// Bubatz hier, Kriminalisierung da

Pünktlich um Mitternacht zündeten sich am 1. April Aktivist*innen am Brandenburger Tor in Berlin und anderen Städten Deutschlands einen Joint an – zum ersten Mal ganz legal. Mit der Teillegalisierung von Cannabis möchte die Bundesregierung auch die organisierte Drogenkriminalität eindämmen.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser setzt einiges daran, dieses Versprechen wahrzumachen: Ende Februar reiste sie gemeinsam mit der Vizepräsidentin des Bundeskriminalamts, Martina Link, nach Brasilien, Peru, Ecuador und Kolumbien, um den Drogenhandel „durch eine verstärkte polizeiliche Zusammenarbeit“ dieser Länder mit Deutschland zu bekämpfen. Somit wolle man die Gewaltspirale des Drogenhandels durchbrechen und „verhindern, dass wir solche Eskalationen der Gewalt auch in Deutschland erleben“, so Faeser. Sie sieht die Ursache der Drogenkriminalität vor allem in den Produktionsländern.

Was immer mehr Menschen in Deutschland in den Konsum und in Lateinamerika immer mehr Menschen in die Produktion harter Drogen treibt, blieb auf der Reise weitgehend unbesprochen. Wie ein Blick auf das Beispiel Ecuador zeigt, ist die Eskalation der Gewalt erschreckend, entsteht aber nicht im luftleeren Raum. Der Prekarisierung der Lebensverhältnisse nach der Pandemie hatte Ecuadors ehemaliger Präsident Guillermo Lasso nichts entgegenzusetzen. Die Stadt Guayaquil war dabei besonders hart getroffen: Anstatt gegen Arbeitslosigkeit und Inflation vorzugehen, kürzte Lasso besonders bei den Ärmsten. In dieser Zeit übernahmen die Narcos quasi ungestört die großen Gefängnisse im Land und nutzten die Perspektivlosigkeit junger Menschen in den vom Staat am meisten vernachlässigten Regionen des Landes aus, um sie für ihre Geschäfte zu rekrutieren.

Heute verfolgt Präsident Daniel Noboa eine Politik der harten Hand. Auch Faeser und Co. setzen auf vermehrte polizeiliche Kontrolle in den Produktionsländern. Dabei hat die neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik erst den Boden dafür bereitet, dass heute die vulnerabelsten Bevölkerungsgruppen in die informelle Beschäftigung im Drogengeschäft geschwemmt werden. Argentinien unter Präsident Javier Milei könnte dem Beispiel Ecuadors folgen: Auch in der Hafenstadt Rosario – kein Stopp auf Faesers Reise – herrscht aktuell der Ausnahmezustand. Wenn Milei den Abbau staatlicher Sozialhilfen weiter fortsetzt (siehe Interview auf S. 9), dürfte sich auch hier die Gewalt durch Narco-Gangs weiter ausbreiten.

Die Beispiele zeigen: Ein wirklich globaler Ansatz zur Bekämpfung der Gewalt im Kontext des Drogenhandels muss über bilaterale Sicherheitsabkommen hinausgehen. Deutsche Außenpolitik kann nicht weniger Staat in Sozialpolitik und Investitionen fordern und gleichzeitig für den Ausbau des staatlichen Sicherheitsapparats plädieren, um mit den Konsequenzen eines solchen Sparkurses umzugehen. Langfristig wird mit einer härteren Kriminalisierung das darunterliegende Problem der Prekarität und fehlender Alternativen zum Drogensektor nicht gelöst.

Es ist also nicht damit getan, die Gefängnisse weiter zu füllen. Gerade Ecuador zeigt, dass diese oftmals zu wichtigen Verwaltungszentren der organisierten Kriminalität werden. Stattdessen gilt es, die Probleme bei der Wurzel zu packen und internationale Drogenbekämpfung mit einer Ausweitung von sozialer Infrastruktur in den Produktionsländern zu verbinden. Was zudem unklar bleibt, ist, ob die Cannabislegalisierung in jeglicher Hinsicht Auswirkungen auf den Handel mit härteren, weiterhin kriminalisierten Drogen wie Kokain hat. Dennoch wird schon jetzt deutlich: Die Regierung hat es sich mit ihrer Politik des Bubatz hier, Kriminalisierung da zu leicht gemacht. Stattdessen verstärkt Faesers Reise nach Lateinamerika den für Deutschland bequemen Diskurs der vertauschten Ursachen und Verantwortlichkeit für die mit dem Drogenhandel verbundene Gewalt. Letzten Endes fußt die auch auf dem Konsum in Deutschland und Europa.

Wenn die Angst regiert

Ecuadorianische Regierung Verteidigungs- und Außenminister bei einer Pressekonferenz am 17. Januar (Foto: Iván Matute / Asamblea Nacional via Flickr, CC BY-SA 2.0 Deed)

Militarisierung gegen die ausufernde Bandengewalt, so lautet das Rezept der noch jungen ecuadorianischen Regierung. Nachdem Anfang Januar die Flucht des Anführers der Gruppe Los Choneros, José Adolfo Macías Villamar alias Fito, aus einem Gefängnis in der Hafenstadt Guayaquil bekanntgeworden war, kam es in mehreren Haftanstalten zu Revolten. Im ganzen Land griffen Bandenmitglieder auch zivile Ziele an. Insbesondere die live übertragenen Bilder aus einem Studio des Senders TC Televisión, in das bewaffnete Jugendliche eingedrungen waren, machten Eindruck auf die verschreckte Bevölkerung.

Noboa, zu dem Zeitpunkt noch keine drei Monate im Amt, erklärte einen 60-tägigen Ausnahmezustand. Neben dem verstärkten Einsatz von Polizei und Militär sieht dieser eine nächtliche Ausgangssperre vor. Tags darauf, am 8. Januar, erließ der Präsident zudem ein Dekret, das noch weiter geht. Demnach herrsche in Ecuador ein „interner bewaffneter Konflikt“, insgesamt 22 Gangs erklärt das Dekret zu „Terroristen und nichtstaatlichen Kriegsakteuren“. Auf der Plattform X schrieb Noboa: „Ich habe die Streitkräfte angewiesen, militärische Operationen auszuführen, um diese Gruppen zu neutralisieren.“ Sein Land befinde sich im „Krieg“.

Seitdem gehen die Einsatzkräfte gegen mutmaßliche und vermeintliche Mitglieder von Drogenbanden vor. Laut offizieller Lesart mit Erfolg. Am 22. Januar, also zwei Wochen nach der Ausrufung des Ausnahmezustands, zeigte sich Noboa siegesgewiss. „Alles stand gegen uns, aber wir gewinnen diesen Kampf“, erklärte er bei der Übergabe neuer Ausrüstung an die Nationalpolizei nördlich der Hauptstadt Quito. Bis zu dem Zeitpunkt waren offiziellen Angaben zufolge mehr als 3.000 Personen verhaftet worden, davon 158 wegen „Terrorismus“. Fünf Bandenmitglieder seien getötet worden, ebenso wie zwei Polizist*innen. Auch wurden Waffen, Sprengstoff und Drogen beschlagnahmt.

Dass die Gewalt in Ecuador in den vergangenen Jahren zugenommen hat, ist kein Geheimnis. Seitdem mit Expräsident Lenín Moreno 2017 eine neoliberale Phase eingeleitet wurde, steigt die Zahl der Tötungsdelikte rapide an. Im vergangenen Jahr wurden je 100.000 Einwohner*innen 42,6 Personen ermordet. Das entspricht einem Anstieg der Mordrate um 64,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahr 2022. Seit 2016 stieg die Rate um ganze 850 Prozent an. Damals konnte der Indikator unter Präsident Rafael Correa (2007-2017) auf einen Tiefstand von sechs pro 100.000 Einwohner*innen gesenkt werden.

Ecuador ist heute eines der gefährlichsten Länder ganz Lateinamerikas

Während Ecuador noch vor kurzem als besonders sicher galt, ist es heute eines der gefährlichsten Länder ganz Lateinamerikas – noch vor Mexiko, Kolumbien oder Brasilien. Das liegt vor allem daran, dass in den Handel mit illegalen Drogen verstrickte Gruppen in den letzten Jahren Fuß fassen konnten. Es wird geschätzt, dass sie heute 20.000 bis 50.000 Mitglieder haben. Die größte Bande, Los Choneros, hat ihre Ursprünge in der Küstenprovinz Manabí. Ihr werden Kontakte zum mexikanischen Sinaloa-Kartell nachgesagt, für das sie als Zwischenhändlerin agiert. Die zweitgrößte Gruppe, Los Lobos, die sich nach dem Mord am früheren Choneros-Chef, Jorge Luis Zambrano alias Rasquiña, Ende 2020 eigenständig machte, gilt als mit dem Kartell Jalisco Nueva Generación verbunden.

Heute ist Ecuador Drehscheibe des weltweiten Kokainhandels, wobei dem Land die Rolle des Zwischenhändlers zukommt. In den beiden wichtigsten Anbauländern Kolumbien und Peru produziertes Kokain wird über Ecuador in die Welt und insbesondere in die USA und nach (West-)Europa verfrachtet. Mittlerweile geht der Großteil der Droge, laut Zahlen der Polizei, über den Hafen von Guayaquil.

Laut dem Global Cocaine Report 2023 des UN-Büros für Drogen und Kriminalität (UNODC) geht der Großteil des Kokains, das über Ecuador weitertransportiert wird, heute nach Europa. Waren noch 2019 nur neun Prozent des von den ecuadorianischen Behörden beschlagnahmten Kokains für Europa bestimmt, handelte es sich 2022 bereits um mehr als die Hälfte. Gut möglich, dass der Anstieg auch mit der verstärkten Präsenz europäischer Akteure im Drogengeschäft zu tun hat. Dazu gehören die italienische ‘Ndrangheta und die albanische Mafia, die in den letzten Jahren in Ecuador Fuß fassen konnten.

Es ist aber nicht nur die geographische Lage, die Ecuador zu einem Hotspot des Kokainhandels gemacht hat. Auch die Politik trägt Verantwortung. Eine ideale Voraussetzung für die Ausbreitung der Drogengangs stellt die dollarisierte Wirtschaft dar. Seit 2000 fungiert der US-Dollar als offizielle Landeswährung. Das ermöglicht es den Zwischenhändler*innen nicht nur, ihre internationalen Geschäfte besonders unkompliziert abzuwickeln. Vor allem das Waschen von Geld wird so enorm erleichtert, was umso mehr für ein hochgradig korruptes Land wie Ecuador gilt.

Expert*innen wie der ecuadorianische Kriminologe Jorge Paladines sehen noch weitere Gründe für die tiefe Sicherheitskrise im Land. So sei die systematische Gewalt das Ergebnis eines „Prozesses der bewussten Demontage der Rechtsstaatlichkeit durch die letzten Regierungen“, wird Paladines in Nuestro País aus Costa Rica vom 14. Januar zitiert. Im Gespräch mit dem spanischen Onlineportal ctxt.es vom 18. Januar spricht er gar von „geplanter Verelendung“.

Sowohl die Regierung unter Correas Nachfolger Moreno (2017-2021) als auch die darauf folgende von Guillermo Lasso (2021-2023) setzten auf eine radikale Kürzung der Sozialausgaben. Die Folgen für einen großen Teil der Bevölkerung waren katastrophal. Hinzu kam die Coronapandemie, die in Ecuador heftig wütete. Unter ihr litten Tausende Jugendliche, die in die Erwerbslosigkeit und ins Elend gestürzt wurden. 2022 galten offiziell 26 Prozent der Bevölkerung als arm. Die Perspektivlosigkeit der Jugendlichen und der in vielen Regionen und Stadtvierteln völlig abwesende Staat stellten für die Drogenbanden perfekte Bedingungen dar, Mitglieder zu rekrutieren und sich territorial zu verankern.

Wichtig für das Verständnis des Phänomens, betont Paladines, sei es, die Gefängnisse als „Epizentren der Gewalt“ nicht aus dem Blick zu verlieren. Besonders in Folge der Kämpfe um die Nachfolge von Drogenboss Rasquiña ab Ende 2020 eskalierte die Gewalt in den Haftanstalten des Landes. Untereinander verfeindete Banden zettelten Revolten an, auf oftmals bestialische Weise massakrierten sie Inhaftierte, die einer anderen Gruppe zugeordnet wurden. Der Staat unternahm wenig bis nichts, um die Kontrolle über die Gefängnisse wiederzuerlangen. So entwickelten sich diese zu rechtsfreien Räumen, die von den Banden als Ausbildungs-, Operations- und Rekrutierungszentren genutzt werden. Von ihnen ausgehend konnte sich die extreme Gewalt erst auf die Gesamtgesellschaft ausdehnen.

Lasso setzte als Präsident offiziell auf einen „harten Kurs“ gegen das organisierte Verbrechen. Ganze 20 Mal rief er den Ausnahmezustand aus. Enthüllungen über seinen Schwager und Vertrauten, Danilo Carrera, von Anfang 2023 lassen allerdings daran zweifeln, ob dieser allen Drogenbanden gleichermaßen galt. Demnach soll Carrera über Verbindungen zur albanischen Mafia verfügen und Einfluss auf Zollbehörden und Ministerien genommen haben, um Geldwäsche sowie Waffen- und Drogenhandel zu erleichtern. Im Mai wurde die Luft für Lasso schließlich zu dünn: Um einem Amtsenthebungsverfahren zu entgehen, löste er das Parlament auf und rief Neuwahlen aus.

Aus diesen ging Noboa als Sieger hervor. Bereits im Wahlkampf hatte der Sohn eines Bananen-Tycoons, der das Präsidentenamt am 23. November antrat, mit harten Maßnahmen gegen das organisierte Verbrechen geworben. So plant er im Rahmen eines „Phönix-Plans“ vor allem, Staat und Einsatzkräfte aufzurüsten. Zudem möchte er zwei neue Hochsicherheitsgefängnisse – eins an der Küste und eins im Amazonasgebiet – bauen, in denen insgesamt 736 Bandenmitglieder weggesperrt werden können. Kritiker*innen sehen vermehrt Parallelen zwischen Noboa und Nayib Bukele, seinem Amtskollegen aus El Salvador. Dessen autoritäres Regime setzt im Kampf gegen die Bandengewalt auf Masseninhaftierungen und die Einschränkung demokratischer Rechte. Auch wenn Noboa derlei Vergleiche bisher kategorisch von sich weist: Die jüngsten Ereignisse in Ecuador können durchaus als Teil einer autoritären Welle in der Region gesehen werden.

Die jüngsten Ereignisse können als Teil einer autoritären Welle in der Region gesehen werden

Bei seinem Militarisierungskurs setzt Noboa außerdem verstärkt auf die Unterstützung der USA. In einem Interview mit CNN erklärte er am 16. Januar, er wolle im Kampf gegen die Drogenkriminalität mit Washington zusammenarbeiten. „Wir brauchen Ausrüstung, wir brauchen Waffen, wir brauchen Aufklärung. Wir brauchen Hilfe“, so der Staatschef.

Am 22. Januar trafen unter anderem Christopher Dodd, Berater von Joe Biden, und Laura Richardson, die Kommandeurin des Südkommandos der US-Streitkräfte (Southcom), in Quito ein. Wie die US-Botschaft im Vorhinein erklärt hatte, gehe es darum, „darüber nachzudenken, wie die bilaterale Zusammenarbeit im Bereich Sicherheit verstärkt werden könnte“. Auch sollten „Ansätze“ für die Bekämpfung „transnationaler verbrecherischer Banden“ analysiert werden.

Dabei ist es keineswegs so, dass Ecuador bisher nicht mit Washington zusammenarbeitete. Im Gegenteil: Kein Staat der Region erhält mehr US-Militärhilfe. Laut einer Studie des Lateiname­rikanischen Strategischen Zentrums für Geopolitik (CELAG) lag diese in den Jahren 2021 und 2022 bei 172 Millionen Dollar. Zudem unterzeichnete Expräsident Lasso noch kurz vor der Amtsübergabe zwei Abkommen mit der Biden-Regierung, mit denen die Zusammenarbeit zwischen den Staaten vertieft werden soll. Geplant sind gemeinsame Militäroperationen auf See, „Ausbildungstätigkeiten“ durch US-Militärs in Ecuador sowie das Recht für Flugzeuge, Schiffe und Fahrzeuge der US-Armee, sich frei auf ecuadorianischem Staatsgebiet zu bewegen. Kritisiert wird unter anderem, dass Angehörigen des US-Militär und -Verteidigungsministeriums Immunität garantiert werden soll.

„Strukturelle Veränderungen von der Basis vorangetrieben”

Du bist nun seit einigen Monaten im Exil in Spanien. Warum bist du ins Exil gegangen?

