns werden weder Grundstücke für die landwirtschaftliche Nutzung noch Wohnungen angeboten. Nach sechs Monaten brachen wir den Protest ab, weil wir nicht mehr konnten. Wir mobilisierten uns aber weiter und sprachen unsere Forderungen aus.

J.O.: Für diesen Fall wurden Unterstützernetzwerke von der lokalen über die nationale bis zur internationalen Ebene gebildet. Ganz besonders kam die „Mund-zu-Mund-Propaganda“ zum Einsatz und es entstanden Bürger-initiativen wie die Karnevalsmärsche. Hand-bücher, jede Art von informativem und didaktischem Material wurde erstellt, um die Auswirkungen des großangelegten Tagebaus zu erklären. Wir ließen uns von Rechtsanwälten beraten und wendeten jegliche juristischen Mittel an, damit Vertreter der Bürgergemeinde bei Sitzungen der lokalen Räte anwesend sein konnten.

Es wurde breit diskutiert, dass nach dem Rückzug der Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) Megaprojekte in die Gebiete Einzug halten könnten. Bedeutet das womöglich eine soziale und ökologische Katastrophe für diese Gebiete?

B.N.A.: Tatsächlich waren die Menschen in mehreren Ortschaften gegen den Rückzug der Guerilla. Sie haben Angst. Viele Einwohner haben Drohungen erhalten, bei denen es hieß, sobald die FARC weg seien, würden sie hingerichtet. Können Sie sich vorstellen, wie viele Menschen umgebracht werden, nur weil sie in einem ehemaligem Guerilla-Gebiet leben?

D.U.: Es ist wichtig, klarzustellen, dass wir einhundert Prozent hinter dem Abkommen stehen als Möglichkeit, den langen bewaffneten Konflikt zu beenden. Aber das heißt nicht, dass wir einverstanden wären mit dem, was dieser Frieden bedeuten soll. Die Gemeinden haben seit jeher Frieden konstruiert, allein durch die Art und Weise, wie sie die Gebiete bewohnen. Das geht in eine ganz andere Richtung als das korporative Modell der Regierung.

 

“DIE REICHEN MUSSTEN ZUR ZISTERNE”

Im Nordwesten Boliviens plant die Regierung die großen Wasserkraftwerke El Bala und Chepete. Indigene Gemeinden kündigten eine Klage gegen den geplanten Stausee El Bala an. Sie arbeiten im städtischen Raum – welche Rolle nimmt das Thema Energie in der Stadt ein?

Mario Rodríguez: Es spielt eine Rolle, aber in Bolivien ist Energie noch kein Thema, das stark diskutiert wird. Die Regierung hat einen Nationalen Plan zur Entwicklung für das Vivir Bien (Gutes Leben) – der Name ist ein Widerspruch, aber so heißt der Plan. Ein zentrales Element ist das Ziel, Bolivien in ein Zentrum der Energieproduktion in Südamerika zu verwandeln, das Energie exportieren kann. Der Energieexport hängt stark mit der steigenden Nachfrage der Agrarindustrie, insbesondere in Brasilien, zusammen. Die größten Staatseinnahmen stammten in den vergangenen Jahren aus dem Gasexport, wobei Brasilien der größte Käufer ist. Brasilien kündigte an, die Importe aus Bolivien zu reduzieren, während Argentinien Anfang Februar Interesse an höheren Gasimporten verkündete. Zuletzt sind die Preise für Erdöl und Mineralien gesunken, was die Staatseinnahmen senkt. Dennoch kreist der Regierungsdiskurs weiter um die Idee, dass der Energieexport sich in eine noch bedeutendere Haupteinnahmequelle des Staates verwandelt. Dafür gibt es die Strategie, Energie im großen Maßstab zu produzieren. Diese Strategie beinhaltet unter anderem erneuerbare Energien aus Sonne und Wind, führt aber auch zwei zentrale Themen ein: den Bau von großen Wasserkraftwerken im Amazonas und zwei Zentren für Kernenergie.

In der Stadt El Alto soll nun ein Forschungszentrum für Kernenergie gebaut werden. Welche Reaktionen gab es auf das Vorhaben?

