“WIR HABEN DAS UNDENKBARE ERREICHT”

In den vergangenen Monaten haben Sie als Sprecher der Initiative Voces de Paz die Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) politisch repräsentiert. Wie ist diese Initiative entstanden?
Während der Friedensverhandlungen in Havanna haben die Vertreter der FARC und der kolumbianischen Regierung eine politische Übergangslösung vereinbart: Während die Guerilla noch bewaffnet war und formal als terroristische Vereinigung galt, durfte sie schon aus juristischen Gründen nicht politisch aktiv werden. Voces de Paz ist in diesem Zusammenhang als eine Verbindung zwischen den FARC und der Zivilgesellschaft entstanden. Wir sind sechs Repräsentanten, drei im Kongress und drei im Senat. Dabei ist es unsere Aufgabe, die Umsetzung der Bestimmungen zu beobachten und zu überwachen; wir dürfen beraten, sind aber nicht stimmberechtigt. Außerdem unterstützen wir die FARC bei ihrem Übergang ins politische Leben. Mit der Entwaffnung und dem Ende der Übergangsphase erhielten die FARC volle politische Rechte, sodass der Gründung einer eigenen Partei nichts mehr im Wege stand.

Nach dem Referendum, bei dem eine dünne Mehrheit der Kolumbianer*innen gegen das Abkommen stimmte, unterzeichneten der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos und der FARC-Anführer Rodrigo Londoño im November vergangenen Jahres eine überarbeitete Version. Wie haben Sie den Prozess seit Inkrafttreten der Bestimmungen erlebt?
Ich muss sagen, dass die vergangenen Monate sehr schwierig waren. Der ganze Prozess war leider von sehr vielen Verzögerungen und viel Unsicherheit geprägt. Dabei wird die Umsetzung die ganze Zeit von der rechten Opposition und dem Ex-Präsidenten Álvaro Uribe torpediert.

Welche konkreten Schwierigkeiten gab es?
Das Abkommen sah vor, dass sich die FARC-Kämpfer ab Anfang Dezember über sechs Monate hinweg in Übergangszonen auf ihr ziviles Leben vorbereiten. Die Guerilla erfüllte ihren Teil der Abmachungen und sammelte ihre Kämpfer in den geplanten Gebieten. Doch keine der Siedlungen war fertig, als die Kämpfer eintrafen. Selbst heute, fast acht Monate später, ist nicht einmal die Hälfte der Siedlungen fertiggestellt. Während der Bauarbeiten gab es verschiedene Probleme, unter anderem auch mit Korruption. Die ehemaligen Kämpfer lebten dort also unter schwierigen Bedingungen, teilweise waren sogar die gelieferten Nahrungsmittel bereits verwest.
Ein weiteres schwerwiegendes Problem ist die Umsetzung des Amnestiegesetzes, das bereits Ende vergangenen Jahres verabschiedet wurde: Viele ehemalige Rebellen befinden sich bis heute in Haft, sie wurden bislang weder freigelassen noch amnestiert.
Unsere größte Sorge sind jedoch die paramilitärischen Gruppen. In den vergangenen zwei Jahren, in denen nominell „Frieden“ herrschte, wurden über 160 Menschenrechtsaktivisten ermordet. Seit Anfang des Jahres wurden mindestens acht ehemalige FARC-Kämpfer ermordet, die ihre Waffen bereits abgegeben hatten. Die Guerilla hat keine Waffen mehr und kann nicht auf ihre alten Verteidigungsmechanismen zurückgreifen. Diese Vorgänge erzeugen eine große Unsicherheit. Der Staat erfüllt seine Aufgabe, das Leben der Kolumbianer und eben auch der entwaffneten Guerilla-Kämpfer zu schützen, nicht. Die paramilitärischen Gruppen werden nicht effektiv bekämpft.

Was bedeutet das für die weitere Umsetzung des Abkommens?
Durch diese Probleme wurde der gesamte Friedensprozess verzögert – aber nicht aufgehalten. Im Kongress wurden bereits etwa 60 Prozent der Bestimmungen verabschiedet, es fehlen noch etwa zehn Reformen. Dazu gehört unter anderem auch das Gesetz für die Über­gangsjustiz sowie das Gesetz für die Landverteilung, das zentral im gesamten Friedens­prozess war. Die massive Konzentration des Landbesitzes und die damit verbundene poli­tische Ausgrenzung großer Bevölkerungsteile waren und sind die Hauptursachen für den bewaffneten Konflikt in Kolumbien. Wenn wir diese Reformen nicht angehen, wird die Gewalt auch nicht enden. Das Problem ist, dass die Gesetze im Grunde bis Ende dieses Jahres verabschiedet sein müssen – nächstes Jahr sind Wahlen und es ist offen, wie eine mögliche neue Regierung mit den Rechtsvorschriften umgehen wird. Die rechte Opposition lässt keine Zweifel zu, Álvaro Uribe hat schon vielfach verkündet, dass er den Friedensvertrag „in Fetzen reißen“ möchte.

Wie bewerten Sie aktuell die Stimmung in der Zivilbevölkerung bezüglich des Friedensprozesses?
Das Abkommen hat die Bevölkerung vergangenes Jahr sehr stark polarisiert. Man kann sagen, dass das halbe Land dafür, die andere Hälfte dagegen war. Diese Spannungen haben sich vor allem im Rahmen des Referendums zum Frie­densabkommen gezeigt. Und diese Situation hat es der rechten Opposition ermöglicht, Zweifel zu sähen sowie mit polemischen Äußerungen und Falschnachrichten auf Stimmenfang zu gehen. Dadurch werden die Wahlen nächstes Jahr im Grunde zu einer Art zweitem Friedensreferendum.
Wir haben allerdings beobachtet, dass sich die Lage insgesamt in den vergangenen Monaten eher entspannt hat. Die Menschen nehmen den Friedensprozess nicht mehr als zentrale Agenda in der Politik wahr.

Was für Auswirkungen hat die allgemeine Stimmung auf den Prozess?
Die Polarisierung ist schwächer geworden, das hat Vor- und Nachteile. Die symbolische Gewalt hat nachgelassen, der Hass und die Aufrufe zu Gewalt sind insgesamt weniger geworden. Der Nachteil ist jedoch, dass die politische Rolle des Abkommens insgesamt auch abgeschwächt wurde, die Menschen fordern die Umsetzung der Bestimmungen nicht mehr so vehement ein. Die Bevölkerung ist sich kaum der Tatsache bewusst, dass 90 Prozent der Bestimmungen aus dem Abkommen eigentlich nichts mit den FARC zu tun haben, vielmehr betreffen sie die Landrückgabe, Maßnahmen zur Bekämpfung der Korruption, Strategien zur Aufklärung der Verbrechen und zur Demokratisierung der politischen Prozesse. Nur etwa ein Zehntel der Bestimmungen beschäftigen sich wirklich mit den FARC, mit ihrer Wiedereingliederung, ihrer juristischen Situation.

Was sind aus Ihrer Sicht die wesentlichen Herausforderungen, mit denen der Friedensprozess aktuell konfrontiert wird?
Wir stehen gerade vor drei Herausforderungen: Erstens müssen das Abkommen und die ehemaligen Rebellen juristisch abgesichert werden, dazu gehört eine rasche Ratifizierung der fehlenden Reformen. Aktuell fehlen noch etwa zehn Reformen, darunter auch so zentrale wie das Gesetz zur Landrückgabe und das Gesetz für die Übergangsjustiz. Das Landgesetz ist wesentlich, da es die Ursachen des Konfliktes betrifft: die Landverteilung und die politische Exklusion weiter Bevölkerungsteile. Letzteres regelt den legalen Status der ehemaligen Kämpfer und ist dadurch eigentlich unverzichtbar.
Zweitens muss die körperliche Sicherheit der ehemaligen Rebellen garantiert werden. Jeden Tag werden Menschen bedroht und er­mor­det. Dadurch entsteht eine große Unsicherheit, die durch die fehlende ökonomische Absicherung, den dritten Punkt, noch verschärft wird. Die Mitglieder der FARC müssen schnellstmöglich in die Zivilgesellschaft integriert werden – gerade erhalten sie nicht einmal den vereinbarten monatlichen Geldbetrag, der noch unter dem Mindestlohn liegt. Diese Unsicherheiten verschärfen das Risiko, dass Teile der FARC sich nach alternativen Wegen umschauen und sich etwa anderen illegalen bewaffneten Gruppierungen anschließen.

Was ziehen Sie nach diesen Berichten für ein Fazit?
Der Friedensprozess war unglaublich kompliziert und wird auch weiterhin kompliziert bleiben. Allerdings habe ich den Eindruck, dass uns Kolumbianern noch gar nicht so richtig bewusst ist, welche Situation wir erleben: Wir haben gerade die Möglichkeit, ein Kapitel unserer Geschichte zu beenden, das schon vor vielen Jahren hätte beendet werden müssen. Wir haben etwas erreicht, was vor wenigen Jahren noch nicht einmal denkbar war. Die ehemaligen FARC-Rebellen haben heute die Möglichkeit, in Schulen und Universitäten zu gehen und ihre Ideen mit dem Wort zu verteidigen und dem Land ihre Version der Geschichte zu erklären. Und ich hoffe, dass diese Erfahrungen unser Land zum Positiven verändern werden, auch wenn es einige Zeit in Anspruch nimmt.

“BEWEGUNGSPARTEI STATT BEWAFFNETEM KAMPF”

Foto: David Graaff

Durch die Verwandlung in eine politische Partei, die sich mehr als 1000 Delegierte umfassend Ende August in einem großen Kongresszentrum der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá vollzog, schickt sich die ehemals größte und älteste Guerilla Lateinamerikas nun an, ihren Kampf für ein „Neues Kolumbien“ ohne Waffen fortzuführen.

Die Parteigründung ist Teil der Friedensvereinbarungen von Havanna, in denen die „farianos“ mit der Regierung Juan Manuel Santos das Ende des bewaffneten Konflikts ausgehandelt hatten. Nun geht es, nachdem die FARC ihre Waffen an die Vereinten Nationen übergeben haben, mit deren Umsetzung weiter, worunter die vereinbarten Maßnahmen zur Landreform ebenso fallen, wie die Schaffung des Systems der Sonderjustiz, in dem die von beiden Seiten begangenen Verbrechen des bewaffneten Konflikts aufgearbeitet werden sollen. „Wir haben das Feuer eingestellt, wir haben uns in den Übergangszonen versammelt, wir haben eine vollständige Waffenniederlegung vollzogen, ein Inventar unserer Kriegsökonomie angefertigt und damit begonnen, alle unsere Besitztümer zu übergeben. Ich wünschte, der kolumbianische Staat hätte bei der Erfüllung seiner Verpflichtungen die gleiche Sorgfalt gezeigt“, sagte der ehemalige Oberkommandierende der FARC und neue Parteivorsitzende Rodrigo Londoño, der besser unter seinem Pseudonym „Timoleón Jiménez“ bzw. „Timochenko“ bekannt ist, als er vor tausenden Menschen auf der Plaza Bolivar sprach und Scheinwerfer das neue FARC-Logo, eine rote Rose, auf die umliegenden Gebäude, darunter das Kapitol, projizierte. Damit spielte er nicht nur auf die zähe Verabschiedung der entsprechenden Gesetze und Normen im Kongress an, sondern auch auf die zunehmende Zahl von getöteten Aktivist*innen.

Laut einer Mitte August veröffentlichten Studie der NGO „Somos Defensores“ wurden seit Jahresbeginn 51 Aktivist*innen ermordet und zunehmend scheinen auch ehemalige FARC-Kämpfer*innen und ihre Familienangehörige ins Visier zu rücken. Hinter den Taten vermuten Analyst*innen des Forschungsinstituts INDEPAZ einen paramilitärischen Komplex, der aus bewaffneten Organisationen mit Interessen an illegalen Geschäften wie Drogenhandel und Bergbau besteht, zu dem aber auch lokale Eliten oder anti-subversive Einzelakteure innerhalb staatlicher Institutionen wie dem Militär oder dem Geheimdienst gehören. Die derzeit mächtigste bewaffnete Organisation, die Gaitanistischen Selbstverteidigungsgruppen Kolumbiens (AGC), erklärte Anfang September ihre Bereitschaft, in Verhandlungen mit der Regierung treten zu wollen. Schon seit längerem haben AGC-Vertreter*innen die Nähe zu Kongressabgeordneten und der internationalen Vertreten gesucht und laut der spanischen Zeitung El Mundo gab es bereits Wochen zuvor erste Gespräche zwischen AGC-Vertreter*innen und Regierungsmitgliedern.

Unabhängig aber von den gesamtpolitischen Entwicklungen ging es für die FARC in Bogotá darum, sich als Organisation neu aufzustellen.

Unabhängig aber von den gesamtpolitischen Entwicklungen ging es für die FARC in Bogotá darum, sich als Organisation neu aufzustellen. Aus dem ehemaligen 31 Mitglieder umfassenden Generalstab wurde ein aus mit 111 Mitgliedern recht großes neues Führungsorgan, der Nationalrat der Kommunen. Dieser bestimmte einen 15-köpfigen Politischen Rat, an dessen Spitze Timochenko steht. Personell gibt es damit wenig Erneuerung, was angesichts der straffen, horizontalen Organisationsstruktur der FARC als Guerilla wenig überraschend scheint. Die Delegierten stimmten, nicht nur was den Namen betrifft, für Kontinuität. Die Mitglieder des Sekretariats, des alten Führungsorgans der FARC, finden sich auch in der neuen Parteiführung wieder und im Nationalrat stehen neben ihnen vor allem verdiente Kommandanten und hochbetagte ehemalige Sekretariatsmitglieder, die zum Teil noch die Gründung der FARC anno 1964 miterlebt haben. Die FARC, die nach der Trennung von ihrer „Mutterorganisation“, der Kommunistischen Partei Kolumbiens (PCC) Anfang der 1990er-Jahre militärische und politische Führung im Sekretariat gebündelt hatten, bleiben damit ein von Männern dominierter Verein, dessen Mitglieder ihre Position vor allem militärischen Erfolgen verdanken.

Bislang, möglicherweise auch aus Sicherheitsgründen, finden sich nur einige wenige soziale Aktivist*innen aus den der FARC nahstehenden zivilgesellschaftlichen Organisationen im Nationalrat und mit dem Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Jairo Estrada, der als Mitglied der Gruppe Voces de Paz seit Monaten die Verabschiedung der Vereinbarungen im Parlament begleitet, steht nur eine Person im Führungsgremium der Partei, die noch nie ein Gewehr für die revolutionäre Sache abgefeuert hat. Zudem sind lediglich 24 der 111 Nationalratsmitglieder Frauen. Vier von ihnen, Sandra Ramírez, Erika Montero, Victoria Sandino und Liliana Castellanos, die zum Teil bereits bei den Gesprächen von Havanna teilgenommen hatten und einen Geschlechterschwerpunkt in die Vereinbarungen hineinverhandelt hatten, schafften es in die Parteispitze. Auf sie geht auch zurück, dass sich die FARC, deren politische, am Marxismus-Leninismus orientierte politische Ideologie in der Vergangenheit oft als holzschnittartig und nicht mehr zeitgemäß beschrieben worden war, nun unter anderem als anti-patriarchale Partei bezeichnen und in der Geschlechterfragen keinen Nebenwiderspruch mehr zu sehen scheinen.

Welche langfristig die politischen Ziele der FARC sein werden, muss sich noch zeigen. In seiner Eröffnungsrede zu Beginn des Parteikongresses hatte Iván Márquez betont, die FARC wolle Teil eines historisch-gesellschaftlichen Prozesses sein, „der den Aufbau einer alternativen Gesellschaft ermöglicht, in der soziale Gerechtigkeit, wirkliche und fortgeschrittene Demokratie“ herrsche, „wirtschaftliche, soziale, ethnische, religiöse und geschlechtliche Diskriminierung und Ausgrenzung überwunden“ seien und ein würdevolles Leben in einer „neuen Art gesellschaftlicher Beziehungen in Kooperation, Brüderlichkeit und Solidarität“ garantiert werde. Die Vereinbarungen von Havanna, in denen es unter anderem um eine gerechtere Verteilung von Landbesitz geht, seien lediglich die Grundlage für weiterführende gesellschaftliche Veränderungen.

Wie genau dieses „Neue Kolumbien“ aussehen und erreicht werden soll, darüber kam es zu teils heftigen Debatten.

Wie genau dieses „Neue Kolumbien“ aussehen und erreicht werden soll, darüber kam es, wie Delegierte berichteten, während des dreitägigen Kongresses, auf denen Arbeitsgruppen ein erstes Eckpunkteprogramm der neuen Partei erarbeiteten, zu teils heftigen Debatten. Das verwundert wenig, trafen doch in Bogotá erstmals FARC-Mitglieder aufeinander, deren Realität während des Konflikts sehr unterschiedlich war. Es trafen Kader aus den Kerngebieten der FARC im Süden Kolumbiens auf Mitglieder der städtischen Milizen, kleinbäuerlich Geprägte und vom Krieg Gebeutelte auf an Universitäten geschulte und vom urbanen Alltagsleben geprägte Aktivisten. So wurde unter anderem lange darüber diskutiert, ob im Parteistatut auf „das Werk und das politische Handeln von Marx und Lenin“ verwiesen werden solle. Ein Disput, den letztlich jener Flügel um den Parteivorsitzenden Timochenko gewann, der zumindest nach außen hin eine politisch-ideologische Erneuerung der FARC anstrebt und sich von alten Dogmen lösen will. „Einige scheinen nicht verstanden zu haben, dass wir an einem neuen Punkt unserer Geschichte angekommen sind und hier nun auch einen Sprung machen müssen. Viele in unserer Organisation behandeln den Marxismus-Leninismus, als wäre er eine Religion“, sagte der Schriftsteller Gabriel Angel, der FARC-Chef Timochenko nahe steht im Gespräch mit den LN am Rande des Kongresses.

