KRIEG UM LAND VERSCHÄRFT SICH

Proteste gegen die von Siedlern provozierten Brände in dem Biosphärenreservat, Foto: Jorge Mejía Peralte (CC BY 2.0)

Die Küstenregion der nicaraguanischen Karibik wird von 304 Gemeinschaften bewohnt: den indigenen Mayangna, Miskito, Rama, Garífuna und afrodescendientes, deren Vorfahren aus Afrika verschleppt wurden. Sklav*innen, die sich während des transatlantischen Sklavenhandels nach Schiffshavarien und Sklavenrevolten auf der Karibikinsel Jamaika an die Küste retteten. 2002 verabschiedete das Parlament unter der liberal-konservativen Regierung von Enrique Bolaños das Gesetz 445, wodurch 36.000 Quadratkilometer Land in den Besitz der indigenen Gemeinschaften übergingen, die sich fortan durch eigene lokale Autoritäten selbst verwalteten. Zu dem Gebiet zählen die Biosphärenreservate Bosawás im Norden, das die größten, noch intakten Waldflächen des Landes beherbergt, und Indio Maíz Río San Juan im Süden. Die UNESCO verlieh Bosawás 1997 und Rió San Juan 2003 den Status als Biosphärenreservat, die seitdem zum Welterbe gehören.

Seit mehr als 10 Jahren leiden die indigenen Gemeinschaften unter der Invasion ihres Territoriums durch Siedler*innen, die sich mit Waffengewalt ihr Land aneignen. Hauptaktivitäten der Siedler*innen sind die Abholzung und Brandrodung der Wälder zur Gewinnung von Weideland und Anbauflächen. Der zerstörerische Umgang mit den Ressourcen der Reservate bedroht nicht nur die Artenvielfalt, sondern hat auch Auswirkungen auf die Gesundheit der dort lebenden Gemeinschaften. Beispielsweise hat die Nichtregierungsorganisation Proyecto Tapir Nicaragua im Reservat Indio Maíz herausgefunden, dass die Siedler*innen verschiedene Arten von Chemikalien zum Fischen verwenden, wobei giftige Substanzen die Flüsse kontaminieren und über Krustentiere und Fische in die Nahrungskette gelangen. Die Einwohner*innen befürchten langfristige gesundheitliche Folgen wie Krebs, Schädigungen des Gehirns oder Hautinfektionen.

Die Coronapandemie hat die Landnahme in indigenen Territorien verschärft

Selmira Flores, Sozialwissenschaftlerin und Forscherin am Institut für Forschung und Entwicklung der Zentralamerikanischen Universität (UCA), weist in einem Beitrag für die Monatszeitschrift Revista Envío darauf hin, dass zu der ohnehin schon drei Jahre anhaltenden Wirtschaftskrise jetzt noch die Auswirkungen der Corona-Pandemie hinzukämen. „Wir haben festgestellt, dass Kleinbauern und -bäuerinnen ihr Land verkaufen, um Schulden zu begleichen oder um Gesundheitskosten zu decken, wenn sie sich um eine chronische Krankheit oder eine Operation kümmern müssen. Ländliche Familien investieren viel in die Gesundheit, weil das öffentliche System nicht alles für sie löst.” Die Verarmung der Bevölkerung hat sich mit der Covid-19-Krise verschärft und eine massive Bewegung auf der Suche nach Land ausgelöst. Flores zufolge machen sich immer mehr Menschen in dem Glauben auf, es gäbe noch verfügbares Land, wo sie Nahrungsmittel produzieren und Einkommen erzielen könnten. „Aber was es in den Biosphärenreservaten gibt, ist Land, das seit Urzeiten den indigenen Völkern und afrodescendientes gehört, das per Gesetz ‘unveräußerlich, nicht verjährt und unpfändbar’ ist.” Die Landnahme indigenen Gebietes durch die Siedler*innen habe sich jedoch Jahr für Jahr beschleunigt und gehe mit Morden, dem Niederbrennen von Häusern und Parzellen einher − Zerstörungen, welche die indigenen Familien mit nichts zurücklassen.