Gemeinsam mit meinem Sohn sind wir in einem Schutzprogramm für Menschenrechtsverteidiger*innen, um für eine gewisse Zeit unsere Heimat zu verlassen. Im März 2022 wurde mein Partner, José Miller Correa, ermordet. Er war eine wichtige politische Autorität in der indigenen Autonomie und hatte verschiedene politische Posten inne. Seine Ermordung hatte schlimme Folgen für uns als Familie, aber auch für unsere gesamte Gemeinschaft, aufgrund der Verantwortung, die er für die Gemeinschaft getragen hatte. Wir mussten unsere Heimat verlassen und wollten aus dem Exil für Gerechtigkeit und Aufklärung kämpfen.

Wenn man aus solchen Gründen die Heimat verlassen muss, ist das extrem schwierig. Ganz anders, als wenn man ins Ausland geht, um zu studieren, zu arbeiten oder einen Austausch zu machen. Trotzdem habe ich hier viel gelernt und konnte Kollektive kennenlernen, die Verbündete sind und mit denen wir gemeinsam auf die Situation im Cauca aufmerksam machen und uns für die Aufklärung des Mordes an Miller einsetzen. Es ist aber auch wichtig, im Blick zu haben, dass er nicht die einzige Person von uns ist, die ermordet worden ist, sondern einer von vielen. In keinem dieser Fälle hat es wirklich Aufklärung und Gerechtigkeit gegeben. Deswegen geht es darum, einen Schritt in Richtung Ende der Straflosigkeit zu machen und dafür zu sorgen, dass sich diese Gewalt nicht fortsetzt.

Darüber habe ich hier viel gelernt und hoffe, dieses Wissen bei der Rückkehr in meine Heimat mit anderen zu teilen. Zudem bin ich dankbar für die Ruhe, mit der mein Sohn und ich hier leben und diese schwierige Zeit gemeinsam durchstehen konnten.

Wie ist der aktuelle Stand bei der Aufklärung des Mordes an José Miller Correa?

Aktuell ermittelt die Staatsanwaltschaft in Popayán, Cauca. Unser Eindruck als Familie ist, dass es kaum Fortschritte gegeben hat. Wir erhalten kaum Informationen darüber, welche Schritte die Ermittlungsbehörden unternehmen.

Es gab zwei Festnahmen, aber die verdächtigten Personen sind erst einmal wieder frei, auch wenn wohl weiter gegen sie ermittelt wird. Zwei Jahre später ist der Mord immer noch unaufgeklärt. Dazu kommen einige Unregelmäßigkeiten, zum Beispiel wurde die zuständige Staatsanwältin zwischenzeitlich ausgetauscht. Darüber wurden wir als Familie auch nicht informiert.

Wir fordern, dass die Ermittlung an eine spezialisierte Staatsanwaltschaft auf nationaler Ebene übergeben wird, die dafür gegründet wurde, Morde an Aktivist*innen aufzuklären. Die Behörden im Cauca erwecken kaum Vertrauen und nur mit viel Druck aus der Bewegung und aus dem Ausland scheint sich überhaupt etwas zu bewegen.

Der Mord an Miller ist Teil einer sich seit Jahren intensivierenden Gewalt gegen die indigene Bewegung im Cauca. Wie würdest du den heutigen Moment, den aktuellen Zustand der Bewegung beschreiben?

Es ist ein sehr schwieriger Moment für den indigenen Autonomieprozess im Cauca. Die Mayores, die Älteren, erzählen, dass der Kampf der indigenen Bewegung nie einfach gewesen ist und immer viele Leben gekostet hat. Es gab immer wieder Phasen in der 500-jährigen Geschichte des Widerstands, in der die Repression und Gewalt besonders heftig waren und ich glaube, jetzt gerade erlebt die indigene Bewegung wieder eine solche Phase.

Im Prinzip haben sich die Verhältnisse nach dem Friedensvertrag mit den FARC 2016 nicht wesentlich verändert. Mit immenser Gewalt versuchen legale und illegale bewaffnete Gruppen bestimmte Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen, um die dortigen Ressourcen ausbeuten zu können. Diese Gewalt richtet sich aber eben auch gegen die indigene Bewegung, die – im Gegensatz zu den bewaffneten Gruppen – die Natur nicht als eine Ware, als Teil eines Marktes, betrachtet.

Für uns ist die Natur eine Mutter, ein großes Zuhause, letztlich der Existenzgrund unserer Gemeinschaften. Wir sollten sie schützen und gegen extraktivistische Politik verteidigen, gegen jede Gier – sei es von Einzelpersonen, von Firmen oder von staatlicher Politik.

Wegen unserer Haltung sind wir mit einer alltäglichen Gewalt diverser bewaffneter Gruppen konfrontiert, mit Zwangsrekrutierungen, Bedrohun­gen oder der Ermordung unserer traditionellen Autoritäten, Aktivist*innen, Mitgliedern der Guardia Indígena oder Menschen, die eine wichtige spirituelle Rolle innehaben. Die Zwangsrekrutierung von Jugendlichen ist besonders gefährlich, weil sie auf unsere Zukunft zielt. Sie sind es, die unseren Kampf und Widerstand in Zukunft weiterführen müssten.
Was mich sehr besorgt ist, dass kaum Alternativen greifbar sind, die etwas an diesen gewaltvollen Strukturen ändern könnten. Wir haben viel versucht, interne Dialoge und Debatten geführt, unsere Autonomie und unsere Selbstverwaltung verstärkt. Das hat letztlich zu noch mehr Gewalt gegen unsere Führungspersönlichkeiten geführt.

Du sprichst – aus der Perspektive der indigenen Gemeinschaft – von internen und externen Gründen für die Gewalt.

Ja, ich glaube, das sind im Prinzip externe Faktoren, die mittlerweile zu internen Problemen geworden sind. Zum Beispiel die Denkweise, dass die Reichtümer der Mutter Erde ausgebeutet werden sollten. Dass das Gute Leben sich lediglich durch wirtschaftliche Aspekte auszeichnet.

Diese Denkweise wurde von außen in die Gemeinden getragen und einige Leute verlieren damit unsere eigenen Prinzipien. Dabei spielt natürlich eine große Rolle, dass unsere Gemeinden kaum eigenes Land zur Selbstversorgung haben und es somit eigentlich keine Existenzgarantie gibt, wie unsere Älteren sagen. Die Familien wachsen, aber das verfügbare Land nicht. Dass noch nicht einmal Grundbedürfnisse befriedigt werden können, sorgt für Unruhe in der Gemeinschaft. Der Anbau von Koka oder Marihuana oder die Verwicklung in den Drogenhandel erscheint dann als ökonomische Alternative. Das ist aber keine Lösung, sondern schafft viele Probleme.

Neben der Gewalt der bewaffneten Gruppen sorgt so auch der Drogenkonsum, Alkoholismus, der Besitz von Waffen und interfamiliäre Gewalt zum Verlust unserer Werte. Das ist eine Folge von Extraktivismus, ob Goldbergbau im Cauca, der Bau von Staudämmen, die Monokulturforstwirtschaft mit Kiefern und Eukalyptus oder Zuckerrohrplantagen. Die Umweltverschmutzung, die Konzentration von Land in den Händen einiger Weniger und die ökonomische Abhängigkeit der anderen, all das dringt mit großer Gewalt in indigene Territorien ein.

Nun gibt es seit einem Jahr in Kolumbien eine progressive Regierung, die sich kritisch gegenüber dem Extraktivismus positioniert. Sie hat ihre Wurzeln in den sozialen Bewegungen, die entscheidenden Anteil am Wahlerfolg hatten. Auch die indigene Bewegung unterstützte sie. Wie ist aktuell das Verhältnis zur neuen Regierung?

Ein großer Teil der indigenen Bewegung unterstützt die Regierung von Gustavo Petro. Wir sind jetzt stärker eingebunden in den Institutionen, auf kommunaler Ebene, auf Landes- oder auf nationaler Ebene. Wir haben eigene Kandidat*innen im Regierungsbündnis Pacto Histórico aufgestellt, um so als indigene Bewegung auch diese Räume zu besetzen, in denen Entscheidungen getroffen werden.

Wir stehen der Regierung sicher näher als allen vorherigen. Trotzdem hat es bisher noch keine strukturellen Veränderungen gegeben. Vielleicht ist es auch noch zu früh dafür. Im ersten Jahr hat die Regierung von Gustavo Petro wichtige Reformen angestoßen, aber vieles scheitert im Kongress, wo sie keine Mehrheit hat. Wir sehen die Bemühungen der Regierung, aber wir wissen auch, dass es sehr schwierig ist, in vier Jahren eine lange Geschichte des Kriegs, der Ungleichheit zu überwinden. Unsere Lehre daraus ist, dass die strukturellen Veränderungen von der Basis vorangetrieben werden müssen und die Selbstorganisation im Lokalen gestärkt werden muss. Dort liegt die Macht des Volkes.

Du berichtest von vielen Problemen, Gewalt und Trauer. Was macht dir in diesem Moment Hoffnung?

Was wir uns immer erhalten haben, ist unsere Bereitschaft zu kämpfen, das Leben zu verteidigen, obwohl um uns herum viele Tode gestorben werden. Eine der Formen unseres Kampfes, die Hoffnung macht, ist die Guardia Indígena, die Organisationen von Jugendlichen, von Frauen, im Gesundheitsbereich, unser eigenes Bildungssystem, unsere eigenen Medien und die Stärkung unserer kulturellen Identität, das Wiederbeleben unserer Sprache und die Liberación de la Madre Tierra (dt.: Befreiung der Mutter Erde) als ein Prozess der Selbstorganisation, der sich wieder auf den Ursprung der Bewegung besinnt und Landbesetzungen initiiert.

Auch unser traditionelles Wissen und unsere Spiritualität geben uns Hoffnung. Wir indigenen Völker waren trotz der Repression immer widerständig, im Kampf für die Würde und wir ziehen unsere Kraft aus der Mutter Erde.

Raus aus dem Teufelskreis

Flucht im Innland Zurück bleiben Häuser, die von Kriminellen genutzt werden – Rückkehr ausgeschlossen (Foto: Peg Hunter via Flickr, CC BY-NC 2.0 Deed)

„Meine Tochter war ein glückliches 15-jähriges Mädchen, bis es vom Bürgermeister der Nachbarstadt vergewaltigt wurde.“ So nüchtern wie krude beginnt der Bericht von Sofía Sánchez (Name geändert). Sofía lebte mit ihrem Partner und fünf Kindern in einem Dorf in den Bergen im Osten von Honduras, über drei Stunden mit dem Bus bis zur nächstgrößeren Stadt.

„Wir besaßen ein kleines Haus aus Lehmsteinen und ein Feld, auf dem wir Zwiebeln, Tomaten und Chili anbauten. Manchmal ernteten wir auch Kaffee auf verschiedenen Plantagen. Meine Tochter war in der fünften Klasse, als eine Bekannte sie bat, ihr Kind in der Stadt zu hüten: Eine Woche für 4.500 Lempiras, knapp 170 Euro. Das ist viel Geld für uns, deshalb war ich einverstanden. Aber als meine Tochter – ohne Geld – zurückkam, weinte sie oft und war sehr schweigsam. Erst einige Zeit später vertraute sie einer Freundin an, dass sie von der Bekannten gezwungen wurde, Medikamente einzunehmen und danach vom Bürgermeister in einem Stundenhotel mehrfach vergewaltigt wurde.“

Sexuelle Gewalt ist nur ein Grund für die Binnenflucht. Dazu kommen weitere Gründe, wie Schutzgelderpressung, Zwangsrekrutierungen durch kriminelle Banden, Klima- und Wetterereignisse, Vertreibung durch Landinvasion und Morddrohungen. Dass es oft nicht bei Drohungen bleibt, zeigt die aktuelle Statistik der nationalen Universität UNAH am Beispiel der Femizide. Alle 22 Stunden wird in Honduras eine Frau umgebracht, 95 Prozent dieser Morde bleiben straffrei.

Sofía wollte nicht, dass der Vergewaltiger ihrer Tochter, eine einflussreiche und wohlhabende Person der Nationalpartei, straffrei bleibt. „Ich möchte verhindern, dass weitere Mädchen Opfer dieses Perversen werden. Einige Wochen später rief mich die Bekannte an und sagte, meine Tochter solle in die Stadt kommen, um ihren Lohn abzuholen. Als ich mich weigerte und erklärte, ich würde den Bürgermeister anzeigen, lachte sie mich aus. Nach einiger Zeit ging ich zur Polizei und schließlich zur Staatsanwaltschaft. Kurz darauf begannen die telefonischen Drohungen nach dem Muster ‘Wir werden euer Haus anzünden und euch alle erschießen.‘ Daraufhin flohen wir im Morgengrauen nach Tegucigalpa, ins Haus eines Cousins. Wir konnten nichts mitnehmen außer unseren Kleidern.“

Binnengeflüchtete stehen oft ganz plötzlich vor dem Nichts. Karen Valladares ist die nationale Koordinatorin von Cristosal Honduras, einer Nichtregierungsorganisation, die sich für die Rechte der internen Vertriebenen einsetzt und sie bei Behördengängen, aber auch ganz praktisch mit Lebensmitteln, Kleidern und einer Unterkunft unterstützt. „Oft werden intern Vertriebene in ihrem neuen Umfeld mit Argwohn betrachtet und ausgestoßen, was ihre Lage zusätzlich erschwert“, erläutert Karen Valladares. Binnenflucht bedeutet, dass der Kontakt zum gewohnten Umfeld abbricht, der Bildungsprozess oft für lange Zeit unterbrochen wird und, dass Kinder und Erwachsene dringend psychologische Unterstützung benötigen, um ihre Traumata zu behandeln.

Sofía wohnt jetzt in einem Stadtviertel Tegucigalpas mit einer hohen Kriminalitätsrate. „Wir sind hier praktisch gefangen. Als ich zum ersten Mal die Sonderstaatsanwaltschaft für Kinder und Jugendliche suchte, verirrte ich mich, aber ich gab nie auf. Besonders als klar wurde, dass meine Tochter schwanger war. Durch die Kinderschutzbehörde wurde sie gegen meinen Willen in ein Heim eingewiesen, als ich dort die Vergewaltigung anzeigte. Sechs Wochen lang wusste ich nicht, wo sie war. Als das Baby auf die Welt kam, sah ich sie im Krankenhaus wieder. Aber erst nach der Festnahme des Bürgermeisters wurde sie aus dem Kinderheim entlassen, mit der Auflage, das Haus nicht zu verlassen.“

Nach einigen Tagen in einer Militärbasis kam der Bürgermeister jedoch auf Kaution frei. Seine Komplizin, Sofías Bekannte, ist wegen Menschenhandels noch im Gefängnis, denn sie soll Geld für Sofías Tochter erhalten haben. Sofía glaubt, dass drei weitere Mädchen aus ihrem Dorf Opfer des Bürgermeisters wurden, ihre Eltern jedoch aus Furcht schweigen – oder Geld erhalten. Sofía erzählt, dass auch ihr ein Unbekannter Geld für ein neues Haus angeboten habe, um im Gegenzug die Anzeige zurückzuziehen. Das habe sie abgelehnt.

Sofías Mut ist groß, reicht jedoch für die Rückkehr in ihr Dorf nicht aus. Die Gefahr, dass sie oder ihre Familie erneut Gewalt erfahren, ist zu groß. Ihr Haus verfällt, das Feld ist schon verdorrt. Jetzt lebt die Familie vom bescheidenen Gehalt von Sofías Partner und der Hilfe einiger Angehöriger. In der Zukunft möchte die 41-Jährige zu Hause Tortillas und Mittagessen verkaufen und ihrer Tochter eine Lehre als Kosmetikerin ermöglichen.

Kathryn Lo, Repräsentantin des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen in Honduras, ist nicht überrascht, dass die Binnengeflüchteten in erster Linie Hilfe bei ihren Familien suchen. „Viele sind auch nach der Flucht im Inland in Gefahr und wollen möglichst unsichtbar bleiben. Sie sind traumatisiert von Gewalt und brauchen Zeit und Unterstützung für einen Neuanfang.“

Dabei soll den Betroffenen das „Gesetz zur Prävention, Betreuung und Schutz der Binnengeflüchteten“ helfen. Dieses wurde bereits im Dezember 2022 vom Nationalkongress verabschiedet und befindet sich jetzt in der Umsetzungsphase. In einem breit angelegten Konsultationsprozess arbeiten 28 staatliche Stellen mit der Zivilgesellschaft zusammen, um die Gewalt, die der Hauptgrund der Binnenflucht ist, zu bekämpfen. Der Schutz und die Betreuung von Opfern ist ein weiteres Ziel. Eine riesige Aufgabe, denn Honduras gehört trotz einer signifikanten Verringerung der Mordrate noch immer zu den gefährlichsten Ländern Lateinamerikas. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen zählte zwischen 2004 und 2018 über 247.000 Binnenvertriebene in Honduras. Das entspricht fast fünf Prozent aller Haushalte.