Die öffentliche Meinung reagierte sofort: Wie kann Bolivien in die Atomenergie eintreten, in einer Welt, die aus der Produktion aussteigt? Die Regierung startete in den vergangenen drei Jahren eine erste Phase und brachte ein Forschungszentrum für Kernenergie auf den Weg. Das Forschungszentrum sollte zunächst in Achocalla, das heißt neben La Paz und El Alto, gebaut werden. Dies ist eine Region, in der Nahrungsmittel produziert werden, insbesondere Gemüse. Die dortige Bevölkerung ist gemischt: Traditionell ist es eine bäuerliche Region, in der es gutes Wasser für die Landwirtschaft gibt. Hinzugekommen ist die Mittelklasse aus La Paz, die aus dem städtischen Raum zieht, um in einem schöneren, wärmeren Tal zu leben. Außerdem ziehen dort viele Ausländer*innen hin, Europäer*innen, die in Nichtregierungsorganisationen, der internationalen Zusammenarbeit usw. arbeiten. Diese bringen einen ökologischen Diskurs mit und Achocalla definiert sich inzwischen in einem Statut als ökologisches, produktives und touristisches Munizip. Gegen das Forschungszentrum für Kernenergie gab es in Achocalla Widerstand und das Munizip lehnte das Forschungszentrum ab. Die Regierung verlegte es also nach El Alto.

Können Sie erklären, wozu in dem Zentrum geforscht werden soll?

Das Forschungszentrum für Kernenergie arbeitet zu drei Themen: Erstens, im Bereich Gesundheit. Es gibt die Kritik, dass es günstiger wäre die Forschung zur Krebsfrüherkennung an ein Krankenhaus anzugliedern. Zweitens, Forschung um Exportobst und -gemüse keimfrei zu machen. Kritiker*innen zweifeln an, ob eine solche Nutzung notwendig ist. Falls sie für exportbestimmte Lebensmittel akzeptiert würde, sollte das ohnehin in der Grenzregion angesiedelt sein und nicht in El Alto. Das dritte Thema ist das Wichtigste: Es gibt einen kleinen Forschungsreaktor, der keine Energie produzieren wird, sondern nur der Forschung dient. Die Mehrheit der Menschen stellt sich jedoch die Frage: Wozu wollen wir zu Kernenergie forschen, wenn wir keine Kernenergie produzieren werden? Das macht keinen Sinn, deshalb wird davon ausgegangen, dass der Forschungsreaktor der erste Schritt in Richtung Atomkraftwerke ist. Mit dem Bau des Forschungszentrums soll dieses Jahr begonnen werden. Gibt es Widerstand? In der Stadt El Alto gab es keinen großen Widerstand. Im Kulturzentrum Wayna Tambo organisierten wir eine Reihe von Veranstaltungen, da wir gegen die Idee sind, in Bolivien Atomenergie zu produzieren.

In der einen Region gibt es also Menschen, die sich als ökologisch bezeichnen und über die Macht verfügen, das Projekt zurückzuweisen. Daraufhin wird das Projekt nach El Alto verlegt, eine Stadt die lange als Randgebiet der Hauptstadt La Paz angesehen wurde. Was glauben Sie, warum es in El Alto keinen Widerstand gab?

Zunächst ist Kernenergie für die Mehrheit der Bolivianer*innen immer noch kein Thema. Es ist weit weg vom Alltag, insbesondere für die ärmeren Sektoren. Die Zone, in der das Zentrum gebaut wird, ist ökonomisch betrachtet eine ziemlich arme Zone von El Alto. Viele Bewohner* innen betrachten das Zentrum mit der Hoffnung, dass es neue Möglichkeiten eröffnet, Einkommen zu generieren. Außerdem besteht bei vielen Menschen zu dem Thema ein großes Informationsdefizit, etwa über mögliche Risiken. Deshalb produzierten wir mit Wayna Tambo Radio- und Fernsehprogramme, um mehr Wissen darüber zu verbreiten, was es bedeutet in eine nukleare Phase einzutreten.

