Konvention zum Schutz indigener Völker wertlos

Herr Caal Xol, Sie wurden am 24. März 2022, hier in Cobán aus dem Gefängnis entlassen. Ein Jahr später müssen Sie sich immer noch vor Gericht verantworten. Warum?

Seit 2017 laufen gleich zwei Verfahren gegen mich. In einem ersten beschuldigt mich der Staat unrechtmäßig ein Lehrergehalt bezogen zu haben. Das zweite Verfahren wurde von der Firma Oxec angestrengt. Sie baut die mehrere Wasserkraftwerke am Río Cahabón. Dagegen habe ich mich gemeinsam mit anderen engagiert. Ich wurde angezeigt Elektrokabel gestohlen und mehrere Mitarbeiter des Bauunternehmens Netzone SA gemeinschaftlich mit anderen Aktivisten festgehalten zu haben.

Sie wurden am 30. Januar 2018 verhaftet, im November des gleichen Jahres zu einer Haftstrafe von sieben Jahren und vier Monaten wegen schweren Raubes und Freiheitsberaubung verurteilt – zu Recht?

Nein (lacht), natürlich nicht. Die Richter haben mich verurteilt, obwohl sie sich nur auf die Aussagen von drei oder vier Netzone-Mitarbeiter berufen konnten. Es gab keine Videos, keine Fotos, keine unabhängigen Zeugen – ein fabrizierter Prozess. Das ist auch die Meinung von Amnesty International, die mich im Juli 2020 zum Gewissensgefangenen erklärten. Auch Experten der Vereinten Nationen haben meine Haftstrafe als Versuch bezeichnet mich zum Schweigen zu bringen und zu diskreditieren. Das ist Ihnen nicht gelungen.

Hat die Stigmatisierungs- und Kriminalisierungskampagne in ihrem Dorf, in ihrer Region, in gewerkschaftlichen Zusammenhängen funktioniert?

Nein, keineswegs, aber vielleicht im Rest Guatemalas. Wer glaubt denn, dass ich in größerer Menge Kabel geraubt habe? In meiner Heimatgemeinde nur wenige. Da kennt man mich gut. Ich bin Lehrer, ich habe mich in der Gewerkschaft engagiert – solche Leute sind bekannt in den Gemeinden. Das wird nicht so schnell vergessen. Ich habe viel moralische Unterstützung erhalten – kaum jemand hat geglaubt, dass ich wirklich gestohlen habe, die meisten, dass es gefälschte Anschuldigungen waren.

Auch im Gefängnis haben mich Briefe erreicht. Ich selbst habe regelmäßig geschrieben, fast täglich einen Brief, von denen viele in den sozialen Netzen veröffentlicht wurden und die mich draußen in Erinnerung gehalten haben.

Schreiben als Therapie im Gefängnis. Wie ist es Ihnen da ergangen?

Puh, das war eine schlimme Zeit mit Folgen. Jetzt bin ich in psychologischer Behandlung. Die Ärzte haben mich durchgecheckt. Ich hatte einen Tumor, der im Gefängnis entstanden ist. Nach meiner Entlassung aus der Haft, wurde der Tumor in einem Krankenhaus in Guatemala Stadt entfernt.

Man muss wissen wie man im Gefängnis durchkommt, sich aus Konflikten heraushält. Für mich war das Schreiben so etwas wie meine Therapie. Es hat mir geholfen, klar zu bleiben und mir etwas Respekt der anderen Häftlinge eingebracht. Auch die Solidarität von Amnesty, der Peace Brigades und die Besuche haben geholfen.

Amnesty hat Sie zum Gewissensgefangenen erklärt. Hatte das einen Effekt?

Nein, eigentlich nicht. Guatemalas Justiz hat in den letzten Jahren das letzte bisschen ihrer Unabhängigkeit verloren. Es gibt in Guatemala eine Gruppe von Personen, die die Justiz kontrollieren. Sie ermitteln gegen unbequeme Richter unter fadenscheinigen Vorwänden und bedrohen sie mit Haft. Viele fliehen deshalb ins Ausland. Es gibt mehr als zwei Dutzend Fälle. Staatsanwälte und Staatsanwältinnen sitzen im Gefängnis und werden kriminalisiert, obwohl sie nur ihre Arbeit gemacht haben. So wie ich auch. Wir leben in einem Land, in dem der Rechtsstaat beerdigt wurde. Dafür gibt es auch jetzt im laufenden Wahlkampf zu den Präsidentschaftswahlen am 25. Juni zahlreiche Belege.

Woran denken Sie – an die Nominierung der Kandidat*innen?

Ja, genau. Mehrere Kandidatinnen und Kandidaten, darunter mit Thelma Cabrera auch eine aussichtsreiche Indigene, wurden von Höchsten Wahlgericht (TSE) nicht zugelassen – unter wenig stichhaltigen Vorwänden.

Zurück zu Ihrem Fall: Wurde die Bevölkerung um ihr Einverständnis für den Bau der Wasserkraft-werke gebeten und darüber informiert?

Nein, wir wurden nicht informiert, nicht gefragt, ob wir mit der Umleitung der Flüsse, dem Bau von Staudämmen und mehr einverstanden waren. 2015 begannen die Bauarbeiten und auf den Baufahrzeugen waren immer die Namen von zwei Unternehmen zu sehen: Soler und Cobra. Wir haben die Namen auf den Seiten der Ministerien wiederentdeckt und so festgestellt, dass Lizenzen für Wasserkraftwerke vergeben worden waren, ohne dass wir Maya Q’eqchi’ informiert und um Zustimmung gefragt wurden wie es die ILO-Konvention 169 zum Schutz indigener Völker vorsieht. Die ist von Guatemala unterzeichnet worden und auch von den spanischen Stromunternehmen, die vor unserer Haustüre Kraftwerke bauen.

Was passierte dann?

Wir begannen uns zu koordinieren und fuhren in die Hauptstadt, um gegen die Vergabe von Konzessionen ohne Beteiligung der lokalen Bevölkerung zu protestieren. Der Fall wurde publik. Schnell wurde klar, dass die Lizenzen für die Kraftwerke vom Minister für Energie und Minen vergeben wurden: Eric Archila. Der wird heute mit Haftbefehl gesucht. Mich hat damals die lokale Bevölkerung ernannt, um die Verhandlungen zu führen, Verträge aufzusetzen und den Widerstand zu koordinieren.

Das brachte sie für mehr als vier Jahre ins Gefängnis.

Richtig, allerdings begann die Diffamierung früher und sie hält an. Heute muss ich regelmäßig vor Gericht erscheinen, um mich gegen den Vorwurf zu wehren, dass ich ein Gehalt als Lehrer bezogen hätte, ohne zu unterrichten. Richtig ist, dass ich aufgrund meiner gewerkschaftlichen Arbeit freigestellt war. Ich unterrichtete nicht, sondern habe mich in Vollzeit für die Lehrergewerkschaft engagiert. Das versuche ich den Richtern seit einem Jahr mit allen nötigen Dokumenten zu belegen. Doch sie lassen nicht locker – es geht weiterhin darum mich zu diskreditieren und zu kriminalisieren.

Steine im Gepäck

Foto: Flora Dias, Juruna Mallon

Der Flughafen Guarulhos in São Paulo ist der größte Airport Lateinamerikas. Sein Bau wurde von der Militärdiktatur beschlossen und 1985 begleitet von Protesten abgeschlossen: Für den Aeroporto Guarulhos musste eines der letzten Schutzgebiete des atlantischen Regenwaldes in Brasilien abgeholzt werden. Die Siedlungen auf dem Gelände wurden zerstört, viele Indigene verloren dadurch ihre Heimat. Einige von ihnen fanden später auf dem Flughafengelände Arbeit.

Der Film O Estranho (Der Fremde) folgt den beiden indigenen Frauen Alê und Sílvia, die in Guarulhos geblieben sind. Alê (Larissa Siqueira) arbeitet in der Gepäckabfertigung, Sílvia (Patrícia Saravi) betreibt ein Nagelstudio. Das läuft aber nicht mehr so richtig und sie plant deshalb, mit ihrer Tochter in die Stadt zu ziehen. Obwohl Sílvia eigentlich gute Gründe hat, zu bleiben: Mit Alê beginnt sie gerade eine Beziehung und außerdem ist sie aktiver Teil der Candomblé-Religionsgemeinschaft in der Nähe. Alê ist dagegen fest entschlossen, zu bleiben. Für sie ist Guarulhos nach wie vor das Land, auf dem sie geboren ist und sich heimisch fühlt. Als kleine Rache klaut sie Passagier*innen Fotos aus dem Reisegepäck im Fundbüro und lässt dafür Steine dort zurück – eine Erinnerung an das indigene Erbe von Guarulhos.

Die Regisseur*innen Flora Dias und Juruna Mallon lassen O Estranho wie eine Dokumentation aussehen, obwohl Charaktere und Handlung fiktional sind. Ihre Figuren wandern über das Flughafengelände und die umliegende Natur und stoßen immer wieder auf Spuren und Hinterlassenschaften der indigenen Geschichte. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Flüsse, früher Lebensadern, heute zubetoniert und verschmutzt. Der Blick schwenkt auch zu den Flughafenarbeiter*innen, die in dünn besetzten Teams arbeiten und für ihre Rechte kämpfen müssen. Und zu den heutigen Indigenen, die sich nicht vertreiben lassen und auf dem Rest des ihnen einst zugewiesenen Gebietes eine neue Siedlung errichten.

Die dokumentarische Herangehensweise – es werden auch Archivmaterial und zu Beginn nicht-chronologische Momentaufnahmen aus der Geschichte von Guarulhos gezeigt – kann ab und zu etwas verwirren. Das gleiche gilt für die Erzählweise: Ein durchgehender Plot ist nicht wirklich auszumachen, stattdessen springt der Film zwischen verschiedenen Personen und Episoden hin und her. Das macht O Estranho vor allem für Zuschauer*innen außerhalb Brasiliens etwas herausfordernd, denn nicht jede*r dürfte beispielsweise mit der indigenen Geschichte des Landes tiefer vertraut sein. Dennoch ist der Film eine weitgehend interessante Lektion über ein Stück brasilianische Geschichte, das bislang noch wenig Aufmerksamkeit bekommen hat.

EIN LEBEN IN WÜRDE

(Quelle: Karios Filmverleih Göttingen)

Virginio und Sisa wohnen nach einem langen gemeinsamen Leben am Rande des bolivianischen Hochlands in einer einsamen Hütte, bestellen das Feld und hüten ihre Herde Lamas. Ihre traute Zweisamkeit ist jedoch bedroht: Die ohnehin karge Landschaft ist von einer Dürre geplagt, im ausgetrockneten Boden klaffen Risse, die Pflanzen verdorren und Sisa hat keine Kraft mehr, den weiten Weg bis zum Fluss zu gehen, um Wasser zu holen. Der Brunnen im nahen Dorf ist schon versiegt und selbst die Gletscher, die den Fluss speisen, verschwinden. Die meisten anderen indigenen Quechua aus der Gegend sind aufgrund der Perspektivlosigkeit bereits weggezogen. Als Clever, der Enkel der beiden, zu Besuch kommt, will er sie überzeugen, ihm ebenfalls in die Stadt zu folgen. „Und dort? Sollen wir auf den Märkten betteln gehen? Sollen wir Kartoffeln verkaufen? Uns von deinem Vater aushalten lassen?“, entgegnet ihm Virginio. Die Stadt bedeutet mehr Wohlstand und Bequemlichkeit, aber auch die Aufgabe von Lebensweise, Kultur und Sprache: Clever hat bereits kein Quechua mehr gelernt und spricht nur noch Spanisch. Für Virginio kommt es nicht in Frage, seine Heimat zu verlassen, denn in der Stadt wäre er nicht mehr er selbst. Dazu kommt: Virginio ist todkrank, was er aber seiner Frau verschweigt.

Alejandro Grisi hat mit Utama – Ein Leben in Würde seinen ersten Spielfilm vorgelegt und gewann damit bereits einige Preise, darunter den Grand Jury Prize des Sundance Film Festivals. Zuvor hatte der Regisseur lange als Fotograf, dann als Kameramann in Dokumentarfilmen gearbeitet. Mit Ausnahme von Clever werden alle Personen von Laien gespielt, die Darsteller von Virginio und Sisa sind auch im wahren Leben ein Paar.

Dass nur wenig an dem Film wie Fiktion wirkt, liegt daneben aber vor allem an seinem feinen Gespür für die Verletzlichkeit von Menschen, Natur und Kultur auf dem Land. In einer einprägsamen Szene debattieren die wenigen verbliebenen Dorfbewohner*innen, ob sie weiter ihrer Tradition treu bleiben, weiter für Regen beten und Opfer darbringen sollen, ob sie weiter darauf hoffen sollen, dass die Regierung mehr Brunnen bohrt, oder ob das alles keinen Sinn mehr hat.

Ähnliches dürfte sich seit Jahren in vielen Dörfern Lateinamerikas abspielen. Alternde Indigene auf dem Wind und Wetter ausgesetzten Altiplano – nicht zufällig erzählt der Film von besonders verwundbaren Menschen in einer besonders verwundbaren Landschaft und klagt auf diese Weise an, wie der Klimawandel die ohnehin vorhandene kulturelle Erosion noch beschleunigt. Sinnbild für die verschwindenden Kulturen ist dabei neben dem sterbenden Virginio der Kondor, der als Beschützer der Berge verehrt wird, aber als Aasfresser auch mit dem Tod assoziiert ist und gleichzeitig selbst vom Aussterben bedroht ist. Trotzdem endet der Film schließlich nicht ganz frei von Hoffnung.

// DAS VERSAGEN DER COPS

Mit der am 20. November zu Ende gegangenen COP27 ist eine weitere Weltklimakonferenz Geschichte und wieder sucht man im Abschlusspapier vergeblich nach konkreten Maßnahmen oder Verpflichtungen zur CO2-Reduktion. Wo tiefgreifende Veränderungen her müssten, um den Klimawandel und seine katastrophalen Folgen zu begrenzen, bleibt es erneut bei Absichtserklärungen. Alle seit der letzten COP eingereichten nationalen Pläne zur Reduktion von Treibhausgasen führen laut UN-Umweltprogramm nur dazu, diese bis zum Jahr 2030 um ein Prozent zu verringern. Nötig wäre aber eine Reduzierung um 45 Prozent, um das 1,5 Grad-Ziel einzuhalten.

Zwar hat der Gipfel einen Fonds zur Bewältigung klimabedingter Schäden und künftiger humanitärer Katastrophen beschlossen, die in den verwundbarsten Ländern entstehen. Dies bleibt jedoch weit hinter den legitimen Forderungen der Debt for Climate Bewegung zurück, die die Entschuldung dieser Länder fordert, um die Umstellung auf ein nachhaltigeres Wirtschaften zu ermöglichen.

In den betroffenen Staaten gehören Indigene zu den besonders verwundbaren Gruppen. Das machte der peruanische Quechua-Bauer und mehrfache COP-Teilnehmer Saúl Luciano schon 2015 durch seine Klage gegen RWE deutlich. Im Vorfeld der COP27 berichteten viele Medien über die Umsiedlung des indigenen Dorfes Gardi Sugdub in Panama, das immer wieder Überschwemmungen ausgesetzt ist. Aber ob in den Bergen oder auf Inseln – da sie vom Klimawandel so unmittelbar bedroht sind, wurde indigenen Gemeinschaften schon auf vergangenen Konferenzen eine besondere Rolle zugeschrieben. Auch zum 27. Klimagipfel reisten indigene Delegierte aus Australien, Kanada, Kolumbien, Mexiko und weiteren Staaten an. Sie hatten für die Konferenz eine eigene Agenda ausgearbeitet, nahmen aber an den Sitzungen nur als Beobachter*innen teil. „Wir sind ebenso wichtig wie existierende Nationalstaaten. Wir haben das Recht, an der Debatte teilzunehmen, denn wir sind keine Umwelt-NGO“, kritisierte Gregorio Diaz Mirabal, Mitglied des Dachverbands der indigenen Organisationen im Amazonasbecken (COICA) dies im Gespräch mit Journalist*innen.

Viele der indigenen Gemeinschaften leben zudem in den am besten geschützten Gebieten der Erde, was sie zu wichtigen Partnerinnen für den staatlichen Umweltschutz macht. Ein wütender Delegierter von den australischen Torres-Strait-Inseln sagte gegenüber dem Guardian, er fühle sich von der COP ignoriert, dabei könne die Welt vom Wissen der Aborigines nur profitieren. Bevormundet werden Indigene auch bei den auf der letzten COP zu ihren Gunsten beschlossenen direkten Finanzhilfen in Höhe von 1,7 Milliarden Dollar. Sie sollten zur Umstrukturierung der lokalen Wirtschaft und zur Projektförderung eingesetzt werden, kamen aber bisher vor Ort kaum an. „Wir haben es satt, dass Gelder an indigene Stiftungen ohne indigene Menschen gehen. Das ganze Geld geht für die Bezahlung von Beratern und die Kosten für Büros mit Klimaanlagen drauf“, erklärte Yanel Venado Giménez aus Panama gegenüber IPS. Etliche Delegierte bezweifeln, dass die Zusammenarbeit zwischen den lokalen indigenen Gemeinden und den etablierten NGO künftig noch notwendig ist. Viele indigene Gemeinschaften hätten inzwischen eigene Strukturen aufgebaut, die die Finanzhilfen selbst verwalten können.