Familien, die wegen der Bandengewalt fliehen müssen, hinterlassen Stadtbezirke, in denen leere Häuser und geschlossene Geschäfte das Straßenbild prägen. Die wenigen Bewohner*innen sind Alte und Kinder, ständig beobachtet von jungen Spähern der Gangs, die an strategischen Stellen sitzen und per Handy alles melden, was auf den Straßen passiert. Die leerstehenden Häuser werden von den Kriminellen besetzt und im schlimmsten Fall als casas locas (verrückte Häuser) benutzt, in denen die Banden foltern und morden. Die Polizei beschränkt sich darauf die Fälle in den Medien öffentlich zu machen. Strafverfolgung gibt es praktisch nicht. Schließlich leben viele Polizist*innen selbst in Gegenden mit Gang-Präsenz. Kinder ab 10 Jahren sind in Gefahr schleichend in Banden rekrutiert zu werden und junge Erwachsene aus diesen Stadtbezirken bekommen oft keine Arbeit, weil sie wegen ihres Wohnorts stigmatisiert sind. Ein Teufelskreis, aus dem oft nur die Flucht hilft.

Im Rahmen des 81 Artikel umfassenden Gesetzes wurde das Nationale Auffangsystem für Binnenflucht gebildet. Es soll sicherstellen, dass die Betroffenen einen rechtlich abgesicherten Weg finden, um Schutz und Unterstützung durch den honduranischen Staat zu erhalten. Binnenvertriebene haben explizit das Recht auf Vorzugsbehandlung in Bereichen wie Gesundheit, Bildung, Unterkunft und Arbeit sowie auf die Rückgabe ihres Eigentums und die Verlängerung von Kreditlaufzeiten. Das Auffangsystem verfügt laut Gesetz über ein jährliches Budget von umgerechnet sechs Millionen Euro. Bisher wurde jedoch kein Cent davon ausgegeben. Wie so oft fehlt es am politischen Willen.

„Leider lässt der Staat bisher seine Bürger allein, das Gesetz muss dringend umgesetzt werden“, bringt es Clarissa Caballero auf den Punkt. Sie ist Anwältin und Sachbearbeiterin für intern Vertriebene von Conadeh, der staatlichen Menschrechtskommission von Honduras. „Allein 2021 erhielten wir 917 Anzeigen wegen interner Vertreibung, welche 2.529 Personen betraf. Viele von ihnen stammen aus Gebieten mit hoher Banden-Präsenz. Mithilfe von Nichtregierungsorganisationen und den Vereinten Nationen helfen wir ihnen mit einer temporären Unterkunft, Jobs und juristischer Beratung.“

Sofía Sánchez kennt den Prozess um das neue Gesetz nicht. Sie glaubt aber, dass der Staat die Aufgabe hat, vertriebene Personen wie sie zu schützen und ihnen zu helfen, ein neues Leben in Honduras zu beginnen. Illegal Honduras zu verlassen ist bisher keine Option für sie, aber sie kann sich vorstellen, im Ausland Asyl zu beantragen. „Die Perspektivlosigkeit der Binnengeflüchteten und die komplizierten Prozesse führen dazu, dass ein Teil von ihnen die Hoffnung verliert und illegal emigriert“, fasst Karen Valladares von Cristosal Honduras zusammen.

Sind Binnengeflüchtete Kandidat*innen für Asyl im Ausland? Ja, sagt Clarissa Caballero von Conadeh, die Gewaltopfer beim Asylgesuch in Ländern wie Guatemala, Mexiko und den USA begleitet und Notpässe beantragt. Mittlerweile ist Honduras das Land mit den meisten Asylsuchenden in Mexiko, über 40.000. Der Vorteil dabei ist, dass sie während des Verfahrens nicht ausgewiesen werden können. Das Ziel der meisten bleiben die USA.

Die Gewalt ist in Honduras auf kriegsähnlichem Niveau. Mädchen, Frauen, Familien in Gebieten unter der Kontrolle von kriminellen Banden, Menschenrechtsaktivist*innen und Journalist*innen leben besonders gefährlich. Die Dynamik der Flucht vor der Gewalt – sei es im Inland oder ins Ausland – ist unaufhaltsam. Die Umsetzung des Gesetzes zur Prävention, Betreuung und Schutz der Binnengeflüchteten wird ein wichtiger Schritt sein, um Tausenden von Gewaltopfern eine Perspektive in Honduras zu geben und zu zeigen, dass sich der Staat um die Menschenwürde seiner verletzlichsten Bürger*innen sorgt.

Gefahr von oben

Modifizierte Drohnen Sie werden mit Sprengstoff, Nägeln und Pellets bestückt (Foto: Ricardo Gomez Angel, Public Domain)

In den frühen Morgenstunden des 18. Oktober 2023 erlebte Pater José Filiberto Velázquez Florencio einen bewaffneten Angriff, während er mit seinem Auto durch die Stadt El Nuevo Caracol im mexikanischen Bundesstaat Guerrero fuhr. Der Mordversuch an Pater Velázquez Florencio ging von mutmaßlichen Mitgliedern eines Drogen­kartells aus. Zuvor hatte er mehrmals sowohl gegenüber staatlichen Institutionen als auch öffentlich auf die kriminelle Präsenz in seiner Stadt in Guerrero aufmerksam gemacht. Pater Velázquez Florencio ist der Leiter der Organisation Centro de Derechos de las Víctimas de Violencia Minerva Bello (Zentrum für die Rechte von Gewaltopfern Minerva Bello). Diese zivil­gesellschaftliche Organisation setzt sich seit 2018 für die Verteidigung der Rechte von Menschen ein, die im Bundesstaat Guerrero Opfer von Gewalt geworden sind. Dazu zählen beispielsweise die Familienmitglieder von den 43 seit 2014 verschwundenen Studenten aus Ayotzinapa.

Doch die kriminelle Präsenz in der Region ist nicht neu. Vor über einem Jahrzehnt kamen die kanadischen Bergbauunternehmen Torex Gold und Equinox Gold nach Guerrero, um Gold abzubauen. Ihre Ankunft machte die Gegend attraktiv für Drogenkartelle, die sich Einnahmen durch Erpressung der lokalen Bevölkerung erhofften. Die Angriffe durch kriminelle Gruppen haben sich seit November 2022 erheblich vermehrt, als territoriale Streitigkeiten zwischen rivalisierenden Gruppen wie dem Kartell Jalisco Nueva Generación, Los Tlacos und der Familia Michoacana begannen.

Das Neue dabei ist die Art, wie diese Gruppen Chaos und Angst unter der Bevölkerung verbreiten. Seit November 2022 setzen sie modifizierte Drohnen ein, um die Gemeinden anzugreifen. Diese Drohnen werden mit Sprengstoff, Nägeln und Pellets bestückt. Aus der Ferne werden sie dann gesteuert und als Waffe verwendet. Bis jetzt gab es in Guerrero mehrere solche Angriffe und sie führten bisher zu zwei getöteten Personen und Sachschäden. Pater José Filiberto berichtet, dass diese Drohnen aufgrund der bergigen Landschaft von El Nuevo Caracol eingesetzt wurden: „Es handelt sich um eine Region voller Berge und Hügel, in der es durch den sehr breiten Fluss Balsas eine natürliche Barriere gibt. Weil die Bewohner*innen die Straßen gesperrt haben, reagierten die kriminellen Gruppen mit Schüssen von den Hügeln aus sowie mit dem Abfeuern von Bomben durch Drohnen. Durch die vielen Berge und Hügel gibt es nämlich erhebliche Schwierigkeiten, diese Orte mit Bodentruppen und Fahrzeugen zu erreichen.“

Drohnen mit Sprengstoff, Nägeln und Pellets sollen Angst verbreiten

Die Gewalt hat vor allem drei sichtbare Auswirkungen auf die Stadt. Erstens führte sie zur Vertreibung von 600 Personen, die Schutz in benachbarten Städten suchten. Zweitens leben die verbliebenen Bewohner*innen in Angst und unter ständigem Stress. Weil medizinisches Personal und Lehrer*innen flüchteten, kam es drittens zum Mangel an öffentlichen Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit. Als Reaktion auf die anhaltende Gewalt durch die Drogenkartelle haben sich Menschen aus mindestens 30 umliegenden betroffenen Städten in Bürgerwehren organisiert und eine Allianz von 67 Gemeinden gegründet, die von den lokalen und föderalen Behörden Schutz fordern.

Die aktive Zivilgesellschaft wird durch die Politik geschwächt

Die staatliche Reaktion auf die Situation der Unsicherheit in Mexiko wurde von den Bürgerwehren stark kritisiert. Die Regierung hat Ausrüstung zur Konfiszierung von Drohnen und Sprengstoffen erworben und eine rechtliche Initiative zur Erhöhung der Haftstrafen für den Einsatz von Drohnen bei illegalen Aktivitäten vorangetrieben. Trotzdem bleibt Pater José Filiberto skeptisch hinsichtlich der Wirksamkeit dieser Maßnahmen. Er befürchtet, dass die Hauptstadt von Guerrero eine „Zeitbombe“ sei: „Dort finden derzeit Hinrichtungen statt. Gestern haben sie einen zerstückelten Körper vor die Tore der Nationalgarde in Chilpancingo geworfen. Ich denke, es wird weiterhin sehr besorgniserregende Nachrichten über Gewalt in dieser Region geben. Besonders jetzt, da der Wahlkampf für die anstehende Präsidentschafts­wahl näher rückt, werden politische Verbrechen zur Alltäglichkeit.“

Er stellt weiterhin fest, dass die Rolle der zivilgesellschaftlichen Organisationen von der Regierung missachtet und unterbewertet wird: „Wir leben in einer Zeit, in der das Recht, sich selbst zu verteidigen, zu einem politischen Angriff gegen die Machthaber*innen wird. Als Menschen­rechtsorganisationen, Journalist*innen oder aktive Zivilgesellschaft sind wir geschwächt. Der Staat will das Monopol über die Verteidigung der Menschenrechte behalten. Dabei verachtet er die echte Menschenrechtsarbeit, die abseits der politischen Parteien geleistet wird. Das setzt uns Risiken aus. Es macht uns verwundbarer.“

Es ist weder das erste Mal, dass ein Aktivist ins Visier krimineller Gruppen gerät, noch, dass sich die Zivilbevölkerung in einer Bürgerwehr organisiert. Das ist schon früher geschehen, vor allem in Michoacán, ein weiterer Bundesstaat, der von Drogenkartellen bedroht wird. Genau wie in der Vergangenheit war die Reaktion der Regierung unzureichend, um die Bewohner*innen zu schützen und die Macht der Drogenkartelle zu schwächen. Stattdessen ist eine Zusammen­arbeit zwischen den staatlichen Behörden und der Zivilgesellschaft notwendig, um Sicherheit und Frieden zu fördern. Diese zwei Elemente werden in Mexiko dringender denn je benötigt.

Schutzlos vor dem Neo-Extraktivismus

Der Sitz der Fundación del Río, deren Präsident Sie sind, befindet sich jetzt − wie der Großteil der nicaraguanischen Diaspora − in Costa Rica. Was ist nach dem Verlust des Rechtsstatus und der Konfiszierung des Vermögens von der Organisation geblieben?
Die Arbeit der Umweltorganisation wurde willkürlich eingestellt, nachdem sie im Dezember 2018 durch das Ortega-Regime aufgelöst wurde. Einer der Gründe für die Auflösung war, dass die Organisation einen absichtlich gelegten Brand im Naturschutzgebiet Indio Maíz öffentlich angeprangert hatte. Auch im Fall des Interozeanischen Kanalprojekts, das weder aus ökologischer noch aus sozialer Sicht tragfähig war, hat die Stiftung Kritik geäußert. Beide Positionen führten dazu, dass das Regime uns als oppositionelle Akteure betrachtete. Mit der Auflösung haben wir mehr als 22 Grundstücke in Schutzgebieten, Herbergen, Büros und zwei kommunale Radios verloren. Außerdem musste leider auch ich ins Exil gehen, da mir ein Gerichtsverfahren drohte.

Wie gestaltet sich Ihre Arbeit im Exil?
Zunächst begann eine Phase der Reorganisation, um die Arbeit vom Exil aus weiterzuentwickeln. Die Organisation besaß früher drei Büros, verteilt über das gesamte Departement Río San Juan, und verfügte über die Kapazitäten, um bäuerliche, indigene und afro-deszendente Gemeinschaften zu unterstützen und zu begleiten. Durch die Auflösung und die Enteignung unserer Vermögenswerte sind diese Kapazitäten verlorengegangen. Unsere Arbeit wurde neu definiert: Wir sind in den Gebieten nicht mehr so präsent wie früher. Stattdessen sind dort indigene und bäuerliche Gemeinschaften aktiv, die weiterhin an die Arbeit der Organisation glauben. Das bedeutet, dass wir dank ihres Engagements weiterhin überwachen und dokumentieren können, was in Indio Maíz und den anderen indigenen und afro-deszendenten Gebieten geschieht. Mit Hilfe neuer Technologie können wir Waldbrände und das Ausmaß der Abholzung in den Schutzgebieten des Landes überwachen. Diese neue Art zu arbeiten hat es uns ermöglicht, weiterzumachen.
Wir haben auch begonnen, mit den aus Nicaragua vertriebenen bäuerlichen und indigenen Gemeinschaften zu arbeiten, die heute im Norden Costa Ricas leben. So können wir die Nicaraguaner unterstützen, die es besonders schwer haben.

Warum sind Naturschutzgebiete und die Lebensräume der indigenen Gemeinschaften heute durch illegale Besiedlung und Ausbeutung ihrer Naturreserven stärker bedroht denn je?
In Nicaragua gibt es sieben indigene Volksgruppen und zwei afro-deszendente Gemeinschaften. Die meisten von ihnen, die ihre Kultur noch bewahren, befinden sich an der Karibikküste. Die Gebiete mit den größten Konflikten liegen in der nördlichen Karibikregion. In der südlichen Region, wo die Rama- und Kriol-Gemeinschaften von Bluefields ansässig sind, gibt es weniger Konflikte. Im Jahr 2011 wurden dort die ersten Vorstöße von Siedlern in indigene Gebiete gemeldet. Aber über die Invasionsprozesse in der nördlichen Karibik, insbesondere in den Gebieten der Miskito und Mayanga, wird schon seit 2005 berichtet. Doch war dieser Prozess nicht so massiv, es wurden nicht so viele Menschen getötet wie heute. Dieses neue Ausmaß ist auf das vom Ortega-Murillo-Regime seit 2007 geförderte neo-extraktivistische Modell zurückzuführen. Es zielt darauf ab, die natürlichen Ressourcen zu gewinnen, die von wirtschaftlichem Interesse sind.
Die indigenen Territorien an der nördlichen und südlichen Karibikküste sind die reichsten Gebiete des Landes. Vor allem, weil die dort lebenden Gemeinschaften sie bewahrt haben: Dort sind die meisten natürlichen Wälder zu finden, es gibt die größte biologische Vielfalt, die Niederschlagsmengen sind höher und es leben weniger Menschen dort. Es besteht ein öffentliches politisches Interesse, den neo-extraktivistischen Prozess in diesen Regionen zu fördern.

Was bedeutet das?
Klassischer Extraktivismus liegt vor, wenn sich ein Unternehmen mit inländischem oder meist ausländischem Kapital in Gebieten niederlässt, um eine natürliche Ressource zu gewinnen, etwa um Ölpalmen anzubauen, Bananen oder Produkte, die auf dem internationalen Markt verkauft werden. Beim klassischen Extraktivismus ist der Einfluss des Staates wie ein Regulierungsorgan. Er greift nicht in das Geschäft ein, sondern versucht, den Geschäftsprozess zu regulieren und zu kontrollieren, damit bestimmte Parameter eingehalten werden. Außerdem werden die Ressourcen ohne jegliche Verarbeitung geplündert. Mit anderen Worten: Die ausgeführten Produkte haben keinen Mehrwert.
Beim Neo-Extraktivismus ist die Beteiligung des Staates oder von Gesellschaften, die mit den Regierenden in Verbindung stehen, wesentlich stärker. Es werden staatliche Unternehmen und öffentlich-private Partnerschaften gegründet, die die ebenfalls Ressourcen ausbeuten. Oder es werden neue Unternehmen gegründet, die mit der Macht oder den Familien verbunden sind, die politische Positionen besetzen. Was wir im Fall Ortega-Murillo sehen, ist der Wechsel vom extraktivistischen Modell der neoliberalen Regierungen zu einem neo-extraktivistischen Modell mit einer Verbindung zwischen staatlichen und wirtschaftlichen Interessen in diesen Gebieten. Dies hat zu einem großen Druck auf die natürlichen Ressourcen und auf die Schutzgebiete selbst geführt.