„Wir müssen verstehen, warum es so viele bewaffnete Menschen gibt”, wird Lottie Cunningham, Miskita und Präsidentin des Zentrums für Gerechtigkeit und Menschenrechte der Atlantikküste Nicaraguas (CEJUDHCAN), in einem Bericht der Online-Zeitung 100%Noticias zitiert. „Das sind keine armen Leute, keine einfachen Bauern. (…) Die meisten Siedler sind ehemalige Militärangehörige, die von Regierungsbeamten unterstützt werden; sie handeln gewaltsam, um ihre Präsenz auszuweiten und indigenes Land zu besetzten.” Cunningham räumt ein, dass sich unter den Siedler*innen möglicherweise auch Familien befinden, die von den Anführer*innen nur angestiftet und missbraucht würden. Dies zu regeln sei aber die Verantwortung des Staates, denn sämtliche Verbrechen blieben bisher straflos.

CEJUDHCAN hat seit 2015 vierzig von Siedler*innen verübte Morde, fünfzig Verletzte, vierundvierzig Entführte und vier Verschwundene in den indigenen Gemeinden sowie tausende Fälle gewaltsam von ihrem Land Vertriebener dokumentiert (Stand Februar 2020). Angaben der Organisation zufolge sind bis März 2020 allein in den Miskito-Gebieten aufgrund der Siedleraktivität 23.243 Hektar Ernten verloren gegangen, was in den betroffenen Gemeinschaften zu einer beispiellosen Nahrungsmittelkrise geführt hat.

„Wir sprechen von Menschen, die sterben, die sich in einem Zustand ständiger Alarmbereitschaft befinden, die nicht schlafen können, die nichts zu essen haben und die Angst haben, angesichts der Möglichkeit bewaffneter Angriffe auf ihre Parzellen zu gehen, um Lebensmittel zu holen. Die größte Angst, die die indigenen Völker haben, ist der Ethnozid”, warnte Cunningham während einer öffentlichen Anhörung zur Untersuchung der Risikosituation der indigenen Miskito-Bevölkerung in der Karibik Nicaraguas, die vom Zentrum für Justiz und Völkerrecht (CEJIL) am 13. März dieses Jahres in der costa-ricanischen Hauptstadt San José veranstaltet wurde.

Allein die Zusammenstellung einiger exemplarischer Ereignisse aus diesem Jahr illustriert eindrucksvoll die existentielle Gefahr, in der sich die indigenen Gemeinschaften Nicaraguas befinden: Am 29. Januar überfielen etwa 80 bewaffnete Siedler*innen eine Gruppe der indigenen Mayangnas, als diese im Biosphärenreservat Bosawás jagten und fischten. Danach drangen sie in das Dorf der Gemeinde Alal ein, wo sie zwölf Häuser niederbrannten und das Feuer auf die Dorfbewohner eröffneten: Sechs Menschen kamen bei dem Angriff ums Leben.

Am 18. Februar berichtete 100%Noticias über einen Angriff Bewaffneter auf die Gemeinde Santa Clara im Gebiet Wangki Twi Tasba Raya in Waspam, einem von Miskitos bewohnten Gebiet. Gegenüber Voz de América schilderte Susana Marley, indigenes Oberhaupt dieser Gemeinde, einen brutalen Überfall, bei dem eine Familie, die im Fluss badete, unter Maschinengewehrfeuer genommen wurde. Eine Kugel traf eine Jugendliche mitten ins Gesicht und zerschlug ihren Kiefer. „Sie (die Siedler*innen, Anm.d.Red.) haben sich im Bergland niedergelassen und Gemeinschaften mit großen Weideflächen gegründet. Sie nennen ihren Ort Araguas. Von dort aus kommen sie mit ihren Waffen: Sie haben Häuser, Kirchen, Schulen niedergebrannt und Haustiere getötet”, erklärte Marley.