Gibt es gemeinsame Kämpfe zwischen Gruppen, die sich wie bei El Bala gegen Stauseen im Amazonas wehren, und Gruppen, die in der Stadt zum Thema Energie arbeiten?

Als die Regierung von Evo Morales die Pläne für die Wasserkraftwerke El Bala und Chapete wieder aufnahm (der Plan wurde bereits von mehreren Regierungen geprüft und fallen gelassen, d. Red.), reagierte der urbane Raum, zumindesten in den Medien, zuerst. Es handelt sich um kleine Organisationen in der Stadt, die vor allem von einer Mittelklasse mit ökologischem Diskurs getragen werden. Die indigenen Völker aus den betroffenen Territorien reagierten mit einer Diskussion über die Notwendigkeit der Befragung (consulta). Dies wird in den medialen Kampagnen in der Stadt aufgegriffen. Im Fall von El Bala und Chapete wird vermutet, dass die beauftragte Machbarkeitsstudie negativ ausfällt. Die Ergebnisse liegen jedoch noch nicht vor. Aufgrund der Transportwege ist offensichtlich, dass die dort produzierte Energie nicht für die Versorgung bolivianischer Städte gedacht ist. Bei den Wasserkraftwerken wird an die Nachfrage von (agro-)industriellen Zonen in Brasilien gedacht.

Zu Beginn erwähnten Sie die erneuerbaren Energien. Welche Bedeutung haben diese?

Seit den 1970ern gibt es Studien, die zeigen, dass eine Strategie mit kleinen Wasserkraftwerken, keine großen wie El Bala, reichen würde, um die Nachfrage nach Energie in Bolivien zu decken. Außerdem verfügt Bolivien über zwei sehr wichtige Elemente: Das Altiplano und der Salar de Uyuni sind zwei Regionen mit einer hohen Sonnenkonzentration. Das würde eine große Produktion von Solarenergie ermöglichen. Außerdem gibt es im Altiplano Zonen mit viel Wind, wo wir Windenergie erzeugen könnten. Die zurzeit verfolgte Strategie ist für die interne Versorgung also nicht notwendig.

Mit der Stromversorgung gibt es in den Städten offenbar kein Problem. Momentan gibt es in den Städten jedoch Wasserknappheit. Liegt das Problem beim Wassermanagement oder bei der ungewöhnlichen Dürre?

Das Ganze ist viel komplexer. Beim Thema Wasser gibt es drei Probleme: Zum einen die Auswirkungen des Klimawandels. Wir haben immer kürzere, aber stärkere Perioden der Regenzeit. Das heißt, es regnet sehr viel, aber in kurzer Zeit. Für die Wasserversorgung in den Städten hat dies negative Folgen. Es gibt Städte wie Cochabamba und Tarija, die historisch an Wasserknappheit leiden. La Paz leidet wegen der geografischen Lage hingegen eigentlich nicht darunter. Außerdem wirkt sich der globale Klimawandel sehr negativ auf die bolivianischen Gletscher aus. Zweitens verlieren Flüsse durch Übernutzung an Wassermenge. Das Problem ist, dass es keine Politik gibt, die die integrale Nutzung von Flüssen garantiert. Drittens gibt es ein Problem mit dem Wassermanagement. Die Frage des Umgangs mit der Wasserknappheit wird in den nächsten Jahren an Schärfe zunehmen. Es wird zu einem Thema der öffentlichen Agenda werden. Die Menschen diskutieren über Wasser, weil es sie in ihrem Alltag direkt betrifft.

Wie betrifft es die Menschen im Alltag?