Was sind die Hauptursachen für die Gewalt in den indigenen Gebieten?
Der industrielle Bergbau ist auf dem Vormarsch, ebenso der handwerkliche, so dass viele der Konflikte in den indigenen Territorien auf den Bergbau zurückzuführen sind. Siebzig Prozent der Bergbauprodukte werden vom industriellen und dreißig Prozent vom handwerklichen Bergbau produziert. Beide sind jedoch miteinander verbunden, da der Gewinn des Goldes aus dem handwerklichen Bergbau an die Minenunternehmen verkauft wird, die das Gold exportieren. Dies hat viele Menschen dazu gebracht, in diese Gebiete einzudringen, um die Ressourcen zu plündern. An genau solchen Orten entstehen die Konflikte.
Der Staat hat die Verpflichtung, die territoriale Sicherheit der indigenen Gemeinschaften zu garantieren, da es sich um per Rechtstitel anerkannte Territorien handelt. Mindestens 23 Gebiete sind infolge indigener Kämpfe bereits an die Gemeinschaften überschrieben worden. Allerdings hat die Regierung die Legalisierungsphase – die letzte Phase des Titulierungsprozesses – nicht eingehalten. Diese Phase umfasst die Kontrolle der Menschen, die sich in diesen Gebieten aufhalten. Sollte die indigene Gemeinschaft zu dem Schluss kommen, dass Personen sich unbefugt dort aufhalten, dann muss die Regierung dafür sorgen, dass diese das Gebiet verlassen, da sie in ein geschütztes Territorium eindringen. Das ist jedoch nie geschehen.
Daher haben indigene und afro-deszendente Gemeinschaften damit begonnen, ihr Territorium selbst zu verteidigen – natürlich nicht mit den gleichen Möglichkeiten, die der Staat zur Verfügung hat. Das hat dazu geführt, dass die Waldhüter der Gemeinden zu den Hauptangriffszielen wurden, denn sie sind diejenigen, die diese Gebiete überwachen, Verstöße dokumentieren und melden. Seit 2005 haben wir mehr als 75 Morde erlebt. Allein in diesem Jahr wurden acht Waldhüter und Gemeindevorsteher ermordet, die sich Menschen widersetzt haben, die unrechtmäßig in ihr Gebiet eingedrungen sind.

Heißt das, dass die Eindringlinge bewaffnet sind?
Nicht alle sind bewaffnet. Viele dieser Eindringlinge haben sich bewaffnet, um sich mit Gewalt durchzusetzen. Das Regime hat sie als kriminelle Banden bezeichnet, man wollte nicht anerkennen, dass es sich um Paramilitärs handelt, um Leute, die mit Gewalt diese Gebiete besetzen und die natürlichen Ressourcen plündern.

Gibt es noch weitere Akteure in den indigenen Territorien?
Ja, die extensive Viehzucht breitet sich zunehmens aus und führt heute am stärksten zur Entwaldung im Land. Viele dieser Viehzuchtbetriebe haben von einer für sie günstigen öffentlichen Politik profitiert, weil sie neue Märkte erschlossen und Finanzierungen erhalten haben. Dieses Modell hat dazu geführt, dass der Druck auf die Bevölkerung in den indigenen Territorien aufgrund wirtschaftlicher Interessen zu Lasten ihrer Rechte enorm zugenommen hat. Aber nicht nur das, es gibt noch andere Interessen, etwa der illegale Bodenhandel oder der Handel mit nativen Tier- und Pflanzenarten aus diesen Regionen. Da es sich um Gebiete mit hohen Niederschlagsmengen handelt, die die Ölpalme benötigt, spielen auch diese kommerziellen Interessen eine Rolle.

Wie bewerten Sie die Wirtschaftssanktionen der internationalen Gemeinschaft gegen Nicaragua?
Wer Nicaragua wirklich beeinflussen kann, ist der wichtigste Exportmarkt unseres Landes – die USA. Die wichtigsten Produkte sind Gold und Fleisch. Der größte Teil des Fleischmarktes sowie der größte Teil des Goldes geht in die Vereinigten Staaten, der zweitgrößte Goldanteil in die Schweiz, Leder geht nach Europa. Die Maßnahmen sollten entschiedener sein, vor allem bei einigen Produkten der Wertschöpfungsketten in den Händen der Diktatur. Mit einem Viertel der Wirtschaftssanktionen, die sie gegen Russland verhängt haben, hätten sie morgen jedes Abkommen mit Ortega unterzeichnen können. Es besteht also kein wirkliches Interesse daran, eine Diktatur zu stürzen: Auf politischer Ebene kritisiert man zwar die Menschenverletzungen und spricht von einer Diktatur, aber auf Handelsebene macht man gerne Geschäfte mit Ortega. Aus meiner Sicht ist das eine widersprüchliche Politik.

Wahlen inmitten der Sicherheitskrise

Ecuadors Nationalversammlung Wer hier einzieht, muss sich auf einiges gefasst machen (Foto: Cristian Medina, CC BY-SA 2.0)

Absehbar war das Ergebnis der Wahlen am 20. August nicht, da die 18 Millionen Ecuadorianer*innen außerplanmäßig zu den Urnen gerufen worden waren. Der noch amtierende Präsident und Banker, Guillermo Lasso, hatte im letzten Jahr immer mehr an Zustimmung verloren. Das haben die Kommunalwahlen und das Scheitern einer Volksbefragung zur Bestätigung seiner Politik im Februar deutlich gezeigt. Als Reaktion auf ein Amtsenthebungsverfahren wegen Vorwürfen der Unterschlagung und des Verlusts der politischen Handlungsfähigkeit löste er schließlich im Mai dieses Jahres das Parlament auf. Dafür nutzte er ein Instrument aus der Verfassung, das ihm unter bestimmten Voraussetzungen die gleichzeitige Auflösung des Parlaments und einen Rücktritt vom Amt des Präsidenten ermöglicht. Damit wurden Neuwahlen für die Exekutive und Legislative ausgelöst, denn das Fortbestehen eines politischen Schwebezustandes hätte dem Staat in seinem inneren Machtgefüge geschadet.

Ecuador befindet sich in einer massiven Sicherheitskrise, die sich in den letzten Jahren immer weiter verschärft hat. Seit 2021 etablierten sich die internationalen Drogenkartelle auch in Ecuador, erkennbar unter anderem an der Zunahme von Massakern in Gefängnissen. Bis dahin war Ecuador ein Land, das nicht durch Unsicherheit und Gewalt auffiel, da es für Kartelle als Transitland relativ uninteressant war. Das hat sich nun geändert. Ecuador liegt zwischen Peru und Kolumbien, den größten Kokainproduzenten der Welt, und ist nun nach Angaben der Vereinten Nationen zum größten Umschlagplatz für Kokain geworden. Die Kartelle in Ecuador sind keine rein lokalen Akteure, wie sie seit den 80er Jahren in Mexiko und seit den 90er Jahren in Kolumbien aktiv sind. Es handelt sich vielmehr um internationale, teilweise auch mexikanische oder europäische Akteure, die sich ihre Transportrouten sichern wollen. Dafür sind vor allem die Häfen, besonders Guayaquil, von Bedeutung. Mit 3.568 Morden allein in den ersten sechs Monaten 2023 ist Ecuador inzwischen eine der gefährlichsten Regionen der Welt. Dies geht auch einher mit Attentaten auf Politiker*innen. Neben dem Präsidentschaftskandidaten Fernando Villavicencio wurden auch die Bürgermeister Augustin Intriago und Pedro Briones erschossen. Dabei ging es weniger um deren politische Orientierung, sondern eher um eine Machtdemonstration der Kartelle, um die Staatlichkeit und die Regierung an sich anzugreifen.

Internationale Drogenkartelle lassen die Gewalt eskalieren

Die enorme Zunahme von Gewalt und die Etablierung von parastaatlichen Strukturen stellt eine massive Herausforderung für die politischen Institutionen da, die darüber hinaus schon länger mit Korruption zu kämpfen haben. Antworten auf eine solche Situation zu finden und der Bevölkerung wieder Hoffnung zu geben, sind die schwierigen Aufgaben, denen sich der*die neue Präsident*in stellen muss.

So standen am 20. August acht Kandidat*innen zur Wahl für die Präsidentschaft. Die beiden Bestplatzierten, Luisa Gonzáles und Daniel Noboa, gehen nun am 15. Oktober in eine Stichwahl um das Amt. Luisa Gonzáles ist die erste Frau, die es in Ecuador jemals in eine Stichwahl geschafft hat. Sie kandidiert für die Partei Revolución Ciudadana (Bürgerrevolution) des ehemaligen Präsidenten Rafael Correa. Die Juristin holte mit rund 33 Prozent der Stimmen den Sieg, ob sie es auch in der Stichwahl schafft, ist jedoch unklar. Mit ihr im Rennen ist Daniel Noboa, der für eine liberale Unternehmergeneration steht und mit 24Prozent der Stimmen überraschte. Der Name Noboa erscheint auf Wahlzetteln zur Präsidentschaft in Ecuador dabei nicht zum ersten Mal, denn sein Vater, der erzkonservative Unternehmer Álvaro Noboa, hatte bereits 1998, 2002, 2006, 2009 und 2013 kandidiert und jedes Mal verloren. Christian Zurita, der die Kandidatur vom ermordeten Fernando Villavicencio übernahm, belegte Platz drei und verfehlte damit die Stichwahl.

In Ecuador schien es bisher bei jeder Wahl eine ideologische Bipolarität gegeben zu haben, in der sich die Wähler*innen für oder gegen den „Correismo“ zu entscheiden hatten. Rafael Correa, regierte Ecuador zwischen 2007 und 2017 und ist nach wie vor in den politischen Debatten präsent. Seit einigen Jahren kann er diese jedoch nur noch indirekt beeinflussen, durch Einwirken auf seine Partei oder über Social Media, nachdem er nach Belgien emigriert ist, um einer 8-jährigen Haftstrafe wegen Korruption zu entgehen. Viele der nun ausgeschiedenen Kandidaten haben ihre Unterstützung für Noboa verkündet, doch der*die neue Präsident*in hat nur eine kurze Amtszeit vor sich, da die nächsten Wahlen regulär im Mai 2025 stattfinden.

Der Einfluss Correas ist noch groß

Zudem ist die Parteienlandschaft Ecuadors unübersichtlich und verwirrend. Spaltungen, neue Bündnisse und Umbenennungen von Parteien und Koalitionen zu jeder Wahl machen einen Vergleich und eine Analyse fast unmöglich. Vor diesem Zusammenhang steht die linke Partei Revolución Ciudadana als größte politische Kraft einer Mehrheit aus konservativen Parteien in der Nationalversammlung mit insgesamt 137 Plätzen gegenüber.

Große Herausforderungen erwarten die Nationalversammlung und die*den zukünftige*n Präsident*in. Ein Weg aus der Sicherheitskrise heraus, institutionelle Stabilität und die Bekämpfung von Korruption sind nur die Spitze des Eisbergs. Wer das Rennen im Oktober um die Präsidentschaft machen wird, ist dabei nur eine der offenen Fragen. Wie der*die neue Präsident*in es schafft, Vertrauen in Politik, Staat und Institution wiederherzustellen eine andere. Diese ist aber ebenso wichtig, da die Akzeptanz autoritärer Regierungsformen in der Bevölkerung aufgrund von Enttäuschung über politische Unzuverlässigkeit und Angst in Bezug auf die zunehmende Gewalt zunimmt.

Wie viel Tote willst du noch, Dina?

(Alle Fotos: Vale Soldevilla Montoya)

Die Forderung nach Achtung der Demokratie reichte aus, um die Menschen ab dem 19. Juli auf die Straße zu bringen. Der Ruf nach einem Rücktritt von Dina Boluarte vereinte verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Forderungen, die sich zum Teil sogar gegenseitig widersprechen. Die Menschen wollen die Schließung des Kongresses, fordern eine Verfassungsgebende Versammlung, vorgezogene Wahlen und politische Reformen. Zwar fehlte den Demonstrant*innen ein gemeinsamer politischer Horizont, trotzdem gingen sie gemeinsam auf die Straße, um anzuklagen. Der Zerfall der Demokratie, die Repression, die Gewalt und die fehlende Anerkennung trieben eine Gruppe zum Protest, die bei den ersten beiden großen Mobilisierungen nicht in Erscheinung getreten war: die Mitte und die liberale Rechte.

“Du sollst nicht tötet. Beendet die Verfolgung. Neuwahlen im Jahr 2023. Wir sind Quechua, wir sind Aymara. Durch uns fließt das gleiche lut. Nein zur Straflosigkeit. Gerechtigkeit.”

Die aktuellen Proteste begannen im Dezember 2022, und sind als Teil einer Regierungskrise zu verstehen, die das Land seit 2016 erfasst hat. Nach dem vom damaligen Präsidenten Pedro Castillo angekündigten Selbstputsch vom 7. Dezember 2022 und der anschließenden Amtsenthebung übernahm Dina Boluarte, die Vizepräsidentin, das Regierungsgeschäft. Die ersten Demonstrationen fanden im Süden des Landes statt, in dem eine Mehrheit der Unterstützer*innen Castillos leben und seine Wiedereinsetzung forderten. Es ist nicht schwer, ihre Empörung zu verstehen: Castillo wurde des Wahlbetrugs beschuldigt, seine Gegner weigerten sich, ihre Niederlage zu akzeptieren.

22. Juli 2023. Demonstrant*innen halten ein Schild mit der Aufschrift “Juliaca leistet Widerstand, Helden des 9. Januar” in Erinnerung an die 18 Ermordeten

Bevor Castillo sein Amt antrat, lancierte die unterlegene Partei Fuerza Popular unter der Führung von Keiko Fujimori eine regelrechte Terrorkampagne gegen den designierten Präsidenten. Dieser Kampagne schlossen sich auch die Partei des konservativen Bürgermeisters von Lima, Rafael Lopez Aliaga, die Renovación Popular, an, ebenso Massenmedien, so in der Fernsehsendung Cuarto Poder. Obwohl die Kampagne die offizielle Verkündung des Wahlsiegers um mehrere Wochen verzögerte, wurde Castillo schließlich zum Präsidenten erklärt. Sobald er an der Regierung war, taten die Opposition und die Mainstream-Medien ihr Bestes, um ihn zu diskreditieren, oft in rassistischen und klassistischen Tönen. Doch auch Castillos Regierung war nicht fehlerfrei. Seine Zeit war geprägt von Widersprüchen und einer teils illegitimen Regierungsführung.

22. Juli 2023: “Kein Queer mit Dina, der Mörderin” Der Begriff Marika ist hier eine Selbstbezeichnung, die sich queere Menschen als widerständige Praxis angeeignet haben

Im Laufe der Tage zeigte Dina Boluarte ihr wahres Gesicht: Sie ging ein Bündnis mit der rechten Opposition ein und unterdrückte brutal diejenigen, die sie an die Regierungsmacht gebracht hatten. Am 9. Januar 2023 fand in Puno das Massaker von Juliaca statt, bei dem 18 Angehörige der Aymara-Bevölkerung bei Protesten ermordet wurden. Die jetzige dritte Mobilisierung nach Lima wurde als ein Schrei der Reaktion und der Überdrüssigkeit empfunden. Dina soll gehen, der Kongress soll gehen und „sie alle sollen gehen“, wie es bei den Protesten während der letzten drei oder vier Regierungen des Landes gefordert wurde.

Die Delegation von Juliaca leistet Widerstand und gedenkt der Toten

Zu den protestierenden Gruppen gehörten Delegationen aus mehreren Provinzen des Landes, insbesondere aus dem Süden. Auch die feministische Bewegung, die LGBTIQGemeinschaft und Künstler*innen-Gruppen schlossen sich dem Widerstand an.

Mobilisierung von Aymara-Frauen

Das Mitte-rechts-Lager, vertreten durch die Morado-Partei, war stark vertreten. Die progressive Linksmitte forderte vorgezogene Neuwahlen, die traditionellere und konservativere Linke verlangte die Freilassung von Castillo, und die gemäßigte Linke betonte in Koalition mit Arbeiter*innen und indigenen Gruppen die Forderung nach einer Verfassungsgebenden Versammlung.

“Du kannst den Regen kaufen, du kannst die Sonne kaufen, aber mein Leben kannst du nicht kaufen” Mit Fotografien der mehr als 60 Menschen, die seit Dezember 2022 bei Protesten umgekommen sind, behangene Statue

Über all diese Forderungen wurde rege diskutiert, der gemeinsame Nenner war derweil klar: Die Regierung Boluarte solle zurücktreten und sich der Justiz stellen.

“In Demokratien werden Protestierende nicht getötet”

Die Proteste werden von einem aus Puno stammenden Protestlied begleitet. Dessen Text wird teilweise auf Aymara gesungen:

Esta democracia ya no es democracia
esta democracia ya no es democracia
Dina asesina el pueblo te repudia
Dina asesina el pueblo te repudia

¿Cuántos muertos quieres,
para que renuncies?
¿Cuántos muertos quieres,
para que renuncies?