Am 28. Februar beklagte der Menschenrechtsverteidiger Joshwel Martínez einen weiteren Angriff auf die Miskito-Gemeinde Santa Clara. „In den frühen Morgenstunden dieses Freitagmorgens wurde die indigene Gemeinschaft Opfer eines neuen Angriffs, der von den Siedlern mit Kriegswaffen verübt wurde” und versicherte, dass sich die Angreifer*innen wie Paramilitärs verhielten. Mit „Der Krieg hat begonnen” ist auch ein Drohbrief überschrieben, der einen Tag zuvor in der indigenen Miskito-Gemeinschaft in Wisconsin aufgefunden wurde. Am 26. März bestätigten die lokalen Führer der Mayagnas eine Siedler*inneninvasion in der Wasakin-Gemeinde, bei der drei Gemeindemitglieder ermordet und vier durch Schussverletzungen schwer verletzt wurden.

Schon Tausende Indigene wurden gewaltsam von ihrem Land vertrieben

Über das digitale Portal PortaVoz Ciudadano richtete sich Lamberto Chows, indigener Anführer der Gemeinde und Gemeinderichter von Waspam am 12. März mit einem verzweifelten Appell an die internationale Gemeinschaft. „Sämtliche Gemeinden von Waspam werden überfallen. Wir Indigenen können uns nirgendwohin wenden, weil die regionalen Regierungsvertreter und die Polizei die Eindringlinge schützen, die uns töten und unser Land an sich reißen. Wir können nicht einmal pflanzen; wir leben im Chaos und leiden sogar unter Hunger”, sagte Chow.

Angesichts dieser Entwicklung könnten Schicksale wie das der indigenen Sangni Laya-Gemeinschaft zu einem alltäglichen Bild werden: Mit Rucksäcken voller Kleider und Habseligkeiten auf den Schultern, die Kinder an der Hand und ein paar Säcken mit Lebensmitteln flohen am 2. September mehr als dreißig Familien der Sangni Laya im nordkaribischen Twi Yahbra-Gebiet vor der Androhung eines Angriffs durch bewaffnete Siedler*innen.

Juan Carlos Ocampo, Gemeindeführer der Sangni Laya, erklärte gegenüber der Internetzeitung Confidencial, dass die Untätigkeit der Polizeibehörden sowie der regionalen und territorialen Regierung ein Beweis für eine Komplizenschaft des Staates sei. Ihm zufolge gibt es keinen Grund, nicht zu handeln und die Siedler*innen, die in ihr Gebiet eindringen, nicht räumen zu lassen.

Regionale Behörden und die Polizei schützen die Siedler*innen

Neben der ungeheuren humanitären Katastrophe hat die Invasion indigenen Landes auch dramatische ökologische Konsequenzen: Durch die Rodung und Plünderung der Wälder hat eine Verschiebung der Ackerbaugrenze bis weit in die Schutzzonen hinein stattgefunden. Eine vom Ministerium für Umwelt und natürliche Ressourcen (MARENA) veröffentlichte Karte zeigt, welches Ausmaß der Verlust an Waldfläche in diesen Gebieten angenommen hat. Die Abholzung der Wälder ist Nicaraguas drängendstes Umweltproblem. Die Waldfläche ist von 76 Prozent im Jahr 1969 auf 25 Prozent im Jahr 2020 zurückgegangen. Selmira Flores findet, dass es in diesem Zusammenhang angezeigt sei, die „Nationale Strategie zur Verringerung der Treibhausgasemissionen durch Entwaldung und Waldschädigung“ einer Überprüfung zu unterziehen. Das Projekt hatte die nicaraguanische Regierung im Juli 2019 beim Kohlenstofffonds der Weltbank zur Förderung eingereicht, für das 55 Millionen Dollar in Aussicht gestellt wurden. Der Fonds ist eine Initiative, der neben Kanada und anderen europäischen Staaten auch Deutschland angehört. Für die Umsetzung des Projekts hat Nicaraguas Regierung 23 indigene Gebiete in der nördlichen und südlichen Karibik ausgewiesen, zu denen auch die beiden Biosphärenreservate Indio Maíz und Bosawás gehören. Für die Regierung scheint jedoch eher der finanzielle Aspekt im Vordergrund zu stehen, als das Interesse an einer Lösung der bestehenden Landkonflikte in den Schutzgebieten, die der Erhaltung dieser wertvollen, ursprünglichen Ökosysteme und Wälder dienen.