Wenn Kolumbiens neuer Präsident Gustavo Petro zusagt, den indigenen Widerstand gegen die Bergbauindustrien zu unterstützen, oder Brasiliens zukünftiger Präsident Lula da Silva ankündigt, die Abholzung des Regenwalds stoppen zu wollen, ist dies positiv. An der strukturellen Ausgrenzung indigener Gemeinschaften ändert es jedoch nichts. Indigene Vertreter*innen müssen als Verhandlungspartner*innen endlich ernst genommen werden – bei der globalen Klimapolitik genauso wie bei ihren Rechten auf Land und Autonomie vor Ort.

„WIR SIND MENSCHEN DES KAMPFES UND DES WIDERSTANDS!“

Kampf um Antworten Miriam Miranda vor der Generalstaatsanwaltschaft in Tegucigalpa (Foto: HondurasDelegation)

„Wir sind wieder einmal hier, um Gerechtigkeit zu fordern, um Freiheit zu fordern, um zu fordern, dass unsere angestammten Rechte respektiert werden. Wir sind nicht hier, um Geld zu erbitten. Wir sind Millionärinnen und Millionäre.

Wir haben die Strände, wir haben das Land, wir haben unsere Gemeingüter. Wir wollen, dass wir respektiert werden. Denn dort leben wir seit mehr als zwei Jahrhunderten. Wir lassen uns nicht sagen, dass wir von außen kommen. Wisst Ihr warum? Weil diejenigen, die dieses Land kontrollieren, noch nicht einmal seit hundert Jahren hier sind. Und doch sind sie es, die an der Macht sind. Und sie sind Teil des organisierten Verbrechens. Wir wissen genau, wer wer ist.

Als unsere Brüder aus Triunfo de la Cruz verschleppt wurden, sagten sie, es seien Drogenhändler gewesen. Das war die Lüge, die sie konstruiert haben. Der wichtigste Drogenhändler des Landes wartet in den USA auf seinen Prozess. Aber die Mafia, die Juan Orlando Hernández aufgebaut hat, ist in diesem Land lebendiger denn je, und sie muss zerschlagen werden, Compañeros und Compañeras. Wir fordern, dass diese Regierung den Auftrag erfüllt, den ihr die Bevölkerung mit der Wahl von Xiomara Castro erteilt hat.

Xiomara Castro wurde gewählt, weil die Menschen es satt hatten, von einer Narco-Diktatur regiert zu werden. In diesen Gebäuden sitzen noch deren Leute. Sie haben sie nicht (in die USA, Anm. d. Red.) mitgenommen. Wir wollen, dass die Präsidentin diese Beamten, die das Land ins Unglück gestürzt haben, abberuft. Auch deshalb sind wir hier. Diese Generalstaatsanwaltschaft hat sich der Verfolgung der Garífuna verschrieben, der Verfolgung der indigenen Gemeinschaften. Aber die großen Gauner, die Diebe, die Mörder in Anzug und Krawatte verfolgen sie nicht.

Vor zwei Jahren wurde ein Staatsverbrechen an den Garífuna begangen, als sie unsere Brüder aus Triunfo de la Cruz entführten. Letztes Jahr im Juli 2021, zum Jahrestag des Verbrechens, sind wir mit einer konkreten Petition zu der Generalstaatsanwaltschaft gegangen. Wir haben nicht einmal eine Antwort bekommen. Diese Generalstaatsanwaltschaft verachtet uns indigene Garífuna. Wir sind nicht hier, um über Geld zu sprechen. Wir wollen den politischen Willen sehen. Wir wollen Anzeichen dafür sehen, dass diese Regierung und vor allem die Verantwortlichen in dieser Regierung wirklich die Rechte der Bevölkerung stärken wollen. Sie verstecken sich dort (im Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft, Anm. d.Red.) wie Ratten.

Sie verstecken sich dort und glauben, dass wir kein Recht haben, gehört zu werden, uns mit ihnen an einen Tisch zu setzen und zu diskutieren. Um über ein so wichtiges Thema wie das gewaltsame Verschwindenlassen zu sprechen. Man hat nicht nur unsere Brüder und Schwestern entführt, sondern auch ein Verbrechen an allen Honduraner*innen verübt. Wie viele Menschen verschwinden in diesem Land!

Heute, am 9. August, dem internationalen Tag der indigenen Bevölkerungen, fordern wir von der Generalstaatsanwaltschaft erneut eine Antwort. Aber nicht nur eine Antwort. Wir wollen sie sehen!

An den Stränden, woher wir kommen, haben viele der staatlichen Funktionär*innen ihre Wochenendhäuser, sie sind Teil der Mafia, die dieses Land kontrolliert, die für uns das schlimmste Unglück bedeuten. Honduras ist ein Land, dessen Menschen im absoluten Elend leben, es ist aber ein Land mit vielen Ressourcen. Uns wird gesagt, dass es kein Geld gäbe. Womit werden denn all die millionenschweren Projekte realisiert? Natürlich gibt es in diesem Land Geld! Es ist nur in den Händen weniger und an die traut man sich nicht ran. Wir wollen sehen, dass diese Regierung Entscheidungen gegen diejenigen trifft, die sich dieses Land unter den Nagel gerissen haben.

Was denken sie, wer wir sind? Denken sie, dass wir hier sind, um beim Tanzen fotografiert zu werden? Nein! Wir sind Menschen des Kampfes und des Widerstands! Sie benutzen uns für ihre folkloristischen Tourismusprojekte, sie benutzen uns, um Geld zu verdienen. Wir haben es satt, benutzt zu werden und wir sagen es ihnen deutlich: Dies ist eine Kampfansage!“

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier “Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika”. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

DER KAMPF UM EIN LEBEN IN WÜRDE

Foto: Karen Toro für laperiodica.net

Der nationale Streik, zu dem verschiedene soziale Organisationen für den 13. Juni 2022 aufriefen, kam nicht ohne vorherige Ansage. Der ecuadorianische Präsident Guillermo Lasso, von der Mitte-rechts Partei CREO und seit etwas über einem Jahr im Amt, nutzte die Corona-Krise für die Durchsetzung neoliberaler Sparmaßnahmen. Damit baut Lasso auf der Politik seines Vorgängers Lenín Moreno auf, unter dessen Präsidentschaft es im Oktober 2019 zu den bis dato größten Protesten in den letzten zehn Jahren kam. Vergangenen Oktober ließ der Präsident den Preis für Diesel per Dekret auf 1,90 US-Dollar pro Gallone (entspricht 3,785 Liter) einfrieren – was einer Preissteigerung um 45 Prozent im Vergleich zum Vorjahr entsprach. Seit Juni 2021 versuchte die CONAIE (Konföderation der indigenen Nationalitäten Ecuadors) mehrmals, mit dem Präsidenten in Dialog zu treten, ein letztes Treffen beider Parteien fand im November 2021 statt. Konkrete Lösungen ergaben sich aus diesen Treffen allerdings nicht. Gemeinsam mit mehreren indigenen Verbänden des Landes, Gewerkschaften, Studierenden und weiteren sozialen Organisationen verkündete die CONAIE am 13. Juni in einer Pressemitteilung: „Die aktuellen Bedingungen sind unerträglich. Wir fordern mehr Arbeitsplätze sowie angemessene Einkommen in dem ‚Land der Möglichkeiten‘, das Präsident Lasso uns versprochen hat und in dem nur drei von zehn Ecuadorianerinnen eine Arbeitsstelle haben.“

Die zehn Forderungen der CONAIE, die im Vorfeld der Proteste veröffentlicht wurden und bereits Teil der bisherigen Dialogversuche mit der Regierung waren, sind eine Antwort auf die wachsende soziale Ungleichheit im Land. Nach Zahlen des nationalen Institutes für Statistik und Bevölkerungszählung (INEC) aus dem Jahr 2021 leben 32,2 Prozent der ecuadorianischen Bevölkerung in Armut. 14,7 Prozent davon sogar in extremer Armut, was bedeutet, dass die Betroffenen mit durchschnittlich 1,60 USD am Tag überleben müssen.

Perspektivwechsel „Soziale Ungleichheit ist gewaltsamer als jeder Protest“ (Foto: Karen Toro für laperiodica.net)

Gefordert werden die Senkung und das anschließende Einfrieren der Treibstoffpreise sowie faire Preise für landwirtschaftliche Produkte, um die Existenzgrundlage der Produzentinnen zu gewährleisten. Ebenso die Einführung von Kontrollinstrumenten, die der Spekulation mit Grundnahrungsmitteln Einhalt gebieten. Weiter ein verbesserter Schutz der Ökosysteme, ein Moratorium für die Ausweitung von Bergbau und Erdölförderung sowie Entschädigungen für deren soziale und ökologische Auswirkungen. Außerdem fordert das Bündnis mehr Geld für den Bildungs- und Gesundheitssektor.

Indira Vargas ist Mitglied der Basisorganisation Pakkiru und moderiert ihre eigene Radiosendung beim Sender Voz de la CONFENIAE, einem Programm des Dachverbandes indigener Organisationen im Amazonasgebiet Ecuador. Die 31-Jährige gehört der Nationalität der Kichwa an und kommt aus der Provinz Pastaza. Zur wirtschaftlichen Situation des Landes sagt Indira gegenüber LN, dass die Preise für Grundnahrungsmittel – wie Speiseöl – überdurchschnittlich stark gestiegen sind, was beispielsweise die Betreiberinnen kleiner gastronomischer Betriebe besonders hart trifft. Gleichzeitig würden sich Unternehmen, die industriell hergestellte Produkte vertreiben, durch die Preisspekulation selbst bereichern. Menschen mit niedrigerem Einkommen aber können sich diese Produkte nicht mehr leisten. Deswegen sei es so wichtig, Kontrollinstrumente zu entwickeln, die dieser Spekulation Einhalt gebieten. Die Bevölkerung aus dem Amazonasgebiet hat sich den Protesten angeschlossen, weil sie von den Folgen der extraktivistischen Agenda der aktuellen Regierung besonders stark betroffen sind.

Überraschende Einigung

Der Streik am 13. Juni begann friedlich, im ganzen Land gab es Proteste, in einigen Provinzen kam es zu Straßensperrungen durch die Demonstrantinnen. Die nicht ganz so friedliche Reaktion der Regierung ließ nicht lange auf sich warten. Bereits am ersten Tag der Mobilisierungen verkündete Lasso über seinen Twitteraccount, die ecuadorianische Bevölkerung könne es nicht zulassen, dass politische Gruppen mit dem Ziel, die Republik zu destabilisieren, das Land lahmlegen würden – nachdem sich die Lage nach der langen Zeit der Pandemie gerade erst normalisiert hätte. Darauf folgte ein weiterer Versuch der Regierung, die Protestbewegung zu delegitimieren und zu kriminalisieren. Am 14. Juni, gegen ein Uhr morgens, wurde Leonidas Iza, Präsident der CONAIE und zentrale Führungspersönlichkeit während der Proteste, von Elitegruppen der Polizei festgenommen. Vorgeworfen wurde ihm die Störung der öffentlichen Ordnung sowie Rebellion. Die CONAIE rief ihre Anhänger daraufhin dazu auf, ihre Maßnahmen zu radikalisieren, um sich für die Freiheit von Leonidas Iza und einen Kampf in Würde einzusetzen. Nach 24 Stunden wurde Iza wieder freigelassen, der Prozess gegen ihn ist jedoch lediglich vertagt.

Eine weitere Maßnahme, die nicht nur die Demonstrierenden, sondern auch viele Künstlerinnen und Intellektuelle des Landes gegen die Regierung aufbrachte, war die Besetzung des Casa de la Cultura in Quito durch die Nationalpolizei am achten Tag der Proteste. Von dort aus sollte „die öffentliche Sicherheit und Ordnung angesichts der Bedrohung durch gesellschaftliche Gruppen, die Gewalt gegen Bürger sowie öffentliches und privates Eigentum als Form des Protests einsetzen, gewährleistet werden“. Das Museum und Kulturzentrum wurde bereits bei den Protesten 2019 als Versammlungszentrum genutzt. Es dient traditionell auch als Unterkunft und Schutzzone für die Familien der Protestierenden, von denen viele von weit her mit ihren Kindern in die Hauptstadt reisen, um die Proteste zu unterstützen. Der Vorsitzende des Casa de la Cultura, Fernando Cerón bezeichnete die Besetzung als diktatorische Handlung.

Auf die anhaltende Kriminalisierung der Protestierenden seitens der Regierung, reagierten Frauen aus der indigenen Bevölkerung, verschiedene feministische Kollektive und LGBTIQ-Personen mit einer großen Demonstration in Quito am 25. Juni. Indira Vargas sagt über die Rolle der Frauen während der Streiks: „Die Frauen haben eine sehr wichtige und zentrale Aufgabe während dieser Proteste eingenommen. Wenn die Einheit und Solidarität aller gebraucht wurde, waren die Frauen da, in der ersten Reihe, auch wenn es um die Gesundheit und Versorgung der Menschen ging.“

Doch trotz der vielen friedlichen Proteste überschattete, wie schon in den Jahren zuvor, die ausufernde Gewalt alles andere. Die Organisation Allianz für Menschenrechte Ecuador zählte am 14. Tag des Streiks 73 Menschenrechtsverletzungen, 5 Todesopfer, 200 Verletzte und 145 Festnahmen. Die Einigung kam dann in einem Moment, in dem viele schon nicht mehr daran glaubten.

An dem Dialog, der am 27. Juni zwischen Vertreterinnen verschiedener indigener Organisationen sowie Repräsentanten der Regierung aufgenommen wurde, nahm Guillermo Lasso selbst nicht teil. Nur einen Tag später kündigte er die Gespräche einseitig auf: „Wir werden nicht an einen gemeinsamen Tisch mit Leonidas Iza zurückkehren, der nur seine eigenen politischen Interessen vertritt und nicht die seiner Basis“, sagte der Präsident im Rahmen einer Pressekonferenz. Er offenbarte damit erneut seine Ignoranz und Unkenntnis gegenüber der Organisationsstruktur der indigenen Bevölkerung. Ramira Álvila, ehemaliger Richter des ecuadorianischen Verfassungsgerichts, sagte zu der Reaktion des Präsidenten: „Eine indigene Führungspersönlichkeit zu ignorieren, bedeutet ihre kollektive Organisationsstruktur zu ignorieren, und damit begeht der Präsident einen gravierenden Fehler.“

Überwältigende Solidarität gegen Polizeigewalt

Wenige Stunden zuvor war bei Straßenschlachten zwischen Demonstrierenden und Sicherheitskräften in der Provinz Sucumbíos ein Soldat ums Leben gekommen. Auch das galt der Regierung als Anlass, die Verhandlungen einseitig aufzukündigen. Von den fünf Todesopfern, welche die Proteste zu diesem Zeitpunkt bereits unter den Demonstrierenden gefordert hatten, war dabei keine Rede. Für Entsetzen sorgte der Fall von Byron Holger Guatatuca, der ums Leben kam, als er während Auseinandersetzungen in der Stadt Puyo von einer aus unmittelbarer Nähe gegen ihn abgefeuerten Tränengasgranate am Kopf getroffen wurde.

Indira Vargas, die mit etwa 700 Delegierten aus ihrer Provinz nach Quito gereist war, berichtet neben der Polizeigewalt auch von der überwältigenden Solidarität vieler Stadtbewohnerinnen gegenüber der indigenen Bevölkerung. „Die Menschen haben Wasser gespendet, Brot, Kleidung und Decken, um das kalte Klima erträglich zu machen. Während der gesamten Reise, bis wir die Hauptstadt erreichten, haben wir sehr viel Solidarität erfahren. Die Leute haben geweint, sie haben uns mit offenen Armen empfangen.“

Die Regierung, wenn auch wieder nicht in direkter Vertretung durch ihren Präsidenten, nahm die Verhandlungen mit der CONAIE unter Vermittlung der Bischofskonferenz wieder auf. Einen Tag später wurde die Einigung zwischen den beiden Parteien und die damit verbundene Beendigung der Proteste bekannt gegeben. Die Regierung versprach eine sofortige Senkung der Treibstoffpreise um 15 US-Cent, eine Senkung der Lebensmittelpreise sowie die Einführung von Kontrollen, um Spekulation zu verhindern. Das Dekret 151 zum Bergbausektor soll reformiert werden und der Bergbau in geschützten und archäologischen Gebieten sowie in Wasserschutzgebieten untersagt. Außerdem muss das Recht der freien, vorherigen Konsultation der indigenen Bevölkerung gewährleistet werden. Das Dekret 95, welches die Verdopplung der Öl-Produktion in indigenen Territorien vorsah, wird zurückgenommen. Darüber hinaus einigten sich die Parteien darauf, die übrigen Vereinbarungen innerhalb der nächsten 90 Tage im Rahmen eines weiteren Dialoges zu evaluieren.