Dieser „Tendenz“, wie Angel sie bezeichnet, gegenüber steht eine Gruppe um den ehemaligen Verhandlungsführer von Havanna Iván Márquez und dem ihm nahestehenden Jesús Santrích, die das historische Erbe eines mehr als fünf Jahrzehnte dauernden Kampfes bewahren wollen. Besonders Santrích gilt dabei als wenig kompromissbereiter Traditionalist, dessen Vertrauen wie bei nicht wenigen FARC-Kämpfer*innen darin, dass der legale Kampf für die politischen Ziele der FARC möglich wird, gering ausgeprägt ist. Der Genozid an den Mitgliedern der 1985 gegründeten Linkspartei Unión Patriótica ist ihnen dabei ebenso ein mahnendes Beispiel wie die ansteigende Zahl der Morde und die Fortexistenz paramilitärischer Gruppen.

Iván Marquez wird es aller Voraussicht nach sein, der die Senatsliste der FARC 2018 anführen wird. Laut der Vereinbarungen von Havanna stehen ihr in den kommenden zwei Legislaturperioden je fünf Sitze im Senat und Repräsentantenhaus zu, unabhängig davon wie die FARC-Kandidat*innen beim Urnengang abschneiden. Einen eigenen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl wenige Monate später wird man wohl nicht aufstellen, sondern stattdessen Stimmen zur Bildung einer Übergangsregierung und dessen Kandidaten beitragen wollen, der für die Umsetzung der Vereinbarung von Havanna eintritt. Es muss sich zeigen, ob es der neuen FARC-Partei einerseits gelingt, nicht nur in ihren Kerngebieten Stimmen einzusammeln, sondern gerade die Menschen in den Städten mit einem modernen Programm zu überzeugen. Ein Bestreben, das sich bereits an einem Diskurs abzeichnet, der sich an alle Unzufriedenen und unter dem neoliberalen Wirtschaftsmodell leidenden Bevölkerungsteile richtet. Andererseits muss sich nun zeigen, wie tief die FARC wirklich in der Zivilgesellschaft und in denen von ihr teils über Jahrzehnte kontrollierten Territorien verankert ist. Ein Aspekt, der ihnen in der Vergangenheit von anderen linken und revolutionären Kräften, darunter auch der Nationale Befreiungsarmee (ELN), oft abgesprochen wurde. Dass gesellschaftlicher Wandel nicht ausschließlich innerhalb der staatlichen Institutionen erkämpft werden kann, scheint der FARC, folgt man den Worten Iván Márquez, klar zu sein. Man sei Teil der politischen und sozialen Bewegung, die „mittels ihrer vielfältigen Kämpfe des Alltags neue Ausdrucksformen der gesellschaftlichen Macht hervorbringt und die Formen der Organisation der Staatsgewalt de facto ignoriert und überwindet“, sagte er vor den Delegierten des Parteikongresses und fügte hinzu: „Wir verstehen uns als Bewegungs-Partei“.

// SIGNAL AUS BUENAVENTURA

Kolumbiens Friedensprozess hakt. Einen Tag vor dem Ablauf der Frist für die Entwaffnung der ältesten Guerilla Lateinamerikas erklärte Präsident Juan Manuel Santos: „20 Tage sind nichts, um den 54-jährigen Konflikt richtig zu beenden.“ Anschließend räumte er „sich anhäufende Verzögerungen“ bei der Umsetzung des Friedensvertrages mit den Revolutionären Bewaffneten Streitkräften Kolumbiens (FARC) ein. Die 20 Tage Verzögerung sind in der Tat nicht das Problem, sondern dass sich Präsident, Kongress und Verfassungsgericht in den sechs Monaten seit der Verabschiedung des Friedensabkommens der Situation nicht gewachsen zeigen.
Trotz des Amnestiegesetzes vom Dezember 2016 wurde bisher nur ein Bruchteil der verhafteten Guerillerxs, welche davon profitieren sollten, freigelassen. In zwölf der 26 für die Entwaffnung eingerichteten Gebiete, in denen sich 6.900 Guerillerxs seit ersten März aufhalten, sind die im Friedensvertrag vereinbarten Einrichtungen bis heute nicht fertiggebaut (siehe Artikel S. 13). Die Gesetze zur Implementierung des Abkommens kamen bisher trotz des Fast-Track-Verfahrens nur im Schneckentempo voran. Durch eine Entscheidung des Verfassungsgerichts könnten ein Jahr vor den Präsidentschaftswahlen zudem einzelne Punkte des Friedensvertrages wieder revidiert werden. Ohnehin sehen die bisherigen Änderungen eher nach Zähnefletschen und Säbelrasseln der konservativen Kräfte aus. Die Rechte fürchtet sich vor zu vielen Verbindlichkeiten.

„Die FARC ist an einer Verzögerungstaktik nicht interessiert“, sagt Iván Márquez, Sprecher der Guerillaorganisation. Dass in sechs Monaten 6.900 Guerilleros nur 2.380 Waffen abgaben, habe damit zu tun, dass die Regierung ihre Zusagen nicht einhielte. „Es ist nur logisch“, dass der Prozess durch die Gewährleistung der körperlichen, rechtlichen und ökonomischen Sicherheit für die ehemaligen Kämpfer*innen bedingt werde.
Weder die juristische Aufklärung des Konfliktes noch die Wiedereingliederung der FARC-Kämpfer*innen in die Gesellschaft sind in Sicht. Zwar sollen sich die Übergangszonen in Brücken verwandeln, wo sich Täter*innen und Opfer begegnen und gemeinsam das Land aufbauen. Doch sieben dieser ländlichen Gebiete sind nur einen Katzensprung von den Orten entfernt, wo die paramilitärische Gruppe Autodefensas Gaitanistas de Colombia (AGC) den Rückzug der FARC als Eroberungsfeldzug feiert. Nach Jahren der Stagnation ist Kolumbien wieder Spitzenreiter in der Kokain-Produktion. Der illegale Bergbau boomt und im Land des Friedensnobelpreisträgers Santos werden auf Flugblättern freigelassene Guerillerxs, Friedensaktivist*innen, Menschenrechtsorganisationen und linke politische Bewegungen zu militärischen Zielen erklärt. In diesem Jahr wurden schon mindestens 33 Aktivist*innen ermordet und drei freigelassene FARC-Guerilleros Opfer der allzu gern geleugneten paramilitärischen Gewalt.

Und was macht die Staatsmacht? Dort, wo sich die Wiederkehr des Paramilitarismus in ihrer blutigsten Form zeigt, entlang der 1.300 Kilometer langen Pazifikküste, verweilt die Armee ohne Einsätze, während die AGC im Kampf mit der ELN-Guerilla tausende Menschen vertreibt. Nach Buenaventura entsandte die Regierung hunderte schwer bewaffnete Polizist*innen der mobilen Aufstandsbekämpfungseinheit Esmad, die brutal gegen Demonstrant*innen vorgingen. In der wichtigsten Hafenstadt Kolumbiens am Pazifik hatten tausende Afro-Kolumbianer*innen 20 Tage lang eine Friedensdividende eingefordert: das Ende von Rassismus, Armut und struktureller Gewalt, den Zugang zu Trinkwasser, Gesundheitsversorgung, Bildung und vor allem Sicherheit. Erst als der wirtschaftliche Verlust durch die Blockade der Transportwege aus der Hafenstadt 60 Milliarden Pesos (rund 18 Millionen Euro) erreichte, lenkte die Regierung ein und machte millionenschwere Zusagen für Investitionen in den öffentlichen Sektor.

Buenaventura zeigt, dass sich Kolumbiens Regierung nur bewegt, wenn massive zivilgesellschaftliche Proteste sie dazu drängen. Zivile Wachsamkeit sowie demokratischer Widerstand sind das Gebot der Stunde: Nur so lässt sich das zarte Pflänzchen des  Friedensprozesses vor dem Verwelken retten.

„ÄNGSTE HABE ICH KEINE“

Wie viele Jahre sind Sie bereits bei der FARC?
Seit 34 Jahren.

Wie sind Sie in die Guerilla eingetreten?
Ich trat wie die meisten jungen Menschen ein, die in Armut, von der Gesellschaft ausgeschlossen, aufgewachsen sind. Eines Tages entscheidet man sich für den bewaffneten Kampf als Weg für eine gerechtere, freiere und souveränere Gesellschaft.

Denken Sie, dass der bewaffnete Kampf substanzielle Änderungen für die kolumbianische Gesellschaft gebracht hat?
Substanzielle Änderungen sind noch nicht eingetreten. Das in Kuba unterzeichnete Friedensabkommen öffnet die Türen für den nötigen Wandel in Bezug auf die wirtschaftlich-soziale, politische und kulturelle Entwicklung im Land. Als Organisation zielen wir auf die Entwicklung der ländlichen Gebiete, auf die Reduzierung des Großgrundbesitzes und auf handfeste Garantien für das Recht auf die Landnutzung ab. Die Ländereien von den Kleinbauern, die von der nationalen Armee und den Paramilitärs vertrieben wurden, müssen zurückgegeben und mit technischen, finanziellen und infrastrukturellen Maßnahmen unterstützt werden. Es ist dringend notwendig, das politische Regime Kolumbiens zu demokratisieren, es muss Meinungsverschiedenhei-
ten erkennen und akzeptieren. Gewalt als historisch eingesetztes Instrument für die Machtausübung muss verboten werden. Der Paramilitarismus als Kampfmittel der politischen und wirtschaftlichen Macht muss beseitigt werden.

Haben Sie jemals am bewaffneten Kampf gezweifelt und hatten Sie Ängste während des Fortschreitens des Friedensprozesses?
In Zeiten des bewaffneten Aufstands habe ich nie an dessen Notwendigkeit gezweifelt. Den Prozess in Havanna erlebte ich mit hohen Erwartungen, denn er stellt die Möglichkeit dar, den Wunsch eines Großteils der kolumbianischen Bevölkerung zu verwirklichen, nämlich ein Ende des bewaffneten Konflikts und Ruhe und Hoffnung für die Gesellschaft. Ängste habe ich keine, meine Ambitionen und Erwartungen sind die bestmöglichen und so werden wir dem Prozess zur Implementierung des Abkommens gegenüberstehen.

Wie ist es Ihnen in der ländlichen Übergangszone für die Normalisierung (ZVTN) bis jetzt ergangen?
Wir kamen fristgerecht und unter den im Abkommen festgelegten Bedingungen in die ZVTN. Einige von uns kamen zu Fuß, andere mit dem Boot oder dem Auto. Die lokalen Bedingungen waren und sind immer noch nicht so, wie sie vereinbart wurden. Die Bauarbeiten laufen unglaublich langsam, das Gebiet wurde nicht richtig und zeitgerecht angepasst, die Baumaterialien und Werkzeuge sind unzureichend und die Pläne erfüllen nicht einmal einen Minimalstandard. Im Endeffekt gibt es noch kein Lager. Wir leben in Zeltlagern, so wie zur Zeit der offenen militärischen Auseinandersetzungen.

Finden Sie, dass dies der richtige Weg war, um die Wiedereingliederung ehemaliger FARC-Mitglieder ins Zivilleben zu ermöglichen?
Die Einrichtung der ZVTN war gut durchdacht, es sind verschiedene Schritte zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft vorgesehen. Damit sind Entwaffnung, Registrierung und Herstellung des Personalausweises der Guerilleros und Guerilleras, sowie deren Weiterbildung und medizinische Versorgung gemeint. Doch die Regierung – oder die dafür zuständigen Behörden – waren dieser Situation nicht gewachsen. Das Hauptproblem in den ZVTN ist der Mangel an logistischer Unterstützung, das Essen ist unzureichend oder kommt mit Verzögerungen an, sowie die Versorgung mit Medikamenten. Wir haben kaum Zugang zu Kommunikationsmitteln. Zur Zeit gibt es hier keinen Platz für die Guerilleros, die in Haft sind (und sich nach der Entwaffnung vor Ort versammeln können, Anm. d. Red.), die Zugangsstraßen zur ZVTN sind in einem katastrophalen Zustand.

Gibt es andere Versäumnisse, welche die Umsetzung der im Abkommen vereinbarten Punkte bis jetzt verhindern?
In den Übergangszonen gibt es erhebliche Verzögerungen. Aber sie sind nicht so gravierend wie die kürzlich vom Verfassungsgericht getroffene Entscheidung, das Präsidentialdekret über die Personalaufstockung der nationalen Schutzeinheit (UNP) außer Kraft zu setzten. Diese Behörde soll die Sicherheit derjenigen Personen garantieren, die in Gefahr sind. Dieser Schutz soll auch auf 1280 FARC-Mitglieder ausgeweitet werden, welche die Waffen bereits abgaben und sich in der Legalität befinden. Dazu änderte das Gerichtsurteil die Befugnisse des Parlaments in Bezug auf die Ratifizierung der Gesetze, mit dem Ziel, das Abkommen noch einmal verändern zu können.

Gibt es Kontakt zu den benachbarten Gemeinden?
Lange vor der Einrichtung der Übergangszone hatten wir Kontakt mit den benachbarten Gemeinden. Wir kennen die Probleme der Bevölkerung, ihre Hoffnungen und Ziele, und nun tragen wir aktiv zur Verbesserung ihrer Lebenssituation bei. Wir nehmen die Meinungen und Beobachtungen der Leute auf. Gemeinsam veranstalten wir Tage für gemeinnützige Arbeit oder kulturelle und sportliche Aktivitäten. In diese Zone kommen nicht nur die Nachbarn aus der Gemeinde, sondern auch nationale und internationale Persönlichkeiten, Politiker, Journalisten, Forscher und Akademiker.

Was ist die Rolle der Regierung in dieser, Zone,sind staatliche Institutionen präsent?
Die Regierung hat die militärischen Operationen gegen uns eingestellt, das muss man anerkennen. Darüber hinaus hat sie jedoch nicht viel getan. Ich erinnere mich an Besuche vom Gesundheits- und Agrarwirtschaftsministerium und von der Universidad Nacional – aber die beschäftigte sich ausschließlich mit der Sammlung von Daten, um die Situation in der Zone zu bewerten. Weder konkrete Bauten noch andere Projekte sind sichtbar. Die Meldebehörde hat ihre Aufgabe zum Teil erfüllt und für 50 Prozent der Guerilleros und Guerilleras in dieser Zone Personalausweise erstellt.

Wie ist Ihrer Meinung nach der Prozess der Entwaffnung gelaufen?
Dazu kann ich nur sagen, dass sie die wichtigste und mutigste Entscheidung war, welche wir nach mehr als einem halben Jahrhundert bewaffneten Kampfes treffen konnten.

Wie lange wird Ihr Aufenthalt in der ZVTN dauern und was empfinden Sie bei dem Gedanken, wieder in die Gesellschaft eingegliedert zu werden?
In der ZVTN werde ich die nötige Zeit bleiben, bis das Vereinbarte erfüllt wird. Die Wiederkehr ins politische, wirtschaftliche und soziale Leben gehen wir mit Entschlossenheit an. Uns ist bewusst, dass der Kampf in anderer Form weitergeht, gegen den gleichen Gegner und für die selben Veränderungen, für die wir seit dem letzten Jahrhundert kämpfen. Wir wissen, dass es viele Hindernisse gibt, aber mit unserem Willen und der Unterstützung des Volkes werden wir sie überwinden können.

Welche Risiken oder Bedrohungen sehen Sie für sich persönlich, gibt es bestimmte Sicherheitsgarantien?
Risiken gab es immer, und es wird sie immer geben. Aber unsere Einheit, Disziplin und Fähigkeit, zusammenzuarbeiten, werden die Bedrohungen reduzieren und am Ende werden sie verschwinden. Zum Teil gibt es Pläne für den Schutz von Guerilla-Mitgliedern, die sich mit Aufgaben im Rahmen des Abkommens befassen.

Welche Pläne haben Sie?
Meine Pläne sind diejenigen, welche die Organisation beschließt. Persönlich würde ich gerne die primäre Schulbildung abschließen, die Sekundärstufe besuchen und eine technische Karriere studieren.

Welche Botschaft würden Sie an die Zivilgesellschaft im Ausland senden?
Der deutschen und internationalen Gemeinschaft sage ich, dass Krieg, Ausbeutung und religiöse und ethnische Diskriminierung verwerflich sind. Gleichberechtigung, Toleranz und das Respektieren der Rechte von anderen, sind die höchsten moralischen Werte der Zivilisation. Wir benötigen eine entschlossene internationale Gemeinschaft, die diesen Prozess begleitet. Immer mehr soziale Aktivisten werden in den Regionen Kolumbiens ermordet. Mit Ausnahme von einigen Politikern und Persönlichkeiten scheint die internationale Gemeinschaft über diese Morde nicht sonderlich empört. Kolumbien kann zum Beispiel für die friedliche Lösung von Konflikten werden. Lasst uns unsere Kräfte vereinen und für den weltweiten Frieden arbeiten.