Dina runa sipiq manan munaykichu
Dina hiwayiri janiwa khitis munktamti

Sueldos millonarios para los corruptos
Balas y misiles para nuestro pueblo
Sueldos millonarios para los corruptos
Balas y misiles para nuestro pueblo

Haitis Albtraum endet nicht

Haitis Nationalgarde Zivilen Protesten wie 2019 wird mit staatlicher Gewalt begegnet (Foto: Matiado Vilme via Wiki Commons)

Es sind erschreckende Zahlen: Die UN-Sondermission in Haiti (BINUH) habe die Tötung von „mindestens 264 mutmaßlichen Bandenmitgliedern“ erfasst, die von „selbsternannten Bürgerwehrgruppen“ getötet worden seien, sagte die Sondergesandte in Haiti, María Isabel Salvador, am 6. Juli vor dem UN-Sicherheitsrat. Die haitianische Bevölkerung erlebe, dass sie „in einem Albtraum gefangen“ sei, sagte UN-Generalsekretär António Guterres, der am ersten Juli-Wochenende die haitianische Hauptstadt Port-au-Prince besucht hatte. In Haiti forderte Guterres angesichts eskalierender Kämpfe zwischen verfeindeten Gangs eine internationale Schutztruppe zur Unterstützung der Polizei in dem Karibikstaat. „Ich bin in Port-au-Prince, um meine uneingeschränkte Solidarität mit dem haitianischen Volk zum Ausdruck zu bringen und die internationale Gemeinschaft aufzufordern, Haiti weiterhin zur Seite zu stehen, auch mit einer robusten internationalen Truppe zur Unterstützung der haitianischen Nationalpolizei“, schrieb Guterres auf Twitter. „Dies ist nicht die Zeit, Haiti zu vergessen.“

Auf Besuchsreise in Berlin, Brüssel und Paris werben unterdessen Pierre Espérance und Rosy Auguste für eine zivile Lösung der haitianischen Krise. Die beiden aus Haiti stammenden Menschenrechtler wissen, wovon sie reden. Espérace ist Generaldirektor des Haitianischen Menschenrechtsnetzwerkes (RNDDH) und Auguste ist Programmdirektorin ebendieses Netzwerkes. Das Plädoyer für eine zivile Lösung kommt nicht von ungefähr, denn seit Monaten steht eine Militärintervention im Raum, für die auch UN-General­sekre­tär António Guterres durchaus zu haben ist. Die von den USA im vergangenen Oktober im UN-Sicherheitsrat eingebrachte Resolution zur Entsendung einer „Eingreiftruppe“ wurde zurückgewiesen, weil Russland und China sich dagegenstellten.

Die Banden können tun und lassen, was sie wollen

Auch Espérance und Auguste lassen bei ihrem Hintergrundgespräch Ende Juni in Berlin am Ernst der Lage keinen Zweifel: Bewaffnete Gruppen kontrollierten faktisch die gesamte Hauptstadt, sagt Espérance. „Sie können tun und lassen, was sie wollen.“ Das liegt auch daran, dass die Banden in Port-au-Prince eng mit der politischen Elite verbunden sind. Ein Insider, Mathias Pierre, einst Minister für Wahlen und innerparteiliche Beziehungen in Haiti, sagte der Agentur Bloomberg, dass Teile der Regierung, Teile der Opposition und Mitglieder des Privatsektors die Banden seit Jahren finanzieren und mit ihnen „in Komplizenschaft“ arbeiten würden. „Das ist es, was die Banden am Leben erhält“, erklärte er. Espérance und Auguste sehen das ähnlich und halten eine militärische Intervention für „rein kosmetisch“, wenn sie sich nur um ein Ende der Ganggewalt kümmere.

Espérance sieht eine Verschärfung der hai-tianischen Lage seit 2018. Im November jenes Jahres hatte der Oberste Rechnungshof Haitis festgestellt, dass 15 ehemalige Regierungsfunktionäre für soziale Zwecke eingeplante Gelder veruntreut hätten. Dabei handelt es sich um 3,8 Milliarden US-Dollar aus dem Sozialfonds von Petrocaribe. Bei diesem noch von Venezuelas verstorbenem Präsidenten Hugo Chávez initiierten Projekt lieferte Venezuela Öl zu Vorzugspreisen an bedürftige karibische Länder, um Spielraum für Sozialpolitik zu schaffen.

Die Veruntreuung fand zwischen 2008 und 2016 statt und soll vor allem unter Präsident Michel Martelly (2011 bis 2016) Höchststände erreicht haben. Der Oberste Gerichtshof ermittelte, dass auch Martellys Nachfolger und Parteifreund Jovenel Moïse selbst Geld veruntreut haben soll. Bis heute ist die Veruntreuung von Mitteln aus dem Petrocaribe-Sozialfonds nicht aufgeklärt, obwohl die Zivilgesellschaft dies vehement einfordert und unzählige Male deswegen auf die Straßen gegangen ist – von den internationalen Medien weitgehend ignoriert.

International Schlagzeilen machte hingegen der Mord an Präsident Jovenel Moïse am 7. Juli 2021. Er wurde in seinem eigenen Zuhause von kolumbianischen Söldnern ermordet, die sich als Mitarbeiter der US-Drogenbekämpfungsbehörde Dea ausgegeben hatten. Haiti ist ein wichtiges Transitland für Drogen. Die Verbindungen zwischen Exmilitärs, Politikern und den Drogenbossen sind bekanntermaßen eng; auch Moïse wurden immer wieder enge Verbindungen zu kriminellen Banden nachgesagt, belegt ist das freilich nicht.

In Haiti regiert seitdem Ariel Henry als Ministerpräsident, er wurde noch von Moïse kurz vor dessen Ermordung ernannt. Henry gilt aber selbst als ein möglicher Hintermann des Mordes. Besonders im Zwielicht steht der seitdem untergetauchte Joseph Félix Badio, der früher eine Antikorruptionseinheit im Justizministerium geleitet hatte. Von Badio, sagten die Söldner, sei der Befehl gekommen, alle im Haus umzubringen. Und laut RNDDH hat ausgerechnet Premier­minister Ariel Henry am Abend des Attentats sowohl mit Badio als auch mit dem Präsidenten telefoniert. Henry bestreitet das bis heute.

„Ariel Henry regiert wie ein Alleinherrscher“, kritisiert Espérance. Seine Regierung habe Haiti erst recht ins Chaos gestürzt. Espérance kann nicht nachvollziehen, dass die UN die Henry-Regierung stützt. Auch Guterres traf sich bei seinem Besuch Anfang Juli mit Premierminister Ariel Henry.

Die Bevölkerung in Haiti wehrt sich militant gegen Ganggewalt

Wie Espérance sieht auch Auguste das Vorgehen der UN mit großer Skepsis: Den Vereinten Nationen sei es in 13 Jahren der Stabili-sierungsmission „Minustah“ nicht gelungen, rechtsstaatliche Institutionen zu stärken, die Straflosigkeit und Korruption einschränken könnten. Eine erneute Intervention drohe diesen Fehler zu wiederholen. Ohne die politische Krise zu lösen, ohne die Korrup­tion und die Unsicherheit in den Griff zu bekommen, sei jede Intervention zum Scheitern verurteilt, ist Auguste überzeugt, zumal Haiti leidvolle Erfahrungen mit Militäreinsätzen gemacht habe: 1915 und 1994 intervenierten die USA sowie 2004 die UNO auf Betreiben der USA mit „Minustah“, die bis 2017 andauerte. Was die Interventionen eint: Sie haben weder Sicherheit noch Stabilität gebracht. Seit 2019 ist die zivile UN-Sondermission BINUH in Haiti aktiv, ohne erkennbare Wirkung.

Haitis Bevölkerung wehrt sich inzwischen militant gegen die Ganggewalt. Auguste verweist auf die neu entstandene Selbstjustiz- und Bürgerwehrbewegung Bwa Kale, was in etwa „geschältes Holz“ heißt und einen Aufruf zur Verbrecherjagd umschreibt. Sie lenkte kurz die Aufmerksamkeit der internationalen Medien auf Haiti: Am 24. April hatte die Polizei in der Hauptstadt Port-au-Prince 14 mutmaßliche Mitglieder der sogenannten Ti-Makak-Gang verhaftet. Passanten zerrten die Gangmitglieder aus dem Polizeiauto, verprügelten sie, wuchteten Reifen auf sie, kippten Benzin über sie – und verbrannten sie schließlich bei lebendigem Leib. Es war der Beginn der Bwa-Kale-Bewegung; seitdem kam es immer wieder zu ähnlichen Aktionen, bei denen Gangmitglieder verstümmelt oder ermordet wurden.
Ein Ergebnis dieser Selbstjustiz ist nach Angaben des haitianischen Zentrums für Menschenrechtsanalyse und -forschung CARDH ein drastischer Rückgang der Entführungen. Eine Lösung ist die Selbstjustiz freilich nicht, ein Ausdruck der Verzweiflung der Bevölkerung sehr wohl. „Es ist eine Gewaltspirale, die nicht hilfreich für die Gesellschaft ist“, sagt Auguste. Sowohl die Gang- als auch die Bwa-Kale-Mitglieder seien sehr jung. Als Menschenrechtsverteidiger würden sie an Bwa Kale appellieren, die Gangmitglieder nicht nach ein, zwei Fragen einfach zu töten.

Auguste sieht die Bürgerwehrbewegung als Reaktion auf fehlende funktionierende staatliche Institutionen: „Es gibt weder Gerechtigkeit noch Rechenschaftspflicht in Haiti.“ Im Prinzip sei die Polizei die einzige Kraft, auf die man setzen könne, um Sicherheit zu erreichen, sagt Auguste. Dafür müsse sich aber viel ändern. Bisher landete Ausrüstung für die Polizei oft bei den kriminellen Banden, die sich teils auch aus Polizisten rekrutierten. „Es bedarf einer funktionsfähigen Polizei. Sie muss entsprechend ausgerüstet werden, damit sie ihre Arbeit machen kann, und dann muss ihr Vertrauen entgegengebracht werden.“

Haitis Lage ist desaströs. Es gibt keine Müllabfuhr, nicht genügend Polizei und kaum eine öffentliche Gesundheitsversorgung. Laut dem letzten Bericht des Welternährungs-programms leidet fast die Hälfte der Bevölkerung an akutem Hunger – 4,9 Millionen Menschen – und seit 2016 hat sich die Zahl der Hungerleidenden verdreifacht. Um Haitis Entwicklung in eine positive Richtung zu lenken, bedarf es aus Sicht von Auguste vor allem der Rechenschaftspflicht und eines Endes der Korruption. In der Pflicht sieht sie da nicht zuletzt auch die sogenannte Core Group, in der unter anderem die Vereinten Nationen, die USA, Kanada, Frankreich und auch Deutschland vertreten sind. Die Core Group stützt die Regierung Henry, die kein Mandat vom Wähler hat. Das Parlament ist bereits seit dem 13. Januar 2020 nicht mehr funktionsfähig; Neuwahlen stehen seit 2018 aus. Auch die Amtszeit des ermordeten Präsidenten Moïse wäre im Februar 2022 abgelaufen, ohne einen absehbaren Termin für neue Präsidentschaftswahlen.

Die internationale Gemeinschaft ist Teil des Problems in Haiti

„Ich will nicht sagen, dass die internationale Gemeinschaft verantwortlich für die Probleme in Haiti ist“, sagt Espérance, „aber sie ist Teil des Problems, sie hat Geldverschwendung und Korruption in Haiti begünstigt.“ Espérance und Auguste wollen in Europa ihre Forderungen nach einem Ende der Straflosigkeit und nach einer Rechenschaftspflicht mit Nachdruck zur Sprache bringen. Bisher wurde die haitianische Zivilgesellschaft mit leeren Versprechungen abgespeist. In einem Land, wo so viele Menschen hungern, trägt das zur wachsenden Verzweiflung bei.

Mit dem Rücken zur Wand

„Frieden für Comalapa!“ Hier soll eine dritte Kaserne gebaut werden – Sicherheit wird sie kaum bringen (Foto: Gabriela Sanabria)

„Es gibt keine Aggressionen“, antwortet Ende Juni der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO) auf die Frage, wer hinter den jüngsten Attacken gegen die zapatistischen Gemeinden von Moisés y Gandhi im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas stehe. „Generell herrscht Frieden und Ruhe in Chiapas“, beteuert der Präsident. Hin und wieder gebe es Auseinandersetzungen, aber dafür sei die Nationalgarde vor Ort. Außerdem hätten Regierungsprogramme wie Sembrando Vida (dt.: Leben pflanzen) die Armut und Konflikte in der Region verringert.

„Ich weiß nicht von welchem Land AMLO spricht, aber Mexiko ist es nicht“, resümiert kopfschüttelnd Dora Roblero García, Direktorin des Menschenrechtszentrums Fray Bartolomé de Las Casas in Chiapas. Sämtliche Statistiken der mexikanischen Regierung über verschwunden gelassene und ermordete Menschen, sowie die Berichte der vielen Betroffenen bezeugen, dass Chiapas sowie ganz Mexiko aktuell eine neue Welle der Gewalt erlebt. In Mexiko gab es allein im Juni dieses Jahres 2.303 Morde, darunter elf Feminizide pro Tag. Täglich verschwinden 29 Menschen, insgesamt gelten 112.000 Menschen als vermisst. „Das kann auch an AMLO nicht vorbeigegangen sein“, schätzt Roblero die Situation ein. Doch er müsse das sagen, denn die Vorwahlkampagnen für 2024 haben bereits begonnen.

Die Konflikte in Chiapas zeichnen sich durch unterschiedliche Ursachen und Akteure aus. Dort wo sich verschiedene überlagern, ist eine Lösung in weiter Ferne. Die schwersten Auseinandersetzungen zeigen sich an den Orten der seit 2021 öffentlich ausgetragenen Territorialkämpfe von Ablegern zweier mächtiger Kartelle aus den nördlicheren Bundesstaaten Sinaloa und Jalisco. Dabei dreht es sich nicht nur um Drogenschmuggel, wie Fernsehserien suggerieren, sondern gehandelt wird, wofür es einen Markt gibt: Holz, Öl, Edelmetalle, Waffen, Organe, Frauen oder Migrant*innen. Besonders betroffen ist die Grenzregion um Frontera Comalapa, Chicomuselo und La Trinitaria. Hier finden sich ganze Gemeinden und Landstriche, die von den Kartellen dominiert werden. Ein normales Leben, das in dieser heißen Region normalerweise auf der Straße stattfindet, ist hier nicht mehr möglich. Viele Geschäfte schließen, weil sie zum Beispiel kaum an Ware kommen oder das Schutzgeld hoch ist. Andere Läden öffnen aus Sicherheitsgründen nicht mehr regelmäßig. „Da ist ständig die Unsicherheit, dass sie wiederkommen und es erneut Schießereien gibt“, berichtet S., eine Umweltaktivistin aus der Region, die selbst in einem deutschen Medium nicht ihren Namen nennen möchte.

Indessen plant die Regierung eine weitere Militärbasis bei Comalapa. S. fragt sich, „wofür die ganzen Kasernen? Wir haben hier schon drei. Sicherheit haben sie bisher keine gebracht.“ Mit dem Militär kommt oft neue Gewalt in Form von Drogenkonsum und Zwangsprostitution in die Region. „Mein Sohn ist 18, ich habe große Angst, wenn er unterwegs ist. Da ist dieses Gerücht, dass die Kartelle junge Männer zwangsrekrutieren.“ Auch viele Frauen verschwinden. Einige kehren nach einer Entführung traumatisiert zurück, doch es ist ihnen unter Androhung ihres oder des Todes ihrer Familien untersagt zu erzählen, was ihnen angetan wurde. Man spricht von 3.000 geflüchteten Familien, genaue Zahlen gibt es nicht. Dora Roblero beschreibt, warum die Arbeit in diesen zonas de silencio, Regionen des Schweigens, eine ständige Gratwanderung ist: „Als Menschenrechtszentrum dokumentieren wir eigentlich vor Ort die Taten und deren physische und psychische Auswirkungen. Abgesehen davon, dass wir uns selbst in Gefahr bringen und nur unter erhöhtem Sicherheits- und damit Zeitaufwand in die Konfliktgebiete fahren können, gibt es quasi nichts zu dokumentieren. Denn wo die Angst regiert, erzählen die Menschen nicht. Wir oder auch Journalist*innen könnten diese Zeugenberichte auch nicht veröffentlichen, ohne die Menschen erneut in Gefahr zu bringen.“ Selbst juristisches Vorgehen ist problematisch, weil Namen und Adressen in die falschen Hände geraten können.

„Zivilgesellschaftliche Organisation oder Aktivismus sind in diesen Regionen nur noch schwer möglich“, berichtet S. Gemeinsam mit organisierten Gemeinden konnten sie nach vielen Jahren erkämpfen, dass die größte Mine der Region geschlossen wurde und sich der Landkreis Chicomuselo „frei von Minen“ erklärte. Doch solche Erfolge sind dem organisierten Verbrechen gleich. So wurde im Landkreis eine neue Mine zum Abbau von Baryt erschlossen, das unter anderem in der Automobilindustrie, Zementproduktion und für Farbstoffe benötigt wird. Der zuständige Bürgermeister wurde bestochen und die widerständige Dorfversammlung mit Waffen bedroht. Die Menschen riefen die staatliche Umweltschutzbehörde zur Hilfe, doch deren Beamt*innen wurden von bewaffneten Männern des organisierten Verbrechens unter Morddrohungen vertrieben. Während die Lokalpresse regelmäßig berichtet, dass Militär und Nationalgarde von den Kartellen vertrieben wurden, oder für eine der beiden Seiten arbeiteten, ist laut offizieller Erklärung alles unter Kontrolle.