In La Paz gibt es Viertel, die nur in bestimmten Stunden mit Wasser versorgt werden und nicht den ganzen Tag. Jetzt haben wir Februar und im März endet die Regenzeit.Trotzdem haben wir es nicht geschafft, eine normale Wasserversorgung zu erreichen. Die Menschen fragen sich, was erst in der Trockenzeit im Juni passieren wird. Dieses Problem hat zu ernsthaften Debatten über die Beziehung zwischen der urbanen und ruralen Welt geführt. Um die Wasserknappheit in La Paz zu mildern, wird Wasser aus einem Stauwerk in La Paz genutzt, aus dem historisch ein nahegelegenes Tal für die Gemüseproduktion versorgt wird. Die Bauern und Bäuerinnen beschweren sich, dass sie ihre Produktion verlieren werden wegen des Verbrauchs in der Stadt. Zum ersten Mal wird die Rolle der Stadt beim Wasserverbrauch diskutiert. Dadurch entwickelt sich auch eine Kritik an der imperialen Lebensweise.

Was meinen Sie damit?

Die mit dem Lebensstil verknüpfte, verschwenderische Wassernutzung in der Stadt wird in Frage gestellt. Es wird debattiert, ob im öffentlichen Raum wirklich wasserintensive Zierblumen gepflanzt werden sollen statt der lokalen, ans Klima angepassten Pflanzen. Oder die Wassernutzung zur Autowäsche, was mit unserem Lebensstil zusammenhängt. So wurde auch die Debatte angestoßen, ob das Wasser in besagtem Stauwerk tatsächlich für die Stadt genutzt werden soll oder lieber für die Produktion von gesundem lokalem Gemüse.

Ist Ihre Organisation Red de la Diversidad auch in dem Bereich aktiv?

Ja, für uns sind das zentrale Themen. Wir arbeiten für die Reziprozität zwischen dem ländlichen und städtischen Raum mit dem Horizont des Vivir Bien. Gerade in Bezug auf Wasser haben wir es geschafft, mit verschiedenen Organisationen Diskussionen anzustoßen. Wir haben Wissen über Wassersysteme verbreitet und zu der Frage gearbeitet, wie die Städte in Wassersysteme integriert sind. Die Stadt El Alto verschmutzt den Titicacasee beispielsweise enorm. Wir stoßen eine Diskussion darüber an, wie Wasser in die Stadt gelangt, und wie die Stadt dieses verschmutzt wieder ans Land zurückgibt. Deshalb diskutieren wir unseren Wasserverbrauch in der Stadt. Wir arbeiten seit etwa zehn Jahren dazu und seit etwa vier Jahren verzeichnen wir in kleinen Sektoren Erfolge. Durch die Wasserknappheit wurde eine Diskussion angeregt und das Interesse an dem Thema ist gewachsen.

Das Bewusstsein um das Wasserproblem wächst. Kann das mit einer Kritik an Staudämmen verknüpft werden?

Ja! Mehr noch als zur Energie ist das Bewusstsein für unsere natürlichen Ressourcen gewachsen. Wasser brauchen wir im Alltag immer und durch die Wasserknappheit der vergangenen Monate ist den Menschen ihre Verletzlichkeit bewusst geworden. Wer leidet unter der Wasserknappheit? Nicht alle Viertel in La Paz und El Alto litten unter Wasserknappheit, nur einige Stadtteile. Es gab deshalb so eine große Medienaufmerksamkeit, weil die Viertel, in denen die Reichen wohnen, von der Wasserknappheit betroffen waren. Viele ärmere Viertel hatten hingegen kein Problem. Dadurch, dass es privilegierte Personen betraf, ist die mediale Aufmerksamkeit gestiegen. Es waren die Reichen, die zu einer Zisterne mussten – etwas, was sie in ihrem Leben noch nie erfahren haben. Das hatte einen starken Effekt auf die Gesellschaft. Es wurde eine Debatte über unsere natürlichen Reichtümer und Gemeingüter angestoßen. Die Themen Wasser, Energie und Staudämme werden diskutiert. Die Menschen in der Stadt sind in ihrem Alltag von Projekten wie Mega-Wasserkraftwerken nicht betroffen. Sie wissen nichts über die betroffenen Regionen und die Menschen. Die Erfahrung mit dem Wasser schafft ein Bewusstsein, dass diese Themen das Leben der Menschen stark beeinflussen. In diesem Moment entsteht die Möglichkeit, wieder über diese Wasserkraftwerke zu sprechen. Das Thema ist nicht mehr weit weg.

Newsletter abonnieren