 

BLUTIGE BANANEN

Das investigative Nachrichtenportal VerdadAbierta.com veröffentlichte kürzlich zahlreiche Auszüge aus Gerichtsakten, welche beweisen, dass das Unternehmen Chiquita Brands L.L.C. jahrzehntelang unter anderem paramilitärische Gruppen finanzierte, die zur gleichen Zeit schwe­­re Gewalttaten und Menschrechtsverletzungen begingen. Die Dokumente wurden dem Gericht im Zuge eines Verfahrens von der US-Börsenaufsichtsbehörde zur Verfügung gestellt. Sie zeigen, dass Chiquita seit Ende der 1980er Jahre bis Anfang der 2000er regelmäßig Zahlungen an verschiedene bewaffnete Akteure des kolumbianischen Konflikts leistete. Insgesamt gingen mehrere Millionen Dollar sowohl an linke Guerillagruppen als auch an rechte Paramilitärs und zivile Milizen sowie an Brigaden der kolumbianischen Armee. Die Zahlungen konzentrierten sich auf die Bananenanbauregionen der Bundesstaaten Antioquia und Magdalena. Insbesondere die Zeug*innenaussagen einiger Vorstandsmitglieder und Geschäftsführer*innen des zu den größten Bananenexporteuren der Welt zählenden Unternehmens bieten einen Einblick in die Vorgänge. So beschreiben die befragten Personen die getätigten Zahlungen an bewaffnete Akteure in Kolumbien wiederholt als „ganz normale Ausgaben“, die sich nicht von Zahlungen für Düngemittel oder Insektenvernichtungsmittel unterschieden hätten.

Sieben Jahre lang kämpfte das National Security Archive, eine Forschungs- und Archivierungseinrichtung an der George Washington University in Washington D.C., für die Freigabe der mehr als 9.000 Seiten an Informationen in den Händen der US-amerikanischen Börsenaufsicht. Diese hatte zahlreiche Mitarbeiter*innen von Chiquita Brands International unter Eid aussagen lassen. Die gesammelten Protokolle zeigen das Bild eines routinierten Systems geheimer Transaktionen auf allen Seiten des Konflikts. Und sie zeigen das Kalkül und die Skrupellosigkeit der hinter den Zahlungen stehenden Verantwortlichen.

Robert F. Kistinger war über 27 Jahre lang in leitenden Managementpositionen bei Chiquita tätig und berät das Unternehmen bis heute. In seiner Aussage vor der Börsenaufsicht im Jahr 2000 bestätigte er, seit den 1980er Jahren über die Zahlungen informiert gewesen zu sein. Diese Vorgänge hätten jedoch kaum spürbare Auswirkung­en auf die Gesamtumsätze des Un­ter­neh­mens gehabt: „Wissen Sie, wir hören doch nicht auf, in Kolumbien Geschäfte zu machen, nur, weil wir 25.000 Dollar extra ausgeben müssen“, so Kistinger. Die Kosten wurden von Chiquita demnach als „notwendig, aber zu verschmerzen“ betrachtet und sollten offenbar eine mög­lichst störungsfreie Bananenproduktion im Land ga­rantieren.

Die Manager*innen zeigen sich von der Tatsache, dass dabei kontinuierlich für Verbrechen an der Zvilbevölkerung verantwortliche Gruppen finanziert wurden, wenig beeindruckt.

Die verantwortlichen Manager*innen zeigen sich von der Tatsache, dass dabei kontinuierlich unter anderem terroristische und paramilitärische Gruppen finanziert wurden, die zur gleichen Zeit für Massaker an der Zivilbevölkerung, Auftragsmorde, gewaltsames Verschwindenlassen von Personen, Vergewaltigungen sowie Vertreibungen ganzer Gemeinden verantwortlich waren, wenig beeindruckt. So berichtete Jorge Forton, der ab 1995 für Chiquita in Kolumbien ein standardisiertes Zahlungsmodell einführen sollte, dass das Geld zunächst gewaltsame Übergriffe der bewaffneten Gruppen auf Mitarbeiter*innen von Chiquita verhindern sollte. Er sei sich jedoch auch bewusst gewesen, dass damit Gruppen finanziert wurden, die zu einer Intensivierung des gewalttätigen Konflikts in der Region beigetragen hätten. Das habe seine Chefs in den USA jedoch kaum interessiert, so Forton.

Bereits 2007 wurde Chiquita als erster multinationaler Konzern in den USA dafür verurteilt, einer internationalen terroristischen Organisation Geld gezahlt zu haben. In dem Verfahren ging es um Zahlungen von rund 1,7 Millionen Dollar zwischen 2001 und 2004 an den nationalen Dachverband der rechtsgerichteten ko­lum­bianischen Paramilitärs (AUC). Chiquita wurde in diesem Verfahren zu einer Geldstrafe in Höhe von 25 Millionen Dollar verurteilt. Allerdings wurden bis heute keine Angestellten des Unternehmens zur Verantwortung gezogen. Dies fordert nun ein Zusammenschluss kolumbianischer Nichtregierungsorganisationen (NGOs) vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag. Mindestens 14 ehemalige und aktuelle Mitarbeiter*innen von Chiquita wurden von den NGOs als Personen mit Verantwortung in den beschriebenen Vorgängen identifiziert. Als Begründung für die Anrufung des IStGH führen die Organisationen an, dass der Geltungsbereich der kolumbianischen Justiz für ein solches Verfahren nicht ausreiche, da unter anderem die USA die verantwortlichen Personen nicht ausliefern wollen.

“Chiquita war nicht dazu gezwungen, 15 Jahre lang in Kolumbien zu bleiben und die Akteure des Konflikts zu bezahlen.”

In ihrem Schreiben an den IStGH beschreiben die NGOs, dass es sich bei den Zahlungen schon auf Grund ihrer Regelmäßigkeit und ausgeklügelten Abrechnung nicht um einzelne „Fehler“, sondern um absichtliche Zuwendungen gehandelt habe. Sprecher*innen von Chiquita haben immer wieder argumentiert, die Zahlungen an den AUC hätten auf Grund von Erpressung stattgefunden. Dieser Darstellung wiedersprach jedoch bereits ein US-Richter, der 2007 an dem Verfahren gegen Chiquita teilnahm: „Als multinationales Unternehmen war Chiquita nicht dazu gezwungen, 15 Jahre lang in Kolumbien zu bleiben und gleichzeitig die drei wesentlichen Akteure des Konflikts zu bezahlen, die währenddessen das kolumbianische Volk terrorisierten.“ Auch der damalige stellvertretende Oberstaasanwalt, Michael Chertoff, äußerte in dem Zusammenhang: „Das Unternehmen hatte eine legale Alternative: Kolumbien verlassen.“

Bezüglich der Zahlungen an die Guerillagruppen FARC, ELN und ELP wurden bisher weder in den USA noch in Kolumbien Verfahren eingeleitet. In dem Verfahren um die Zahlungen an den Dachverband der Paramilitärs (AUC) gab Chiquita auch Zahlungen von mehr als 850.000 US-Dollar an die linken Guerillas zu, jedoch nur im Zeitraum von 1989 bis 1997, als diese von den USA noch nicht als terroristische Gruppen deklariert wurden. In diesem Zeitraum wurden, nach Informationen der kolumbianischen Beobachtungsstelle für Erinnerung und Konflikt, in den Bananenanbauregionen 181 Menschen bei 21 Massakern getötet. 15 dieser Massaker werden der FARC zugeschrieben. Nach einem Treffen zwischen Vertreter*innen von Chiquita und dem Anführer des AUC, Carlos Castaño Gil, 1997, wurden die meisten Zahlungen an linke Guerillagruppen eingestellt und von da an vor allem paramilitärische Gruppen und rechtsgerichtete Milizen bezahlt.

Die nun von dem Zusammenschluss kolumbianischer NGOs angestrebte juristische Auf­arbeitung auf internationaler Ebene wird unter dem Stichwort „Ende der Straflosigkeit“ vorangetrieben. Ziel ist es, so die Organisationen in ihrem Schreiben, auch auf nationaler Ebene klare strafrechtliche Verantwortlichkeiten zu bestimmen. Zudem sei das Handeln des Internationalen Strafgerichtshofs entscheidend für die mögliche Verhinderung ähnlicher von multinationalen Konzernen finanzierter Verbrechen, so der Brief.

INSTABILE GRENZE

„La Guajira erlebt gerade eine Reihe von Konflikten. Einige lassen sich bis zur Gründung der Republik Kolumbien zurückverfolgen“, erläutert Weildler Guerra Curvelo, der Gouverneur des Bundesstaates La Guajira, bei einer Konferenz vor Journalist*innen. „Die übrigen hängen hauptsächlich mit der schlechten Konjunktur zusammen, die wir gerade in unserem Verhältnis zu Venezuela erleben“. Seit Schließung der nördlichen Grenzübergänge im August 2015 ist der – legale und illegale – Handel mit dem Nachbarland zum Erliegen gekommen. Die abgelegene Halbinsel am nördlichsten Zipfel des Landes ist traditionell ein Umschlagplatz für Schmuggelgüter aus beiden Richtungen.

Die Handelsmetropole Maicao, auch bekannt als „kommerzielles Schaufenster Kolumbiens“, trägt seit Beginn des 20. Jahrhunderts den Status eines zollfreien Gebietes und fungiert als wirtschaftliche Brücke zwischen Kolumbien und Venezuela. Neben dem legalen Handel mit verschiedenen Gütern, etwa den Kunstprodukten der in der Region lebenden indigenen Gruppe der Wayúu, hat auch der Einbruch des illegalen Treibstoffhandels schwere Auswirkungen auf die lokale Wirtschaft. Seit Beginn der ökonomischen Krise im Nachbarland sehen sich vor allem die in Grenznähe lebenden Indigenen außerdem zunehmend mit einem Mangel an Nahrungsmitteln konfrontiert. Hildurara Barliza, Repräsentant der Wayúu, erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur Efe: „Wir müssen der historischen Realität ins Auge blicken: Wir haben uns immer gut ernährt, wir hatten eigentlich keinerlei Probleme – und das nur, weil wir von den subventionierten Preisen in Venezuela profitiert haben“.

Laut Zahlen des Nationalen Gesundheitsinstituts (INS) starben in La Guajira allein 2016 mindestens 90 Menschen an Unterernährung. Dem kolumbianischen Statistikamt (DANE) zufolge gehen 85% der Lokalbevölkerung informellen Arbeitsverhältnissen nach, über 50% der Menschen leben unter der Armutsgrenze. Gleichzeitig beziffert die staatliche Planungsbehörde (DNP) den Anteil der Menschen, die unter unzureichenden Bedingungen leben – das heißt im konkreten Fall beispielsweise ohne Zugang zu fließendem Wasser – mit 44,6%.

Die Krise im Nachbarland trifft eine Region, die in den vergangenen Jahren auch zunehmend unter dem Klimawandel zu leiden hatte.

Die Krise im Nachbarland trifft eine Region, die in den vergangenen Jahren auch zunehmend unter dem Klimawandel zu leiden hatte. Schwere Dürreperioden, aber auch der massive Kohleabbau (siehe LN 509) bedrohen die Wasserressourcen und rauben den Menschen damit die Lebensgrundlage. Gleichzeitig steht die Region auf Grund ihrer strategisch günstigen Lage immer wieder im Fokus der Aktionen verschiedener Guerillas sowie paramilitärischer und anderer krimineller Gruppierungen. Verkompliziert wird diese Situation durch den schwelenden Grenzkonflikt mit Venezuela. Am 21. Mai bezichtigte die venezolanische Regierung die kolumbianische Seite in einem offiziellen Schreiben der militärischen Aufrüstung: Kolumbien würde mit „gepanzerten Kampffahrzeugen in wenigen Metern Entfernung zur Grenze“ einen erneuten Ausbruch der Auseinandersetzungen provozieren. In den vergangenen Jahren war es immer wieder zu diplomatischen Krisen im Grenzgebiet gekommen, teils mit schweren gewalttätigen Ausschreitungen und Massendeportationen von in Venezuela lebenden Kolumbianer*innen. 2015 wurde der gesamte Grenzverlauf über mehrere Monate hinweg gesperrt, Teile der Grenze sind bis heute unpassierbar. Das kolumbianische Verteidigungsministerium stritt die Vorwürfe ab und verwies darauf, dass sich die betreffenden Panzer bereits seit einigen Jahren aufgrund der paramilitärischen und Guerilla-Aktivitäten in der Grenzregion befänden.

Der venezolanische Präsident Nicolás Maduro hatte seinerseits bereits Mitte Mai die Militarisierung des ebenfalls in der Grenzregion gelegenen Bundesstaates Táchira angeordnet. Nach gewalttätigen Protesten, in deren Verlauf mehrere Polizeistationen angezündet und mindestens drei Personen getötet wurden, entsandte die Regierung 2600 Soldat*innen nach Táchira, „um den Frieden wiederherzustellen“. Diese Operation ist Teil der zweiten Phase der von Maduro verabschiedeten Sicherheitsmaßnahme „Plan Zamora“, mit der die Regierung die massiven Proteste im Land eindämmen will (siehe Interview mit Daniela Guerra in dieser Ausgabe).

Die Region Táchira grenzt an den kolumbianischen Bundesstaat Norte de Santander, dessen Bevölkerung sich mit ähnlichen Problemen konfrontiert sieht wie jene in La Guajira. Aktuell überqueren laut Zahlen der kolumbiani- schen Regierung aus venezolanischer Richtung kommend. täglich etwa 45.000 Menschen die Grenze bei Cúcuta Die meisten dieser Personen überqueren diese Grenze regelmäßig, etwa weil sie Handel in Cúcuta treiben oder Verwandte besuchen. Allerdings verzeichnen die Behörden nur etwa 30.000 Grenzüberquerungen in die andere Richtung. Es gibt keinerlei Aufzeichnungen über das Verbleiben der übrigen 15.000 Personen, die täglich einreisen. „Mich beunruhigt die massive Migration in Richtung Kolumbien, weil diese Menschen um ihr Leben flüchten“, äußerte Pepe Ruiz, Bürgermeister der Grenzstadt Villa del Rosario, gegenüber der Tageszeitung El Tiempo. Auch wenn sich der Vize-Verteidigungsminister Anibal Fernández de Soto bereits Anfang Mai zuversichtlich gezeigt und betont hatte, dass das Land darauf vorbereitet sei, einer „humanitären Krise“ in Venezuela und damit verbundener massiver Migration nach Kolumbien zu begegnen, äußerten Vertreter*innen der Lokalregierung sowie der Zivilbevölkerung starke Kritik an den Maßnahmen der Regierung. José Uriel Acevedo Arias, lokaler Repräsentant der Lehrer*innengewerkschaft SINTRENAL, kommentierte gegenüber lokalen Medien: „Es ist schon ironisch, dass Kolumbien es in 50 Jahren nicht geschafft hat, einen Notfallplan für all die Missstände innerhalb Kolumbiens bereitzustellen, aber jetzt angeblich schon einen Notfallplan für die venezolanischen Migranten hat.“

Nach den massiven Protesten gegen soziale Missstände in den Regionen Chocó und Valle del Cauca prüfen daher auch die Gewerkschaften und sozialen Organisationen in Cúcuta die Möglichkeit eines Generalstreiks: „Wir haben immer noch die gleichen Probleme: Cúcuta führt nach wie vor die Ranglisten in Punkten wie Arbeitslosigkeit, informelle Arbeitsverhältnisse oder soziale Ausgrenzung an. Es ist daher unsere Pflicht als Gewerkschafter, als Politiker, als Zivilbevölkerung auf die Straße zu gehen und uns genauso zu mobilisieren wie die Menschen im Chocó und in Buenaventura“, sagte Leonardo Sánchez, Führer des Gewerkschaftsbundes CUT, gegenüber El Tiempo.

Trotz Maßnahmen wie dem neuen Ausweis zur Grenzmigration, erfolgt die Migration weiterhin völlig unkontrolliert.

Trotz Maßnahmen wie dem neuen Ausweis zur Grenzmigration (TMF), der im April eingeführt wurde und Bewohner*innen der Grenzregionen für Zeiträume bis zu acht Tagen die legale Einreise nach Kolumbien ermöglichen soll, erfolgt die Migration weiterhin völlig unkontrolliert. Christian Krüger, Leiter der Kolumbianischen Migrationsbehörde, betonte im Interview mit der Wochenzeitung Semana, dass die meisten Venezolaner*innen auf der Suche nach dringend benötigten Medikamenten, medizinischer Versorgung, Nahrungsmitteln oder informeller Arbeit nach Kolumbien kommen würden. Rodolfo Hernández, Bürgermeister der Industriemetropole Bucaramanga, Hauptstadt des ebenfalls nahe der Grenze liegenden Bundesstaates Santander, sorgte derweil für Polemik, als er gegenüber dem Innenministerium eine effektive Kontrolle der Migration forderte. Er betonte, dass den Venezolaner*innen geholfen werden müsse, da das Land über Jahrzehnte unzähligen Kolumbianer*innen Zuflucht geboten habe. Jedoch habe seine Stadt kein Geld, um sich um die tausenden Migrant*innen zu kümmern: „Jetzt kommen alle Bettler, Prostituierten und Arbeitslosen Venezuelas“, betonte er und fuhr fort: „Also, was machen wir in Bucaramanga? Wir können sie [gemeint sind die Migrant*innen, Anm. d. Red.] nicht töten und nicht auf sie schießen, wir müssen sie empfangen, genau wie Venezuela mehr als vier Millionen Kolumbianer empfangen hat“.

Derweil gehen die Proteste auf venezolanischer Seite weiter, ein Ende der Versorgungsengpässe und dadurch auch des Flüchtlingsstroms ist nicht abzusehen. Die ersten Notunterkünfte wurden im Raum Cúcuta bereits errichtet, die Krankenhäuser berichten von ständiger Überforderung durch die unzähligen venezolanischen Patient*innen. Abzuwarten bleibt, wie Kolumbien, traditionell eher Ausgangspunkt von Migrationsbewegungen der vom eigenen internen Konflikt betroffenen Menschen, seine neue Rolle als Zielland der Geflüchteten meistern wird. Die schwierige Lage gerade in den Grenzregionen droht sich jedoch zunächst eher zu verschärfen als zu verbessern- gerade auch angesichts der landesweiten Protestbewegungen und Generalstreiks, die in den vergangenen Wochen das Land in Atem hielten.