Die indigene Bevölkerung Ecuadors, unterstützt von Gewerkschaften, Studierenden und weiteren sozialen Bewegungen, hat erneut gezeigt, dass sie eine Politik, von der nur die oberen Schichten des Landes profitieren, nicht akzeptiert und sich von Spaltungsversuchen sowie der Gewalt des Staatsapparates nicht einschüchtern lässt. Ihr Kampf geht weiter – für eine Politik, die dem Konzept des plurinationalen Staates, wie er in der ecuadorianischen Verfassung festgeschrieben ist, angemessen ist.

DIE GRENZEN DER SYMBOLPOLITIK

Neue Signale Präsident Gabriel Boric bei einer indigenen Zeremonie (Foto: Prensa Presidencia, Gobierno de Chile)

Am 15. März 2022, nur vier Tage nach Amtsantritt, reiste die neue Innenministerin Izkia Siches ins Wallmapu, in die Städte Temuco und Ercilla. In der Nähe von Ercilla wollte sie sich mit Marcelo Catrillanca, dem Vater des 2018 von Polizisten erschossenen Camilo Catrillanca, treffen. Bei der Fahrt in die Mapuche-Gemeinde Temucuicui kam die Karawane der Ministerin ins Stocken: Ein brennendes Auto versperrte den Weg und aus der Ferne fielen Schüsse. Die Wagen kehrten um und Siches verschanzte sich mit ihrer Begleitung im Polizeiposten von Ercilla, dort fand schließlich auch das Gespräch mit Catrillanca statt.

Neben dem Besuch der Ministerin hat die neue Regierung in kurzer Zeit bereits weitere Zeichen auf symbolischer Ebene gesetzt: Gabriel Boric nahm anlässlich seiner Amtseinführung neben einem Gottesdienst auch an einer indigenen Zeremonie teil und sprach seitdem von den „Völkern Chiles“. Seine Minister*innen begrüßen derweil teilweise bei Ansprachen in Mapudungun, der Sprache der Mapuche, und benutzen für ihr Gebiet die Eigenbezeichnung Wallmapu. Die neue Ministerin für staatliche Güter, Javiera Toro, sprach gegenüber der Zeitung La Tercera von einer historischen Schuld des Staates und einer Pflicht, Ländereien zurückzugeben – auf welche Ländereien sie sich bezieht und wie das gemacht werden soll, ließ sie dabei noch offen.

Parallel dazu geht der derzeit tagende Verfassungskonvent wichtige Schritte in Richtung einer neuen Beziehung des Staates mit den Indigenen: Ihnen soll zum Teil territoriale und juristische Autonomie gewährt werden und Chile würde fortan als plurinationaler Staat bezeichnet.

Auch in der Sicherheitspolitik gibt es neue Töne: Gleich nach der Amtsübernahme vom 11. März kündigte die neue Regierung an, den bislang geltenden Ausnahmezustand im Wallmapu nicht zu verlängern. Am 26. März endete damit die über zweijährige Militärpräsenz in der sogenannten „Makrozone Süden“, dem Gebiet, in dem sich die Mehrzahl der Aktivitäten von militanten Mapuche-Organisationen konzentriert und das aus der Región de la Araucanía und der Provinz von Arauco besteht. Dieser Landstrich wurde bis zur Eroberung durch die chilenische Armee Ende des 19. Jahrhunderts von Mapuche kontrolliert .

Im März 2020 schickte die rechte Regierung unter Sebastián Piñera erstmals seit der Diktatur wieder Militär in die Region, damals unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung. Als im September 2021 der coronabedingte Ausnahmezustand beendet wurde, bat sie das Parlament um einen speziellen Ausnahmezustand für die besagten Gebiete. Der angebliche Grund war in diesem Fall der „Terrorismus“ von militanten Mapuche-Organisationen. Seit Jahren kommt es im Wallmapu zu Brandanschlägen. Diese treffen meist Forstunternehmen und zum Teil auch Häuser von Siedler*innen, die auf historischem Gebiet der Mapuche ihre Häuser bauen. Hinter den Anschlägen stehen verschiedene militante Organisationen, die längst angekündigt haben, ihre Aktivitäten auch unter Boric fortzusetzen.

Das Problem beim Militäreinsatz war allerdings, dass dieser kaum zu einer Reduzierung der Anschläge führte. Vielmehr sorgten die Soldaten für Unsicherheit: Erst im November 2021 schossen sie bei einem Kontrollposten auf die wartende Menge, töteten dabei einen Mapuche und verwundeten dutzende weitere Passant*innen. Angeblich wurden die Soldaten aus dem Hinterhalt angegriffen, Beweise wurden aber nie vorgelegt.

Für den Mapuche Eduardo Curin ist der Rückzug des Militärs ein wichtiges Zeichen. Er sagt am Telefon gegenüber LN: „Die Regierung zeigt damit, dass sie den Konflikt in seiner politischen Dimension angehen will und nicht durch polizeiliche Maßnahmen“. Curin ist Mapuche und Teil der Bewegung Xawn de Temucuicui, die sich nach der Ermordung von Camilo Catrillanca im Jahr 2018 (LN 535) gründete. Doch gelöst ist der Konflikt durch den Abzug des Militärs nicht. Denn eigentlich gehe es um politische und historische Forderungen, die letztmals im Jahr 2018 von der Xawn dem chilenischen Parlament überbracht wurden, so Curin. Geschehen ist seitdem nichts.

Am Tag nach dem gescheitertem Besuch von Izkia Siches sprach die chilenische Onlinezeitung Interferencia mit dem Lonko Víctor Queipul Huaiquil, der indigenen Autorität von Temucuicui. Queipul kritisierte den improvisierten Besuch und machte klar, dass ohne konkrete politische Zusicherungen kein Gespräch stattfinden würde. Auch Curin unterstützt diese Aussagen. „Wir haben im Jahr 2018 klar gemacht, um was es uns geht: Befreiung der politischen Gefangenen, Rückgabe aller Ländereien und eine Wahrheitskommission zur Aufarbeitung begangener Verbrechen“.

Seit den 1990ern läuft in der Araucanía ein Landrückgabeprojekt. Von der Mitte-Links-Koalition Concertación Por la Democracia begonnen, die vor Sebastián Piñera regierte, werden Ländereien gekauft und an Mapuche übergeben, die beweisen können, dass ihnen Ländereien geraubt wurden.

„Die Regierung zeigt, dass sie den Konflikt politisch angehen will“

Der Historiker Martin Correa erklärt gegenüber LN: „Wenn die Regierung von Ländereien spricht, geht es um die Rückgabe der Reservate“. Also Gebiete, in welche die Mapuche nach der Eroberung durch den chilenischen Staat vertrieben wurden, für die sie Besitztitel bekamen, die sogenannten Títulos de Merced. Correa merkt dazu an: „Die Títulos de Merced waren eine Strafe, wie kann eine Strafe die Lösung für einen Konflikt sein?“

Für die Mapuche geht es daher um viel mehr. Correa erzählt, viele Gemeinschaften hätten in ihrem kollektivem Gedächtnis weiterhin Klarheit über ihre ursprünglichen Gebiete. „100 Jahre scheint viel, aber eigentlich sind es nicht mehr als zwei Großväter“. Und so wissen viele Gemeinschaften bis heute, wo sich beispielsweise ihre damaligen Friedhöfe befinden, die inzwischen meist innerhalb von riesigen Forstplantagen liegen. Es müsse also darum gehen, alle ursprünglichen Ländereien zurück zu bekommen.
Das einzige Mal, als sich eine Regierung daran gemacht hat, das Problem der Ländereien grundlegend zu lösen, war während der Landreform unter Salvador Allende, schildert Correa. Damals setzte die Regierung gezielt auf die Rückgabe und den Schutz der Ländereien der Indigenen.

Doch der darauf folgende Militärputsch setzte dem ein Ende. „Die Ländereien wurden für Spottpreise an Forstunternehmen verkauft und die Mapuche ein weiteres Mal vertrieben,“ erzählt Correa. Heute sind die Gebiete erneut in der Hand der lokalen Oligarchie, die nicht nur in politischen Positionen, sondern auch in der Staatsanwaltschaft und in Gerichten vertreten ist. Der Putsch wurde unter anderem ausgelöst, da die Landreform die Basis der chilenischen Oligarchie angriff.

Boric muss mit heftigem Widerstand von Seiten der Oligarchie rechnen

Die heutigen Forstplantagen sorgen derweil für immense Umweltprobleme: Die angepflanzten Eucalyptusbäume verschärfen die herrschende Trockenheit, während der massive Einsatz von Pestiziden, unter anderem Glyphosat, die Quellen der anliegenden Bevölkerung verseucht.

Die Concertación versuchte dieses grundlegende Problem durch den Kauf einiger weniger Ländereien zu Marktpreisen zu umgehen. Gleichzeitig wurden militante Mapuche juristisch verfolgt.

Die Rechtsanwältin Karina Riquelme verteidigte bereits in vielen Fällen verfolgte Mapuche. Gegenüber Interferencia spricht sie von einem rassistischen Justizapparat, der Großgrundbesitzer*innen verteidige und Mapuche verfolge. Verschiedene Beispiele der nahen Vergangenheit zeigten, wie die Polizei zum Teil in Zusammenarbeit mit Staatsanwaltschaft und Gerichten gezielt Mapuche verfolgte. Im größten Skandal der letzten Jahre, im Fall Huracán, wurden Beweise gefälscht, gezielt Personen überwacht und in Untersuchungshaft gesteckt (LN 526).

Das Rechercheportal Ciper deckte diesen Monat auf, dass im Zusammenhang mit dem Fall Huracán auch Rechtsanwält*innen, Politiker*innen und Kulturschaffende belauscht wurden – Karina Riquelme war selbst unter den Abgehörten.

Derzeit läuft ein Verfahren gegen die Verantwortlichen. Riquelme kritisiert, dass das Gericht die Termine immer wieder verschoben hat und den Verteidigern deutlich mehr Zeit einräumt, als in Fällen, in denen sie Mapuche vor Gericht verteidigt. „Uns wurde im Fall des Angeklagten Celestino Cordova nur 20 Tage Zeit gegeben, um die Akten zu studieren“, sagt sie. Im Fall der Aufklärung von Huracán sind es mehr als zwei Monate.

Riquelme meint, dass aufgrund solcher Fälle jegliches Vertrauen in die Justiz fehle. „In den Augen vieler Mapuche gibt es nur einen Staat und alle seine Institutionen sind Teil des Gleichen“, so Riquelme. Daher gäbe es auch kein Vertrauen in staatliche Akteure, auch wenn sie einer neuen Regierung angehören. Sie vertreten einen Staat, der sie über Jahre unterdrückt hat.

Die Rechtsanwältin warnt daher gegenüber Interferencia: Sofern Boric den Justizapparat reformieren will, müsste er mit heftigem Widerstand seitens der Oligarchie rechnen. Gleichzeitig würde ein „Weiter so“ bei der bisherigen Praxis der Staatsanwaltschaft Annäherungsversuche der Regierung deutlich erschweren oder gar blockieren.

Auch Mapuche Curin bleibt daher kritisch: „Ich glaube nicht, dass ein jahrhundertelanger Konflikt innerhalb von vier Jahren gelöst werden kann.“ Außerdem meint er, dass abseits der symbolischen Schritte ein Konflikt innerhalb der Regierung herrsche: „Es gibt viele Berater, die aus der Concertación stammen und weiterhin deren Logik verfolgen.“ Als Beispiel erwähnt Curin die Aussagen von Innen-Staatssekretär Manuel Monsalve (Sozialistische Partei), der nach dem Vorfall von Ercilla meinte, die Waffenkriminalität mancher Mapuche solle mit aller Härte verfolgt werden und sei nicht Teil der legitimen politischen Forderungen.

Curin verteidigt eben diese Gewalt: „Man hat uns immer wieder Zusagen gemacht und diese nicht erfüllt. Ich kann verstehen, wenn manche zur Erfüllung der Forderungen zu den Waffen greifen“.

So lange die Regierung also nicht auf diese Forderungen eingeht, wird sich die Bewegung der Mapuche weiter radikalisieren und weitere Rufe nach militärischer Repression seitens der Unternehmen nach sich ziehen. Doch um die Forderungen der Mapuche-Bewegung zu erfüllen, braucht es mehr als Ansprachen auf Mapudungun. Während Karina Riquelme von einer Reform des Justizapparats spricht, würde eine Rückgabe der Ländereien auch eine Vertreibung von Siedler*innen und Forstunternehmen bedeuteten – auch hier wäre Widerstand vorprogrammiert. Inwiefern die Regierung diese immense Herausforderung angehen will, wird sich in den kommenden Monaten zeigen.

KOLONIALISMUS, GENOZID UND PALMÖL

Niedergerissen und abgebrannt
 Die Bewohner*innen des Dorfes Chinebal mussten fliehen (Foto: Prensa Comunitaria)

„Dieser Räumungsbefehl, war eine illegale Anordnung. Der Richter Anibal Arteaga stempelte und unterschrieb lediglich ein Blatt Papier ohne Ortsangabe, auf dessen Basis die Räumung angeordnet wurde.“ So äußerte sich ein Gemeindemitglied, das aus Sicherheitsgründen anonym bleiben will, gegenüber dem Radiosender America Rompe El Cerco. Im Zuge der Räumung, ging die Polizei gewaltsam gegen die Bewohner*innen vor, die sich weigerten ihre Häuser zu verlassen, insbesondere gegen Frauen und Kinder. Nur eine Stunde nach der Räumung wurden die Häuser der Gemeindemitglieder von Beauftragten des Unternehmens NaturAceites angezündet, wie die guatemaltekische Tageszeitung Prensa Comunitaria berichtet.

Tatsächlich ist die Anordnung, die im Juni ausgestellt wurde, unvollständig und enthält keine Details zum Datum oder Motiv der Räumung. Darüber hinaus sind laut Prensa Comunitaria zahlreiche Verbindungen des genannten Richters zu Korruptionsfällen, Drogengeschäften und der Kriminalisierung von Menschenrechtsverteidiger*innen bekannt.

Die Quiché Aktivistin Lucia Ixchíu begleitet das Gebiet rund um El Estor, in dem Chinebal liegt, seit 2016 im Rahmen der Solidaritätsfestivals, einem Kollektiv von Künstlern, Korrespondent*innen und indigenen/mestizischen Forscher*innen, die sich mit historischer Erinnerung, territorialer Verteidigung und politisch motivierter Inhaftierung beschäftigen.

Im Interview mit LN bestätigt Lucía Ixchíu: „Was in El Estor geschah war buchstäblich eine Strategie des Staatsterrorismus, eine Schock-Strategie und die Fortsetzung des rassistischen und kolonialen Genozids.” Über Prensa Comunitaria erkärt sie: „Die indigenen Q’eqchi’ Gemeinden kämpfen seit etlichen Jahren darum, dass ihr Landbesitz anerkannt wird. Sie bewohnten dieses Land als Erste.”

Seit der liberalen Landreform von 1871 andauernde Repression

Um die Ereignisse und die Kämpfe der indigenen Gemeinden in El Estor zu verstehen, ist es laut Lucía Ixchíu notwendig, zu begreifen, dass die Repression gegen das Volk Q’eqchi’ in dieser Region bereits seit der liberalen Landreform von 1871 und der Präsenz der Bananengesellschaft United Fruit Company in der Region andauert. „Es ist von fundamentaler Bedeutung, die Geschichte der indigenen Bevölkerung, des Genozids und der permanenten kolonialen Plünderung zu verstehen, in der sich Guatemala aktuell befindet; es handelt sich nicht um einen Diskurs der Vergangenheit, sondern um eine aktuelle Erfahrung in Chinebal, wo die Vertreibungen stattfinden.” Lucía Ixchíu verweist auf den Genozid, der während des internen bewaffneten Konflikts an der indigenen Bevölkerung begangen wurde, der sich über drei Jahrzehnte erstreckte und formell in den Friedensverträgen von 1996 sein Ende fand. Heute setze sich die Politik der Vernichtung durch den Extraktivismus fort, so Lucía Ixchíu.

Die vertriebenen Familien sind Nachkommen derer, die 1978 flohen, als 57 Bauern der Q’eqchi’ während des Massakers von Panzós von der guatemaltekischen Armee ermordet wurden. Großgrundbesitzer benutzten daraufhin die Ländereien für Viehhaltung und später für den industriellen Anbau der afrikanischen Palme. Zur Zeit der Unterzeichnung der Friedensverträge kehrten die Gemeinden auf ihr Land zurück und bauten ihre Häuser in demselben Gebiet wieder auf. Die Räumung im November 2021 war innerhalb der vergangenen zwei Jahre der elfte Versuch die Gemeinschaft zu vertreiben.

Guatemala ist nach Kolumbien in Lateinamerika das zweitgrößte Erzeugerland von Palmöl und das sechste weltweit. Palmöl wird genutzt für verarbeitete Lebensmittel, Kosmetik und Reinigungsprodukte. Zu den Auswirkungen dieser Industrie gehören die Umweltzerstörung, wie der Ökozid am Fluss La Pasión in Guatemala, sowie Hunderte von Landkonflikten und die Verletzung der Menschenrechte der indigenen und bäuerlichen Bevölkerung.