Die Präsenz der großen Kartelle führt zu einer Verschärfung der Gewalt auf vielen Ebenen. Kleinere lokale Gruppen des organisierten Verbrechens, die seit jeher untereinander im Wettstreit um lokale Dominanz stehen, gehen Allianzen mit den großen Kartellen ein. So entwickeln sich lokale Konflikte, wie beispielsweise über die Kontrolle der städtischen Märkte in San Cristóbal de Las Casas. Hier entstehen Orte des Terrors, der die Stadt manchmal für Stunden den Atem anhalten lässt. Bilder wie der Einsatz von Maschinengewehren, Präsenz von sicarios, Auftragskillern in voller Montur an verschiedenen Punkten der Stadt, und Machtdemonstrationen mit Fahrzeugkonvois voller vermummter und bewaffneter junger Männer durch die Innenstadt, sind neu für Chiapas. Mexiko kennt sie jedoch bereits aus den Bundesstaaten des Nordens.

Diese für Chiapas neue violencia generalizada, verallgemeinerte Gewalt, beeinflusst den Alltag und das Sicherheitsempfinden der gesamten Bevölkerung und trifft in diesem Bundesstaat auf diverse historische Konfliktlinien. Allen voran der bis heute ungelöste interne Konflikt aus 1994 durch die vom Staat ins Leben gerufenen Aufstandsbekämpfungsstrategien gegen die zapatistische Bewegung und indigene Gemeinden insgesamt. In den 1990er Jahren kennzeichnete diese Strategie die Gründung von paramilitärischen Gruppen. Vom mexikanischen Militär ausgebildet, bewaffnet und unter dessen Kommando terrorisierten sie ganze Landstriche, ließen Menschen verschwinden. Beispielhaft steht dafür der aktuell vor dem Interamerikanischen Gerichtshof verhandelte Fall des indigenen Aktivisten und Zapatisten Antonio González Méndez, der 1999 gewaltsam verschwand, aber auch verübte Massaker. Bis heute herrscht Strafffreiheit in fast all diesen Fällen.

Auch bei den aktuellen Konflikten wie gegen die zapatistischen Unterstützungsbasen in den Gemeinden von Moisés y Gandhi ist immer wieder von Paramilitärs die Rede, deren Gewalt immer wieder neue Formen annimmt. Seit den 2000er Jahren setzten die Regierungen verstärkt darauf, die Menschen durch finanzielle oder materielle Unterstützungsprogramme an sich zu binden – und somit von den sozialen Bewegungen wie den Zapatistas oder anderen zu fern zu halten. Diese Praxis führte zu einer Spaltung und Zerrüttung sozialer Gefüge in vielen Gemeinden.

AMLOs neues Regierungsprogramm Sembrando Vida treibt diese Problematik auf einen neuen Höhepunkt. Die Zuschüsse bemessen sich an der Fläche von Ackerland, die eine Familie oder Organisation besitzen. Dafür zahlt die Regierung umgerechnet monatlich einen Betrag, der dem städtischen Mindestlohn entspricht. Auf dem Land ist das sehr viel Geld, mehr Land zu haben lohnt sich also. Konflikte um Land sind damit programmiert. Besonders in Chiapas, wo seit 1994 über 100.000 Hektar Land im Zuge des zapatistischen Aufstandes „rückerobert“ wurden. Obwohl diese Ländereien weitgehend staatlich anerkannt sind und die ehemaligen Großgrundbesitzer großzügig vom mexikanischen Staat entschädigt wurden, ist dieses Land dank Sembrando Vida erneut Anlass für Auseinandersetzungen. An zahlreichen Orten besetzen regierungsnahe Gruppen zapatistisches Land, zerstören die dortige Infrastruktur, brechen mit der ökologischen Nutzung, fällen Bäume und versuchen die Bewohner*innen mal mit purer Gewalt, mal durch langwieriges Zermürben, von ihrem Zuhause zu vertreiben. Leisten die Familien Widerstand, besteht die Gefahr, dass jene regierungsnahen Gruppen für Waffen oder Unterstützung Bündnisse mit dem organisierten Verbrechen eingehen. Das verschärft die Sicherheitslage extrem.

In Moisés y Gandhi erscheint der Konflikt um Land ähnlich. Hier hat die EZLN es mit einer Bäuer*innenorganisation, der ORCAO (Organización Regional de Cafeticultores de Ocosingo), zu tun, welche 1994 an deren Seite kämpfte. Durch Regierungsprogramme korrumpiert haben sie sich von der EZLN entfernt und sich zu einer Art paramilitärischen Gruppe entwickelt, die jedoch ohne Unterstützung des mexikanischen Militärs auskommt – und dennoch zum Vorteil der Regierung agiert. Nicht ohne Grund stellen sie den Vizepräsidenten des Landkreises und werden für ihre nachgewiesenen bewaffneten Attacken gegen Wohnhäuser der Zapatistas, Geiselnahme von Mitgliedern der autonomen zapatistischen Räte, Folter und Mordversuche nicht zur Rechenschaft gezogen. Im Gegenteil: AMLO verschleiert die Angriffe als interne Konflikte der EZLN. Das ist brandgefährlich und kann als Freifahrtschein für die ORCAO gelesen werden.

Bei alledem darf man nicht vergessen, dass neben den schwer bewaffneten Akteuren wie dem mexikanischen Militär und dem organisierten Verbrechen auch die EZLN eine bewaffnete Organisation ist. Sollte diese sich nach 30 Jahren Waffenruhe dazu entscheiden, die Verteidigung ihrer Gemeinden wieder selbst in die Hand zu nehmen, ist eine Eskalation wahrscheinlich. So stehen alle Akteure auf verschiedene Weise mit dem Rücken zu Wand.

Dora Roblero wagt keine Vorhersage für die Zukunft: „Irgendetwas wird passieren. Was? Wir werden sehen. Währenddessen sind wir weiterhin präsent und machen unsere Arbeit. Was bleibt uns sonst?“

„Wir fordern, in Würde leben zu dürfen“

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Was sind eurer Meinung nach die akutesten Probleme der Legalisierung des Waffentragens in Ecuador?

Das Dekret 707 wird unmittelbar zu einer Verschärfung der Gewalt führen und macht Gruppen vulnerabler, die bereits jetzt regelmäßig Gewalttaten ausgesetzt sind. Gleichzeitig verleiht die Legalisierung dem Patriarchat mehr Macht. Das Gesetz wirkt sich negativ auf die Sicherheit von trans Menschen, Frauen, Kindern und Jugendlichen aus, aber auch auf Menschen mit eingeschränkter Mobilität, auf rassifizierte und verarmte Menschen. Bevölkerungsgruppen, die ohnehin wenig Schutz in unserer Gesellschaft erfahren. Hier in Ecuador, wie auch im Rest Lateinamerikas und vielen anderen Regionen der Welt, gelten wir weiterhin als Menschen dritter Klasse und die Legalisierung des Tragens von Waffen bedeutet in diesem Kontext die Legalisierung unseres Todes.

Aber wer wird eurer Erfahrung nach vom Erlass profitieren? Welche Art von Sicherheit wird hierdurch priorisiert?

Das, was der Präsident mit dem Erlass durchsetzen möchte, ist nichts Neues. Für diejenigen, die schon immer Zugang zu Waffen hatten, wird sich nichts ändern. Das sind die Gruppen unserer Gesellschaft, die zwar noch keine eigene Waffe mit sich tragen, aber die die nötigen Mittel besitzen, um einen eigenen privaten Sicherheitsdienst oder Wächter einzustellen. Gleichzeitig werden diejenigen von uns, die diesen Luxus nie hatten, weiterhin schutzlos bleiben. Denn wir sprechen hier von einem Land, in dem wir nicht mal genug Geld haben, um unsere medizinische Grundversorgung zu sichern. Der Prozess für eine Waffengenehmigung kostet viel Geld. Wie sollen wir ein psychologisches Attest und eine Bescheinigung des Ministeriums bezahlen, die für einen Waffenschein vorausgesetzt werden? Also wem dient das Gesetz wirklich?

Und warum bedeutet dieser erleichterte Zugang eine Gefahr für Menschen aus marginalisierten Bevölkerungsgruppen?

Die Personen, die die Anforderungen für eine Genehmigung erfüllen können, sind Menschen, die einen höheren finanziellen Status genießen. Und unserer Erfahrungen nach überschneidet sich die Gruppe der „wohlhabenden“ Bürger ironischerweise mit den selbsternannten „Lebensschützer*innen“. Sie sind diejenigen, die ohne lange zu zögern auf eine trans Person, eine Sexarbeiterin oder einen obdachlosen Menschen schießen würden. Deshalb hat die erlassene Verordnung für uns auch viel mit sozialer Säuberung zu tun. Und das ist etwas, was wir vor allem in Bezug auf die Situation von trans Sexarbeiter*innen beobachtet haben.

Welche Rolle spielt die Zuspitzung dieser Gewalt seitens krimineller Banden?

Bandenkriminalität ist ein Phänomen, das sich seit der Pandemie in Ecuador eingebürgert hat. In dieser Phase entstanden Erpressungsmafias, die durch Gewaltanwendung und Drohungen trans und cis Frauen, die Sexarbeit nachgehen, für den Verkauf von Drogen rekrutieren. Seitdem breitet sich Gewalt in Bezug auf den Drogenhandel weiter aus. Und die Situation, die Jéssica Martínez durchlebte, ist ein klares Beispiel für die Normalisierung des Narco-Staates in Ecuador. Der Anstieg dieser Form von Kriminalität in Ecuador steht in direktem Zusammenhang mit den enormen sozialen Ungleichheiten und dem strukturellen Rassismus, die im Land herrschen. Ein Beispiel dafür sind die Lebensbedingungen von Millionen verarmten, von Diskriminierung betroffenen Jugendlichen die sich gezwungen sehen, unmenschliche Arbeiten wie Auftragsmorde auszuführen. So wachsen die Ausgrenzung und Diskriminierung weiter. Diese Lebenssituationen werden durch den fehlenden Zugang zu Bildung, Kultur, Kunst, Gesundheit und Beschäftigung befördert. Und es war nicht nur Jéssica, die letztes Jahr ermordet wurde. Im September letzten Jahres wurde auch auf uns ein Attentat verübt. Ihr Mord war eines von vielen Hassverbrechen, die unsere Schwestern und Kampfgenoss*innen in den letzten zehn Jahren erlitten haben. Deshalb klagen wir: WIR WERDEN ERMORDERT!

Könnt ihr uns mehr über den Angriff erzählen, den ihr letztes Jahr erlebt habt?

Was wir letztes Jahr erlebt haben, war ein Ausdruck von Transfeindlichkeit. Die Situation fing zwar wie ein gewöhnlicher Raubüberfall an, aber es änderte sich als unsere Angreifer bemerkten, dass wir trans Menschen und Travesti sind. Danach begannen sie mit hasserfüllten Aktionen, Beleidigungen, Schlägen und schließlich kam der Schuss. Dieser Vorfall zeigt, dass eine Waffe dem Hass einen tödlichen Ausdruck verleiht.

Was uns sehr verärgert hat, war, dass wir nicht wussten, warum wir diese Situation durchmachen mussten. Wir wussten nicht, ob es eine Folge der Kriminalität war, die durch die neoliberale Regierung verursacht wurde. Oder ob es sich um eine Form der politischen Verfolgung von Anführer*innen sozialer Bewegungen handelte. Und das sind wir. Wir haben unsere Stimme erhoben als Jéssica ermordet wurde und zwei Wochen später wurden wir angegriffen.

Welche Folgen hat ein freier Zugang zu Waffen und die damit einhergehende Eskalation der Gewalt für die prekäre Sicherheitslage, in der sich schon jetzt soziale, ökologische und politische Aktivist*innen, wie ihr, befinden?

Für uns ist das neue Gesetz eine Strategie, um bestimmte politische Ziele durch Gewalt zu erreichen. Alles was in Ecuador passiert, deutet darauf hin: Die Massaker in den Gefängnissen, die Polizeigewalt während des Streiks von 2022, das Verschwinden von sozialen Anführerinnen, insgesamt die Kriminalisierung des sozialen Kampfes. Das zeigen die Ermordung von Jéssica Martínez und auch unser Fall. Wir haben die Gemeinschaftsutopie der Befreiung und Emanzipation PachaQueer im Mai 2013 in Quito gegründet. Hier werden Räume des Dialogs geschaffen, um Paradigmen über Geschlecht, Identität und verschiedene Sexualitäten zu verändern. Wir haben es direkt in unserem eigenen Leben, an unserem eigenen Körper erfahren. Wir werden zum Schweigen gezwungen. Das erlebte auch das Kollektiv, dem Jéssica angehörte. Nach dem Tod beschlossen die Sexarbeiter*innen, ihre Aktivitäten einzustellen und den Verein zu schließen.

Weil das Kollektiv sich durch die Vorfälle bedroht fühlte?

Natürlich war es wegen der Einschüchterung, der Unterdrückung, der Erpressung und der Angstkultur, die vom Staat legitimiert wird.

Welche Rolle spielt der Staat bei der Unterdrückung von Aktivist*innen?

Das ist etwas, was wir natürlich nicht außer Acht lassen können. Wir sind der Meinung, dass die Regierung durch die Eskalation der Gewalt gegen Aktivist*innen ein Beispiel setzen möchte. Momentan werden viele Menschen wegen Terrorismus oder wegen dem, was der Staat als Terrorismus definiert, verfolgt. Dazu gehören kommunistische und sozialistische Aktivist*innen und Freidenker. Sie werden mit absurden Strafen von bis zu 13 Jahren bestraft, nur weil sie sich für den sozialen Kampf einsetzen.

Die Kriminalisierung des sozialen Kampfes durch den Staat macht also Aktivist*innen in verschiedenen Bereichen anfälliger für Gewalthandlungen ihrer Gegner*innen?

Genau, deshalb können wir die zahlreichen Morde an Menschen, die sich für Freiheit, Gerechtigkeit und Würde einsetzen, uns nicht zu eigen machen. In vielen dieser politischen Räume gibt es Morde. Und nicht alle kommen ans Licht. Ganz pragmatisch betrachtet: diejenigen, die nicht glauben, dass Waffen uns vor anderen schützen können, haben nie eine Waffe mit sich getragen und werden ihre Meinung aufgrund dieses Gesetzes nicht ändern. Aber es gibt auch Menschen, die davon profitieren werden, weil sie es gewohnt sind andere mit Gewalt zum Schweigen zu bringen. Was diese Politik bewirkt, ist eine weitere Polarisierung der Gesellschaft. Das Ziel ist es, die öffentliche Aufmerksamkeit von den sozialen Problemen abzulenken, damit die Straflosigkeit, die Ungerechtigkeit, die Ausbeutung und die Unterdrückung, die wir erleben, weiterbestehen können.

Wie lauten eure Forderungen angesichts der mangelnden Sicherheit und der Umsetzung eines Gesetzes, das den Bedürfnissen der gefährdeten Bevölkerungsgruppen nicht gerecht wird?

Was wir fordern, ist die Aufhebung des Dekrets 707 und die Absetzung des aktuellen Präsidenten. Zurzeit gibt es viel Wut, viel Empörung und deshalb fordern wir keine Friedenskultur. Die Kultur des Friedens hat oft einen sehr hohen Preis für ausgeschlossene Bevölkerungsgruppen. Wir können nicht in Frieden leben, wenn wir mit weniger als dem Mindestlohn unseren Lebensunterhalt bestreiten müssen. Wir können nicht in Frieden leben, wenn wir keinen Zugang zur einer umfassenden Gesundheitsversorgung oder diskriminierungsfreier Bildung haben. Wenn es keine Mindestanzahl an Arbeitsplätzen für trans Menschen gibt. Wie können wir in Frieden leben, wenn Menschen weiterhin der Zugang zu Wohnraum verwehrt wird oder wenn unsere Geschlechtsidentität nicht anerkannt wird? Wir fordern vor allem, in Würde leben zu können. Und in diesem Land werden wir mit jedem Tag der vergeht, mit jedem Mord und mit jeder verschwundenen Person unserer Würde beraubt. Deshalb fordern wir die notwendigen Maßnahmen und Mittel, um sie wiederzuerlangen.

„Der größte Erfolg wäre, sie zu finden“

Was ist der Hintergrund Ihres Besuches in Deutschland, bei dem Sie unter anderem mit verschiedenen politischen Vertreter*innen sprechen werden?

Seit einiger Zeit drängt die Stiftung darauf, eine Sonderkommission einzusetzen. Der Grund ist: Wir haben gesehen, dass in allen Fällen, die wir vertreten, eine historische Straffreiheit besteht. In Mexiko liegt diese Straffreiheit bei mehr als 95 Prozent. Gerechtigkeit zu erlangen, ist für jemanden aus einer Familie mit Migrationshintergrund sehr schwierig. Daher ist es äußerst wichtig, diese Fälle zu untersuchen, zu erfahren, was passiert ist und den Opfern Antworten zu geben. Das soll die Sonderkommission unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen gemeinsam mit der mexikanischen Generalstaatsanwaltschaft leisten. Diese technische Unterstützung hat die mexikanische Generalstaatsanwaltschaft schon in einigen Fällen akzeptiert, in denen es um verschwundene Migrant*innen ging – auch im Fall der fünf Massaker, die wir vertreten.