VERHANDLUNGEN INMITTEN DES KRIEGES

Am Morgen des 19. Februar erschütterte eine Explosion den belebten Stadtteil La Macarena im Herzen der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá. Ziel des Anschlags waren offenbar Polizist*innen der mobilen Spezialeinheit zur Aufstandsbekämpfung (ESMAD). Diese bereitete sich zu diesem Zeitpunkt auf die Überwachung der geplanten Proteste gegen die Wiedereinführung von Stierkämpfen in der angrenzenden Arena vor. Die Bilanz des Anschlags: 30 Verletzte, darunter 26 Polizist*innen. Ein Polizist erlag kurz darauf seinen schweren Verletzungen.

Analyst*innen zählen seit dem 7. Februar mindestens zehn Anschläge von der ELN.

Dies war bereits der vierte Anschlag im laufenden Jahr in Bogotá. Weniger als 24 Stunden zuvor explodierte ein Sprengkörper in einem Restaurant im Stadtviertel La Quesada. Ein ähnlicher Sprengkörper explodierte eine Woche vorher in einem Restaurant in der Nachbarschaft und verletzte sieben Menschen. Mitte Januar wurden bei einem Attentat im Eingangsbereich der staatlichen Zollbehörde (DIAN) zwei Menschen verletzt.

Aus Sicht der Regierung waren die Schuldigen schnell gefunden. Der Verteidigungsminister Luis Carlos Villegas erklärte kurz nach dem Anschlag in La Macarena: „Der Bombenanschlag hängt sehr wahrscheinlich mit den Attentaten der vergangenen Wochen zusammen. Alles deutet darauf hin, dass urbane Zweige der ELN dahinterstecken“.

Nachdem die ELN Anfang Februar den Lokalpolitiker Odin Sánchez freigelassen hatte, begann am 7. Februar die öffentliche Phase der Friedensverhandlungen zwischen Vertreter*innen der Regierung und der Guerilla. Den Gesprächsrunden, die unter internationaler Beobachtung in Quito stattfinden, ging eine dreijährige Erkundungsphase voraus, während der die Themen auf der Friedensagenda definiert wurden (siehe LN 511).

Während die ELN von Anfang an die Notwendigkeit eines beidseitigen Waffenstillstandes als Voraussetzung für den Friedensprozess betonte, hält die kolumbianische Regierung an ihrer Prämisse der Verhandlungen inmitten des Krieges fest. Eduardo Álvarez, Direktor der Abteilung für die Dynamik von Friedensprozessen der kolumbianischen Stiftung Ideen für den Frieden (FIP), begründete diese Politik mit einer Fehleinschätzung der Regierung: „Viele Analysten machen den Fehler, die ELN auf ihre militärische Stärke zu reduzieren: Sie hat 1800 Kämpfer, also ist sie schwach und leicht zu demobilisieren“, erläuterte er gegenüber dem Internetmedium La Silla Vacía. „Allerdings agiert die ELN völlig anders als die Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte (FARC). Sie leistet sich weniger offene Gefechte mit den Streitkräften, sondern agiert vielmehr mit gezielten Entführungen und punktuellen terroristischen Attentaten, die nur wenig Aufwand erfordern: Anschläge auf die Infrastruktur, auf militärische Posten oder auf Polizisten wie im Fall des Attentates in La Macarena“. Demnach seien diese Anschläge vielmehr eine symbolische Ansage an die Regierung: „Wenn wir keinen beidseitigen Waffenstillstand schließen, setzen wir die Attentate fort“.

Pablo Beltrán: „Wir sind keine Anhänger einseitiger Zugeständnisse”.

Bereits kurz nach dem Anschlag in La Macarena forderten oppositionelle Politiker*innen ein sofortiges Ende der Friedensverhandlungen. Der ehemalige Präsident und Gegner des Friedensprozesses Álvaro Uribe Vélez beschuldigte die Regierung der Tatenlosigkeit: „Die ELN greift die Zivilbevölkerung Bogotás an, verletzt unzählige Menschen und es passiert gar nichts. Die Gespräche müssen sofort ausgesetzt werden, bis die ELN sämtliche militärischen Aktivitäten einstellt“, äußerte er in einer Fernsehansprache.

Die Forderung nach einem einseitigen Waffenstillstand ist zu diesem Zeitpunkt angesichts der schwachen Position der ELN absolut unrealistisch, und wird der Struktur der Guerilla auch nicht gerecht. Im Gegensatz zu den FARC ist die ELN eher horizontal organisiert: Während die Führungsspitze der FARC ihren Kämpfer*innen vom Verhandlungstisch in Kuba aus Befehle erteilen konnte, agieren die einzelnen Gruppen der ELN mitunter autonom. Die FARC konzentrierten sich in den letzten Jahrzehnten hauptsächlich auf militärische Aktionen in abgelegenen Gebieten Kolumbiens. Große Teile der ELN hingegen verstehen sich eher als sozio-politische Organisation. Seit ihrer Gründung 1964 rekrutierte die Guerilla ihre Unterstützer*innen hauptsächlich aus dem urbanen, intellektuellen Milieu und verfügt somit über eine viel breitere Basis innerhalb der Zivilgesellschaft als etwa die FARC. Ein Ende der Friedensverhandlungen mit der Guerilla würde dabei eher jenen ELN-Kämpfer*innen helfen, die intern gegen die Gespräche revoltieren. Analyst*innen wie der Journalist und Friedensaktivist Moritz Akermann verweisen daher auf die internen Grabenkämpfe der Guerilla: „Es gibt innerhalb der ELN verschiedene Gruppen, die gegen den Friedensprozess sind“, äußerte er gegenüber der Wochenzeitschrift Semana. „Attentate richten sich daher nicht direkt gegen die Bevölkerung, sondern können auch als Kritik an den ELN-Vertretern in Quito gedeutet werden“. Akermann betonte auch, dass die Regierung die ELN grundsätzlich falsch einschätze: „Die Regierung hat sich jahrzehntelang auf den Kampf gegen die FARC konzentriert. Teile der Streitkräfte haben sogar mit der ELN kooperiert, um eine Art Gegengewicht zu den FARC zu konstruieren.“

Ein beidseitiger Waffenstillstand käme der ELN insofern gelegen, als das dieser die militärischen Aktionen beider Parteien untersagen würde – nicht jedoch die Entführungen und Sabotageakte, die einen Großteil der Aktionen der ELN ausmachen. Der unter dem Alias „Pablo Beltrán“ bekannte Anführer der ELN-Verhandlungskommission machte Anfang Februar im Interview mit der Zeitung El Espectador deutlich: „Die Diskussion über den Frieden ist innerhalb der kolumbianischen Linken und auch innerhalb der ELN sehr facettenreich. Wir werden in Quito nichts vereinbaren, was nicht alle Teile unserer Organisation tragen können“, und ergänzte: „Wir sind keine Anhänger einseitiger Zugeständnisse. An diesem Verhandlungstisch gibt es zwei Parteien – also müssen beide Parteien auch bereit sein, Verantwortung zu übernehmen.“

Dass die Entscheidungswege innerhalb der ELN deutlich länger als innerhalb der FARC sind, wird auch an ihren offiziellen Mitteilungen deutlich. Erst eine Woche nach dem Anschlag in La Macarena bekannte sich die Führungsriege der Guerilla zu dem Attentat. Dieses habe sich gegen die Polizeieinheit ESMAD gerichtet. Die Einheit begehe ungestraft Menschenrechtsverletzungen und unternehme nichts, um Menschenrechtsverteidiger*innen und Aktivist*innen zu schützen, lautete die Begründung.
Allein seit Beginn des Jahres wurden mindestens 15 Aktivist*innen in verschiedenen Teilen des Landes ermordet, davon mehrere mit Verweis auf ihre (vermeintliche) Nähe zur ELN. Seit Beginn der Demobilisierung der FARC übernehmen zunehmend kriminelle und paramilitärische Organisationen die Kontrolle über die von den FARC geräumten Gebiete. Doch auch die ELN füllen in einigen Regionen das neu entstandene Machtvakuum und bauen damit ihre politische Position aus.

Während sie die Menschenrechtsverletzungen von staatlicher Seite anprangert, verübt die Guerilla auch parallel weiter Anschläge. So werden der ELN nicht nur die Attentate in Bogotá zugeschrieben. Analyst*innen zählen allein seit Beginn der Verhandlungen am 7. Februar mindestens 10 Anschläge, deren Ausführung die Handschrift der ELN trägt. Zuletzt wurden am 25. März fünf Menschen bei einem Angriff in der Region Chocó getötet, mindestens 50 Personen mussten aus ihren Häusern fliehen. Laut Augenzeugenberichten trugen die Angreifer die Banderole der ELN. Auch die Regierung lässt weiter Stellungen der ELN angreifen.

Angesichts dieser Situation lässt sich an baldigen Fortschritten am Verhandlungstisch in Quito zweifeln. Doch statt die Friedensgespräche abzubrechen oder einen einseitigen Waffenstillstand der Guerilla zu fordern – der schon bei den FARC mehrfach nach Angriffen auf Stellungen der Guerilla scheiterte – sollte die Regierung vielmehr an die Zivilbevölkerung appellieren und den Kampf gegen die elementaren Probleme des Landes angehen: gegen fehlende Bildungs- und Gesundheitsversorgung, fehlende Nahrungsmittel und die Bedrohung durch paramilitärische Verbände. Denn gerade die engen politischen und sozialen Verbindungen der ELN verpflichten die Guerilla zur Rechenschaft gegenüber ihren Unterstützer*innen. Fehlte die politische Legitimation für Anschläge, Sabotageakte und Entführungen, würde die Position der Guerilla somit deutlich effektiver geschwächt als durch Militärschläge und Drohungen. Doch solange die Regierung weiterhin ihre elementaren Aufgaben nicht wahrnimmt und viele Regionen des Landes sich selbst – und damit kriminellen und paramilitärischen Banden – überlassen bleiben, wird die ELN auch weiterhin Legitimation und Unterstützung für ihre Aktionen finden.

 

100 TREFFEN FÜR DEN FRIEDEN

Am achten Februar begann die öffentliche Phase der Friedensverhandlungen zwischen der kolumbianischen Regierung und der ELN-Guerilla in der ecuadorianischen Hauptstadt Quito. An oberster Stelle der Agenda steht, die Beteiligung der Zivilgesellschaft an den Verhandlungen zu definieren. In diesem Sinne muss eine transparente Debatte zwischen den unterschiedlichen Lagern und Verhandlungsparteien geführt werden.

“Wir Frauen sind bereit für die Beteiligung: Wir machen Vorschläge, hören zu und lösen!”

Dafür schlugen viele Organisationen das Bündnis Sozialer Tisch für den Frieden (Mesa Social para la Paz) vor. Der Tisch soll einen komplementären Raum zu den Verhandlungen mit den Aufständischen bilden, in dem die Zivilgesellschaft gegenüber der kolumbianischen Regierung ihre Anliegen und Themen einbringen will, um so die Verhandlungen mit der ELN mitzugestalten. Ein Komitee aus 80 Organisationen soll nun einen konkreten Vorschlag für die zivile Partizipation bei den Verhandlungen mit der ELN erarbeiten.

Die Guerillaorganisation hat die Bedeutung und Notwendigkeit betont, die Vorschläge der verschiedenen sozialen und politischen Bewegungen zu berücksichtigen. Dagegen hat der Chef-Unterhändler der Regierung, Juan Camilo Restrepo, während des Festaktes zum Auftakt der öffentlichen Phase der Gespräche die Initiativen zwar begrüßt, bezweifelte jedoch die Wirkungen ihrer Vorschläge. Ein Regierungssprecher äußerte sogar, dass die Beteiligung „nicht verbindlich sein könne“. Die sozialen Bewegungen fordern hingegen eine Stärkung partizipatorischer Mechanismen, dafür soll das Format, das bei den Verhandlungen mit der FARC angewendet und als zu eingeschränkt kritisiert wurde, weiterentwickelt werden.

Die vielfältige Frauenbewegung des Landes konnte in den Verhandlungen mit der FARC vor allem über eine breite Mobilsierung die Aufmerksamkeit der beiden Verhandlungsparteien gewinnen. Dank dieses öffentlichen Drucks wurde 2014 eine Subkommission gegründet, um die Gender-Frage in das Friedensabkommen zwischen der Regierung und der FARC zu integrieren. Nach dem gescheiterten Referendum über die Ratifizierung des Abkommens im Oktober 2016 entflammte jedoch eine Debatte um den Gender-Fokus, der in das Abkommen integriert worden war. Soziale, politische und religiöse Akteure kritisierten, dass damit eine Gender-Ideologie vorangetrieben würde, die das traditionelle Familienbild angreife. Die selben Lager signalisierten, dass es irreführend sei, Ausdrücke wie „Menschen mit unterschiedlicher sexueller Orientierung“ zu benutzen. Dabei handelt es sich um konservative, homophobe Teile der Gesellschaft, die sich auch systematisch gegen die gleichgeschlechtliche Ehe und die Möglichkeit der Adoption von Kindern durch homosexuelle Paare stellen.

Im endgültigen Abkommen, das nach dem Plebiszit vom Kongress bewilligt wurde, hieß es dann, dass mit dem Gender-Fokus die Gleichbehandlung von Mann und Frau im Rahmen des Friedensvertrages festgelegt worden sei. Das Abkommen beinhaltet immer noch konkrete Maßnahmen für den Schutz von Frauenrechten und die Anerkennung der geschlechtsspezifischen Auswirkungen des bewaffneten Konfliktes auf Frauen. Darüber hinaus wurde jedoch nur in eingeschränkter Form die Situation von LGTBI-Personen aufgegriffen.

Eine Lehre aus den Verhandlungen in Havanna ist, dass die Mechanismen für die zivile Beteiligung im Laufe der Gespräche, und nicht erst in der Phase der Ratifizierung, verbessert werden müssen. Dabei geht es nicht nur darum, Formalien zu erarbeiten, sondern um die Bereitschaft des politischen Establishments, auf soziale Bewegungen zuzugehen. Die Reichweite der Initiativen der sozialen Bewegungen sollte dazu befähigen, ungleiche Strukturen, welche den bewaffneten Konflikt Kolumbiens hervorgebracht haben, effektiv zu verändern.

„Wir Frauen sind bereit für die Beteiligung: Wir machen Vorschläge, hören zu und lösen!“ Mit diesem Aufruf haben unterschiedliche Frauenorganisationen im Rahmen der Kampagne ‘100 Treffen für den Frieden’ am 4. Februar mobilisiert. Überall in Kolumbien kamen Frauen zusammen und diskutierten ihre Anliegen und Möglichekiten. Diese Kampagne wurde vom Sozialen Tisch für den Frieden mit dem Ziel ausgerufen, die neu begonnenen Verhandlungen zu begleiten. Im Landkreis Santander de Quilichao, im Norden des Verwaltungsbezirks Cauca, führt die Arbeitsgruppe Espacio de Mujeres Diversas y Paz Diskussionen, um das Engagement der Frauen bei der Implementierung des Friedensabkommens mit den Aufständischen zu stärken.

In Cauca ist die Bevölkerung besonders stark vom bewaffneten, sozialen und politischen Konflikt betroffen und der Verwaltungsbezirk im Südwesten Kolumbiens zählt zu denjenigen, in denen die staatliche Vernachlässigung Tradition hat. Auch indigene und afrokolumbianische Frauen und Männer diskutierten in der Arbeitsgruppe unter anderem über die Anerkennung der Rechte von Opfern und bekräftigten die Notwendigkeit eines partizipativen Friedens sowie eines Zusammenschlusses der sozialen Bewegungen. Räume wie diese machen es möglich, dass sie ihre Sorgen und Vorschläge für die Beteiligung der Zivilgesellschaft im Friedensprozess öffentlich äußern und festigen auf kommunaler Ebene die Idee, dass eine starke Zivilgesellschaft Voraussetzung für Frieden ist. Im Wesentlichen zielen diese öffentliche Diskussionen auf eine neue politische Öffnung und auf substanzielle, mit der Bevölkerung erarbeitete Änderungsvorschläge, durch die sich der Konflikt nicht wiederholen soll. Ein partizipativer Friedensprozess kann ohne Zweifel komplex und langwierig sein, doch gleichzeitig ist er die einzige Möglichkeit, die Zivilgesellschaft weiter einzubinden, damit die Verträge und der daraus resultierende Frieden von einer großen Basis mitgetragen werden.

BLICK IN DEN SPIEGEL

Zumindest der juristische Weg in den weiteren Friedensprozess zwischen der kolumbianischen Regierung und den Bewaffneten Streitkräften Kolumbiens (FARC) scheint gesichert. Mit der Zustimmung des Verfassungsgerichts kann nun der Kongress durch das Fast-Track Verfahren das Friedensabkommen umsetzen. Dabei handelt es sich um eine Ausnahmegenehmigung, welche die nötigen juristischen Reformen beschleunigt und dadurch die Anerkennung des Friedensabkommens als Gesamtwerk ermöglicht.

Da im kommenden Jahr Präsidentschaftswahlen anstehen, ist die schnelle Umsetzung des Abkommens, insbesondere für die FARC, entscheidend.  Statt zwei Jahre wird der legislative Prozess nur etwa sechs Monate in Anspruch nehmen. Gleichzeitig garantiert dies, dass zukünftige Präsidenten den Inhalt des Friedensabkommens entsprechend der aktuellen Formulierungen umsetzen müssen. Bestimmte Gesetze wie etwa das Amnestiegesetz, das nun bereits Ende Dezember vom Parlament verabschiedet wurde, sind für den weiteren Verlauf des Prozesses von entscheidender Bedeutung – denn sie legen die Grundlage für die (Re-)Integration der Kämpfer*innen in die Gesellschaft.