Juan Maegli Müller ist der Eigentümer der Palmölfirma NaturAceites. Er stammt aus einer Familie deutscher und schweizerischer Herkunft, die während der Liberalen Reform 1871 nach Guatemala kam.

Er beteiligte sich an der rechtsextremen Partei Nationale Befreiungsbewegung (MLN), finanzierte während des Bürgerkriegs 1970 und 1980 Paramilitärs und die repressive Aufstandsbekämpfungskampagne. Seine Familie gehört nach wie vor zu den reichsten der wirtschaftlichen und politischen Oligarchie des Landes sowie zu den größten Großgrundbesitzerfamilien in der Region. Sein Unternehmen NaturAceites exportiert in verschiedene Länder der Welt, darunter auch Deutschland. Es verfügt über das Zertifikat für Nachhaltigkeit RSPO, welches Kriterien der umweltbezogenen, sozialen und ökonomischen Nachhaltigkeit fördert, wie die Webseite des Unternehmens mitteilt.

Lucía Ixchíu stellt im Interview mit der Prensa Comunitaria fest, dass die Region rund um El Estor zusätzlich zu seiner jüngeren Geschichte des Genozids eines der komplexesten Gebiete in Guatemala ist. Es ist die Region Guatemalas, in der gerade ein starker Widerstand gegen den Bergbau stattfindet, und in der wo seit dem 25. Oktober 2021 ein Belagerungszustand herrscht, der auch die gewaltsame Räumung von Chinebal und die Straflosigkeit erleichterte. Im Gespräch mit LN sagte Lucía Ixchíu: „Der Widerstand gegen den Bergbau in El Estor besteht aus indigenen Autoritäten aus der gesamten Region, 97 indigenen Gemeinden, und einigen der Sprecher*innen von El Estor. In Anbetracht der Art und Weise wie die Aktion durchgeführt worden ist, glauben wir, dass die Räumung ein Racheakt gegen den Widerstand ist.“

„WIR WISSEN WIE WIR LEBEN WOLLEN!“

ANGEL SULUB, JUAN CAAMAL, NISAGUIE CRUZ

„Ich bin Angel Sulub, ein indigener Maya aus Yucatán und Mitglied des Nationalen Indigenen Kongresses (CVI). Ich wurde zum Delegierten ernannt, um diese zapatistische Tour zu begleiten.“

„Ich bin Juan Caamal auch aus Yucatán. Ich bin ebenfalls ein Mitglied des CNI und wurde auch als Teil der Delegation mit dieser Tour beauftragt.“

„Mein Name ist Nisaguie Cruz, ich komme aus der Gemeinde Zapaoteca Chitan, Oaxaca. Ich bin auch eine Delegierte des CNI und begleite diese Tour“
(Foto: Videoclips Freundeskreis)


 

Wie ist es Ihnen, dem CNI, den Zapatistas und anderen gelungen, für dieselbe Idee zusammenzuarbeiten?
Angel Sulub: Wir als CNI sind der Meinung, dass dieser Kampf um das Leben ein Kampf für die gesamte Menschheit ist und dass das kapitalistische, patriarchalische und koloniale System in allen Regionen dieser Welt präsent ist. Die Macht und die Unterwerfung in den Ländern ist unterschiedlich und geschieht auf verschiedenste Weise, aber letztlich ist es ein System, das zum Zusammenbruch der Menschheit führt. Sie zerstören den Planeten und das, was in einem Teil der Welt passiert, hat Auswirkungen auf andere Teile. Bei uns in den Minen, in den Bergbaugebieten, sterben die Menschen wegen der Verschmutzung des Wassers.
Juan Caamal: Wir als Indigene teilen den Schmerz, die Kämpfe und die Ereignisse. Eines, was wir tun werden, ist, zu einer gemeinsamen Organisation aufzurufen. Unsere Forderung ist es, uns zu organisieren und damit zu beginnen nach anderen Lebensweisen in Koexistenz mit Mutter Natur zu suchen. Wir suchen nach einer Welt, in die viele Welten passen. Eine Welt, in der Anarchisten und Sozialisten in Frieden miteinander leben. Und auch wir bitten, in Mexiko als Mayas glücklich und zufrieden leben zu dürfen, in Koexistenz mit Anarchisten und Sozialisten. Wir müssen uns gegenseitig schützen – das kapitalistische System scheint dabei der einzige Zerstörer zu sein. Deshalb fordern wir eine gemein- schaftliche, politische, psychologische und soziale Organisation zum Schutz und zum Zusammenleben auf der Erde.

Welche Gefahren stellen Megaprojekte wie der Tren Maya, der interozeanische Transportkorridor, das Morelos-Integralprojekt und der Flughafen Santa Lucia aus Sicht der indigenen Gemeinden dar?
A.S.: Die Megaprojekte verschärfen die Situation der pueblos originarios (indigene Gemeinden, Anm. d. Red). Sie verfolgen alle dieselbe kapitalistische, extraktivistische Logik, die darauf abzielt, die Völker zu enteignen, uns unser Land wegzunehmen und uns auszubeuten. Sie plündern unsere natürlichen Ressourcen wie Wasser, Land, Holz und alles, was unseren Gemeinden heilig ist. Die von Ihnen genannten Beispiele sind nur einige von vielen anderen Megaprojekten, die weiterhin das Leben unserer Völker bedrohen. Das Bahnprojekt, das fälschlicherweise Tren Maya genannt wird und eines der von der derzeitigen Regierung am meisten geförderten Projekte ist, soll fünf Bundesstaaten des Landes durchqueren, etwa 1.500 Kilometer. Aber wir sagen immer: Es ist keine Bahn und mit Maya hat sie nichts zu tun. Es handelt sich nicht nur um eine Bahn, sondern um eine Reihe von miteinander verbundenen Megaprojekten wie: Energie, Tourismus, agroindustrielle Projekte, Schweinefleischproduktion, die Schaffung von Industrieparks, Infrastrukturprojekte wie neue Flughäfen, Urbanisierung und Immobilienentwicklung. Es gibt viele Projekte, die mit den Interessen des so genannten Tren Maya verbunden sind, von denen jedes einzelne nicht nur die Umwelt, sondern auch die Selbstversorgung der Völker, die Autonomie der Völker, ihre Identität und ihre Organisationsformen bedroht. Mit anderen Worten: Die Auswirkungen jedes dieser Megaprojekte auf unsere Gebiete sind so groß, dass wir sie hier in Europa anprangern und teilen müssen. Wir erleben eine Situation der Ausplünderung und der Verletzung der Rechte unserer Völker.
Nisaguie Cruz: Im Falle des Transportkorridors wollen sie auch eine Grenze errichten, um die gesamte Migration aus dem Süden stoppen zu können. Ein Ort, um Billiglohnfabriken zu errichten, wo Migrant*innen als schlecht bezahlte Arbeitskräfte eingesetzt werden. Nicht nur sie, sondern auch die Menschen, die dort leben, sollen ausgebeutet werden. Und all das bringt eine Menge Gewalt mit sich. Wir wissen bereits, was in Cuidad Juárez, an der mexikanischen Nordgrenze passiert ist. Es gibt Verschwundene, es gibt Morde und es gibt Feminizide (siehe LN 551). Und genau das wird auch mit uns geschehen. Es ist eine Form von Völkermord, um uns verschwinden zu lassen.

Können Sie einige dieser Unternehmen oder kriminelle Banden nennen, die dort tätig sind?
A.S.: Am Bau des Tren Maya sind viele Unternehmen beteiligt, sowohl bei der Konstruktion als auch bei der Beratung. Mexikanische Unternehmen wie die Carson-Gruppe, die Carlos Slim gehört, einem der reichsten Männer der Welt, ist an der Bahn interessiert und beteiligt sich am Bau, ebenso europäische Unternehmen wie Renfe aus Spanien oder die Deutsche Bahn und viele weitere Unternehmen. Aber es gibt auch Tourismusunternehmen, die über die touristischen Entwicklungspole davon profitieren werden. Vor allem spanische Unternehmen, die im Bundesstaat Quintana Roo ansässig sind und auch Unternehmen, die durch ihre Anteile an diesen Unternehmen mit ihnen verbunden sind.
Darüber hinaus gibt es viele Drogenkartelle und bekannte kriminelle Organisationen, die ebenfalls in diese Gebiete vordringen. Das passiert mit der Komplizenschaft der Regierung von Bund, Ländern und Gemeinden. Sie sind Teil desselben politischen Systems in Mexiko und desselben globalen kapitalistischen Systems.
N.C.: Bei den Windparks handelt es sich überwiegend um spanische und französische Anlagen. Im Moment haben wir ein Verfahren gegen EDF laufen, ein französisches Unternehmen. EDF will unsere Kolleg*innen dort schikanieren und kriminalisieren, ebenso wie die FEMSA-Gruppe, Coca-Cola, Walmart und andere. Viele der Unternehmen arbeiten dabei zusammen.
A.S.: Ein weiterer problematischer Akteur bei Megaprojekten sind die Bergbauunternehmen. Es gibt viele Bergbaukonzessionen, die beispielsweise an kanadische Unternehmen vergeben wurden, die für die tägliche Zerstörung des Territoriums und Todesfälle verantwortlich sind. Ich möchte daran erinnern, dass Samir Flores Soberanes, einer der Gegner des Projektes Morelos-Integral (Infrastruktur-Projekt der staatlichen mexikanischen Stromgesellschaft CFE, Anm. d. Red.), vor zwei Jahren ermordet wurde und er ist nicht der Einzige. Allein während dieser Legislatur sind viele andere Verteidiger*innen dieser Gebiete ermordet worden.

Manchmal scheint es, dass indigene Gemeinschaften durch die Megaprojekte gespalten werden, weil einige von ihnen plötzlich Geld verdienen oder es mehr Arbeit gibt als anderswo. Erkennen Sie hier das Teile- und-herrsche-Prinzip?
A.S.: Das war schon immer eine Strategie der politischen Parteien und der nationalen politischen Systeme, befördert durch die Steuerung der Menschen durch Wohlfahrtsprogramme. Die Regierung verfolgt also eine äußerst gut durchdachte Strategie, die Menschen zu spalten. Ein Weg das zu erreichen, erfolgt über die politischen Parteien. Die Mayas, die dort in den Gemeinden als Würdenträger autonom handeln und ihre Entscheidungen eigenständig treffen, wurden durch die Parteien gespalten. Die Organisation und das autonome Gemeinschaftsgefüge brechen zusammen und es kommt zu Konflikten. So verlieren die Gemeinden und der Widerstand gegen die Megaprojekte ihre Stärke. Das Prinzip der Spaltung ist also immer allgegenwärtig.

Welche Hauptgemeinsamkeiten verbinden die indigenen Gemeinschaften?
A.S.: Die indigenen Gemeinden Mexikos sind keine Relikte der Vergangenheit, wir leben und leisten Widerstand. Wir sind nicht diejenigen, die in Museen oder an archäologischen Stätten ausgestellt werden, sondern wir sind Völker, die eine lebendige Kultur haben. Wir sind bereit, uns mit den Unternehmen und den Regierungen anzulegen, und zwar nicht, weil wir den Konflikt suchen, sondern weil wir verteidigen, was wir sind, wir verteidigen unser Territorium. Wir wollen eine menschenwürdige Lebensweise für die Menschen aufbauen. Das ist nicht nur unser Kampf, sondern der Kampf aller. Das was wir schützen, ist das Leben, die Wälder, das Wasser, das Land – wir wollen, dass sich alle dem Kampf für das Leben anschließen. Sie sollen sich organisieren und zusammenschließen, auf ihre Art und Weise, nach ihrem Tempo, nach ihrer Denke und ihrem Sein, aber sie sollen für das Leben kämpfen. Denn wir stehen vielleicht vor der letzten Chance, die Menschheit und den Planeten zu retten.
N.C.: Wir wissen, wie wir leben wollen. Wir sind eine starke, intelligente Gemeinschaft, wir haben Weisheit und wissen, was wir wollen. Auch wenn viele denken, dass wir unwissend sind – wir sind es nicht! Wir wollen frei leben, wir wollen leben, ohne schikaniert zu werden, ohne getötet zu werden und ohne zu verschwinden. Wir wollen diesen Krieg nicht mehr, in den sie uns hineingezogen haben. Wir haben diesen Krieg nie gewollt. Wir haben mehr als 500 Jahre lang Widerstand geleistet und wir werden es auch weiterhin tun!

„DER PUTSCH HÖRT NICHT AUF“

ADRIANA GUZMÁN ARROYO

ist Aymara, lesbisch und Feministin. Sie gehört der Organisation Feminismo Comunitario Antipatriarcal (Gemeinschaftlicher Anti­patriar­chaler Feminismus) an. Die Organisation verortet sich in den Protest-bewegungen der Straße und kämpft gegen geschlechterbasierte Gewalt und für die Verteidigung indigener Territorien. (Foto: privat)


 

Sie und viele Akteur*innen aus den sozialen Bewegungen hatten befürchtet, dass die Wahlen 2020 eine Falle der damaligen De-facto-Regierung unter Jeanine Añez seien (siehe LN 547). Wie bewerten Sie den Sieg der MAS heute?
Die De-facto-Präsidentin Añez konnte abgesetzt werden, aber das Ergebnis der Wahlen ist kein Sieg der MAS, sondern der sozialen Bewegungen. Diese haben dafür gesorgt, dass die Wahlen im Oktober 2020 stattfinden konnten. Viele Menschen haben gegen den Faschismus, aber nicht für die MAS gestimmt. Leider hat die MAS nicht die richtigen Schlüsse aus dem Wahlergebnis gezogen. Sie ist wenig selbstkritisch davon ausgegangen, dass die erzielten 55 Prozent der Stimmen für sie selbst und für ihren Kandidaten Luis Arce abgegeben wurden. Das ist kaum zu glauben, denn Arce vertritt nicht die Interessen der indigenen Bevölkerung, die diesen Prozess angestoßen hat. Er hat als Wirtschaftsminister viele Jahre eine kapitalistische Politik verfolgt. Arce ist mitverantwortlich dafür, dass sich an der Wirtschaftsstruktur nichts geändert hat und die Vereinbarungen mit den Banken und den transnationalen Unternehmen nicht revidiert wurden.

Wie bewerten Sie die Arbeit der neuen MAS-Regierung seit den Wahlen?
Seit den Wahlen 2020 hat die MAS-Regierung weder neue noch alte politische Ziele verfolgt, außer im Bereich der Gesundheit. Hier wurde erreicht, dass Corona-Impfstoffe und -Tests bereitgestellt wurden. Es gibt jedoch keine politischen Maßnahmen, um Bildung voranzutreiben oder um die Wirtschaft wieder zu beleben. Zum Zwecke der Wiederbelebung hat die Regierung den Bergbauunternehmen Steuern erlassen – stattdessen hätte sie die Steuern für die Bevölkerung senken sollen.

Bei diesem Putsch sind die faschistische Rechte und die wirtschaftliche und politische Oligarchie zum Vorschein gekommen. Leider haben die Wahlen und die neue MAS-Regierung es nicht geschafft, die Auswirkungen des Putsches wirklich zu beenden. Es mangelt der Regierung an politischem Profil und Führungskraft. Die Minister kommen nicht aus den sozialen Bewegungen und verfügen nicht einmal über fachliche Expertise. Sie sind nicht in der Lage, mit den Angriffen der Rechten und der Oligarchie umzugehen.

Die Politik wird von den wirtschaftlichen Eliten und den transnationalen Konzernen gesteuert. Deshalb bin ich der Meinung, dass dieses Thema auf der Straße und in den indigenen Territorien entschieden werden muss.

Wurde für die während der De-facto-Regierung begangenen Verbrechen Gerechtigkeit erreicht?
Für die Ereignisse von 2019, wie etwa die Massaker, sind bisher keine Verfahren eingeleitet worden. Die Verantwortlichen wurden nicht zur Rechenschaft gezogen. Es herrscht große Straflosigkeit, insbesondere bei Gewalt gegen Frauen und für Feminizide, die mit dem Putsch angestiegen sind. Seit Beginn der Pandemie ist das gesamte Justizsystem geschlossen. Die Orte zum Feiern und Alkohol trinken sind wieder geöffnet, aber die Gerichte nicht.

Es gibt Verletzte, die noch behandelt werden müssen, die bleibende Gesundheitsschäden davongetragen haben. Für uns als Organisation und für mich als Feministin ist der Kampf für Gerechtigkeit sehr wichtig. Es kann keinen Frieden und keine politische Stabilität geben, wenn es keine Gerechtigkeit und keine anerkannte historische Wahrheit gibt, denn das zieht eine ständige Unzufriedenheit innerhalb der sozialen Organisationen nach sich. Wir wollen, dass die geistigen Urheber, die Anstifter und die Täter bestraft werden und es umfangreiche Wiedergutmachungsmaßnahmen für die Opfer gibt. Für mich ist es sehr frustrierend, dass gegen Jeanine Añez noch kein Verfahren eingeleitet wurde, obwohl sie schon seit neun Monaten in Haft ist. Die Menschen wollen Gerechtigkeit, aber es gibt sie nicht.