Dass ich Deutschland besuche, liegt an der Rolle, die das Land für Mexiko spielt: Deutschland hat Mexiko in verschiedenen Bereichen technische Unterstützung angeboten. Der Hintergrund: Von deutscher Regierungsseite aus wird ein besonderer forensischer Mechanismus vorangetrieben. Der ermöglicht, die mehr als 56.000 nicht identifizierten Überreste von Menschen zu identifizieren, die wir in Mexiko haben.

Was erhoffen Sie sich konkret von Deutschland?

Da Deutschland uns diese Unterstützung angeboten hat, wäre es sehr wichtig, dass sie diesen Vorschlag der Sonderkommission politisch offen unterstützen. Denn dieser Vorstoß ist für Mexiko notwendig. Und wir wissen auch, dass mehrere Regionen in Lateinamerika mit ähnlich schweren Problemen kämpfen. Wir müssen anfangen, Gerechtigkeit über Ländergrenzen hinaus zu denken. Das wäre eine andere Gerechtigkeit als die, die Menschen erleben, die sich hier niederlassen.

Für uns in Mexiko ist dieses Thema grundlegend. Aber es lässt sich auch auf andere Regionen der Welt übertragen. Wir wissen zum Beispiel, was im Mittelmeer mit Migrant*innen passiert, die sterben und nicht identifiziert werden. Was wir wollen ist: Mechanismen vorantreiben, die uns helfen zu verstehen, wie die transnationale Kriminalität – und damit auch der Menschenhandel – funktioniert. Zudem wollen wir herausfinden, wie die Staaten funktionieren, die oft mit diesen kriminellen Netzwerken zusammenarbeiten.

Wie steht es unter der Regierung von Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO) aktuell um die Sicherheitslage von Menschen und Organisationen, die gegen dieses Verschwindenlassen in Mexiko kämpfen?

Die Sicherheitslage hat sich nicht verbessert unter der Regierung von Andrés Manuel López Obrador. Seine Regierung hat entschieden, eine Strategie fortzusetzen, die Organisationen der Zivilgesellschaft als gescheitert ansehen: die Armee gegen die organisierte Kriminalität auf die Straße zu schicken. Es gibt keinen historischen Beweis dafür, dass das in Mexiko jemals Erfolg gehabt hätte. AMLO setzt auf Militarisierung, statt eine richtige zivile Polizei aufzubauen, die auf dieses Problem reagieren kann. Zudem wird die Generalstaatsanwaltschaft völlig vergessen. Zusammengefasst: Weder die Gewalt ist zurückgegangen, noch haben die Fälle von Straffreiheit abgenommen.

Anzeige bei der Staatsanwaltschaft zu erstatten, ist für Familien nach wie vor sehr schwierig. Sie werden dort auch schlecht behandelt. Die Staatsanwaltschaften sind zu einem Ort von Korruption und organisiertem Verbrechen geworden. Das wirkt sich auf die Gesellschaft aus. In der bisherigen Amtszeit der jetzigen Regierung sind über 30.000 Menschen verschwunden. Wenn die Ursachen der Gewalt nicht bekämpft werden, wenn die Korruption in den Institutionen nicht bekämpft wird, wenn die Rechtsprechung sich nicht verbessert und wenn es keine Zivilpolizei gibt, dann werden wir in Mexiko weiterhin Gewalt erleben.

In den Medien liest man viel darüber, dass Aktivist*Innen und Suchende bedroht, verfolgt und getötet werden und verschwinden. Hatte Ihre Organisation schon mit solchen Aggressionen zu tun? Warum ist es für Angehörige so gefährlich, in Mexiko nach verschwundenen Familienmitgliedern zu suchen?

Ja, wir begleiten suchende Familien, die in sehr gefährlichen Gebieten leben oder dorthin gehen, wo es unsicher ist oder wo organisierte Verbrechen passieren, etwa in Guanajuato. Es ist unangenehm, wenn organisiertes Verbrechen involviert ist. Aber es ist auch unangenehm, wenn der Staat involviert ist. Die Suchenden haben Angst und gehen mit der Suche ein Risiko ein. Der größte Teil der Verschwundenen sind Männer. Doch es sind Mütter, Töchter und Schwestern, die nach ihnen suchen und sich deshalb in solche Gebiete begeben. Die ganze Thematik der Gerechtigkeit und des Suchens prägt Frauen. Nicht nur in Mexiko ist das so, sondern auch in Mittelamerika.

Haben auch Sie persönlich Schwierigkeiten?

Gegen mich und zwei weitere Frauen ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft seit 2016 – wegen organisierter Kriminalität und Entführung. Mit mir beschuldigt werden die Journalistin Marcela Turati und Mercedes Doretti, Mitglied des argentinischen Teams für forensische Anthropologie. Die Generalanwaltschaft leitete diese illegale Untersuchung gegen uns ein und nutzte dazu das härteste Gesetz Mexikos: das Gesetz zur organisierten Kriminalität. Es ermöglichte ihnen, für mindestens anderthalb Jahre auf unsere Telefondaten zuzugreifen. Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen. Wir haben den Fall bei der Abteilung für interne Angelegenheiten der Generalstaatsanwaltschaft angezeigt und bei der Nationalen Menschenrechtskommission Beschwerde eingelegt. Es ist ein schwieriger Weg für uns. Das ist es für jedes Opfer, das in Mexiko vor Gericht steht.

Welchen Wert hat die Arbeit anderer ziviler Organisationen, Journalist*innen und Akademiker*innen, die bei Untersuchungen zu Verschwundenen ebenfalls eine Rolle spielen?

Glücklicherweise haben auch wissenschaftliche Einrichtungen begonnen, sich mit diesem Thema zu befassen. In einem Land, in dem mehr als 100.000 Menschen verschwunden sind, sollte die gesamte Gesellschaft einbezogen werden. Die Einrichtungen begleiten Ermittlungen gegen kriminelle Netzwerke. Sie helfen uns beim Dokumentieren und auch dabei, Statistiken zu verstehen und Berichte zu erstellen. Aber wir würden uns wünschen, dass sie noch stärker einbezogen werden. Es gibt noch viel zu tun. Es geht darum, die mexikanische Gesellschaft weiter zu sensibilisieren. Darum, dass wir solidarisch sind – auch dann, wenn wir selbst noch nicht betroffen sind. Denn andere Menschen sind betroffen.

Der Journalismus hat verbreitet, was passiert. Das war ausschlaggebend. Journalist*innen haben mit ihren Berichten die fehlenden Informationen und die fehlenden Untersuchungen der Regierung etwas kompensiert. Sie geben den Opfern eine Stimme. Das ist sehr wichtig. Zudem versuchen sie zu erklären, was genau passiert. Sie haben es geschafft, dieses Problem sehr menschlich zu betrachten. Etwa, indem sie die Geschichten von Müttern und Familien er- zählen. Oder indem sie von den Hindernissen berichten, die Familien bei der Suche nach den Verschwundenen überwinden müssen. Der Journalismus ist eine der mutigsten Stimmen, die wir in Mexiko haben.

Wie messen Sie den Erfolg Ihrer Arbeit in diesem schwierigen Umfeld?

Die Verschwundenen zu finden, wäre der größte Erfolg. Lebend. Oder, falls nicht, „zumindest ihre Überreste“, wie die Familien es sagen. Ein Erfolg wäre auch, wenn Menschen verurteilt würden für das, was in Mexiko geschehen ist. Wir messen den Erfolg vor allem an der Stärke der Familien. In dem täglichen Kampf, den sie austragen, obwohl sie so viele wirtschaftliche und andere Schwierigkeiten haben. Sie treten vereint auf: um die öffentliche Ordnung des Landes zu verändern, um die Verschwundenen zu finden, um neue Strategien für die Suche und die Gerechtigkeit zu entwickeln. Manche Situationen, die anfangs schmerzhaft sind, enden in gewisser Weise als Erfolg. Wenn es uns gelingt, einige Überreste zu identifizieren, macht uns das traurig, aber es macht uns auch glücklich. Denn es ist eine Antwort, zumindest für diese eine Familie. Sie kann dann mit diesem Kapitel abschließen, mit dieser offe- nen Folter. 2013 gelang es uns, die Generalstaatsanwaltschaft dazu zu bringen, eine Vereinbarung zu unterzeichnen, um die Überreste von drei Massakern an Migrant*innen zu identifizieren.

Wie ist Ihnen das gelungen?

Das schafften wir mit Hilfe des argentinischen Teams für forensische Anthropologie, elf Organisationen aus der Region und Familienkomitees. Das war für uns ein Erfolg. Denn damals war Mexiko noch dabei, sein gesamtes forensisches System umzustrukturieren. Es ist uns auch gelungen, die Regierung dazu zu bewegen, mexikanische Botschaften und Konsulate für Betroffene zu öffnen. Dort können Familien nun die Suche nach ihren Angehörigen beantragen und Anzeigen erstatten. Das ist wichtig. Denn Mexiko muss sich an die Opfer wenden. Die Opfer sollten nicht zusehen müssen, wie sie hierherkommen, um Anzeige zu erstatten. Letztes Jahr ist es uns gelungen, einen nationalen Suchmechanismus einzurichten. Er kann alle Informationen über vermisste Migrant*Innen aus Zentralamerika mit Informationen aus den Vereinigten Staaten und Mexiko zusammenführen. Damit versuchen wir dann, Suchmuster auf regionaler Ebene zu erkennen. Das machen wir gemeinsam mit der Nationalen Suchkommission, einem Runden Tisch für Migrant*innen.

Frau Delgadillo, warum ist es so wichtig, Informationen über diesen Kampf zu verbreiten, um die internationale Solidarität zu stärken?

Eine erste Botschaft ist: Menschen verschwinden zu lassen ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit – auch dann, wenn es nicht in unserer Nähe passiert. Dieses Thema betrifft uns alle, denn seine Auswirkungen sind äußerst schwerwiegend. Deshalb ist Solidarität immer notwendig. Sie ist vor allem für die Familien notwendig, aber auch für alle Journalist*innen und Verteidiger*innen, die in diesem Bereich arbeiten. Dass in der Berichterstattung auch Familien zu Wort kommen, ist immer wichtig. Denn sie sind diejenigen, die mit allen möglichen Hindernissen konfrontiert sind. Für uns sind sie die Hauptakteur*innen. Diejenigen, die uns Wege öffnen: bei der Suche, der Gerechtigkeit und der Wiedergutmachung in unserem Land.

„DEN ORT WIE EINE FLUSSMÜNDUNG GESTALTEN“

Im März findet zum sechsten Mal die „Fiesta de la lectura y de la escritura del Chocó“ (Fest des Lesens und des Schreibens des Chocó, FLECHO) statt. Worum geht es da?

Wir haben FLECHO 2018 ins Leben gerufen, weil wir eine Buchveranstaltung in Quibdó, der Hauptstadt des Chocó, haben wollten, die für alle offen ist. So etwas gab es vorher nicht. Wir wollten, dass der Chocó als Ort der Begegnung, des Wortes, der Kunst und der Kultur positiv wahrgenommen wird. Es geht dabei um das Recht auf Lesen. Auf dem Festival soll das Leben gefeiert werden, gemeinsam Gesellschaft geknüpft werden. Dieses Jahr werden wir uns mit Migration beschäftigen, einem Thema, das viel mit uns zu tun hat: mit den freiwilligen und unfreiwilligen Migrationsbewegungen, die wir erlebt haben, aber auch mit den biologischen Migrationen der Artenvielfalt, die uns umgibt und durchzieht.

In deinem Buch Aguas de Estuario (Mündungsgewässer), das 2020 erschienen ist, identifizierst du dich stark mit dem Pazifik. Du benutzt das Bild des Salzwassers, das gegen das Süßwasser drückt, um eine Art hybriden Raum zu schaffen. Wenn du der Pazifik bist, was sind dann diese Flüsse?

Davon gibt es sehr viele. Es gibt zum Beispiel einen sehr starken Fluss, der mit meiner Ausgrenzung und der kollektiven Ausgrenzung zu tun hat. Ich spreche kein Englisch. Und ich weiß, dass das daran liegt, dass ich als Afrofrau aus dem Chocó nie eine Schule besuchen konnte, in der ich Zugang zu einer guten Ausbildung gehabt hätte. Aber es gibt auch den Pazifik: Die Tatsache, dass mein Mann damit einverstanden ist, dass ich für ein halbes Jahr weggehe, um Englisch zu lernen, weil wir glauben, dass das für meine Arbeit als Schriftstellerin und Kulturmanagerin wichtig ist. Das ist der Pazifik, der gegen die Ausgrenzung anrollt. Ein anderes Beispiel ist unsere Arbeit mit MOTETE. Wir arbeiten mit Literatur, obwohl die Stereotypen uns auf die Arbeit mit Tanz und Musik reduzieren – auf die Körperlichkeit und die Mündlichkeit. Wenn man sich entscheidet, eine Kultur zu fördern, die normalerweise nicht mit der Afrobevölkerung in Verbindung gebracht wird, dann ist das der Pazifik, der gegen einen anderen Fluss ankämpft.

Was passiert, wenn der Pazifik auf diese Flüsse der Ausgrenzung trifft?

Wir werden von vielen Dingen erdrückt. Deshalb müssen wir versuchen, die Flüsse, die immer in diese Richtung geflossen sind, zurückzudrängen. Das bedeutet, dass wir diesen Ort wie eine Flussmündung gestalten: manchmal dunkel, manchmal transparent, manchmal schlammig, aber immer voller Leben. Hier wird viel Leben geboren. So wird dieser Ort, der so unbestimmt, so ungewiss, so gefährlich ist – denn er ist gefährlich und hat mit Strömungen zu kämpfen –, dieser Ort, von dem man nicht weiß, ob er süß oder salzig ist, zu einem fruchtbaren Ort.

Welche Autor*innen gibt es noch im Chocó, der für Literatur ja gar nicht bekannt ist?

Derzeit wird eine Bibliothek der kolumbianischen Literatur von Frauen erstellt, das ist sehr wichtig. Da wurden unter anderem Teresa Martínez de Varela mit Mi Cristo negro und meine Freundin Yihan Rentería Salazar aufgenommen. Sie erzählen von der Region Chocó aus. Ihre Stimmen sollten bekannter werden. Auch die Erzählungen von Carlos Arturo Truque, die in der Afrokolumbianischen Bibliothek erschienen, sind meiner Meinung nach nicht bekannt genug. Es gibt einen Roman mit dem Titel La hija del aguijón, geschrieben von Eyda María Caicedo, die jung verstarb. Es gibt noch andere Leute im Chocó, die im Selbstverlag publiziert haben. Ich schätze es sehr, dass César Rivas Lara oder Ana Gilba Ayala niemanden um Erlaubnis fragen, bevor sie veröffentlichen.

Woran liegt es, dass Literatur aus dem Chocó weniger bekannt ist?

Der kolumbianische Literaturbetrieb ist sehr geschlossen. Wir haben im Chocó mit großen Nachteilen zu kämpfen, zum Beispiel gibt es kein Literaturprogramm, es gibt keine Kunstfakultät, und das hat direkte Auswirkungen auf die Ausbildung neuer Autor*innen. Um gegen diese Strömungen anzukämpfen muss man so sein wie der Pazifik – sich einen Platz im Literaturbetrieb erkämpfen und die Entscheidung treffen, Schriftsteller zu werden. Es ist sehr schwer für uns, diesen Weg zu gehen, und ich bin sehr glücklich darüber, dass ich es geschafft habe.

Vor Kurzem habe ich in der Zeitschrift 070 einen Artikel mit dem Titel „Racismo en Esta herida llena de peces“ („Rassismus in Esta herida llena de peces“, Anm. d. Red.) veröffentlicht. Über den Rassismus in einem Roman zu sprechen, der bei Angosta Editores, einem sehr wichtigen Verlag in Kolumbien, erschienen ist, bedeutet: Das zu riskieren, was man sich aufgebaut hat – ein weiterer mächtiger Fluss, gegen dessen Strömung man anschwimmen muss. Zu sagen: „Dieser Roman handelt vom Chocó, und ich muss es sagen: Er ist rassistisch“, ist ein Drahtseilakt. Ich muss abwägen: Welchen Weg will ich im Literaturbetrieb dieses Landes einschlagen, wie will ich mich positionieren. Schweigen und den Kopf einziehen, um nicht rausgeschmissen zu werden? Es war entlarvend für mich, dass ich den Artikel an ein sehr wichtiges Medium geschickt hatte, das zunächst zusagte, sich dann aber nicht mehr meldete und den Artikel nie veröffentlichte. Zum Glück waren die Leute von 070 absolut offen.