In der Mehrheit der Übergangszonen sind noch keine Unterkünfte vorhanden.

Entsprechend dem 180-Tage-Plan, der als Teil des Abkommens im November verabschiedet wurde, müssten sich die Ex-Guerrillerxs seit Mitte Dezember in den sogenannten Übergangszonen befinden. In diesen Sondergebieten sollen die Kämpfer*innen entwaffnet und resozialisiert werden, um im Anschluss in die Gesellschaft (re-)integriert werden zu können. Allerdings verzögerte sich die Errichtung der Sammelzentren von Beginn an: In der Mehrheit der 23 Übergangszonen sind immer noch keine Unterkünfte und Zugangswege vorhanden. Daher befinden sich die meisten FARC-Kämpfer*innen nach wie vor in den temporalen Lagern, in denen sie nach dem verlorenen Referendum gesammelt wurden.

Solange die Guerrillerxs nicht in den endgültigen Übergangszonen sind, befinden sie sich jedoch noch in einer gesetzlichen Grauzone. Es ist beispielsweise unklar, wer für die Ernährung und gesundheitliche Versorgung der Ex-Kämpfer*innen zuständig ist. Julián Suárez, Cousin des 2010 getöteten FARC-Anführers Luis Suárez alias „Mono Jojoy“, beschreibt im Interview mit der Tageszeitung El Espectador seine Sorgen: „Als wir noch im Krieg waren, gab man uns Schuhe, Kleidung, Essen; es gab einen Arzt oder zumindest Krankenpfleger. Aber wenn jemand hier in der Zone krank wird, muss derjenige zum Camp des Prüf- und Auswertungsmechanismus (MMV) – aber offenbar ist dort niemand auf solche Fälle vorbereitet.“ Er erklärte zudem, dass ihnen nur wenige, teilweise bereits verdorbene Lebensmittel zur Verfügung ständen.

Da viele der ehemaligen FARC-Kämpfer*innen keine gültigen Ausweise besitzen, ist ihnen der Zugang zum normalen Gesundheitssystem verwehrt. Die unklare Situation sorgt bei vielen Guerrillerxs für Frustration. Dazu kommt die schwelende Angst, der Massenmord an der Union Patriótica (UP) Ende der 1980er Jahre könne sich wiederholen. Mindestens 5000 Mitglieder der Partei, die als eine Art politischer Arm der FARC gegründet worden war, wurden damals  innerhalb weniger Jahre ermordet – darunter zwei Präsidentschaftskandidaten.

Diese Angst wird verstärkt durch die enorme Zunahme der Gewalt gegen Menschenrechts- und Friedensaktivist*innen (siehe Kasten). Allein die linke Basisorganisation Marcha Patriótica beklagt die Ermordung von mindestens 127 ihrer Mitglieder im vergangenen Jahr. Dazu kommt, dass viele FARC-Kämpfer*innen durchaus von dem lukrativen Drogenhandel profitieren und nicht bereit sind, diese Einnahmen für eine ungewisse Zukunft aufzugeben.

So haben sich in den vergangenen Monaten einige FARC-Kommandos aus den Reihen der Guerilla gelöst. Anfang Januar kam es zu ersten gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen desertierenden Gruppen und den FARC: In der Region Caquetá lieferten sich Dissident*innen der 14. Front und Kämpfer*innen des Kommandos „Teófilo Forero“ blutige Kämpfe, bei denen mindestens zwei Menschen getötet wurden. Die Auseinandersetzung fand nahe der Stadt San Vicente del Caguán statt – dem Austragungsort der gescheiterten Friedensverhandlungen zwischen der Regierung von Andrés Pastrana und der damaligen FARC-Führung. Der Ort hat somit einen besonderen symbolischen Wert für die Moral der Kämpfer*innen.

Bereits kurz nach den Kämpfen erklärte das kolumbianische Militär in einer offiziellen Verlautbarung die Vorfälle für nicht tolerierbar: „Wenn die FARC ihre Waffen benutzen – und sei es gegen ihre eigenen Dissident*innen – brechen sie damit den Waffenstillstand. Es ist die Pflicht des Militärs, solche Verbrechen strafrechtlich zu verfolgen“. Die FARC hingegen erläuterten, dass es sich bei diesen Akten um eine „zielgerichtete Sabotage des Friedensprozesses“ handele: Die desertierenden Gruppen würden Bauern und Bäuerinnen mit Gewalt zwingen, den Frieden mit allen Mitteln zu boykottieren.

Menschenrechtsaktivist*innen fürchten, dass es – ähnlich wie nach dem Friedensprozess mit den paramilitärischen Gruppen Anfang der 2000er Jahre – zu einer Aufspaltung in bewaffnete Gruppierungen kommen könne, die nicht zu kontrollieren und nicht an einem Frieden interessiert seien.

Der Friedensprozess steht auf wackligen Füßen.

Weitere Angriffe dissidierter FARC-Kämpfer*innen scheinen ihnen Recht zu geben: So sollen Guerrillerxs die Bürgermeisterin der Siedlung La Paz, wo sich eine der Übergangszonen befindet, massiv mit Waffen bedroht haben.Auch für die Ermordung der Aktivistin Emilsen Mayoma und ihres Ehemanns am 17. Januar war laut Aussagen der FARC-Führung ein Dissident verantwortlich. Dabei handele es sich um den Bruder Emilsens, der die Reihen der Guerrilla im Dezember 2016 schwer bewaffnet verlassen hatte und dafür von seiner Schwester stark kritisiert worden war.

Während der Friedensprozess mit den FARC in den vergangenen Monaten ins Laufen kam, verzögerten sich parallel die Verhandlungen mit der zweitgrößten Guerilla, der Nationalen Befreiungsarmee (ELN). Die Vorgespräche waren ins Stocken geraten, nachdem die Guerilla im April Odín Sanchéz entführt hatte. Der Politiker hatte sich gegen seinen Bruder Patrocinio Sanchéz austauschen lassen, der sich drei Jahre in den Händen der ELN befand und während dieser Zeit schwer erkrankt war.

Nachdem die Guerilla sich zunächst monatelang mit Verweis auf Sanchéz’ paramilitärische Verbindungen und Korruptionsskandale weigerte, den Politiker freizulassen, scheint die Vorbereitungskommission nun eine Einigung erzielt zu haben. Beide Parteien verkündeten, dass Sanchéz am 2. Februar freigelassen werde. Gleichzeitig sollen die offiziellen Friedensverhandlungen in Quito am 7. Februar endgültig beginnen. Überschattet wird diese neue Phase des Friedensprozesses von einigen blutigen Attentaten, die die ELN in den vergangenen Monaten verübte. Zudem erhielt die Guerilla laut eigenen Aussagen ein stattliches Lösegeld für die Freilassung Sanchéz.

Der Friedensprozess steht demnach nach wie vor auf wackligen Füßen. Es wird sicherlich noch Jahre dauern, bis wirklich überall im Land Frieden herrscht – solange die paramilitärischen Strukturen nicht ausgelöscht und ein Friedensabkommen mit den restlichen Guerillas geschlossen wird, wird die Situation wahrscheinlich zunächst eher schlimmer als besser. Auch die wirtschaftliche Lage wird laut lokalen Beobachter*innen die nächsten Monate für soziale Unruhen sorgen. Allerdings bleibt die Hoffnung, dass nun der Weg frei ist für die Beschäftigung mit den realen Problemen der kolumbianischen Gesellschaft. So betonte auch Frank Pearl, Mitglied der Regierungsdelegation in den Friedensverhandlungen mit den FARC: „Der bewaffnete Konflikt mit den FARC hat jahrzehntelang als Ausrede gedient, um die Abwesenheit des Staates in weiten Teilen Kolumbiens zu verstecken. Das ist eine Realität, die nun mit dem Friedensabkommen geändert werden muss“, erklärte er bei einer Konferenz in Santiago de Chile. „Der interne bewaffnete Konflikt war eine Ausrede dafür, dass es keinen Staat, kein Gesundheitssystem, keine Bildung und keine Gerechtigkeit gab. Jetzt ist diese Ausrede weg und wir müssen endlich unser Spiegelbild betrachten.“ Bleibt zu hoffen, dass die Regierung bereit ist, sich mit diesem Spiegelbild auseinanderzusetzen.

ENDE DER GEWALT?

Das überarbeitete Friedensabkommen zwischen den revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC-EP) und der kolumbianischen Regierung ist in beiden Kammern des Kongresses ratifiziert worden. Seit dem 6. Dezember hat die Konzentration der Kämpfer*innen in den Demobilisierungszonen begonnen. Dieser Prozess wird jedoch von ersten Desertationen und Sorgen um die zukünftige Sicherheitslage im Land begleitet.

Meta

 Leben in Frieden? Der Verwaltungsbezirk  Meta im Südosten war Jahrzehnte lang eine Hochburg der FARC

Nach dem knappen Sieg des ‚Nein‘ in der Volksbefragung zum Friedensabkommen vom 2. Oktober, das Kolumbien und die Welt erschütterte, verhandelte die Regierung von Juan Manuel Santos mit der FARC-EP über Änderungen am ursprünglichen Friedensvertrag. Parallel dazu führte Santos auch Verhandlungen mit Vertretern des ‘Nein’-Lagers rund um Ex-Präsident Álvaro Uribe Vélez und die Partei Centro Democrático (CP), um deren Unterstützung für ein neues Friedensabkommen zu gewinnen. Den Unterhändlern von Regierung und FARC-EP gelang es, sich innerhalb von nur wenigen Wochen auf ein neues Abkommen zu einigen, das am 12. November in der kubanischen Hauptstadt verabschiedet und  am 24. November von Santos und dem Führer der FARC-EP Rodrigo Londoño Echeverria in Bogotá unterzeichnet wurde.
Die Änderungen waren eine Reaktion auf die Kritiker*innen des ursprünglichen Vertrages, die durch ihre polarisierende  Kampagne eine knappe Mehrheit der wählenden Bevölkerung von der Ablehnung des Friedensvertrages überzeugen konnten. Beinahe alle Punkte des 310-Seiten starken Vertrages wurden überarbeitet, wobei die wohl bedeutendste Änderung die rechtliche Implementierung des Abkommens betrifft. So werden im Gegensatz zum ursprünglichen Vertrag nur die Punkte in die Verfassung übernommen, die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht betreffen. Zwar soll ein Übergangsgesetz dafür sorgen, dass in zukünftigen Legislaturperioden keine Veränderungen am Friedensvertrag vorgenommen werden können, allerdings gilt dieses nur für drei präsidentielle Legislaturperioden.
Die Gegner*innen des Friedensvertrages haben ihren Widerstand allerdings nicht eingestellt. Ex-Präsident Uribe und das CP bezeichneten die Änderungen lediglich als kosmetisch und verweigerten ihre Unterstützung im Kongress. Sie forderten vielmehr einen erneunten Plebiszit, was allerdings von der Regierung angesichts der starken Polarisierung in der Gesellschaft abgelehnt wurde.
Zwar galt eine Zustimmung aufgrund der Mehrheit der Regierungspartei als wahrscheinlich, die fehlende Unterstützung seitens der Opposition wird die zukünftige Implementierung in Form von politisch bindenden Gesetzten allerdings erschweren. Entsprechend äußerte sich auch ein hochrangiger Berater der Regierung: „Die Situation ist äußerst kompliziert. Wenn das zweite Abkommen von Havanna über den Parlamentsweg bestätigt wird, muss es dennoch rechtlich im Kongress ausgearbeitet werden. Dies wird sehr viele Probleme generieren, da für die Implementierung dieser Gesetzte eine Verfassungsänderung mit entsprechender Mehrheit notwendig sein wird.“ Im Rahmen der rechtlichen Implementierung des Abkommens bleibt vor allem die Gefahr, dass in künftigen Legislaturperioden die dringend notwendigen politischen und sozialen Veränderungen verwässern.
Weiteres Konfliktpotential birgt die Verwicklung der FARC-EP in den  Drogenhandel und die mit dem Friedensabkommen verbundene Übergangsjustiz. Laut dem neuen Abkommen sind nur diejenigen Drogendelikte von einer Amnestie betroffen, die unmittelbar im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt stehen und zu dessen Finanzierung beitrugen. Strafbar dagegen sind alle Delikte, die der persönlichen Bereicherung dienten oder im Zusammenhang mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit standen.  Die rechtliche Aufarbeitung entlang dieser Definition wird gerade im Kontext des kolumbianischen Konflikts eine Mammutaufgabe werden. Sollte die Übergangsjustiz daran scheitern, geht mit der Amnestie bzw. der Aussicht auf verringerte Haftstrafen ein Hauptanreiz für die Demobilisierung der Kämpfer*innen verloren, die dann sogar der Auslieferung an die USA aufgrund von Drogendelikten entgegensehen.
Besonders die unteren und mittleren Kommandostrukturen der FARC-EP dürften davon betroffen sein. Hierbei handelt es sich um äußerst erfahrene Kämpfer*innen und Strateg*innen, die neben militärischen Kenntnissen auch über das Knowhow verfügen, um den Drogenhandel zu kontrollieren. Das Konfliktpotential, das von diesen Gruppen ausgeht, wurde bereits 2006 nach der Demobilisierung der Paramilitärs deutlich. Auch damals wurde den mittleren und unteren Kommandeur*innen der einzelnen Gruppen kaum ein Anreiz für die Integration in die zivile Gesellschaft gegeben, weswegen innerhalb kürzester Zeit neue Organisationen entstanden, die bis heute massiv zu den Gewaltdynamiken im Land beitragen.
„Es gibt bereits seit Jahren Kooperationen zwischen der FARC-EP und den neuen bewaffneten Gruppen was den Drogenhandel betrifft“, so Alberto Santos vom Centro Nacional de Memoria Histórica (CNMH), das sich mit der Aufarbeitung des Konflikts beschäftigt. „Eine Einheit der FARC-EP ist bereits desertiert und nimmt nicht mehr am Friedensprozess teil. […] Diese desertierten Einheiten sind isoliert und ohne Schutz und werden aller Wahrscheinlichkeit nach Unterschlupf in den bestehenden, stärkeren Strukturen suchen, zu denen auch die neuen bewaffneten Gruppen gehören. Diese finden unter den ehemaligen Guerillas potentielle Rekruten, auch wenn die Demobilisierung von Guerillagruppen in Kolumbien traditionell mit geringeren Problemen zu kämpfen hatte, als die der Paramilitärs.“
Der Friedensprozess wird also nur bedingt zu einer Reduzierung der Gewalt in Kolumbien beitragen können. „Ich glaube man hat in diesem Land noch nicht verstanden, dass dieser Konflikt ein politischer Konflikt ist und dass ein Friedensabkommen daher auch politische Auswirkungen haben wird“, so Lukas Rodríguez, der ebenfalls für das CNMH arbeitet. „Das neue Abkommen betrifft bestimmte Faktoren nicht, die eine hohe Relevanz für das gesamte Land haben und vor allem einen Konsens unter der Bevölkerung verlangen würden. […] Es steht außerdem die Frage im Raum, was mit dem Abkommen passiert, wenn [2018] ein neuer Präsident gewählt wird, ob das Abkommen so beibehalten und weiter umgesetzt wird.“
Die Befürchtungen, dass Kolumbien auch trotz des Endes des über 50 Jahre alten Konfliktes zwischen Regierung und FARC-EP auch weiterhin ein von Gewalt gezeichnetes Land sein wird, scheinen sich leider zu bestätigen. Der Friedensprozess wurde von einer Reihe von Morden an Aktivist*innen begleitet, die vor allem aus dem linken Spektrum stammen. Manche Quellen sprechen von über 50 Morden allein in diesem Jahr, unter ihnen zahlreiche Mitglieder des Marcha Patriótica (MP), einer linken politischen Bewegung. So wurde zum Beispiel der MP-Aktivist Jhon Jairo Rodríguez Torres am 10. November in der Region Cauca auf offener Straße erschossen. Allerdings ist unklar, wer für diese und zahlreiche andere Taten verantwortlich ist. Viele vermuten konservative Eliten und Reste der demobilisierten Paramilitärs hinter den Morden, die das gemeinsame Interesse am Erhalt des Status Quo verbindet. Allerdings verhindert die äußerst fragmentierte Präsenz des Staates und der große politische Einfluss der ökonomischen Eliten in ländlichen Gebieten die Aufarbeitung der allermeisten politischen Verbrechen und führt zu einer weitgehenden Straflosigkeit für die Täter*innen. Viele sehen in dieser Entwicklung eine Parallele zu den Massakern an den Mitgliedern der Union Patriótica, denen in den 80ern und 90ern zwischen 3000 und 5000 Menschen zum Opfer fielen.
Hier würde die Integration der ehemaligen FARC-EP Kampfer*innen in die staatlichen Strukturen großes Potential bieten. Einerseits haben diese Personen gerade in den ländlichen Gebieten, in denen der Staat nicht präsent ist, in den vergangenen Jahren quasi-staatliche Funktionen übernommen, verfügen über territoriale Kenntnisse und in manchen Fällen sogar über einen Bezug zur Bevölkerung. Andererseits würde die Integration von Kämpfer*innen in den kolumbianischen Staat sowohl eine berufliche Perspektive für die Guerilla bieten als auch ein starkes Signal der Versöhnung senden. Diese Option wurde aber durch die Kampagne der Gegner des Abkommens unmöglich, da die Bevölkerung durch massive Falschinformation gegen diese Lösung polarisiert wurde. Überhaupt scheint sich der Staat nur begrenzt seiner Verantwortung zu stellen. So wurde unmittelbar vor der Unterzeichnung des neuen Abkommens ein Passus gestrichen, der die Befehlsverantwortung der Militärhierarchie etabliert hätte. Demzufolge wären beispielsweise Offiziere im Ruhestand für die Taten der ihnen unterstellten Ränge verantwortlich gewesen.
Dieser Punkt findet sich auch in der Kritik wieder, die der Journalist Juan David Ortiz Franco an dem neuen Friedensabkommen übt: „Das neue Abkommen behandelt eine zentrale Frage nicht, die meiner Meinung nach von größter Bedeutung ist und die mit den objektiven Gründen des Konflikts in Kolumbien zu tun hat. Dies ist die Bedeutung, die dritten Parteien in diesem Konflikt zukommt. Also solchen, die nicht unmittelbar am Kampf beteiligt waren, die aber von höchster Bedeutung für die Aktionen von bewaffneten Gruppen in Kolumbien waren. Diese Auslassung wird keine wirkliche Aufarbeitung der Verbrechen erlauben, die im Interesse von ökonomischen und politischen Eliten durch die bewaffneten Akteure verübt wurden.“
Ein Punkt, der die Probleme des neuen Abkommens wohl am besten verdeutlicht, betrifft die Gleichstellung von  LGBT-Gemeinschaften. Auf Drängen der evangelikalischen Kirchen wurde der explizite Genderfokus des ersten Abkommens als Angriff auf die Familie abgelehnt. LGBT-Rechte werden nun nicht mehr konkret benannt. Vielmehr wird die traditionelle Familie zum Nukleus der Gesellschaft erklärt. Zwar war dieser Diskurs keine Konfliktlinie, an der sich der Krieg zwischen FARC-EP und Regierung entwickelte. Jedoch zeigte die prominente Positionierung dieses Diskurses im ursprünglichen Friedensabkommen den Willen auf wirklichen gesellschaftlichen Wandel. Dass dieser Diskurs nun den konservativen Kräften zum Opfer gefallen ist, versinnbildlicht die mangelnde Bereitschaft dieser Bevölkerungsteile, auch die ökonomischen, politischen und sozialen Verhältnisse wirklich zu ändern, die der Motor der Gewalt in Kolumbien sind. Solange sich aber kein gesellschaftlicher Konsens bezüglich der dringend notwendigen Veränderungen in Kolumbien bildet, werden die dem Konflikt zugrundeliegenden Faktoren weiterhin die diversen Gewaltdynamiken im Land befeuern.