Wie ist das Leben in Bolivien heute unter der neuen MAS-Regierung?
Jetzt gibt es zwar keine Massaker mehr, aber eine ständige Bedrängung und Einschüchterung der indigenen Bevölkerung. Es gibt einen ständigen Rassismus auf den Straßen, in den Institutionen, in der Politik, im Bildungswesen und in den Medien. Das fördert eine Kultur des Hasses, in der die Äußerungen von Amtsträgern oder wem auch immer nach ihrer Hautfarbe beurteilt werden und nicht nach ihrem Inhalt.

Ich glaube also, dass sich der Rassismus verschärft. Nicht in Form von Massakern oder Repression, denn er geht nicht vom Staat selbst aus. Aber die Angreifer können Faschisten von der Union Juvenil Cruceñista (einer rechtsextremen Gruppe, Anm. d. Red.) sein oder dein Nachbar, der dich auf der Straße anspuckt oder als Dieb bezeichnet. Das habe ich auch persönlich erlebt. Vor kurzem riefen Luis Fernando Camacho, das Bürgerkomitee von Santa Cruz, die Plattform 21F und alle Gremien, die am Putsch beteiligt waren, zu einem landesweiten Streik auf. Ich wurde auf der Straße umzingelt und verprügelt. Natürlich habe ich die Täter als faschistisch denunziert und sie gefilmt. So etwas passiert indigenen Frauen und Männern, Aymara, Quechua oder Migranten an jeder Straßenecke. Egal, ob wir der MAS angehören oder den sozialen Organisationen nahestehen, wir werden überall beschimpft. Es ist sehr schwierig, zwei Stunden auf der Straße zu sein, ohne mit jemandem in Streit zu geraten. Das führt zu ständigen Spannungen. Ich würde die Situation nicht als Polarisierung bezeichnen, denn es stehen sich nicht zwei ähnlich große Seiten gegenüber, sondern diese Kultur des Hasses wird von einer kleinen Gruppe erzeugt.

Wie erklären Sie sich, dass diese kleine Gruppe nach wie vor das gesellschaftliche Klima vergiften kann?
Die paramilitärischen Gruppen wurden nicht entwaffnet und können jederzeit einen Streik durchführen. Sie hätten aufgelöst werden müssen und sollten im Gefängnis sitzen, aber sie sind weiterhin mit ihren Motorrädern auf den Straßen und verprügeln Indigene! Es ist ein Putsch, der nicht aufhört. Die Rechte betreibt mit paramilitärischen Gruppen, mit Nahrungsmittelspekulation, mit all ihren Mitteln eine permanente Destabilisierung. Neben der MAS hat auch sie Sitze im Parlament errungen, und Camacho ist Gouverneur von Santa Cruz, einem der Departementos mit der höchsten Wirtschaftsleistung. Er kann nun den Staatsapparat für die rechte Mobilisierung einspannen. Ich denke, dass sie ein Abwahlreferendum planen. Die zutiefst rassistische und putschfreundliche Ärztekammer streikt ebenfalls seit Wochen, wie schon 2019. So greifen sie systematisch die Regierung an.

Welche Rolle spielt die wirtschaftliche Situation?
Die Wirtschaftskrise ist schrecklich, besonders für Frauen, und während der Pandemie hat sie sich verschärft. Zur Wiederbelebung der Wirtschaft hat die Regierung etwa die Rückerstattung der Rentenbeiträge beschlossen, die man nun ausgeben kann, um nicht zu verhungern. Für mich ist das ein schlimmer Angriff auf die Menschen, denn wir Frauen haben nicht einmal eine Rente, und auch viele Männer, die jetzt von ihren Ersparnissen leben, werden einmal keine Rente bekommen. Der Rassismus in Bolivien verschärft sich durch die Vertiefung des Kapitalismus, der Ausbeutung und der Wirtschaftskrise. Denn warum behandeln sie uns rassistisch? Um uns zu beherrschen, zu demütigen und auszubeuten, so dass uns nichts anderes übrig bleibt, als ihre Dienerinnen zu sein. Das wollen wir nicht und wehren uns dagegen.

Wie schätzen Sie die Situation der indigenen sozialen Bewegungen ein?
Um dies zu analysieren, sind zwei Aspekte wichtig. Der Putsch wurde 2019 möglich, weil die sozialen Bewegungen sich um politische Ämter gestritten haben und dadurch geschwächt waren. Die MAS hat zunehmend aufgehört, ein politisches Instrument der Bewegungen zur Lösung der Probleme des Landes und der indigenen Bevölkerung zu sein. Stattdessen ist sie zu einer traditionellen Partei geworden, in der die Parteispitze Entscheidungen trifft und die sich auf den Staatsapparat stützt, um Arbeitsplätze für die eigenen Mitglieder zu schaffen. Dafür haben wir keine Revolution gemacht.

Dies ist aber nicht nur die Verantwortung der MAS. Es ist ebenso die Aufgabe der sozialen Bewegungen, Druck auszuüben und einzufordern, dass der Prozess des Wandels neu ausgerichtet und vertieft wird. Leider sind die sozialen Bewegungen aufgrund ihrer Beziehung zum Staat zersplittert. Es gibt Teile der Organisationen, die hinter Evo stehen. Eine zweite Strömung unterstützt den Vizepräsidenten David Choquehuanca und eine dritte Luis Arce. Da wir einen Putsch und eine Pandemie durchlebt haben, waren die Bedingungen denkbar schlecht, um die sozialen Bewegungen wieder zu stärken.

Der zweite Aspekt hängt mit der Pandemie zusammen. Diese hat uns isoliert und gelähmt und vielen Menschen Angst gemacht. Vor allem aber hat die Pandemie einige wichtige Führungspersönlichkeiten der sozialen Bewegungen umgebracht. Das hat die Organisation der sozialen Bewegungen geschwächt. Leider kommen wir aus einer Kultur, in der immer eine Führungsfigur gebraucht wird. Es mangelt an politischen Konzepten, die sozialen Bewegungen sind zersplittert und nach meinem Eindruck passiert Ähnliches in vielen Teilen von Abya Yala. Die Pandemie wurde von den Regierungen auch strategisch genutzt, um uns zu demobilisieren und die sozialen Bewegungen zu lähmen. Trotzdem gehen wir als Feministinnen weiterhin auf die Straße und fordern Gerechtigkeit.

Welche Rolle spielt die feministische Bewegung aktuell? Gab es Fortschritte bezüglich der patriarchalen Pakte innerhalb der MAS?
Nein, es gab keine großen Fortschritte. Es ist schwierig, sich nach einem Putsch wieder zu erheben. Der Putsch war ein politischer, aber es war auch ein körperlicher und emotionaler Schlag. Wir sind gerade erst dabei, wieder aufzustehen. In Bezug auf den Putsch gab es unterschiedliche feministische Positionen. Einige Feministinnen, wie María Galindo oder Silvia Rivera, haben sogar behauptet, dass es gar keinen Putsch gegeben hätte. Ich bin der Meinung, dass die feministische Bewegung in jenem wichtigen Moment 2019 keine bedeutende Rolle gespielt hat, außer dass Feministinnen falsche Informationen über den Putsch verbreitet haben. Es gibt viele verschiedene Feminismen, manche von ihnen tragen zur Polarisierung der Gesellschaft bei und spielen dabei der faschistischen Rechten in die Hände.

Wie wahrscheinlich sind neue Konflikte mit der Regierung wegen des Extraktivismus?
Die Regierung hat an ihrer extraktivistischen Ausrichtung nichts geändert. Die sozialen Organisationen, die dies anprangern könnten, werden das jedoch nicht tun. Im Moment ist es sehr schwierig, auf der Straße Druck auf den Staat auszuüben, denn all dies wird von der Rechten zum Zwecke der Destabilisierung ausgenutzt. Vor kurzem gab es einen indigenen Protest, der legitimermaßen anprangerte, dass auf die Forderungen der Gemeinschaften des Tieflands wie der Guaraní, der Chiquitán, nicht eingegangen wurde. Um an Stärke zu gewinnen, haben sie sich jedoch mit rechtsgerichteten Gruppen und der Partei von Carlos Mesa verbündet. Das hat ihnen jegliche Legitimität genommen. Deshalb glaube ich auch nicht, dass es jetzt große Mobilisierungen geben wird. Das Ausbleiben von Protesten führt vielleicht zu mehr Stabilität, es nimmt jedoch auch Druck von der Regierung, auf die Nöte der Bevölkerung einzugehen.

Gibt es trotz alledem auch ein Wort der Hoffnung für Bolivien?
Ich denke, wir befinden uns in einer schwierigen Situation. In der gesamten Region finden ständig Angriffe statt. In Argentinien zum Beispiel erobern die Anhänger von Ex-Präsident Macri weiterhin Räume zurück. In Chile gibt es Leute, die gegen die Revolte sind. Sie bedeuten uns, dass wir keine weiteren Revolutionen oder Transformationen befördern sollen. Was mich aber hoffnungsvoll stimmt, ist, dass wir in der Lage waren, die De-facto-Regierung sehr schnell loszuwerden. Denn es waren die Proteste vom Juli und August 2020, die die Durchführung der Wahlen vom 18. Oktober ermöglicht haben. An dieser Mobilisierung waren vor allem die indigenen Gemeinschaften beteiligt, die im ganzen Land demonstriert, Straßen blockiert sowie Bürgerversammlungen und einen unbefristeten Streik abgehalten haben.

Unsere Fähigkeit zur Organisation, unser Widerstand, unsere ständige Weigerung, beherrscht und unterworfen zu leben, gibt Hoffnung. Auch wenn es jetzt Spaltungen in den sozialen Bewegungen gibt, so sind diese vorübergehend. Wir Aymara und Quechua ertragen die Unterdrückung nicht. Wir sind rebellisch und haben uns immer selbst organisiert. Wir dürfen nicht alle unsere Hoffnungen auf den Staat setzen. Das haben wir bereits versucht, doch es ist schwierig für den Staat, alles zu verändern. Mich stimmt es hoffnungsvoll, dass wir wieder an uns selbst als Organisationen und Gemeinschaften glauben und den Staat als eine weitere Variable haben, über die man diskutieren kann. Vor allem aber ist es wichtig, dass wir uns selbst organisieren. Nicht mehr für eine Partei, nicht für eine Person, sondern weil wir nicht mehr mit den Patriarchen leben wollen. Nie wieder als Dienerinnen!

DER INDIGENE FAKTOR

Wenn wir für die Erde sorgen, wird die Erde auch für uns sorgen Wandbild in Baños (Fotos: Anika Pinz)

„Einmal mehr gibt die indigene Bewegung uns unsere Würde zurück“, sagte der Mediziner und Gesellschaftskritiker Jaimie Breilh im Oktober 2019 über die damalige Situation (Siehe LN 545). Damals wurde das Land durch Straßenblockaden und Massenproteste für fast zwei Wochen lahmgelegt. Am Ende standen Verhandlungen zwischen dem damaligen Präsidenten Lenín Moreno (Alianza País) und der CONAIE. Ein Delegierter der Vereinten Nationen vermittelte und noch am ersten Verhandlungstag kam die Zusage von Lenín Moreno, das umstrittene Dekret 883, das der Auslöser für die Proteste gewesen war, zurückzunehmen. Das Dekret war ein Produkt neoliberaler Sparmaßnahmen und sah die Streichung der Subventionen für Benzin- und Dieselpreise vor. Das Verhandlungsergebnis bildete einen Erfolg für die indigene Bewegung und die Demonstrierenden im ganzen Land.

Die Proteste vor zwei Jahren waren nicht der erste Anlass, bei dem sich die indigene Bewegung Ecuadors als entscheidende Akteurin gegen die neoliberale Politik der jeweiligen Regierung positionierte. Nachdem sich die CONAIE 1986 aus einem Zusammenschluss des indigenen Verbandes aus dem Hochland, ECUARANARI, und der CONFENAIE aus dem Amazonasgebiet gegründet hatte, kam es 1990 zu den ersten landesweiten Protesten, dem sogenannten Inti Raymi-Aufstand (benannt nach dem indigenen Sonnenwendenfest). Auch damals nutzen die Demonstrierenden Straßenblockaden und die Besetzung öffentlicher Gebäude zu ihrem Vorteil. Ein Manifest mit 16 Forderungen wurde vorgelegt. Ganz oben standen die Reform der ecuadorianischen Verfassung und die Erklärung des Landes zu einem plurinationalen Staat. Außerdem wurde die Anerkennung der territorialen Rechte der indigenen Kichwa, Shiwar und Achuar gefordert. Konfrontiert mit der Wucht der Bewegung, sah sich die damalige Regierung von Präsident Rodrigo Borja, der sozialdemokratischen Partei Izquierda Democrática (ID), gezwungen mit den Protestparteien in Verhandlungen zu treten. Diese wurden zwar nach einigem Hin und Her ergebnislos abgebrochen, dennoch trug dies zur Wahrnehmung der CONAIE als führende mobilisierende Kraft im Land bei. Die Kompromisslosigkeit der Regierung hatte 1992 weitere Aufstände zur Folge und Borjas erkannte schließlich die Rechte der Indigenen über mehr als eine Millionen Hektar Land an, die Hälfte des geforderten Territoriums. Die Forderung nach der Anerkennung Ecuadors als plurinationaler Staat wurde 1992 noch als „Gefährdung der nationalen Einheit“ abgelehnt.

Die 90er Jahre waren geprägt von mehreren Protestwellen, die 1999 im Sturz des damaligen Präsidenten Jamil Mahuad, der Mitte-rechts Partei christlich-demokratische Union (UDC), gipfelten, nachdem dieser zur Sanierung des Staatshaushalts unter anderem die Subventionen für Strom und Gas strich, was zu einem kurzzeitigen Preisanstieg von 400 Prozent führte. Erneut war die CONAIE die treibende Kraft der Protestbewegung. Ein weiterer Präsident musste gehen, bevor Rafael Correa 2007, als linker Hoffnungsträger, das Präsidentschaftsamt antrat. Der ehemalige Militär Lucio Gutiérrez positionierte sich vor seiner Wahl zum Präsidenten im Jahr 2003, als überzeugter Anti-Neoliberaler, unterzeichnete dann aber nur wenige Monate nach Regierungswechsel neue Kreditverträge mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF). Der politische Arm der CONAIE, die Partei Pachakutik, die Gutiérrez zuvor zur Macht verholfen hatte, brach mit dem Präsidenten nach nur wenigen Monaten und verließ die Regierung. Gutiérrez wurde 2005 vom ecuadorianischen Kongress abgesetzt. Pachakutik und respektive die CONAIE verloren nach der Koalition mit Gutiérrez nachhaltig an öffentlichem Ansehen und stürzten in eine politische Krise. Die Wahlergebnisse bei den Präsidentschaftswahlen 2006 und den Wahlen 2007 zur Verfassunggebenden Versammlung waren die schlechtesten in der Geschichte der Partei.

Trotzdem nahmen die CONAIE und Pachakutik, sowie weitere indigene Organisationen, maßgeblichen Einfluss auf die Arbeit der Verfassunggebenden Versammlung. Der Begriff der Plurinationalität wurde in den ersten Artikel der ecuadorianischen Verfassung von 2008 aufgenommen.

Nach anfänglicher Unterstützung der progressiven Agenda des Präsidenten Rafael Correa (2007-2017) seitens der CONAIE trug der Unmut über Correas zunehmende Investitionen in extraktivistische Projekte und die daraus resultierende Umweltzerstörung sowie die zunehmende Kriminalisierung jeglicher zivilgesellschaftlicher Bündnisse zur weiteren Distanzierung der beiden Parteien bei. Luis Herrera R., Fotograf, Filmemacher und Gründer des multidisziplinären Zentrums für Kichwa-Studien, arbeitet seit vielen Jahren mit indigenen Aktivist*innen. Im Gespräch mit LN sagte er über Rafael Correa, dass dieser sein politisches Projekt auf dem Rücken der Aktivist*innen austrug, die er systematisch zum Schweigen gebracht hatte.

Die 90er Jahre waren geprägt von mehreren Protestwellen

Mit Lenín Moreno kam 2017 wieder ein Präsident an die Macht, der seine neoliberale Ausrichtung vor seiner Wahl nicht zu erkennen gab. Umso deutlicher wurde diese, als Moreno im Februar 2019 einen Kreditvertrag über 4,2 Milliarden US-Dollar mit dem IWF unterzeichnete. Der Bevölkerung wurde ein Paket an drastischen Sparmaßnahmen vorgestellt, darunter das berüchtigte Dekret 883 – die Kraftstoffpreise verdoppelten sich über Nacht. Hätte Moreno die Wucht der Proteste hervorsagen können, hätte er wohl anders gehandelt. „Die Proteste von 2019 waren so wichtig für die sozialen Organisationen, weil wir zehn Jahre des Correismus hinter uns gelassen hatten. Während des Correismus wurden die sozialen Bewegungen, darunter die indigene Bewegung, die Campesinos, die Studierenden, die feministische Bewegung, und die Gewerkschaften, auf brutale Art und Weise demontiert“, so Luis Herrera R.. Doch auch Correas Nachfolger nutzte die Macht des Staates um die Proteste einzudämmen. Die Proteste hatten noch nicht einmal richtig begonnen, da hatte Moreno schon den Ausnahmezustand verhängt. Die Gewalt der Sicherheitskräfte forderte elf Todesopfer. Zur Bedeutung der Proteste in Ecuador im Angesicht der Gewalt des Staates sagte die Künstlerin Pepita Machado in einem Interview mit der feministischen Zeitung La Periódica: „In Lateinamerika wird Protest mit Gewalt verwechselt. Es gibt wenig Toleranz für die Proteste und viel Gewalt gegen sie. Die Menschen erheben berechtigterweise ihre Stimme. Deswegen ist es so wichtig, das Demonstrationsrecht zu schützen“.