Manchen gilt der Pazifik als Symbol für bestimmte Bevölkerungsgruppen. Was sagst du dazu?

In meiner vorherigen Antwort habe ich von Autoren aus dem Chocó gesprochen, weil ich glaube, dass diese Vorstellung vom Pazifik gefährlich ist. Sie verleitet uns dazu, eine Region über einen Kamm zu scheren, die sehr vielfältig ist. Das Cabo Corrientes als wichtiges geografisches Merkmal des Pazifiks zeigt, dass man nicht alles über einen Kamm scheren kann. Vom Cabo Corrientes aufwärts ist der Pazifik völlig anders als vom Cabo Corrientes abwärts. Das zeigt sich zum Beispiel in den gastronomischen Gepflogenheiten, in der Art zu sprechen, in der Musik und in vielen anderen Dingen. Die Menschen von der Pazifikküste sind ganz anders als die Menschen im Landesinneren, etwa am Fluss San Juan, am Fluss Atrato oder an der Karibik. Die Idee des Pazifiks ist eine weitere Vereinfachung aus dem Zentrum des Landes, eine so absurde Vereinfachung, dass sogar Cali darunter gefasst wird.

Was kann man dem entgegensetzen?

In einem Artikel der spanischen Tageszeitung El País werde ich als einzige lebende Afroschriftstellerin dargestellt, alle anderen seien Mestizos und Mestizas. Ich respektiere die dort Genannten sehr, einige von ihnen liebe ich von ganzem Herzen. Aber ja, sie sind zweifellos Mestizos und Mestizas. Ihre Romane sind sehr unterschiedlich, was den Sprechort der Protagonist*innen und die Figuren angeht. Ich finde, darin liegt ein Reichtum. Aber es sind ganz andere Stimmen als meine. Es geht mir nicht darum, die eine über die andere zu stellen. Ich glaube auch nicht, dass wir nur über uns selbst sprechen können. Aber es muss eine größere Vielfalt geben, das würde die Perspektiven bereichern. Ich versuche, Verallgemeinerungen über den Pazifik zu vermeiden, weil sie ein großes Risiko bergen. Zwar gibt es auch ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass dieses Gebiet, das nicht erzählt wurde, erzählt werden muss. Und es gibt einen Markt dafür. Und deshalb entstehen Dinge wie Esta herida llena de peces. Dabei ignorieren wir unsere Unfähigkeit, die Art und Weise zu hinterfragen, wie wir die anderen erzählen. Ich glaube nicht, dass man nur über sich selbst schreiben kann, man kann auch von anderen erzählen. Aber man muss in der Lage sein, sich zu fragen, wie man von diesem Anderen erzählt, und das ist vielleicht das Wichtigste bei dieser Übung, vom Pazifik zu erzählen. Wer schreiben will, soll es tun! Darum geht es in der Literatur, um Freiheit, aber es ist wichtig, dass wir uns fragen, wie wir vom Anderen erzählen, insbesondere von einem rassifizierten Anderen und einem ausgeschlossenen Anderen.

In deinem Buch benutzt du oft den Begriff des Glücks. Wie steht es heute um das Glück der Flussmündung?

Vergangene Woche bin ich aufgestanden und das erste, was ich las, war, dass zwei junge Frauen in Quibdó ermordet worden waren, ganz in der Nähe unserer Bibliothek. In meinem Dorf ermordeten Paramilitärs einen Schizophrenen, weil sie beschlossen, dass sie keine „Verrückten“ im Dorf haben wollten. In demselben Park, in dem wir das FLECHO-Festival veranstalten, haben sie um sechs Uhr abends zehn Mal auf ihn geschossen.

Gleichzeitig ist MOTETE größer geworden, hat ein wunderbares Arbeitsteam, Pläne und Verbündete. Alles, was wir tun, tun wir inmitten eines Departamento, das von der verstärkten paramilitärischen Gewalt zerrissen wird. Und man fragt sich: Was mache ich? Gebe ich mich der Trauer und dem Schmerz hin oder gebe ich mich dem Leben in einer Blase hin, um diesem Schmerz nicht begegnen zu müssen? Der Weg ist die Flussmündung. Oder, wie eine mit mir befreundete Lesefördererin sagte: „Ich habe verstanden, dass es kein Paradies ohne Schlangen gibt.“

DIE WELTSTADT DER ARMEN

Drogenkrieg, Migrationskrise, Frauenmorde – über die dramatische Situation in der US-amerikanisch-mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez wissen selbst in Deutschland nicht wenige Bescheid, dank regelmäßiger sensationalistischer Berichterstattung der Medien und Serien wie Breaking Bad oder Narcos: Mexiko. Diese immer gleichen stereotypen – jedoch nicht gänzlich unwahren – Bilder möchte Kathrin Zeiske mit einer Gegenperspektive kontrastieren. Die freie Journalistin hat nun ein Buch über den „Alltag in der gefährlichsten Stadt der Welt“ vorgelegt. Einen Alltag, den Zeiske bestens kennt, denn Ciudad Juárez ist ihre Wahlheimat, aus der sie seit Jahren berichtet.

Im Stil einer Reportage führt Zeiske durch Ciudad Juárez und lässt durch Begegnungen mit einer Vielzahl an Menschen die mittlerweile fast mythische Stadt lebendig werden. Expert*innen aus Wissenschaft und Journalismus, aber vor allem zahlreiche Expert*innen des Alltags, denen die nordmexikanische Stadt eine Heimat ist, lässt Zeiske zu Wort kommen.

Das Buch ist in sechs thematisch fokussierte Kapitel gegliedert, die sich jeweils als eigenständige Großreportagen lesen. So ist es kein roter Faden, der das Buch strukturiert, sondern ein Fokus, von dem sich die Erzählungen immer wieder in örtliche, thematische oder persönliche Details verästeln, um dann wieder auf das große Ganze im Blick zurückzukommen.

Doch warum sollte man ein Buch über eine US-amerikanisch-mexikanische Grenzstadt lesen? Vielleicht, weil Ciudad Juárez nicht nur von eben jener Stadt handelt, sondern de facto einen stellvertretenden Blick in die Gegenwart Mexikos liefert, wo Traum und Alptraum so nahe beieinander liegen. Oder man könnte daraufhin hinweisen, dass Ciudad Juárez mit seinen 1,5 Millionen Einwohner*innen eine Weltstadt ist. Eine Weltstadt der Armen. Denn hier treffen sich Migrant*innen aus allen möglichen Ländern des Globalen Südens auf ihrem Weg in ein erhofftes besseres Leben in den USA. Hier treffen sich Arbeitsmigrant*innen aus ganz Mexiko, um in den immer weiter anwachsenden Montageanlagen internationaler Unternehmen für Hungerlöhne Waren für den US-amerikanischen Markt zusammenzuschrauben. Und hier schmuggeln die Kartelle die für die Konsument*innen in den nordamerikanischen Metropolen gedachten Drogen aus dem Süden über die Grenze in die USA. Abgesehen davon gibt es noch einen anderen, viel simpleren Grund: Ciudad Juárez ist wunderbar und mitreißend geschrieben. Schon nach wenigen Seiten wird die Liebe Zeiskes zum journalistischen Schreiben und zu ihrer Wahlheimat deutlich. Ein einziges kleines Manko sind einige wenige halbwahre Informationen zur Situation in Mexiko. Beispielsweise die häufig wiederholte Behauptung, dass die Grenze zwischen Mexiko und den USA die militarisierteste der Welt sei. Diverse Grenzen Israels zu Nachbarländern, die zwischen Indien und Pakistan in Kaschmir oder die zwischen Algerien und Marokko und selbst die EU-Außengrenzen sind militarisierter als die US-mexikanische Grenze. Doch für den Zweck des Buchs sind dies verzeihbare Randproblemchen. „Ich hoffe aber, ich kann denen eine Stimme geben, die Unerhörtes zu erzählen, aber keine Zuhörer*innen haben“, schreibt Zeiske. Das von ihr verfasste Buch wird diesem Zweck mehr als gerecht. Möge es möglichst viele Leser*innen finden.

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DAS ORGANISIERTE VERBRECHEN DER STRAFLOSIGKEIT

Fotos: Finja Henke

An einem Montagmorgen zieht Simón Pedro Pérez López los, um mit einem seiner vier Kinder einkaufen zu gehen. In der Nähe des Marktes in der Gemeinde Simojovel hält ein Motorradfahrer an und zielt direkt auf seinen Kopf. Ein einziger präziser Schuss beendet das Leben des 35-jährigen Tzotzil-Mannes, Menschenrechtsaktivist und Mitglied der zivilgesellschaftlichen Organisation Las Abejas de Acteal. Er fällt vor den Augen seines Sohnes mit dem Gesicht nach unten zu Boden. Es ist 10 Uhr morgens am 5. Juli 2021, und der Markt ist voller Menschen, die sich um ihn versammeln, während sein Blut in Strömen fließt.

Neun Tage zuvor hatte Simón Pedro die Bewohner*innen von Pantelhó begleitet, um eine förmliche Beschwerde bei der Landesregierung einzureichen. Sie forderten die Behörden auf, angesichts des Vormarschs bewaffneter Gruppen zu intervenieren. Die Ermordung des Menschenrechtsverteidigers ist nur ein Beispiel für Zwangsvertreibung, Erpressung und den Einsatz von Gewalt im Kampf um die von Drogenkartellen begehrten Gebiete. Heute, über ein Jahr später, ist der Mörder noch immer nicht verurteilt worden. Die extreme Gewaltsituation im Landkreis Pantelhó hält derweil weiter an. Mehr als dreitausend indigene Personen wurden aus ihren Gemeinden zwangsvertrieben. Zeitgleich kam es dort zur Entstehung der selbsternannten bewaffneten Selbstverteidigungsgruppe El Machete, die sich als Reaktion auf die „hohe Präsenz des organisierten Verbrechens und die Abwesenheit der Landes- und Bundesregierung “ versteht. El Machete verlangt Gerechtigkeit im Fall der Ermordung von über zweihundert Personen und ließ aus diesem Grund den gewählten Landrat von Pantelhó im letzten Jahr sein Amt nicht antreten, da ihn die Gruppe mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung bringt. Gleichzeitig wird von der Nationalen Suchkommission (Comisión nacional de búsqueda) nach 21 Personen gesucht, die im Juli 2021 − zur Zeit der Machtübernahme von El Machete − verschwunden gelassen wurden.

Die Gewalt in Chiapas hängt eng mit der strukturellen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Marginalisierung der indigenen Bevölkerung zusammen. Chiapas gehört zu den Bundesstaaten mit dem höchsten Anteil indigener Bevölkerung und gleichzeitig der höchsten Armutsrate.

Im Juli dieses Jahres prangerte das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas (Frayba) die gewaltsame Vertreibung von sechs zapatistischen Familien, die Verbrennung ihrer Häuser und ihres Besitzes in der autonomen Gemeinde Comandanta Ramona an. Dies geschah durch die Mitglieder der Landgenossenschaft von Muculum Bachajón zusammen mit der städtischen Polizei und dem Zivilschutz, so Frayba. Durch diesen Angriff werde „die Autonomie und Selbstbestimmung der Bevölkerung ernsthaft gefährdet”, und er stelle „eine schwere Verletzung des Rechts auf Sicherheit, Leben und Unversehrtheit” dar. Ein weiterer Grund für die Zunahme der Gewalt beruht auf Gebietsstreitigkeiten zwischen verschiedenen Drogenkartellen. Dies äußerte sich im vergangenen Jahr durch eine hohe Gewaltrate bei den Landtags- und Kommunalwahlen. Chiapas hat landesweit die höchste Rate von Morden an Politiker*innen. Die Einrichtung von 232 Wahllokalen wurde verhindert. Im Juni 2022 wurde der Landrat von Teopisca, Rubén de Jesús Valdez Díaz, ermordet. Damit steigt die Zahl der ermordeten Landräte und Bürgermeister*innen während der Legislaturperiode von Andrés Manuel López Obrador (AMLO) auf 17 Personen.

Seit Juli 2021 ist auch das Grenzgebiet von Chiapas zu Guatemala von der Gewalttätigkeit krimineller Gruppen um die territoriale Kontrolle geprägt. Ein Ereignis im Juni dieses Jahres, das sowohl national als auch international für viel Aufmerksamkeit sorgte, waren Schießereien, Straßenblockaden und brennende Autos durch bewaffnete Gruppen in San Cristóbal de Las Casas, die für mehrere Stunden die Kontrolle über verschiedene Straßen der Stadt einnahmen. Als Polizei und Militär endlich in Erscheinung traten, hatten sich die bewaffneten Gruppen, bereits zurückgezogen. Eine Farce angesichts der Tatsache, dass die mexikanische Regierung besonders in Chiapas eine massive Militarisierung und den Einsatz der Nationalgarde vorangetrieben hat. Dies geschah im Namen der Bekämpfung des organisierten Verbrechens und der Pflichten gegenüber der mit den USA vereinbarten Migrationspolitik an der Grenze zu Guatemala, die darauf abzielt, Migrant*innen in ihrem Recht auf Ein- und Durchreise Richtung USA einzuschränken.

Mehr als dreitausend indigene Personen wurden aus ihren Gemeinden zwangsvertrieben


Verschiedene feministische Gruppen und Frauenrechtsorganisationen berichten über die schwerwiegenden Auswirkungen der Militarisierung auf die massive sexualisierte Gewalt mit 11 Feminiziden pro Tag in Mexiko. Laut der Nationalen Erhebung zur Dynamik der Haushaltsbeziehungen (ENDIREH), die zuletzt 2016 vom Nationalen Institut für Statistik und Geografie (INEGI) durchgeführt wurde, wurden allein im Jahr vor der Erhebung rund 97.000 Frauen über 15 Jahre von Soldaten oder Marinesoldaten vergewaltigt. Die Dunkelziffer soll weitaus höher liegen.

Eine weitere gefährdete Gruppe sind Journalist*innen, die in Mexiko durch die Regierung selbst eine massive Kriminalisierung ihrer Arbeit und Bedrohungen erfahren. So wurden von Januar bis Ende August 2022 in Mexiko 15 Journalist*innen ermordet. Die journalistische Arbeit ist in Mexiko durch die verbreitete Korruption und das organisierte Verbrechen bedroht. Die Todesfälle werden gewöhnlich Drogenhändler*innen angelastet, die nicht wollen, dass ihre Geschäfte über die Medien öffentlich werden. Fachleute, die sich der Dokumentation dieser Verbrechen widmen, wie die Organisation Artículo 19, haben jedoch bei zahlreichen Gelegenheiten darauf hingewiesen, dass die meisten Taten von Beamt*innen ausgehen: etwa von Polizeichef*innen oder Politiker*innen, um ihre Verwicklung in Korruption oder ihr Zusammenspiel mit dem Drogenhandel zu schützen, wie die Zeitung El País berichtet. Im Mai mussten zwei Journalist*innen, die in der Stadt Tapachula, im Süden von Chiapas, arbeiteten, aufgrund von Morddrohungen und dem Ausbleiben von Schutzmaßnahmen der Regierung das Land verlassen.

Brutal ermordet Kollektive Trauer um den Menschenrechtsaktivisten Simón Pedro


Zur Kriminalisierung von Seiten des Staates kommt das erschreckend hohe Maß an Straflosigkeit hinzu. Diese beträgt bei der Aufklärung von Morden an Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalistinnen in Mexiko 99 Prozent. Zudem werden im Falle einer Ermittlung häufig unschuldige Personen verhaftet und mittels Folter Geständnisse erpresst.

Angesichts dieses Panoramas wurden 2022 in Chiapas bereits in mindestens 10 Landkreisen von Kirchen und der Zivilgesellschaft Demonstrationen und Kundgebungen für den Frieden organisiert. Im Juli nahmen mindestens 10.000 Personen daran teil. Vergangenes Jahr besuchte eine Delegation des EU-Parlaments Chiapas und prangerte die Menschenrechtsverletzungen an. Die vom EU-Parlament ausgedrückte Besorgnis über die Kriminalisierung der Arbeit von Journalist*innen durch die Regierung und die hohe Rate an Mordopfern nahm der mexikanische Präsident AMLO zum Anlass, um einerseits die Gewalt in Mexiko zu verharmlosen und sich der Verantwortung zu entziehen, und andererseits dem EU-Parlament koloniales Verhalten vorzuwerfen.

Inzwischen stattete die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte Chiapas einen Besuch ab, um die Einhaltung der gewährten Schutzmaßnahmen für die 22 Gemeinden in Aldama, Chalchihuitán und Chenalhó zu überprüfen. Für Anfang September hat auch die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für die Menschenrechte von Binnenvertriebenen einen Besuch angekündigt.

Die Intervention internationaler Menschenrechtsorganisationen könnte den Kampf vieler indigener Gruppen für Gerechtigkeit stärken und auch Las Abejas de Acteal wieder Hoffnung schöpfen lassen, dass ihnen im Fall des Massakers in ihrer Gemeinde 1997 sowie der Ermordung von Simón Pedro 2021 Gerechtigkeit widerfährt.

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