VERSPIELTE CHANCE?

Das ‚Nein‘ zu dem Friedensvertrag zwischen der Regierung und den bewaffneten Streikkräften Kolumbiens (FARC-EP) löste weltweit Bestürzung aus. Und angesichts des unerwarteten Ausgangs herrscht in Kolumbien jetzt vor allem Unsicherheit: Ist der Friedensprozess gescheitert oder bietet das ‚Nein‘ eine neue Chance für einen breiteren nationalen Konsens? In der kolumbianischen Bevölkerung gehen die Meinungen auseinander.

Der drohende erneute Griff zu den Waffen scheint zunächst abgewendet. Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos hat die Waffenruhe mit der FARC-EP bis zum Ende des Jahres verlängert. Sowohl die Regierung als auch die Delegation der Guerilla in Havanna bemühen sich weiterhin um ein Gelingen des Friedensprozesses. Dazu sollen die Bedingungen des Vertrags neu verhandelt werden, um einen breiteren Rückhalt in der Bevölkerung zu erreichen.
Die zentrale Figur der Kampagne gegen den Friedensvertrag, jetziger Senator und Ex-Präsident Álvaro Uribe Vélez, soll nun an den Verhandlungen beteiligt werden. Zudem hat die Regierung wenige Tage nach dem Plebiszit auch offizielle Verhandlungen mit der nationalen Befreiungsarmee (ELN), der zweitgrößten Guerilla im Land, aufgenommen. Dies wird als wichtiger Schritt hin zu einem dauerhaften Friedensprozess gewertet. Beobachter*innen hatten bereits zu Beginn der Verhandlungen zwischen FARC-EP und Regierung kritisiert, dass ein nachhaltiger Frieden und ein Ende der Gewalt ohne die Einbindung der ELN in die Verhandlungen nicht zu erreichen ist.
Jedoch birgt die Einbindung Uribes auch eine neue Bedrohung für den Erfolg des Friedensprozesses. Gemeinsam mit anderen gesellschaftlichen Gruppierungen wie den konservativen Eliten aus den ländlichen Gebieten Kolumbiens und den evangelikalen Bewegungen führte er einen regelrechten Propagandafeldzug gegen den Friedensvertrag. Zu den Argumenten gehörten neben der durchaus nachvollziehbaren Kritik an der Sonderjustiz für Ex-Kombattant*innen auch fragwürdige Behauptungen bis hin zu eklatanten Lügen. So machten besonders die evangelikalen Kirchen Stimmung gegen die im Vertrag verankerte Gleichstellung der LGBTI-Gemeinschaft und stilisierten den Gender-Diskurs zu einer Ideologie, der sich das kolumbianische Volk zu unterwerfen habe.
Uribe selbst beschwor ebenso immer wieder das Gespenst des drohenden „Chavismus“ herauf und mahnte, die Kolumbianer*innen würden venezolanische Verhältnisse erwarten, sollte die linksgerichtete FARC-EP das im Friedensvertrag zugesicherte Recht auf politische Partizipation erhalten. Der Ex-Präsident zielte damit auf die Angst vor politischer und ökonomischer Instabilität in der Bevölkerung, da Kolumbiens Nachbar Venezuela seit Monaten eine der schwersten Krisen seiner Geschichte erlebt.
Angesichts der Polarisierung im Land und der Unsicherheit gegenüber der weiteren Entwicklung des Friedensprozesses stellt sich die Frage, wie die Bevölkerung auf das ‚Nein‘ reagiert und welche Hoffnungen und Ängste die Kolumbianer*innen mit den aktuellen Entwicklungen verbinden. Die – im wahrsten Sinne des Wortes – Unsicherheit im Land wird deutlich, wenn man mit Aktivist*innen spricht, die in den größeren Städten die Kampagne für den Friedensvertrag unterstützten. Da in den urbanen Zentren im Land mit Ausnahme der Hauptstadt Bogotá das ‚Nein‘ gewonnen hatte, sehen sie sich teilweise massiven Anfeindungen ausgesetzt. Eine Studentin in Bogotá, deren Familie in Medellín über Wochen für das ‚Ja‘ geworben hat, ist seit dem Plebiszit am Boden zerstört – nicht nur aufgrund der „vergebenen historischen Chance auf Frieden“, sondern auch, weil sie und ihre Familie seit dem Morddrohungen erhalten. Aus diesem Grund will sie ihren Namen in keiner Zeitung lesen.
Die indigenen Minderheiten im Land sind ebenso um die Sicherheit in ihren Gemeinden besorgt. Die häufig in Selbstverwaltung lebenden Gemeinschaften waren in der Vergangenheit immer wieder zwischen die Fronten geraten. Um die Menschen in ihren Gebieten vor den Auseinandersetzungen zwischen Guerilla, Paramilitärs und Militär zu schützen, versuchten sogenannte Guardias Indigenas (Indigene Wachen) im Konfliktfall die Kampfhandlungen von den bewohnten Gebieten fernzuhalten und die Menschen in Schulen oder Kirchen in Sicherheit zu bringen. In den letzten Monaten mussten sie dieser lebensbedrohlichen und extrem komplizierten Aufgabe nicht mehr nachkommen. Jetzt herrscht  die Angst, dass sie bald wieder ihr Leben für ihre Gemeinschaft aufs Spiel setzen müssen.
Dieser asymmetrische Charakter des Konflikts, dem in großer Zahl unbeteiligte Zivilist*innen, Aktivist*innen und auch Politiker*innen zum Opfer fallen, ist auch ein essentieller Teil der traumatischen Geschichte der Unión Patriótica (UP). Die Partei wurde 1985 als politische Exit-Option von demobilisierten Guerillakämpfer*innen gegründet. Die zu Beginn beachtlichen politischen Erfolge der Partei gingen jedoch in einem regelrechten Massenmord an ihren Mitgliedern unter. Zwischen 3.000 und 5.000 Personen wurden von paramilitärischen Todesschwadronen, Drogenhändlern und vom Militär selbst ermordet, teilweise im Rahmen blutiger Massaker mit bis zu 43 Toten.
Dementsprechend präsent waren die aktuellen Entwicklungen rund um den Friedensprozess auf dem jährlichen Treffen der Opfer am 21. Oktober in Bogotá. Dabei äußerte sich die Sorge um die Fortdauer des Prozesses in einem klaren Appell von allen Sprecher*innen an die Regierung Santos, die Friedensverhandlungen fortzusetzen und  die Sicherheit der demobilisierten Kämpfer*innen zu garantieren. Ex-Präsident Uribe, der zwischen 2003 und 2006 die Demobilisierung der hauptsächlich für die Massaker an den UP-Mitgliedern verantwortlichen Paramilitärs verhandelte, wurde dabei die Torpedierung des Friedens und seine auf Falschinformationen beruhende Kampagne vorgeworfen.
Viel Lob dagegen fand die „besonnene und dem Frieden zugewandte Reaktion der Unterhändler*innen in Havanna“. Eric Sottas, Direktor der Weltorganisation gegen Folter (OMCT) wies darauf hin, dass man „die kleine Minderheit des ‚Nein‘-Lagers, die einen ohnehin unmöglichen militärischen Sieg verfolgt, isolieren und durch die Annäherung an die übrigen Vertreter*innen dieses Lagers die Chance auf einen besseren Friedensvertrag realisieren muss“.
Eine ähnliche positive Perspektive vertritt auch Eduardo Pizarro Leon Gómez, heute kolumbianischer Botschafter in den Niederlanden. Pizarro war von 2005 bis 2009 Vorsitzender der Nationalen Kommission für Reparation und Aussöhnung, die die rechtliche Aufarbeitung des Paramilitarismus in Kolumbien überwachte. Zwei seiner Brüder kämpften für die Guerilla und waren von Paramilitärs ermordet worden, nachdem sie die Waffen niedergelegt hatten. „Das mit 50.000 Stimmen Vorsprung denkbar knappe ‚Nein‘ zum Friedensabkommen war zwar nicht der optimale Ausgang, stellt aber dennoch eine neue Chance dar“, so der Botschafter. „Dieses suboptimale Ergebnis zwingt uns dazu, einen nationalen Konsens zu finden. Hätte das ‚Ja‘ so knapp gesiegt, wäre dies dagegen ein katastrophaler Ausgang gewesen, da der Friedensvertrag so keine breite Legitimierung gehabt hätte, diese aber auch nicht durch Neuverhandlungen hätte erreicht werden können.“
Seine Deutung der geringen Wahlbeteiligung von knapp über 37 Prozent unterscheidet sich auch von der zahlreicher anderer Beobachter*innen: „Die Wahlbeteiligung war außerordentlich hoch. Da Kolumbien historisch ein enthaltsames Land ist, was Wahlen betrifft, war der Plebiszit geradezu dramatisch. Mit dieser Wahl wurde nicht über politische Ämter abgestimmt, weswegen es kaum zu einer Mobilisierung der Wählerschaft seitens der Politiker kam. Es war vielmehr eine reine Meinungswahl, bei der die Zukunft der Politiker nicht auf dem Spiel stand. Das war ein außerordentlicher Tag und ein Triumph für die kolumbianische Demokratie, der das Land mitten in einer politisierten Debatte zurückgelassen hat.“ Seine Einschätzung für die Zukunft des Landes ist ähnlich positiv. Er verweist auf das Potenzial, das mit dem Freiwerden von Kapazitäten im Sicherheitsapparat verbunden ist, sobald dieser nicht mehr durch den Konflikt mit FARC-EP und ELN gebunden ist. Kolumbien verfügt dank der cirka 6 Milliarden Dollar US-Militärhilfe, die im Rahmen des Plan Colombia ins Land geflossen sind, mit über 600.000 Mann über den größten Militärapparat Lateinamerikas.
Eine andere Position vertritt Jorge Gómez, einer der Gründer der Menschenrechtsorganisation Reiniciar, die unter anderem den jährlichen Kongress der UP-Opfer organisiert. Seiner Meinung nach birgt die Polarisierung der kolumbianischen Gesellschaft durch die aggressive Propaganda des ‚Nein‘-Lagers die Gefahr neuer Gewalt. „Aufgrund der Geschichte des Landes, die seit Jahrzehnten von politischer Gewalt geprägt wird, ist Kolumbien anfällig für Gewaltdynamiken, die aus politischen Disputen erwachsen sind“, so Gómez.
Darüber hinaus sieht er noch eine weitere Gefahr, die mit dem Friedensprozess verbunden ist: Seit dem offiziellen Ende der Demobilisierung der Paramilitärs im August 2006 haben sich zahlreiche neue bewaffnete Gruppen im Land gebildet und den zuvor von den Paramilitärs kontrollierten Drogenhandel unter sich aufgeteilt. Die Gruppen ständen bereits in den Startlöchern, um das Vakuum zu füllen, das eine Demobilisierung der FARC-EP hinterlässt. „Diese Gruppen dringen in die ehemals von der FARC-EP kontrollieren Gemeinden vor, mit den Worten ‚Wir sind gekommen, um zu bleiben‘“, warnt der Menschenrechtsaktivist.
Genau diese Befürchtung bestätigen auch Vertreter*innen der UP aus Urabá. Die für den Drogenhandel strategisch wichtige Region im Nordwesten des Landes liegt an der Grenze zu Panama. In der früheren Hochburg der Vereinten Bürgerwehren Kolumbiens (AUC) herrscht heute mit den Urabeños eine Gruppe, die sich nur im Namen von den früheren AUC-Gruppen in der Region unterscheidet. Sie kontrolliert die Bevölkerung und so gut wie jede ökonomische Aktivität. Ihre Mitglieder haben wichtige Positionen in der Gemeinschaft besetzt und pflegen enge Beziehungen zu den dortigen Eliten. Diese sind häufig Großgrundbesitzer*innen, Drogenbosse und lokale Politiker*innen, die durch die im Friedensvertrag verankerten politischen und sozialen Veränderungen nur verlieren würden.
„Polizei, Militär, Politiker, Großgrundbesitzer – sie alle stecken unter einer Decke mit den Urabeños.“  – so eine Aktivistin, die wegen der gefährlichen Sicherheitslage anonym bleiben möchte. „Ein Frieden mit der FARC-EP hat keine Bedeutung für uns, da er nichts an den bestehenden Verhältnissen in unseren Gemeinden verändern würde. Die Urabeños warten bereits darauf, in die Gebiete vordringen zu können, die zurzeit noch von der Guerilla kontrolliert werden“.
Und darin liegt das tragische der Ablehnung des Friedensvertrags: Ein offizielles Ende des Konfliktes zwischen FARC-EP und Regierung würde bestenfalls einen Teil der Gewaltdynamik in Kolumbien zum Stillstand bringen. Viel dramatischer ist die verpasste Chance auf einen politischen und sozialen Wandel im Land, den der Friedensvertrag in seiner ursprünglichen Form festschrieb.
Durch die Neuverhandlung des Vertrages und die Einbeziehung der konservativen Kräfte um Ex-Präsidenten Uribe sind zahlreiche Projekte wie die dringend notwendige Landreform, die Öffnung des politischen Systems für linke Positionen und die Ausdehnung der Versorgung mit öffentlichen Gütern in die ländlichen Gebiete in Gefahr. Ohne diesen Wandel werden Gruppen wie die Urabeños weiterhin in der Lage sein, gemeinsam mit den lokalen Eliten die Bevölkerung durch Gewalt zu kontrollieren.
Auch die Perspektive, dass sich der gesamte Sicherheitsapparat nach der Demobilisierung von FARC-EP und ELN auf die Verfolgung von Gruppen wie den Urabeños konzentrieren kann, scheint wenig Hoffnung auf eine Verringerung der Gewalt im Land zu geben. Zwar können kriminelle Gruppen im Gegensatz zur politisch motivierten Guerilla durch eine strafrechtliche Verfolgung bekämpft werden. Die militarisierten Strategien des kolumbianischen Sicherheitsapparates in Kombination mit der grassierenden Korruption und den engen Verbindungen zwischen Drogenhändler*innen, lokalen Eliten und Politiker*innen werden aber bestenfalls nur zu einer kurzfristigen Verdrängung von Gruppen wie den Urabeños in den Untergrund führen.
Während die Guerilla uniformiert und vor allem in dünn besiedelten Gebieten aktiv ist, sind die Mitglieder der neuen bewaffneten Gruppen nur schwer von der Zivilbevölkerung zu unterscheiden und in beinahe allen Teilen des Landes aktiv. Sollte das Militär und die militarisierten Polizeieinheiten gegen diese Gruppen vorgehen, wird die asymmetrische Gewalt des Konfliktes um ein Vielfaches zunehmen und erneut besonders Zivilbevölkerung und Aktivist*innen treffen.
Wo also steht Kolumbien nach dem gescheiterten Versuch, einige der grundlegenden Ursachen für den bewaffneten Konflikt im Land durch einen Friedensvertrag und soziale wie politische Veränderungen zu neutralisieren? Präsident Santos hat trotz des ‚Neins‘ im Plebiszits den Friedensnobelpreis erhalten, die Verhandlungen in Havanna gehen weiter und mit dem ELN und Ex-Präsident Uribe werden nun weitere wichtige Partner in den Prozess mit eingebunden.
Gleichzeitig hat US-Außenminister John Kerry am 7. Oktober Uribe per Telefon wissen lassen, dass die USA weiterhin auf dessen Dialogbereitschaft und Engagement für den Frieden zählen. Dies deutet darauf hin, dass die Regierung von US-Präsident Barack Obama hinter den Kulissen Druck auf Uribe aufbaut um zu verhindern, dass dieser den Friedensprozess blockiert. Immerhin ist Kolumbien seit dem Beginn von Plan Colombia 2000 und den Milliarden von Dollar an Militärhilfe ein enger Verbündeter der USA im „War on Drugs“ und im „War on Terror“. Dass die USA mit dem Ende des bewaffneten Konflikts mit der FARC-EP zumindest formell einen partiellen „Erfolg“ ihrer Strategien verbuchen können, ist für den angeschlagenen Ruf der Weltmacht natürlich von großem Interesse. Ob dieser Druck von internationaler Seite ausreicht, um den dringend notwendigen politischen und sozialen Wandel in Kolumbien umzusetzen, bleibt abzuwarten. Gleiches gilt auch für die Hoffnungen, die viele in die Ausdehnung der Verhandlungen setzen. Sicher ist aber, dass solange paramilitärische Nachfolgeorganisationen wie die Urabeños weiterhin große Teile des kolumbianischen Territoriums kontrollieren und mit Gewalt gegen jeden gesellschaftlichen Wandel vorgehen, das Land nicht zur Ruhe kommen wird.