In der neuen ecuadorianischen Verfassung haben sich die indigenen Rechte erkämpft Wandbild in Baños

2021 gewann mit Guillermo Lasso wieder ein konservativer Politiker, der seine neoliberale Agenda bereits während des Wahlkampfs präsentierte. Und wieder ließen die Proteste nicht lange auf sich warten. Im September wurde der Abschluss neuer Milliardenkreditverträge mit dem IWF bekannt und die Regierung kündigte an, innerhalb der nächsten vier Jahre 20 Freihandelsabkommen mit den wirtschaftsstärksten Staaten der Welt abschließen zu wollen. Nach mehreren Demonstrationen lud Lasso die CONAIE Anfang Oktober zum Dialog ein. Der Präsident der Organisation, Leonidas Iza, sagte in einem Radiointerview über das Resultat: „Beim Bergbau gibt es keinen Fortschritt. Deswegen fordern wir den Präsidenten dazu auf, zumindest die territorialen Rechte (der indigenen Bevölkerung, Anm. der Redaktion) zu respektieren. Selbst diese grundlegende Forderung scheint jedoch nicht gesichert. So kamen Anfang Oktober Satellitenbilder an die Öffentlichkeit, die den Bau einer Straße im Yasuní-Nationalpark sowie die Abholzung von Wäldern für eine Ölplattform zeigen. Diese endet nur kurz vor der sogenannten Buffer Zone, welche die in freiwilliger Isolation lebenden Völker vor dem Extraktivismus schützt. Die Organisation YASunidos twitterte dazu: „Wir fordern einen Baustopp der Straße sowie der Ölplattformen im Yasuni-Nationalpark. Nichts könnte der Zukunft Ecuadors und seiner Rolle in der Welt mehr schaden, als einen Ethnozid an den isolierten Völkern zu begehen.“

Auch Lassos wirtschaftspolitische Sparmaßnahmen sorgen weiterhin für Aufsehen. Per Dekret ließ er die Preise für Benzin auf 2,55 US-Dollar einfrieren und die Preise für Diesel auf 1,90 US-Dollar – dies entspricht einer Preissteigerung um 45 Prozent im Vergleich zum Juni 2020. Die CONAIE bezeichnete das Vorgehen des Präsidenten als betrügerisch und forderte das Einfrieren des Preises von Benzin auf 2 US-Dollar und des Preises von Diesel auf 1,50 US-Dollar, um die Familien des Landes zu entlasten.

Die indigene Bewegung gibt uns unsere Würde zurück

Am 26. und 27. Oktober kam es erneut zu landesweiten Streiks. „So lange sich der Präsident nicht um die zentralen Probleme der Bevölkerung kümmert und die wirtschaftliche Lage weiter die Ärmsten des Landes belastet, werden die Menschen weiter auf die Straßen gehen“, so Leonidas Iza. Diverse Menschenrechtsorganisationen verurteilten das aggressive Vorgehen der Sicherheitskräfte gegenüber den Demonstrierenden. Den Ausnahmezustand hatte Lasso bereits am 18. Oktober, unter Berufung auf „schwere innere Unruhen“ ausgerufen und bezog sich damit auch auf die jüngsten Gefängnisaufstände – die bisher schwersten in der Geschichte Ecuadors. Das Bündnis „Allianz der Menschenrechtsorganisationen“ kritisierte die Regierung auf Twitter für die Aushängung dieses Ausnahmezustands kurz vor angekündigten Demonstrationen, bei denen die Menschen vom Staat einfordern, dass er ihre Rechte garantiert. Der Präsident versprach den Protestparteien erneut, mit ihnen in Dialog zu treten, jedoch erst nach seiner Europareise, zu der er unter anderem aufbrach, um auf dem Weltklimagipfel in Glasgow zu sprechen. Jedoch – und auch das kann als Folgewirkung der Proteste von vor zwei Jahren betrachtet werden – sitzt der Präsident nicht unbedingt am längeren Hebel. Lassos mitte-rechts Partei CREO ist lediglich die fünftstärkste Kraft in der Nationalversammlung, Pachakutik hingegen erreichte bei den vergangenen Wahlen ihr historisch bestes Ergebnis und wurde zweitstärkste Kraft. „Lasso hat die großen Medien des Landes auf seiner Seite, aber die Mehrheit im Parlament hat er nicht“, so Luis Herrera. Der Großteil der Bevölkerung unterstütze Lassos Wirtschaftspolitik nicht; das seien nur wenige Finanzeliten und die Unternehmerklasse, so Herrera weiter. Lasso gewann nicht, weil er die große Mehrheit der Bevölkerung hinter sich hat, sondern weil er für viele das kleinere Übel zu Andrés Arauz, dem politischen Zögling Rafael Correas darstellte. Sollte Lasso nicht weitere Schritte auf die sozialen Bewegungen und die Opposition zugehen, wird er es schwer haben, die folgenden dreieinhalb Jahre seiner Präsidentschaft zu überstehen. Denn die Historie der sozialen Bewegungen in Ecuador unter der Führung der CONAIE zeigt, dass die Ignoranz der Regierenden gegenüber der Bevölkerung selten ohne deren Widerstand geschieht.

„DIE PROGRESSIVEN KRÄFTE HINTER EINEM PROJEKT VERSAMMELN”

Indigene Kämpfe verbinden Mural im Centro de Derechos Humanos Miguel Agustín Pro Juárez in Mexiko-Stadt (Foto: Claudia Fix)

Nach mehreren Korruptionsskandalen gab es diesen Sommer große Proteste in Guatemala. Wie schätzen Sie die Situation ein?
Die Proteste wurden durch das korrupte Vorgehen des Staates ausgelöst, der sich nur um das Wohl der mächtigen Gesellschaftsgruppen sorgt, die die Wirtschaft und Politik in diesem Land bestimmen. Die Regierung nahm nur noch Kredite auf, um die Wirtschaftsinteressen und Bedürfnisse der Regierenden und ihrer Unternehmen zu bedienen. Ein anderer Grund ist das schlechte Krisenmanagement in der Pandemie. Es gibt noch einen unaufgeklärten Fall um die Investitionen, die in Impfstoffe für das Land geflossen sind. Die Demonstrationen sind Ausdruck des Widerstands der kämpfenden Bevölkerung und der Ablehnung eines Staates, der historisch bedingt die indigenen Gemeinschaften ausschließt. Die Ausgrenzung, Ausbeutung und Unterwerfung dieser Bevölkerungsgruppen sind etwas, das seit der Kolonisation stattfindet.

In den letzten Jahren wurden in Guatemala korrupte Strukturen abgebaut, aber im Moment wird versucht, die Institution, die für die Verfolgung von Korruption zuständig ist (die Sonderstaatsanwaltschaft gegen die Straflosigkeit, Anm. d. Red.), zu demontieren. Als die Entlassung von Juan Francisco Sandoval, dem leitenden Staatsanwalt dieser Institution, bekannt wurde, begannen sich die Demonstrationen in den verschiedenen Sektoren zu verstärken.

Könnten Sie uns etwas mehr von Ihrer Organisation, dem Rat der Maya-Bevölkerung (CPO), erzählen, und welche Rolle dieser im plurinationalen Streik vom 29. Juli 2021 gespielt hat?
Der CPO ist ungefähr 2005 entstanden, im Zusammenhang mit den Kämpfen zur Verteidigung unserer Gebiete und der Entwicklung der Konsultationen auf Ebene der Gemeinschaften. Bis jetzt wurden im gesamten Land etwa 80 Konsultationen durchgeführt, um die Rechte der indigenen Gemeinschaften auf ihr Land einzufordern. Das ist nötig, weil die transnationalen Unternehmen – sei es Bergbau, Wasserkraft oder monokulturelle Landwirtschaft – ohne Einverständnis in die Gebiete der indigenen Gemeinschaften vordringen. Wir verstehen uns als politische Bewegung, mit der wir die Maya-Bevölkerung vertreten und die Konstruktion einer neuen Staatsform für Guatemala vorantreiben. Der CPO hat die Leute auch dazu aufgefordert, den unterschiedlichen Demonstrationsaufrufen der indigenen Gemeinschaften und den sozialen Bewegungen zu folgen. Der 29. Juli war ein besonders starker Ausdruck dafür. Die Demonstrationen zeugen vom Widerstand und vom Kampf der indigenen Gemeinschaften, aber auch von der Ablehnung dieses rassistischen Staates.

Bei unserer Strategie geht es jedoch nicht nur um Proteste, sondern um ein politisches Projekt für einen tiefgreifenden Wandel. Wir versuchen dabei immer, so nah wie möglich an den Gemeinschaftsorganisationen zu sein und ihnen eine Stimme zu verleihen. Wir machen auch Fortschritte bei der politischen Bildung, damit der Vorschlag zur Veränderung des Landes in den Gemeinschaften ankommt. Wir versuchen, eine Kraft nicht nur auf der Straße, sondern auch aus den Gemeinschaften heraus zu entwickeln.

Wir setzen uns für einen Pakt der Einheit unter den verschiedenen Bewegungen und Sektoren ein, um ein gemeinsames Projekt voranzutreiben. Das ist sehr schwierig, weil die Bewegungen noch in der Phase des Widerstands verharren, ohne die nächste Stufe zu erreichen. Aber es ist notwendig, ein neues Staatsmodell für Guatemala aufzubauen und glücklicherweise haben schon einige Bewegungen den Vorschlag eines plurinationalen Staates für sich angenommen. Das ist etwas Neues, sich nicht einfach nur zu beschweren, sondern Vorschläge zu machen.

Wie sieht die aktuelle Situation der Maya-Bevölkerung in Guatemala aus?
Seit der Staatsgründung 1524 und der Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1821 haben die indigenen Gemeinschaften nicht an der Gestaltung des Staates teilgenommen, wir sind nicht in den Regierungsstrukturen repräsentiert und können nicht über unsere Gegenwart oder Zukunft bestimmen. Wenn man sich das Parlament anschaut, so gibt es dort zwar einige Indigene, aber sie vertreten die Interessen der politischen Parteien, die von der Oligarchie gesteuert werden.

Wenn wir von Rassismus sprechen, sehen wir vier Formen der Enteignung. Während der Kolonisation wurde die Bevölkerung ihres Landes beraubt. Später, in der Phase liberaler Regierungen, als der Staat das gemeinsame Land unserer indigenen Gemeinschaften aufteilte und an Großgrundbesitzer und Unternehmer verteilte, wurden wir versklavt und zur Arbeit in den Kaffee- oder Baumwollplantagen gezwungen. Während des bewaffneten Konflikts fand die dritte Enteignung statt, als alle indigenen Gemeinschaften als Kommunisten und guerilleros gebrandmarkt wurden und man sie vertrieben und umgebracht hat. Ganze Gemeinden wurden ausgelöscht oder mussten Zuflucht in Mexiko oder an anderen Orten suchen. Als sie zurückkehrten, war ihr Land von hohen Funktionsträgern der Regierung oder dem Militär in Besitz genommen worden. Heute haben sich z.B. in Cobán, Petén oder Izabal schrittweise ehemalige Funktionäre der Regierung, des Militärs oder sogar des Drogenhandels diese Orte angeeignet. Die vierte Enteignung ist die derzeitige Durchsetzung des extraktivistischen Modells in unseren Gebieten. Es wird Bergbau betrieben, Erdöl gefördert oder es werden Wasserkraftwerke an den Flüssen im Gebiet der Gemeinschaften gebaut und später verkaufen sie uns den Strom zu überhöhten Preisen. Diese Projekte werden ohne die Zustimmung der indigenen Gemeinschaften umgesetzt. Dies stellt eine Verletzung ihrer kollektiven Rechte dar, zu denen unter anderem das Selbstbestimmungsrecht und das Recht auf Konsultation gehören. Es hat aber auch andere Auswirkungen, wie zum Beispiel das Fehlen von Gesundheitsversorgung, Bildung, Wohnraum oder Infrastruktur. Dies zeigt, dass wir in einem Land leben, in dem die indigenen Gemeinschaften nicht über ihr eigenes Leben bestimmen können.

Der CPO strebt einen plurinationalen Staat an. Was bedeutet dieses Konzept für Guatemala?
Seit der Gründung des CPO nehmen wir uns die Schaffung eines neuen inklusiven Staates vor, denn wir sind vier Bevölkerungsgruppen in Guatemala: Maya, Xinca, Garífuna und Mestizo. Es ist also nicht nur ein indigenes Projekt oder ausschließlich für uns Maya. Wir schöpfen aus den Erfahrungen unserer eigenen Gemeinschaften, so gibt es zum Beispiel die Maya K’iche’ und Kaqchikel, die ihr Land gemeinschaftlich verwalten. Dies zeigt, dass es durchaus möglich ist, in Richtung einer plurinationalen Kultur weiterzukommen. Auch in anderen Ländern Lateinamerikas wie Bolivien oder Ecuador gibt es dazu Beispiele, sogar in Europa existieren Vorläufer dieses Modells. Wir bauen hier in Guatemala darauf auf, indem wir vier Veränderungen in Betracht ziehen, die berücksichtigt werden müssen. Wir nennen sie die vier Pakte, die notwendig sind, um auf dem Weg zu einem plurinationalen Staat voranzukommen.

Der erste Pakt ist ein politischer. In der neuen plurinationalen Verfassung wollen wir unsere kommunitäre Demokratie festschreiben, die in der Vergangenheit ignoriert wurde. Heute werden die Entscheidungen in den Regierungsstrukturen getroffen und in die Gemeindschaften getragen. Wir wollen diesen Prozess umkehren, denn unsere Gemeindschaften werden durch Gemeinschaftsversammlungen, Konsultationen und Konsensentscheidungen organisiert.

Wir möchten die Wahlgesetzgebung verbessern, damit im Parlament die vier Bevölkerungsgruppen proportional vertreten sind. Wir schlagen zwei Arten für die Wahl der Abgeordneten vor: einerseits über das offizielle politische System und andererseits aus der eigenen Dynamik der indigenen Gemeinschaften und ihrer Versammlungen heraus, das heißt, dass die indigenen Gemeinschaften ihre Abgeordneten frei und selbstbestimmt wählen können.

Der zweite Pakt ist wirtschaftlicher Natur. Das Hauptziel der Wirtschaft muss das buen vivir der indigenen Gemeinschaften sein, in Mam nennen wir es Tb’anel Chwinqel und in K’iche’ Utz K’aslemal. Alle Gruppen, mit denen wir hier zusammenleben, verfolgen diesen gemeinsamen Horizont des buen vivir im Sinne eines erfüllten Lebens im Einklang mit der Natur und dem Universum.

Im Moment jedoch wird eine vom Markt regulierte Wirtschaftsordnung durchgesetzt. Wir aber wollen, dass sie durch die Gemeinschaft bestimmt und reguliert wird. Das bedeutet, dass die Gesetze im Land geändert werden müssen, damit Transparenz bei der Verwaltung der Einnahmen des Landes herrscht und nicht alles in den Taschen der Unternehmen und Korrupten landet, so wie es jetzt ist. Wir wollen auch, dass natürliche und soziale Gemeingüter wie Energie, Wälder und Flüsse in öffentlichen Besitz übergehen, dem Nutzen der Mehrheit dienen und nicht privatisiert und von transnationalen Unternehmen kontrolliert werden.

Der dritte Pakt ist die Kultur. Wir müssen eine plurinationale Kultur anstoßen. Die Bildung, die wir im Moment haben, ist darauf ausgerichtet, das System zu erhalten. Zentral für unseren Ansatz ist aber die Dekolonisierung des Denkens, um eine Kultur des Miteinanders, der Harmonie, der Produktivität und politischen Partizipation von Männern und Frauen anzustoßen.

Der letzte Pakt betrifft die Gerechtigkeit. Die Justiz muss die Systeme der verschiedenen Bevölkerungsgruppen zur Rechtsprechung und Autoritätsausübung gleichberechtigt anerkennen. Wir wollen, dass diese juristische Pluralität anerkannt wird. Die indigene Justiz ist versöhnlich, sie verfolgt, kriminalisiert, tötet oder bestraft die Betroffenen nicht. Sie ist vor Allem nicht nur eine Justiz zur Konfliktlösung, sondern eine soziale Rechtsprechung, die Bildung, Gesundheit, den Lebensraum und alles, was mit dem buen vivir der indigenen Gemeinschaften zu tun hat, berücksichtigt.