HISTORISCHER DURCHBRUCH

Ja oder Nein? Am 2. Oktober wird die kolumbianische Bevölkerung über die Annahme des Friedensabkommens abstimmen, das Regierung und die Revolutionären Bewaffneten Streitkräfte Kolumbiens (FARC) in vier Jahren in Havanna ausgehandelt haben. Die Kampagnen der Befürworter*innen und Gegner*innen reklamieren jeweils für sich, nur Frieden im Sinn zu haben, allerdings auf gänzlich verschiedene Weise.

Zumindest im links-alternativ geprägten Parque de los Hippies in Bogotá war es ein Freudentag. Menschen im Trikot des kolumbianischen Fußballteams und mit Friedensfähnchen feierten am 24. August die Veröffentlichung der Friedensverträge zwischen der Regierung und den Revolutionären Bewaffneten Streikkräften Kolumbiens, die live im Fernsehen übertragen wurde. „Man hatte vergessen, dass es auch anders geht“, sagte eine der Anwesenden. Rührende, aufmunternde, aber auch skeptische Kommentare überfluteten die Medien und sozialen Netzwerke. Ohne Zweifel war es ein historischer Tag. Wie so viele andere seit Beginn der Verhandlungen mit der ältesten Guerilla Lateinamerikas, die seit 1964 gegen den Staat kämpft.
Bereits 2012 saßen viele Kolumbianer*innen augenreibend vor dem Fernseher, als ausgerechnet der konservative Präsident Santos den Beginn des Friedensprozesses mit der Frage ankündigte: „Wie viele Kolumbianer*innen haben den Konflikt wohl hautnah erlebt, wie viele haben Verwandte und Bekannte, die Opfer der Gewalt wurden?“ Zwar sprach sich die Mehrheit der Bevölkerung anfangs gegen diesen Schritt aus, doch bereits zwei Jahre später sicherten die laufenden Verhandlungen Santos die Wiederwahl. Trotz zahlreicher Krisen und Rückschläge wurde stets weiter verhandelt. Es gab somit viele historische Tage in einem Land, mit einer sehr langen Geschichte gescheiterter Friedensprozesse.
„Ich habe versprochen, dass ihr das letzte Wort haben werdet, und so wird es auch sein!“, sagte Santos am Tag der Veröffentlichung der Verträge und rief die Bevölkerung zum Referendum am 2.Oktober auf. Die Regierung hofft auf ein klares Ja, denn einen Plan B gibt es nicht. Das Bild der Guerilla unter der Bevölkerung hat sich zwar verbessert, doch für ein Ausbruch an Euphorie reicht es bei Weitem nicht. In der jüngsten Umfrage von Datexco für die Zeitung El Tiempo und den Radiosender La W wollen 55,2 Prozent der Befragten dem Abkommen zustimmen, 31 Prozent es ablehnen und zehn Prozent wussten es noch nicht. Allerdings variieren diese Ergebnisse erheblich in den verschiedenen Regionen und andere Umfragen ergaben andere Resultate.
Um eine möglichst breite Beteiligung am Referendum sowie dessen Anerkennung zu erreichen, finanziert die Regierung die Kampagne der Gegner*innen als auch die der Befürworter*innen. Angeführt werden diese jeweils von Ex-Präsidenten des Landes.

Hardliner Álvaro Uribe Vélez, Staatschef von 2002 bis 2010 und jetziger Senator der konservativen Centro Democratico, leitet mit Unterstürzung von Andrés Pastrana, der in seiner Amtszeit 1998-2002 mit der FARC verhandelte und scheiterte, die Nein-Kampagne. Das Ja-Lager führt César Gaviria an, der in seiner Amtszeit von 1990-1994 mit neoliberal geprägter Politik das Land wirtschaftlich öffnete. Dass sie verschiedene Auffassungen von Frieden haben, dürfte mittlerweile allen Kolumbianer*innen klar sein.
„Wir stimmen für den Frieden, indem wir Nein wählen“, erklärte Uribe beim Auftakt seiner Kampagne. ‚Nein zu Straflosigkeit, Nein zu Santos, Nein zu dem castro-chavistischen Terror‘ lauten die Slogans bei Veranstaltungen, auf Tweets und Flugblättern der Gegner*innen der Gespräche. Santos´ Unbeliebtheit in der Bevölkerung erreichte mit der Energiekrise, dem jüngsten Streik der Kleintransporter und der Erhöhung der Steuern, satte 66 Prozent. Innenpolitisch steht seine Politik auf dem Prüfstand und die Kritik seiner Gegner*innen wird bewusst gegen die Verhandlungen seiner Regierung mit der Guerilla eingesetzt.
Für César Gaviria gilt es hingegen, „ein Gefühl von Vergebung hervorzurufen, Halt zu machen und sich nicht für eine Gesellschaft zu entscheiden, die nur an Rache und militärische Lösungen denkt. Es gilt mit dieser Idee zu brechen, auch weil die Bemühungen der vergangenen Jahre außerordentlich groß waren.“ Seine Aufgabe als Leiter der Ja-Kampagne sei es, eine gemeinsame Botschaft zu formulieren, hinter der soziale Organisationen, die Kirche und Einzelaktivist*innen stehen können. „Wir haben bemerkt, dass auf dem Land, die kleinen und mittelgroßen Gemeinden dem Ja stärker zugeneigt sind, weil sie von Gewalt häufiger betroffen waren. Die Friedensbotschaft über das Ende des Krieges ist in ländlichen Gebieten stärker als in der Stadt. Man muss versuchen, den Menschen in der Stadt zu zeigen, wie Kolumbien ohne so viel Gewalt sein könnte“, sagte er in einem Interview mit der spanischen Zeitung El País.

Über fünf zentrale Punkte haben Regierung und FARC im Laufe der letzten vier Jahre verhandelt. Sie lösen nicht alle wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme des Landes, die Einigungen bieten aber noch nie dagewesene Möglichkeiten, die Ursachen des bewaffneten Konfliktes mit den Aufständischen zu klären.
Der erste Punkt der Verträge zielt darauf, die Situation der rund 15 Millionen extrem marginalisierten Kolumbianer*innen in ländlichen Gebieten zu verbessern. Das ist ein großes Versprechen für ein Land, in dem ein Agrarkonflikt sich in einen blutigen Krieg verwandelte, der ein halbes Jahrhundert überzog. Die darin geplante Reform (Reforma Rural Integral – RRI) umfasst die Rückkehr von Vertriebenen in ihre Heimatorte, Landrückgabemaßnahmen an Kleinbauern- und bäuerinnen sowie die Neueinteilung landwirtschaftlicher Nutzflächen und von Naturschutzgebieten.
Doch damit ist die konservative Elite Kolumbiens nicht einverstanden. Das Gespenst des castrochavismo, eine ideologische Mischung der Politik Fidel Castros und Hugo Chávez‘, wird beschworen. „Santos ist zwar kein Chavist, aber seine Politik geht in diese Richtung“, sagte Uribe bei einer Konferenz in der Privatuniversität Sergio Arvoleda in Bogotá. „Im Abkommen wird unser gesamtes freiheitliches System in Frage gestellt und die Rechte der Privatunternehmer verletzt“. Im Hinblick auf Venezuela warnt er vor den Gefahren für die gesamte Wirtschaft, denn „die Kolumbianer*innen investieren nicht mehr. Entweder haben sie Angst vor dem Frieden oder vor den Steuern, um diesen zu finanzieren“. Derartige Bemerkungen sind oft zu hören, besonders in der Stadt.

Ein der Agrarreform sehr ähnliches Projekt, das die Eigentumsverhältnisse in ländlichen Gebieten verändern soll, ist Teil der Strategie, um die strukturelle Ungleichheit zwischen Land und Stadt zu beheben. Laut Vertrag verpflichtet sich die Regierung mit Fortbildungsangeboten, Krediten und Subventionen für kleinere Betriebe, die kommunale Produktion zu fördern. Straßen, Bewässerungssysteme und Stromnetze sollen in den historisch vernachlässigten Gebieten gebaut sowie in Gesundheits- und Bildungseinrichtungen wesentlich investiert werden. Nur so, heißt es im Abkommen, kann das Ziel erreicht werden, in zehn Jahren die extreme Armut zu beseitigen und die Armut in ländlichen Gebieten um die Hälfte zu reduzieren. Im krassen Widerspruch hierzu stehen allerdings die anderen wirtschaftspolitischen Vorhaben der Regierung, nämlich weiterhin vor allem auf Extraktivismus und Monokulturen zu setzen. Auf jeden Fall wird die Inklusion der armen Bevölkerung die zentrale Herausforderung der Zeit Jubel bei historischer Geste Polit-Fanmeile in Bogotá nach Beendigung des bewaffneten Konflikts werden. Immerhin wandten sich sehr viele ländliche Gemeinden dem Schutz der Guerillas zu, weil sie vom Staat allein gelassen wurden. „Der Aufbau des Friedens bedarf der Stärkung der Demokratie“, hieß es in der Einigung zur politischen Partizipation. Darin verpflichtet sich die Regierung das Wahlsystem auf den Prüfstand zu stellen, die Rechte der politischen Opposition zu gewährleisten und ein Schutzprogramm für Ex-Guerillerxs zu errichten, die nach der Entwaffnung als Partei antreten und Politik machen wollen.
Jedoch reagieren große Teile der Bevölkerung und viele Politiker*innen empört auf die Vorstellung, dass die ehemalige Führungsspitze der FARC mit zehn Sitzen einen wahlunabhängigen Einzug ins Parlament bekommen soll, um die Umsetzung der Verträge zu verfolgen. Besorgt sind die konservativen Kräfte andererseits auch darüber, dass linke Ideen und Bewegungen salonfähig werden könnten und nicht wie bisher aufgrund einer ideologischen Nähe zu den Aufständischen leicht zu diskreditieren sind. Nicht völlig unbegründet –„Wir waren immer eine politische Organisation, eine kommunistische Partei (…). Noch ist es zu früh, um über die nächste Wahlperiode zu reden, aber wir streben eindeutig an, zu der Entstehung einer großen alternativen, politischen Bewegung beizutragen“, schreibt der politische Berater des Oberbefehlshabers der FARC, Gabriel Angel, in einem Fragebogen der mexikanischen Presseagentur Notimex.

Wie viele Kolumbianer*innen für solche Botschaften empfangsbereit sein werden, ist unklar. Es gilt, das grundsätzliche Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der Guerilla zu überwinden, aber auch gegenüber der Politik, die an der Fortsetzung des Konflikts ebenfalls beteiligt war. 240.000 Personen wurden im Rahmen der bewaffneten Auseinandersetzungen ermordet. Der Ausbau der Luftwaffe, aber auch die Militarisierung von Teilen der Gesellschaft hatte zur Folge, dass nach offiziellen Zahlen 6.883.513 Kolumbianer*innen vertrieben wurden. Massaker, sexualisierte Gewalt und Folter waren hierbei Mittel aller bewaffneten Akteure. Laut Vertrag wird jetzt eine Wahrheitskommission gegründet, die den Paramilitarismus, die Rolle des Staates, die der kolumbianischen Armee und der FARC bei registrierten Menschenrechtsverletzungen des vergangenen halben Jahrhunderts aufklären soll.
Denn juristische Aufklärung, das Sorgen für Gerechtigkeit und die Entschädigung der Opfer sind für die meisten Kolumbianer*innen zentrale Bedingungen für ihre Akzeptanz eines Friedensabkommens, weshalb auch eine Übergangsjustiz verhandelt wurde. Ein Sondergericht für den Frieden soll Haftstrafen für Menschenrechtsverletzungen von acht Jahren für geständige Täter*innen verhängen. Täter*innen, die später überführt werden, müssen für 20 Jahre hinter Gitter. Des Weiteren erhalten die Guerillerxs für Delikte Amnestien, die mit der Finanzierung der Rebellion verbunden waren, wie beispielsweis dem Drogenhandel.
Die Formel „Gefängnis oder Tod“ für Guerillerxs, hinter der noch viele Kolumbianer*innen als Antwort zum Konflikt stehen, steht in direktem Widerspruch mit den Friedensgesprächen, mit dem ausgesprochenen Ziel, Politik ohne Waffen möglich zu machen. „Wird das Nein gewählt, werden beide Parteien vom Tisch aufstehen und das laufende Verfassungsprojekt für das Inkrafttreten des Friedens, wird nicht stattfinden“, sagt César Gaviria. „Wir wollen nicht sagen, dass derjenige der Nein wählt, Krieg will, aber derjenige soll wissen, dass wenn das Nein gewinnt, der Krieg weitergehen wird“
Im Anschluss an die zehnte und letzte Guerillakonferenz vom 17. bis 23. September, nach der die FARC sich auflösen will, werden sich die Aufständischen in 23 ländliche Kleingemeinden und acht Lagern in zwölf verschiedenen Verwaltungsbezirken versammeln und innerhalb von fünf Monaten die Waffen abgeben. Der militärische Rückzug der FARC aus ihren traditionellen Hoheitsgebieten ist bereits in Gang. Die Regierung hat mittlerweile 16.000 Polizist*innen und Soldat*innen für den Schutz von Ex-Kämpfer*innen eingestellt.
Doch das ändert nichts an der Tatsache, dass zur Zeit diese Gebiete von der linken Guerilla Nationale Befreiungsarmee (ELN) und der rechten paramilitärischen Gaitanistischen Bürgerwehr Kolumbiens (AGC) eingenommen werden. In Nariño und Cauca zum Beispiel kämpfen sie im Moment um rund 18.000 Hektar Koka-Plantagen und weitere neue Gruppierungen sind dazu gekommen. Auch andere jüngste Ereignisse beunruhigen. Auf dem Grundstück der Friedensaktivistin Cecilia Colcué in Corintio Cauca sollten sich Guerillerxs für die Entwaffnung versammeln. Am 6. September wurde Cecilia Colcué tot aufgefunden. Egal wie das Referendum ausgeht, zu einem vollständigen Frieden ist es noch ein weiter Weg.

EIN SCHIMMER HOFFNUNG

Einigung auf 28 Seiten Präsident Santos und FARC-Chef ‚Timoleón Jiménez‘ verkünden den Waffenstillstand (Foto: Presidencia El Salvador CC0 1.0)
Einigung auf 28 Seiten Präsident Santos und FARC-Chef ‚Timoleón Jiménez‘ verkünden den Waffenstillstand (Foto: Presidencia El Salvador CC0 1.0)

#ElUltimoDiaDeLaGuerra (Der letzte Tag des Krieges) – lautete es bereits einen Tag vor der Verabschiedung des Waffenstillstandes zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC-Guerrilla verheißungsvoll von kolumbianischen Twitter-Benutzer*innen am 22. Juni dieses Jahres. Angestoßen wurde dieses Motto von FARC-Chef Rodrigo Londoño Echeverry alias ‚Timoleón Jiménez‘. Es verbreitete sich dann in Windeseile über Nichtregierungsorganisationen und kolumbianische Medien.
Die Friedensverhandlungen, die seit November 2012 in der kubanischen Hauptstadt Havanna stattfinden, waren zuletzt eher schleppend verlaufen. Das Versprechen, bis zum 23. März 2016 eine vollständige Einigung in allen verbliebenen Punkten zu erzielen, mussten die Verhandlungs­partner*innen bereits im Vorfeld widerrufen. Damit boten sie der Opposition eine ideale Zielscheibe für Kritik, angeführt von Ex-Präsident Álvaro Uribe Vélez (siehe LN 501). Im Juni, drei Monate später, dann der entscheidende Durchbruch: Nach zähen Verhandlungen konnten sich die Vertreter*innen der FARC und der kolumbianischen Regierung in fünf der sechs Unterpunkte des wohl wichtigsten Themas, dem Ende des Konfliktes, einigen.
Das am 23. Juni 2016 geschlossene, beidseitige Waffenstillstandsabkommen besiegelt den Konsens. Neben einer Leitlinie für den Prozess zur Entwaffnung der Angehörigen der FARC umfasst das 28 Seiten starke Dokument eine Festlegung auf spezifische Schutzzonen, in die sich die Guerrillerxs für maximal sechs Monate – nach der offiziellen Beendigung der Friedensgespräche – zurückziehen können, um im Anschluss „in das zivile Leben re-integriert zu werden“.