Das sind die vier Elemente, auf denen ein plurinationaler Staat aufgebaut ist. Um sie zu erreichen, wollen wir nicht die bestehende ausgrenzende Verfassung flicken, sondern schlagen eine plurinationale verfassungsgebende Versammlung vor. Dafür brauchen wir Stimmen im Parlament und das heißt, wir müssen die indigenen Gemeinschaften als politische Kraft in den Kongress bringen und diese müssen sich sehr klar über unser Projekt sein. Von dort aus kann die Gesetzgebung zu den Wahlen und den politischen Parteien verändert werden, um den Weg für die plurinationale verfassungsgebende Versammlung zu ebnen.

Guatemala hat einen hohen Anteil indigener Bevölkerung. Diese scheint aber noch weit davon entfernt, eine ähnliche politische Kraft zu sein wie in Bolivien oder Ecuador. Was fehlt?
Es gibt eine bedauernswerte Situation, die das Resultat von vielen Jahren ideologischer Unterwerfung der indigenen Gemeinschaften ist. Die Regierung benutzt eine Vielzahl von Strategien, um über Gesetze, Institutionen und Akteure wie Armee, Polizei, Medien oder den Parteien einen Belagerungs- oder Ausnahmezustand aufrecht zu erhalten. Damit dämpfen sie die Forderungen der indigenen Gemeinschaften und haben die Gesellschaft zersplittert.

Es gibt keine Einheit, keine gefestigte Stimme, weder der Organisationen selbst, noch der Autoritätspersonen der Gemeindschaften und Studierenden-, Frauen-, Jugend-, Indigenen- und Bauernbewegungen. All diese lebendigen Kräfte im Land sind sehr zersplittert und auf politische Parteien ausgerichtet. Sie äußern sich nur bei speziellen Anlässen, wie jetzt gerade zum Thema Korruption. Darüber hinaus hat der Staat die Gemeindschaften mit seinen Akteuren infiltriert, die deren Führungspersonen durch kleine Geschenke oder Projekte gefügig machen. Eine historische Strategie ist es auch, die Führungspersonen zu kriminalisieren, sie zu verfolgen und durch spezielle Gesetze zum Schweigen zu bringen. Es gibt ein Gesetz, das den freien Zusammenschluss von Gemeinschaften und sozialen Organisationen verbietet. Und dann gibt es Strukturen wie die Stiftung gegen den Terrorismus, die indigene Gemeinschaften als Terroristen und Kriminelle abstempelt, wenn sie ihre Rechte einfordern oder auf die Straße gehen, um zu demonstrieren.

Hinzu kommt, dass die Linke in Guatemala sehr arm ist, insofern als ihr Ansatz ein rein politisches Projekt war und sich nicht auf das Wohl des Landes bezog. Die große Herausforderung hier ist, die progressiven Kräfte und die der indigenen Gemeinschaften zu organisieren und gemeinsam hinter einem transformativen Projekt zu versammeln. Das bedeutet auch, die traditionellen rechten Parteien nicht weiter zu unterstützen, die uns alle vier Jahre aufs Neue betrügen. Es gibt ein großes Potential innerhalb der indigenen Gemeinschaften, aber wir haben keine Stimme. Deshalb möchte ich eine Botschaft, einen Aufruf an alle Bewegungen der indigenen Gemeinschaften und die sozialen Bewegungen in Guatemala senden und sie einladen, diesen Weg gemeinsam weiterzugehen. Aber vor allem einvernehmliche Kriterien für das politische Projekt des Landes zu vereinbaren und natürlich mit allen Gemeinschaften zusammenzuarbeiten, denn nur so können wir endlich vorankommen.

“JE RADIKALER DIE DEMOKRATIE, DESTO RADIKALER IHRE ABLEHNUNG”

Cecilia Méndez Gastelumendi ist leitende Professorin am Fachbereich für Geschichte an der University of California-Santa Barbara. Während der Jahre der politischen Gewalt (1980-2000) lehrte und forschte sie ein Jahr lang an der Nationalen Universität von San Cristóbal de Huamanga in Ayacucho, einem Zentrum des bewaffneten Konflikts. Seither publizierte sie umfangreich zur sozialen und politischen Geschichte der Republik Peru. Ihr Buch La república plebeya. Huanta y la formación del Estado peruano, 1820-1850 (2005) gewann den Howard F. Cline Preis für das „beste Buch über indigene Geschichte in Lateinamerika“. Zudem schreibt sie regelmäßig über tagespolitische Themen in der Kolumne „Chola Soy“ in der peruanischen Tageszeitschrift La República.
(Foto: privat)


Peru ist eines der letzten Länder in Lateinamerika, das seine 200-jährige Unabhängigkeit von der Kolonialmacht feiert. Warum?
Man könnte meinen, es gäbe ein objektives Datum für Unabhängigkeitsfeiern. Aber die Wahl des Termins ist eigentlich ziemlich subjektiv. Sie zeigt, was eine Gesellschaft wertschätzen will und welche Erinnerungen langfristig mehr Gewicht haben. Peru war nicht das letzte Land, das unabhängig wurde. Aber hier wird ein späteres Datum gefeiert als in anderen Ländern, nämlich die Unabhängigkeitserklärung von San Martín in Lima am 28. Juli 1821. Man hat sich entschieden, frühere und radikalere Revolten nicht mit in die Erzählung aufzunehmen. In Peru werde an keine Schlacht erinnert, sondern an ein friedlicheres Ereignis, ist die Erklärung.

Wie hat sich diese „offizielle Geschichte der Kreolen“, wie Sie es einmal genannt haben, durchgesetzt? Eine Erzählung, die indigene Aufstände auslässt…
Die Peruaner haben ihre Geschichte oftmals durch die Darstellungen derer kennengelernt, die Unabhängigkeitsbewegungen unterdrückt haben. Eine konkrete Geschichte zur Erklärung: Bereits vor den Kämpfen um die Unabhängigkeit gab es für die Eliten sehr traumatische Ereignisse. Schon die Erinnerung an den Aufstand von Túpac Amaru im Jahr 1780 hat einen langen Schatten geworfen.

Der Aufstand von Cuzco im Jahr 1814 war dann der erste, der den Bruch mit Spanien definitiv proklamierte und die Kolonialbehörden für etwa sechs Monate entmachtete. Der Militär, der damals für die Kontrolle von Cuzco zuständig war, war ein spanischer Beamter namens Joseph Pardo Ribadeneira. Er wurde von den Rebellen gefangen genommen und in den Kerker geworfen. Später schrieb er in einem Bericht an den Vizekönig, die Rebellen (einschließlich der indios und Mestizen) seien Delinquenten – ungebildet und ohne soziales Ansehen. Diese Erzählung von den Aufständischen als Straftätern und eben nicht als Protagonisten eines Befreiungsepos wurde zu einer der meistzitierten Quellen dieser Geschichte.

Der Sohn von Ribadeneira, Felipe Pardo y Aliaga, war damals acht Jahre alt. Er erlebte den Aufstand als Demütigung seines Vaters. Später fiel es ihm schwer, diesen als Akt der Befreiung zu betrachten. Pardo y Aliaga wurde später ein ultrakonservativer Politiker – und sein Sohn wiederum der erste zivile Präsident von Peru: Manuel Pardo y Lavalle. Auch dessen Sohn wurde Präsident.

Gab es Versuche, ein anderes Datum in den Mittelpunkt zu stellen?
Wir haben nicht immer dem Jahr 1821 gedacht. Zunächst galt das Jahr 1814 als Beginn der Unabhängigkeit und im ländlichen Raum als „erstes Jahr der Freiheit“.

Doch schon ab den 1840ern setzte sich 1821 als hegemoniales Narrativ durch. Davor hatte es mehr Vielfalt gegeben. Unter der Regierung Velascos (1968-1975) wurde erstmals des Aufstands von Túpac Amaru im Jahr 1780 als Beginn der Unabhängigkeit erinnert. Doch obwohl Túpac Amaru zum Helden erhoben wurde, eliminierte Velasco die kreolische Erzählung nicht vollständig. Er entfernte San Martín nie, sondern integrierte indigene Elemente in die kreolische Erzählung. Das Interessante ist, dass diese indigenen Elemente ab den 1990er und 2000er Jahren aus der staatlichen Ikonographie ausgelassen wurden, etwa auf Münzen oder Statuen. Scheinbar wurde es gefährlich, sich an diese Revolutionen zu erinnern. Nach dem Leuchtenden Pfad (peruanische Guerillaorganisation, Anm. d. Red.) wurde es zum Tabu, weil es diesen mit den Revolutionen in Verbindung gebracht hätte.

Gab es Momente, in denen der peruanische Staat die indigenen und ländlichen Sektoren stärker einbezog?
In meinem Buch La República plebeya argumentiere ich, dass die Heerführer während und nach der Unabhängigkeit nicht in der Lage gewesen wären, einen Staat aufzubauen, wenn sie nicht die Unterstützung der bäuerlichen Basis gehabt hätten. Im 20. Jahrhunderts gab es dann zwei wichtige Momente der Staatsreform, in denen ländliche und indigene Sektoren wichtige Rechte und Anerkennung erhielte: das sogenannte Oncenio de Leguía (1919-1930) und die „revolutionäre Regierung“ von Velasco (1968-1975). Beide waren autoritäre Regierungen.

Die Verfassung von Leguía von 1920 erkannte erstmals die Existenz indigener Gemeinschaften und kommunalen Landes an. Es wurde ein Register eingeführt, um indigene Gemeinschaften als juristische Personen, nicht als individuelle Bürger, zu verzeichnen und anzuerkennen. Unter der Regierung von Velasco wurden diese „indigenen Gemeinden“ mittels des Agrarreformdekrets von 1969 in „bäuerliche Gemeinden“ umgewandelt.

Paradox ist, dass die Republik zur Ausweitung der Staatsbürgerschaft zu differenzierenden Rechten zurückkehren musste. Denn die Verfassung von Leguía ließ sich von den Gesetzen der Kolonialzeit inspirieren. Indigene, Mestizen und Spanier bekamen differenzierende Rechte. Die Republik schaffte diese rechtlichen Unterschiede ab. Die Rechtssprache der Republik und des peruanischen Staates war eine egalitäre Sprache.

Wann änderte sich das?
Unter Augusto Leguía. Der peruanische Staat eignete sich die Vorstellung an, er sei der „Schutzherr der Indianer“. So gründete Leguía in seiner Regierung das „Patronat der indigenen Rasse“. Es war eine sehr paternalistische Gesetzgebung, die in die Sprache der Eugenik verpackt war. Verschiedenartigkeit wurde zu Minderwertigkeit. Mit einer Agrarreform unter Präsident Velasco wurden diese Rechte ausgeweitet und stärker anerkannt – ein Prozess, der jenem von Leguía ähnelte, aber größere soziale Auswirkungen hatte.

Heute besteht das große Paradox der Republik darin, dass die beiden Momente der Ausweitung der Staatsbürgerschaft für die ländliche Gesellschaft und der Anerkennung der Rechte für die indigene und bäuerliche Bevölkerung durch Diktaturen stattfanden.

Nun wurde mit Pedro Castillo ein Mann aus den historisch marginalisierten Sektoren an die Spitze des peruanischen Staats gewählt, was bedeutet das?
Heute befinden wir uns in einem neuen, einem historischen Moment. Wenn Pedro Castillo als Präsident gelingt, die angekündigten Veränderungen umzusetzen, in die große Erwartungen gesetzt werden, dann sind tiefgreifende Veränderungen möglich. Der bedeutendste Aspekt dieser möglichen Veränderungen wäre, dass sie durch das Wahlrecht erfolgten. Die Verbreitung des Personalausweises – das Dokument, mit dem man zur Wahl berechtigt ist – ist in den historisch marginalisierten Sektoren heute wahrscheinlich größer als je zuvor. Und die Tatsache, dass jemand zum Präsidenten gewählt wurde, der den Eliten, die das Land historisch regiert haben, völlig fremd ist, ist an sich schon ein bedeutsamer Bruch mit der Vergangenheit.

Gleichzeitig tritt die Ultrarechte an die Öffentlichkeit und beansprucht Symbole des spanischen Vizekönigreichs für sich. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?
Ich halte das für vollkommen nachvollziehbar. Denn je radikaler die Demokratie ist, desto radikaler wird auch ihre Ablehnung sein. Deutschland hat das in der Entstehung des National-*sozialismus erlebt. Und auch nach 2015 gab es einen Aufschwung faschistischer und neonazistischer Bewegungen in Deutschland. In Peru passiert etwas Ähnliches. Doch in diesem Fall ist die Demokratie schwerer zu bekämpfen, weil die Abgabe ihrer Stimme das Einzige war, was die Leute getan haben.

Und wer sind diejenigen, die heute gegen diese Ausweitung der Demokratie auf die Straße gehen?
In Peru vermischen sich da verschiedene Dinge. In der Ultra-Reaktion gegen Castillo gibt es einen Schulterschluss zwischen Ideologie und Mafia-Interessen. Wir sehen diesen Widerstand im Kongress: Ein Großteil der Gesetzgebung dient der Verteidigung bestimmter Mafia- und Interessengruppen, die mit der „Partei“ Fuerza Popular verbündet sind, aber auch Verbindungen zu anderen Parteien haben. Der Staatsanwalt hat Keiko Fujimori beschuldigt, Kopf einer kriminellen Organisation zu sein und die Partei lediglich als Fassade zu nutzen. All dies kommt mit der rassistischen Ablehnung von Castillo zusammen. Und einige, die Castillo ablehnen, haben nichts dagegen, gleichzeitig die Mafia zu unterstützen.

Wer heute die Flagge mit dem Kreuz von Burgund, das Symbol des spanischen Reiches zu seiner Blütezeit, hisst, gehört nicht unbedingt zur Mafia der Parteien, wird aber in gewisser Weise für sie instrumentalisiert. Wenn Prozesse der Demokratisierung stattfinden, muss die Rechte über die Grenzen des Legalen hinausgehen, um ihre Interessen zu verteidigen. Deshalb beharrt der Fujimorismus so auf dem Vorwurf des „Wahlbetrugs“, ohne einen einzigen Beweis vorlegen zu können. Sie behaupten, die „Demokratie“ zu verteidigen, indem sie sich Castillos angeblichem „Kommunismus“ entgegenstellen, aber ihre Taten beweisen das Gegenteil.

Das Wichtigste ist hier die Verbindung zwischen ultrarechten Ideologien und einer historisch anti-indigenen Gewalt, die auch auf den Symbolen der Pro-Keiko-Märsche dargestellt wird: „Castillo, Lima lehnt dich ab“ – mit der Zeichnung eines weißen Mannes, der einen Bauern tritt, der einen Hut trägt wie Castillo. Ich nenne es den „den gamonalen Tritt“. Die gamonale Kultur beschreibt nach Alberto Flores Galindo die offene physische und ökonomische Gewalt gegen Bauern und Indigene. Seit dem 19. Jahrhundert verbündete sich der Staat mit den Interessen der kreolischen und mestizischen Kaufleute und Landbesitzer, um den Indigenen Ressourcen wegzunehmen: Sie verloren ihr Land, die Warenmärkte wurden monopolisiert. Heute besteht die Gewalt auch darin, die Identität ganz Limas für sich in Anspruch zu nehmen. Dabei gibt es viele Limas. Und fast zwei Millionen Menschen im Stadtgebiet von Lima haben für Pedro Castillo gestimmt. Wenn die Rechten sagen „Lima lehnt dich ab“, dann meinen sie nur ein Lima – nämlich jenes von San Isidro, dem reichsten Viertel.

Welche politischen Forderungen der Unabhängigkeit Perus bleiben bis heute unerfüllt?
Die wichtigste wäre die nach Gleichheit vor dem Gesetz. Dieses Grundprinzip, dass jeder Mensch das Recht auf einen Namen und eine würdige Behandlung hat und darauf, respektiert zu werden. Dieses Recht steht seit 1823 als unveräußerliche Verfassungsgarantie in allen elf Verfassungen des Landes. Und obwohl sich viel geändert hat, wurde dieses Recht am meisten mit Füßen getreten.

Das haben wir bei diesen Wahlen erneut gesehen. Menschen aus ländlichen Gebieten wurden beschuldigt, Unterschriften zu fälschen. Sie hätten, weil sie aus dem Hochland kommen – was ein Euphemismus für „Bauern“ ist – keine Ahnung. Ihre Namen und Unterschriften wurden öffentlich zur Schau gestellt, sie wurden beschuldigt, falsche Identitäten zu verwenden. Es war, als ob es sie nicht gäbe, als ob sie unsichtbar wären. Sie wurden schlimmer Vergehen beschuldigt.
Das ist ein Angriff auf das Recht auf einen Namen, auf das Recht, respektiert zu werden. Es gibt also grundlegende Aspekte, die mit der Anerkennung der Staatsbürgerschaft und der Menschlichkeit des Anderen zu tun haben und die in der kolonialen Gesetzgebung nicht enthalten waren. Erst die Republik hat sie uns gebracht. Aber sie sind nach wie vor nicht umgesetzt worden.