Ein weiterer strittiger Teil der Agenda war der zukünftige Umgang mit paramilitärischen sowie anderen bewaffneten Gruppen und Akteur*innen, die die allgemeinen Menschenrechte verletzten. Dieser Punkt ist besonders entscheidend, weil er die Sicherheitsgarantieren für die Angehörigen der Guerilla definiert. Vor dem Hintergrund des Massenmordes an Mitgliedern der Partei Patriotische Union (UP), zeigten sich die Guerilleros zunächst nicht zu einer Niederlegung der Waffen bereit. Die Partei hatte sich Mitte der 1980er Jahre unter anderem aus dem entwaffneten, politischen Arm der FARC gebildet.
Die Aufsicht über die vereinbarten Punkte übernehmen Organe der Vereinten Nationen (UN), was Menschenrechtsaktivist*innen im Gespräch mit der kolumbianischen Wochenzeitung Semana als Beweis der Ernsthaftigkeit des Abkommens betonen. Die Ratifizierung der gesamten Agenda durch Vertreter*innen der UN führe des Weiteren zu einer „Internationalisierung des Friedens“, was darauf hindeute, dass „die Weltgemeinschaft den kolumbianischen Friedensprozess unterstütze“.
Erstmals seit ihrer offiziellen Gründung am 27. Mai 1964, zeigen sich die Angehörigen der FARC, die aus einer Bauernorganisation in der Region Marquetalia entstanden war, nun also bereit, ihren militärischen Kampf zu beenden und stattdessen auf politischer Ebene für ihre Ziele zu streiten. Die genaue Form dieser aktiven, politischen Teilhabe ist jedoch noch nicht geklärt. Das Waffenstillstandsabkommen gilt dennoch als Meilenstein, da es quasi den gesetzlichen Rahmen der Übergangsphase zum sogenannten posconflicto (Post-Konflikt) und den Entwaffnungsprozess der Guerilla definiert. So betonte der oberste FARC-Befehlshaber ‚Timoleón Jiménez‘ in seiner Rede während des symbolischen Verkündungsaktes am 23. Juni nochmals: „Lass diesen Tag den letzten Tag des Krieges sein!“ – um von Präsident Santos ergänzt zu werden: „Wir haben den Zeitpunkt erreicht, von dem an wir ohne Krieg leben können. […] Der Frieden ist nicht mehr nur ein Traum, sondern wir haben ihn endlich in den Händen. Auch wenn wir heute und vermutlich auch in Zukunft nicht mit der FARC einverstanden sind, rechnen wir ihr dennoch hoch an, dass sie bereit ist, den Schritt vom bewaffneten zum politischen Kampf zu gehen.“
Bei aller Euphorie darf jedoch nicht vergessen werden, dass nach wie vor das letzte Thema, die Umsetzung des Friedensvertrages, nicht geklärt ist. Auch in einigen anderen Punkten gibt es noch offene Fragen, die in den nächsten Wochen geklärt werden müssen. Denn es gilt weiterhin der Grundsatz, dass es keine Einigung gibt, solange nicht Einigkeit in allen Punkten herrscht. Fraglich ist weiterhin, ob und wie es zu dem von der Regierung versprochenen Referendum der kolumbianischen Bevölkerung über das endgültige Friedensabkommen kommen wird (siehe LN 501).
Inwiefern die Regierung und die FARC in ihren eigenen Reihen dazu fähig sein werden, die Beschlüsse auf landesweiter Ebene durchzusetzen, wird sich erst im Anschluss an die Unterzeichnung des Friedensabkommens zeigen. Präsident Santos brachte als mögliches Datum hierfür den 20. Juli, den kolumbianischen Nationalfeiertag, ein. Kolumbianische Medien gehen von ein bis zwei Monaten aus. Noch ist offen, ob aus dem Frieden mit der FARC auch das Ende aller bewaffneter Konflikte in Kolumbien einhergehen wird. So besteht die Gefahr, dass FARC-Mitglieder nachdem Friedensschluss zur zweitgrößten Guerilla des Landes, der Nationalen Befreiungsarmee (ELN) wechseln werden. Erste Friedensgespräche zwischen ELN-Vertreter*innen und der Regierung Kolumbiens erbrachten bisher keine nennenswerte Erfolge. Die Gefahr paramilitärischer Gruppen, die zuletzt einen Aufschwung erlebten und die statistisch für mehr Todesfälle verantwortlich sind als alle Guerilla-Gruppen zusammen, darf ebenfalls nicht außer Acht gelassen werden.
Bis in Kolumbien von einem endgültigen „letzten Tag des Krieges“ gesprochen werden kann, gilt es daher noch einige Hürden zu meistern. Nichtsdestotrotz ist der beidseitige Waffenstillstand ein großer Fortschritt. Die bittere Spaltung zwischen Regierungspartei und Opposition, in welcher die FARC immer eine zentrale Rolle spielte, könnte endlich überwunden werden. Eingefahrene Muster der „Politik mit Waffengewalt“, der Korruption, des Klientelismus und der Benachteiligung eines Großteils der Bevölkerung können ab jetzt hinterfragt werden. Es  ist ein  Hoffnungsschimmer, dass der Frieden endlich in greifbare Nähe rückt.

** ‚Timoleón Jiménez‘ wird in kolumbianischer und deutscher Presse häufig ‚Timochenko‘ genannt. Er selbst und die FARC lehnen diesen Namen jedoch ab, da er als kommunistische Verunglimpfung seines Aliasnamens erfunden wurde und genutzt wird.

// KEIN FRIEDEN MIT DEN PARAMILITÄRS

In Havanna wird weiter verhandelt, in Kolumbien weiter getötet. Es war kein Aprilscherz, sondern bitterer Ernst am Morgen des 1. April: Im Norden des Landes wachten die Bewohner*innen von vier Verwaltungsbezirken inmitten eines sogenannten „bewaffneten Streiks“ auf. Mit Gewalt wurde das öffentliche Leben für 48 Stunden lahmgelegt, brennende Autos versperrten Landstraßen, vier Polizisten wurden erschossen. „AGC presente“ sprühten die Kämpfer*innen der Autodefensas Gaitanistas de Colombia auf die Wände von Häusern und Geschäften. Ein schlechter Scherz ist, dass sich die rechtsradikale Gruppe ausgerechnet nach dem 1948 ermordeten links-liberalen Präsidentschaftskandidaten Jorge Eliecer Gaitán nannte. Das Zeichen war aber deutlich: Es war eine Kampfansage der Paramilitärs an die Gesellschaft sowie an Regierung und FARC-Guerilla, die in Kubas Hauptstadt im Schneckentempo einem Friedensabkommen näher kriechen.

Die Paramilitärs sind das größte Hindernis für einen Friedensprozess. Derartige Gruppierungen gibt es nun schon seit über 30 Jahren in Kolumbien, mit einer unüberschaubaren Vielfalt an Namen, Untergängen und Wiederauferstehungen. Und sie sind undenkbar ohne Verbindungen zum politischen Establishment, zu Wirtschaftseliten und Drogenkartellen. Offiziell wurde der Paramilitarismus 2006, mit der Entwaffnung der Vereinigten Selbstverteidigungskräfte Kolumbiens (AUC), zu Grabe getragen. Die Überbleibsel werden in zynischer Untertreibung als „kriminelle Banden“ bezeichnet. Davon sind zurzeit mindestens 27 regionale und vier nationale Gruppierungen aktiv – allein in diesem Jahr haben sie 15 Menschenrechtsaktivist*innen ermordet.
Die Unfähigkeit des kolumbianischen Staates, Fehler einzugestehen und daraus zu lernen, ist schockierend. Zum zweiten Mal in der Geschichte des Landes droht ein Friedensabkommen mit der FARC aus den gleichen Gründen zu scheitern. Bereits vor 30 Jahren sandte die vom Medellín-Drogenkartell gegründete Armee „Tod den Entführern“ (MAS) die gleiche Botschaft wie jetzt die AGC in der letzten Phase der Verhandlungen mit der Guerilla: Keinen Frieden gegen uns!
Eine Garantie für einen erfolgreichen Friedensprozess gibt es nicht. Nicht, so lange sich hinter dem Phänomen „Paramilitarismus“ ein militärischer Arm neoliberaler Interessenvertreter*innen verbirgt, der bis heute geleugnet wird. Der Paramilitarismus ist kein Fauxpas des Staates, er war von Anfang an ein akzeptiertes und gefördertes Verbrechen. Vor 20 Jahren schlachteten sich AUC-Einheiten ihren Weg entlang der Atlantikküste frei und trugen dazu bei, dass Kolumbien mit 6,5 Millionen Inlandsvertriebenen auf dem zweiten Platz der Liste der UN-Flüchtlingshilfe steht – gleich hinter Syrien. So machten die AUC dieses Gebiet frei für internationale Bergbaukonzerne. Kolumbianische Steinkohle ist billig und beliebt – auch bei Energieversorgern in Deutschland wie E.on, RWE, EnBW und Vattenfall. Sie alle haben in Präsident Juan Manuel Santos einen neuen Verbündeten gefunden.
Auf der Weltbühne geriert sich Santos als Friedensstifter in einem „ewigen“ Konflikt, dabei gleicht er einem blinden Reiter auf einem Pferd mit Scheuklappen. Vehement wehrt er sich dagegen, eine öffentliche Diskussion über Strukturen zu führen, welche die 30.000 vermeintlich entwaffneten AUC-Kämpfer*innen geschaffen haben. Nur  2,5 Prozent der von Paramilitärs mit staatlicher Beihilfe begangenen Verbrechen werden aufgeklärt. Das ist beschämend und eine schwere Hypothek für einen Friedensprozess.
Keine Frage: Die Entwaffnung der Guerillas ist wichtig. Die Umgestaltung des Energiesektors sowie eine Agrar- und Gesundheitsreform sind angesichts der krassen Ungleichheit längst überfällig. Aber das alles ist nichts, wenn nicht die Paramilitärs und ihre politischen Netzwerke aufgelöst und ihre Verbrechen bestraft werden.

AN DEN WAFFEN GESCHEITERT

Eine Einigung ist vorerst ausgeblieben. Die bevorstehenden Entscheidungen haben die Verhandlungen in eine Sackgasse manövriert. Am 23. März, der ursprünglichen Frist für die Unterzeichnung des Abkommens, informierte Humberto de La Calle, Verhandlungsführer der Regierung, dass mit der FARC gewichtige Differenzen in zentralen Forderungen bestünden. Deshalb endete die erste Runde des letzten Verhandlungszyklus ohne große Ankündigungen. Ein neue Frist für die Unterzeichnung wurde nicht gesetzt.
Knackpunkt in den Verhandlungen ist die Entwaffnung der geschätzten 7.000 Kämpfer*innen der FARC. Der Ort und Zeitpunkt für die Entwaffnung der Gueriller@s beeinflusst, ob die Resozialisierung der Kämpfer*innen gelingen oder scheitern wird. Allerdings scheint ein Kompromiss in dieser Frage schwer. Die Regierung fordert, dass die Entwaffnung 60 Tage nach der Unterzeichnung des Abkommens beginnen und in abgelegenen Regionen stattfinden soll. In den dann polizeilich überwachten Gebieten sollen die Aufständischen innerhalb eines Jahres ihre Strafen oder Freisprüche erhalten. In isolierten Gebieten versammelt, würde vermieden, dass Bilder von Gueriller@s, die sich unter die Bevölkerung mischen, Verbreitung finden. Die kolumbianische Armee könnte aber auch Gebiete zurück erobern, die sich noch unter der Kontrolle der FARC befinden.
Die FARC-Unterhändler wehren sich dagegen, nach der Unterzeichnung des Abkommens in „Gefängnisse unter freiem Himmel” eingesperrt zu werden. Sie fordern, die Waffen in so genannten Terrepaz (Friedenszonen) abzugeben. Damit sind Gebiete gemeint, welche die FARC seit Beginn des Konflikts kontrollieren, in denen Familienangehörige der Kämpfer*innen sowie Anhänger*innen und Sympathisant*innen leben. Gerade dort müssen die Kämpfer*innen die Möglichkeit erhalten Politik zu machen, verlangt der Oberbefehlshaber der Guerrilla, Timochenko, seit Beginn der Gespräche. Hinsichtlich der Drohungen von Paramilitärs müssen die entwaffneten Aufständischen den Menschen nahe stehen können, die sie seit 51 Jahren unterstützen, sagte er am 23. März. Am selben Tag stellte der Oberbefehlshaber der FARC das von der Guerrilla verfasste Buch „Die Herausforderung nach dem Konflikt” vor und erklärte seine Gründe für die Vertagung der Unterschrift. „Der Paramilitarismus ist weder zufällig noch eine Sache der Vergangenheit. Ausgerechnet Differenzen in diesem Thema sind die Gründe für die Nicht-Unterzeichnung des endgültigen Abkommens”.
Und die Gefahr durch den Paramilitarismus ist real. Laut einer Studie der Stiftung Paz y Reconciliación, die am 23. März dem Verhandlungstisch vorgelegt wurde, sind 25,5 Prozent der ländlichen Gemeinden in Kolumbien von paramilitärischer Gewalt bedroht. Wie die Gemeinde El Bagre, Antioquia: Laut Berichten von Colombia Informa wurden in dem Verwaltungsbezirk im Nordwesten Kolumbiens 600 Menschen von den Paramilitärs Autodefensas Gaitanistas zwangsvertrieben. Als William Castillo, Gründer der Kleinbäuer*innenorganisation Aheramigua und Anhänger der FARC-nahen Partei Marcha Patriótica, auf die Situation in seiner Gemeinde aufmerksam machte, wurde er von Auftragsmördern erschossen.
Im Verwaltungsbezirk Cauca sind in diesem Jahr bereits 45 Menschen aus politischen Gründen ermordet worden, berichtet der Radiosender Contagio Radio. Die paramilitärischen Gruppierungen Los Urabeños und AUC patrouillieren auf den Landstraßen und erpressen die Bevölkerung. Mit Flugblättern kündigten sie ethnische Säuberungen an. Anfang März und binnen einer Woche ermordeten sie vier Menschenrechtsaktivist*innen in Cauca, darunter die Präsidentin einer Umweltschutzorganisation in Playa Rica, Maricela Tombé, sowie Willar Alexander Oimé Alarcon, Gouverneur der indigenen Gemeinde Río Blanco im Süden Kolumbiens.
Nach Angaben des kolumbianischen Bürgerbeauftragten erhielten im letzten Jahr 472 Gewerkschafter*innen, 628 Menschenrechtsaktivist*innenen und 131 Journalist*innen Drohungen. Mittlerweile wurden 69 dieser Aktivist*innen von Auftragsmördern der Paramilitärs erschossen. Wie für die Sicherheit der entwaffneten Kämpfer*innen gesorgt werden soll, ist also weiterhin ungeklärt.
Menschenrechtsorganisationen, die für den 23. März zumindest einen bilateralen Waffenstillstand erhofft hatten, dürften enttäuscht sein. Colombia Informa berichtete nach dem Mord an William Castillo am 7. März, dass in dieser Region seit Anfang des Jahres zwischen den beiden Guerrillas FARC und ELN einerseits, und der Autodefensas Gaitanas andererseits, Gefechte andauern.
Ausgerechnet in der letzten Phase der Verhandlungen erweckte zudem eine politische Veranstaltung in Conejo den Eindruck, die FARC könnte ihre Forderungen im Zweifelsfall auch mit Waffengewalt durchsetzen wollen. Das plötzliche Auftauchen von hochrangigen FARC-Delegierten und 500 zum Teil bewaffneten Guerriller@s in der 2000 Einwohner*innen Gemeinde im Norden Kolumbiens wurde zum Skandal (siehe LN 501). Nicht nur Kritiker*innen aus der ultra rechten Partei Centro Democrático sahen sich in der Annahme bestätigt, dass Santos zunehmend die Kontrolle über das Land verliere. Nach aktuellen Umfragen von Gallup lehnen 69 Prozent der Kolumbianer*innen seine Politik ab.
Der Journalist Antonio Caballero meinte dazu im Interview mit dem Nachrichtensender RCN, dass der Präsident im Laufe der Verhandlungen mit der FARC richtig gehandelt habe, innenpolitisch dennoch gescheitert sei. Bemerkenswert war auch die Art wie Santos die Vertagung der Unterschrift ankündigte. Auf einer kleinen Veranstaltung in der Stadt Pereira am 9. März sagte er, dass er kein schlechtes Abkommen unterzeichnen werde. Einen Tag später schloss sich Timochenko den Worten des Präsidenten via Twitter an und die Unterschrift wurde vertagt. Es dauerte dann bis zum 28. März, ehe sich Präsident Santos dazu äußerte und eine neue Unterzeichnungsfrist von der Guerrilla forderte.
Ohnehin waren viele Punkte, über die verhandelt wurden, noch völlig unklar. Die Frage, wie verhindert werden soll, dass geschätzte 400.000 Waffen der FARC den Weg in den Schwarzmarkt finden, war genauso unklar, wie das Problem des entstehenden Machtvakuums. Andere Formen krimineller Gruppierungen und potentielle FARC-Dissidenten, könnten diese Vakuum füllen, sagte Eduardo Álvarez Vanegas von der Stiftung Ideas para la Paz im Interview mit der Tageszeitung El País.
“Viele Punkte der Agenda wurden unter Vorbehalt beschlossen”, bemerkt darüber hinaus der Journalist Antonio Caballero im Interview mit RCN. Zum Schluss müsse nicht nur über die Entwaffnung der Gueriller@s diskutiert werden, sondern auch über alle umstrittene Punkte, die bis jetzt vertagt worden sind. Deshalb meinte er bereits am Ende Januar, dass noch ein weiteres Jahr für die Friedensgespräche nötig sein wird.

Newsletter abonnieren