CREANDO, CRIANDO Y REVOLUCIONANDO

Illustrationen: Manai Kowii, @narymanai

Ich möchte ausgehend von mir und meinem Leben als Mutter, Frau, Indigene und Filmemacherin erzählen. In anderen Zeiten war das für viele eine undenkbare Kombination, denn die Filmbranche ist ein exklusiver und elitärer Raum, bestimmt für weiße Männer und „bestenfalls” für mestizos.

Seit etwa 30 Jahren haben wir als audiovisuelle Medienschaffende aus indigenen Gemeinden in Ecuador unsere Selbstdarstellung und -bestimmung selbst in die Hand genommen. Wir wollen die Logik zerstören, die uns als Studienobjekte behandelt und uns auf der Basis von externen Interpretationen darstellt.

Wir sollten meinen, dass es im 21. Jahrhundert nicht mehr notwendig sei, unsere Rechte einfordern zu müssen, aber die Realität ist eine andere. Ich kenne keine Filme, in denen professionelle indigene Filmemacher*innen ausgewählt wurden, das Filmteam zu leiten. In vielen Filmen tauchen indigene Figuren im besten Fall als Statist*innen auf. Und wenn als Protagonist*innen, dann aus einer Perspektive, die uns zu Objekten macht. Wir glauben, dass es notwendig ist, die nicht erzählte Geschichte sichtbar zu machen, jene andere Seite, die wir alle aus Bequemlichkeit oder Nachlässigkeit „vergessen” haben, zu erwähnen.

Mit meinen Filmen zeige ich einen Teil von dem, was wir indigenen Gemeinden erleben. In Wahrheit sind es universelle Geschichten. Abseits der romantisierenden Sichtweise, mit der manche uns sehen und behandeln, versuche ich Gefühle und Empfindungen zu erzeugen, die Erzählungen, Diskurse, Ästhetiken und Narrative stören und bekämpfen sowie die Objektifizierung in Frage stellen, der wir durch die patriarchale Dynamik unterworfen wurden.

Diese Linse, durch die wir betrachtet und dargestellt werden, hat uns dazu veranlasst, selbst Schauspielerinnen und Regisseurinnen unserer eigenen Geschichten zu werden. Wir lassen es nicht zu, dass die Medien uns weiterhin folklorisieren, infantilisieren oder jeglicher Menschlichkeit berauben. Obwohl sich die Zeiten geändert haben und mit ihnen die Wahrnehmung von Frauen, ist die machistische Crux immer noch die selbe: Wir werden verzerrt, voller Hass und homogenisierend betrachtet. Das Patriarchat ist die Wurzel aller anderen Formen von Diskriminierung und Unsichtbarmachung, mit denen indigene Frauen behandelt werden.

Sie haben versucht, uns unsere Stimme auf verschiedene, auf subtile und auf brutale Art und Weise, wegzunehmen. Sie haben uns auf alle erdenklichen, vorstellbaren und unvorstellbaren Weisen umbringen wollen, denn die indigenen Gemeinden und Frauen verkörpern den Ungehorsam und die Rebellion gegen die etablierte Ordnung, die auf patriarchalen und kolonialen Strukturen beruht.

Hierzu möchte ich eine Erfahrung teilen: Vor etwa zehn Jahren erzählte ich einer indigenen Autoritätsperson, dass ich einen Dokumentarfilm über indigene Schwule und Lesben machen wollte. Der compañero schaute mich ungläubig an und sagte: „Wie wollen Sie einen Dokumentarfilm über dieses Thema machen, wenn es doch in unseren Gemeinden gar keine Schwulen oder Lesben gibt?” Ich erklärte ihm, dass in den indigenen Gemeinden von Abya Yala (indigene Bezeichnung für den amerikanischen Kontinent, hier: Amerika vor der Kolonialisierung, Anm. d. Red.) jene, die sich ihrer sexuellen Vielfalt seit ihrer Kindheit bewusst waren, nicht isoliert wurden, sondern ihnen eine größere Wertschätzung und Respekt zuteil wurde. Er wollte mir nicht glauben und bezweifelte, dass meine Worte wahr seien. In mir brodelt immer noch das Bedürfnis diese und andere Geschichten zu erzählen.

Ich spreche das an, weil in diesem compañero, wie in vielen anderen, unsere Familien eingeschlossen, das patriarchale Erbe immer noch festsitzt. Es ist notwendig, die Vorstellung nicht zu romantisieren, dass alles, was wir indigenen Gemeinden tun, richtig ist. Wir sind lebendige Kulturen, die sich in ständiger Bewegung und Veränderung befinden. Wir sind Menschen, die – wie alle anderen auch – ihr Leben und ihre Beziehung zu anderen und der Umwelt auf der Grundlage einer strukturellen Herrschaft entwickelt haben. Wir sind nicht von der realen Welt und ihrer Komplexität isoliert. Deshalb müssen wir Gewalt identifizieren und hinterfragen, wo auch immer sie herkommt.

Ein anderes Bild, das ich in meinem Herzen und meinem Verstand als Zeugnis der verbreiteten Existenz patriarchaler und kolonialer Muster trage, ist die Oktoberrebellion. Im Oktober 2019 erlebte Ecuador eine der stärksten sozialen Mobilisierungen des letzten Jahrzehnts. Sie wurde von der Unzufriedenheit der Bevölkerung über das Dekret 883 ausgelöst, das die Abschaffung der Subventionen für Treibstoffe anstrebte, wodurch das Leben aller Ecuadorianer*innen teurer geworden wäre.

In den elf Tagen, die der Aufstand dauerte, waren wir Frauen zentrale politische Akteurinnen. Meine persönliche Erfahrung wurde durch unzählige Gefühle und Empfindungen gelenkt. Nicht nur, weil ich die Ereignisse inmitten der Brutalität der Polizei auf Audio und Video aufnehmen musste, sondern auch, weil die Widerstandskämpferin in mir das Bedürfnis verspürte, die Organisation der Aktionen zu unterstützen. Hinzu kam die Tatsache, dass ich als Mutter besorgt um meinen jugendlichen Sohn war, der zum ersten Mal an einem Aufstand teilnahm. An vorderster Front verhinderte er als matalacri, dass uns das Tränengas vollständig erstickte (matalacris sind die Personen, die für andere Demonstrant*innen Trängengasattacken neutralisieren, Anm. d. Red.).

Alles in mir brach in Empörung, Angst, Wut und Zorn aus, als ich sah, dass nicht unterschieden wurde, gegen wen sich die Repression richtete. Egal, ob du eine Frau, ein Kind oder eine ältere Person warst – mit demselben Hass warfen sie Gasbomben nach links und nach rechts. Die übliche Praxis der Gemeinden ist die Arbeit im Kollektiv, die darauf abzielt, die eigene Identität und die Organisationsprozesse zu stärken. Wenn es zum Beispiel notwendig ist, eine minka (kommunitäre Gemeinschaftsarbeit, Anm. d. Red.) zu machen, nehmen wir alle daran teil, Männer, Frauen, Kinder. Diese Praxis gibt es mittlerweile weniger als früher, aber sie besteht weiterhin. In diesem Fall war es der Oktoberaufstand, der Frauen, Kinder und ältere Menschen zusammenführte, die bei den politischen Aktionen blieben und die gleiche oder noch brutalere staatliche Polizeigewalt erleben mussten, obwohl sie sich in „friedlichen Bereichen” aufhielten.

Die Mutter in mir wollte meinen Sohn nicht nur vor den Bomben und den Kugeln, sondern auch vor dem Ausnahmezustand und der Ausgangssperre schützen. Aber die Widerstandskämpferin in mir wollte, dass er etwas von alledem erlebt, was unsere Mütter und Großmütter erlebt haben, damit seine Erinnerungen, sein Körper, seine Knochen wissen, dass wir alles, was wir jetzt haben, der Macht entrissen haben. Uns ist nichts geschenkt worden. Und diese Erkenntnis hätte durch Gespräche nicht erlangt werden können, sondern nur durch die Erfahrung dessen, dem wir die Stirn boten. Obwohl der Staat uns daran hinderte, frei zu berichten, versuchte die Filmemacherin in mir alles aufzuzeichnen, was passierte. Nicht nur, um das was geschah und was die großen Medien zu verbergen versuchten, anzuklagen, sondern auch, um es als Werkzeug für unsere Erinnerung zu nutzen.

Indigene Frauen werden willkommen geheißen, wenn wir Teil eines kulturellen Aktes sind, wie beim Tanz oder beim Essen. Aber wir werden kriminalisiert und vergewaltigt, wenn wir unsere politische Handlungsmacht ergreifen und es wird versucht, unseren Handlungsspielraum auf den häuslichen oder kulturellen Bereich zu reduzieren. Es ist unerlässlich, all jenes zu dekonstruieren, was sie durch Gesetze und weiß-mestizische Legitimität, die uns in jeglichem Sinne auszulöschen sucht, normalisieren wollten.

Aber wir sind hier, wir sind zurückgekommen und wir sind Millionen. Unsere Lebensenergie hat es verstanden, sich zu widersetzen. Und wir sind stärker und geeinter. Unsere Stimme, die zum Schweigen gebracht wurde, hallt zwischen Flüssen, Bergen und Wäldern, erklingt wie ein tiefes Echo, das aus dem Innersten der Erde, dem Leben, geboren wird.

VORGEBLICHER FORMFEHLER

Die Katastrophe ereignete sich am 7. April dieses Jahres, als infolge eines Erdrutsches zwei Pipelines im ecuadorianischen Amazonasgebiet entlang des Río Coca beschädigt wurden. Bis die Verantwortungsträger der Ölkonzerne die Lage einigermaßen in den Griff bekamen, waren bereits 15.000 Barrel (ein Barrel sind 159 Liter, Anm. der Red.) Rohöl ausgetreten. Das ecuadorianische Umweltministerium erklärte der Nachrichtenagentur Thomson-Reuters-Stiftung gegenüber, dass die beiden größten Ölkonzerne des Landes, Petroecuador und OCP Ecuador, direkt nach dem Bekanntwerden des Schadens informiert wurden. Die Bevölkerung vor Ort wurde jedoch sich selbst überlassen. So bemerkten Fischer*innen den Ölteppich erst am Morgen des 8. Aprils und hatten keine Zeit, sich auf den plötzlichen Mangel an sauberem Wasser und die drohende Nahrungsmittelknappheit vorzubereiten. Die betroffenen Gemeinden begannen über soziale Netzwerke, wie Facebook und Twitter, Alarm zu schlagen, um auf das Ereignis aufmerksam zu machen.

Circa 27.000 Angehörige verschiedener indigener Gemeinden waren unmittelbar von den Folgen der Ölkatastrophe betroffen. Für die Bevölkerung entlang des Río Coca ist der Fluss überlebenswichtig. Hunderte Gemeinden verloren ihren Zugang zu sauberem Trinkwasser und konnten ihre eigenen Territorien nicht mehr zum Fischen und dem Anbau von Lebensmitteln nutzen. In Zeiten der Pandemie ist die Lage besonders verheerend. Denn für den Nahrungskauf in die nächstgelegenen Städte zu reisen, stellt für die Bevölkerung ein zusätzliches Gesundheitsrisiko dar.

Die Aufräumarbeiten der Ölkatastrophe wurden wenige Tage nach dem Urteil für beendet erklärt

  Einige Wissenschaftler*innen stellen einen Zusammenhang zwischen dem Ölunfall im April und dem Verschwinden des größten Wasserfalls des Landes, San Rafael, im Februar 2020 her. Wie die Nichtregierungsorganisation Amazon Frontlines berichtet, kamen die Wissenschaftler*innen zu dem Schluss, dass ein umstrittenes, von der chinesischen Regierung finanziertes Wasserkraftwerk oberhalb des Wasserfalls die Flussströmungen abschwächte. Dadurch soll die Erosion unter den Ölpipelines beschleunigt worden sein. Expert*innen warnen davor, dass Risse im Wasserkraftwerk, die möglicherweise durch dieselbe Landerosion verursacht wurden, zum Platzen des Staudamms führen und eine weitere Umweltkatastrophe auslösen könnten.

Die ecuadorianische Regierung richtete einen Notfallausschuss ein, der sich um die Aufräumarbeiten und die Wiedergutmachung der entstandenen Schäden kümmern sollte. Laut eigenen Angaben versorgten Petroecuador und OCP Ecuador die betroffene Bevölkerung mit 1,7 Millionen Liter Wasser und 25.000 Lebensmittelpaketen. Dagegen beruft sich Amazon Frontlines auf Berichte, denen zufolge gerade einmal 4000 Liter Wasser an 50 Familien verteilt wurde. Auf einen Zeitraum von fünf Monaten gerechnet entspricht dies drei Litern Wasser pro Woche und Familie. Weiterhin seien Gemeindemitglieder dazu gedrängt worden, im Austausch gegen die angebotenen Hilfsmittel auf eine Klage gegen die Ölkonzerne zu verzichten.

„Wir rufen die Welt auf, sich uns anzuschließen, um das Amazonasgebiet zu schützen“


Bereits Ende April reichten indigene Vereinigungen mit Unterstützung diverser Menschenrechtsorganisationen eine solche Klage gegen die ecuadorianische Regierung sowie die beiden verantwortlichen Ölkonzerne ein. Die Anhörung, die ursprünglich für den 6. Mai vorgesehen war, wurde unter Anderem unter Verweis auf die pandemische Lage monatelang verschoben. Anfang September kam es schließlich zur Anhörung. Das Gericht der Provinz Orellana lehnte die Klage auf Entschädigungen an die Bevölkerung sowie die Einleitung konkreter Maßnahmen zur Umweltsanierung, um zukünftige Katastrophen zu verhindern, ab. Während der Richter einräumte, dass die Ölpest die Gemeinden entlang des Flusses in Mitleidenschaft gezogen habe, urteilte er, dass die Klage der falschen Instanz vorgelegt wurde. Das Gericht der Provinz Orellana – das Verfassungsrechtsverletzungen bearbeitet – sei für den Fall nicht zuständig. Er forderte die Kläger auf, es auf administrativem oder strafrechtlichem Wege zu versuchen. Angesichts der Tatsache, dass sich die Gemeinden in ihrer Klageschrift, auf die ihnen verfassungsmäßig zustehenden Rechte berufen, klingt dies wie ein schlechter Scherz. Maria Espinosa, Anwältin von Amazon Frontlines, bezeichnet die Entscheidung des Gerichts als inakzeptabel. 27.000 Menschen seien nach wie vor in großer Gefahr und dem Risiko einer erneuten Ölpest ausgesetzt. Im Anschluss an den Prozess erklärte Marlon Vargas, Vorsitzender der Vereinigung der Indigenen Nationalitäten des ecuadorianischen Amazonasgebietes (CONFENAIE): „Wir haben diesen Kampf nicht verloren, wir machen weiter. Die ecuadorianische Regierung und die Unternehmen müssen die Rechte und Territorien der Indigenen respektieren. Seit Jahrzehnten sagen wir `Nein´ zu extraktiven Aktivitäten auf unserem Land. Wir sind der Lügen, der Diskriminierung und der Gesetzesbrüche überdrüssig. Wir werden weiterhin die Schließung der Pipelines fordern und gegen die Regierungen und ihre Rohstoffinteressen kämpfen, die im Namen von Profit und Gier in unsere Häuser eindringen und sie zerstören. Wir rufen die Welt auf, sich zu vereinigen und sich uns anzuschließen, um das Amazonasgebiet zu schützen.“

Die CONFENAIE rief für den 29. September zu Protesten gegen das Urteil in Quito auf. Bei ihrer Ankunft in der Landeshauptstadt wurden Angehörige indigener Gemeinden von der ecuadorianischen Polizei mehrere Stunden lang festgehalten. Traditionelle Speere wurden unter dem Vorwurf beschlagnahmt, die Aktivist*innen würden Waffen bei sich tragen. Carlos Jipa, Vorsitzender der Bund der Gemeinden Union der Indigenen des ecuadorianischen Amazonasgebiets (FCUNAE), verurteilte das Vorgehen der Beamt*innen. Die hölzernen Speere seien kulturelle Symbole und keine tödlichen Waffen, wie die Polizei behaupte.

„Wir sind der Lügen, der Diskriminierung und der Gesetzesbrüche überdrüssig.“


Dagegen erklärten OCP Ecuador und Petroecuador die Aufräumarbeiten der Ölkatastrophe bereits wenige Tage nach dem Urteil für beendet. In einem Brief an die betroffenen Gemeinden bezeichneten die Konzerne die Ölkatastrophe als unvorhersehbares Ereignis, auf welches die Konzerne sofort und ausreichend reagiert hätten. Die indigene Bevölkerung plant derweil Widerspruch gegen das Urteil einzulegen. Allerdings wird dieses Vorhaben durch weitere bürokratische Hürden erschwert. Laut Prozessrecht muss den Kläger*innen das Urteil schriftlich vorliegen, um in Berufung zu gehen. Dieses wurde ihnen bisher nicht ausgehändigt.

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