Für Selmira Flores geht es bei den Konflikten an der Karibikküste jedoch nicht allein um den Umgang mit Ressourcen. Ihrer Ansicht nach sind es auch kulturelle Konflikte zwischen zwei Weltanschauungen, bei denen es um die gegenseitige Wahrnehmung geht. „Da die Ureinwohner der Karibik ihrer Bevölkerungszahl nach in der Minderheit sind, glauben wir, dass sie nicht denkfähig, dass sie rückständig sind, dass sie faul sind, dass sie gerne leben, ohne zu arbeiten.” Der an jene Vorurteile geknüpfte traditionelle Rassismus in der Mehrheitsgesellschaft befeuert nicht zuletzt auch die Gewalt in den indigenen Territorien. Ein weiterer grundlegender Widerspruch besteht in der Einstellung zum Besitz: Der indigene Grundbesitz ist Gemeinschaftsbesitz, die größten Landflächen sind kommunal und nicht privat.

Rassismus und Konflikte über unterschiedlichen Verhältnisse zum Grundbesitz heizen die Gewalt an

„Die Konflikte zwischen diesen beiden Nicaraguas werden fortbestehen, solange die offizielle Politik die Kosmovision der autochthonen Völker nicht respektiert, für die nicht so sehr Dokumente und Geschriebenes zählen, sondern mündliche Überlieferung und die in der Gemeinschaft vereinbarten Normen”, so Selmira Flores in Revista Envío.

Gehör finden die Indigenen in ihrer Not bislang nur bei Menschenrechts- und Umweltaktivist*innen und ihren Organisationen. Diese sind sich einig in der Bewertung der Rolle des Staates, der Polizei, der Justiz, deren Untätigkeit die Präsenz von Siedler*innen und Unternehmer*innen in den indigenen Gebieten weiter fördert und die Korruption unter Staatsbeamt*innen in der Küstenregion deckt, die in die illegalen Aktivitäten und den Verkauf von indigenem Land verwickelt sind.

OLIGARCHIE ESSEN DEMOKRATIE AUF

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NADESDHA GUEVARA OROPEZA

ist Anwältin und Menschenrechtsaktivistin und vertritt einige der Opfer des im November 2019 durch das bolivianische Militär in Senkata verübten Massakers. Sie hat bei den Vereinten Nationen eine Reihe von Beschwerden zu Menschen- rechtsverletzungen eingereicht und kooperiert mit der Assoziation für Men- schenrechte in Bolivien, die die Menschenrechte aus einer dekolonialen Perspek- tive betrachtet und sich für die verarmten Sektoren im Land einsetzt. Guevara sieht sich in der Tradition des andinen Widerstands von Tupac Amaru II, Micaela Bastidas und Tupac Katari (indigene Anführer*innen, die im 18. Jh. gegen die Kolonialmacht Spanien rebellierten) sowie deren Ziel eines vereinigten Hispano- amerikas. Sie nutzt ihren Beruf als Anwältin zur Durchsetzung des Suma Qamaña (Aymara) bzw. Sumak Kawsay (Quechua), dem in der boliviani- schen Verfassung verankerten indigenen Konzept des “Guten Lebens”.

(Foto: Privat)


Können Sie uns etwas über den politischen Kontext des Putsches in Bolivien erzählen?

Der Putsch in Bolivien ereignete sich im Kontext verschiedener Szenarien. Hier spielt zunächst die Agrarindustrie von Santa Cruz de la Sierra eine wichtige Rolle. Dieser Sektor strebte nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die politische Macht an, von der er seit 14 Jahren ausgeschlossen war. Nachdem die Regierungspartei MAS eine strategische Allianz mit der Agraroligarchie eingegangen war, wurden ihr politische Zugeständnisse in der Exekutive und Legislative gemacht. Die haben sie auch dazu genutzt, paramilitärische Gruppen zu bilden, wie wir jetzt sehen.

Zudem stand die MAS vor internen Herausforderungen, wie der Konsolidierung des plurinationalen Staates und der Bildung einer neuen Führungsspitze. Diese erwiesen sich als Versäumnisse, die die bolivianische Mittelschicht später zu ihrem Vorteil nutzte. Ein weiterer Fehler war es, zuzulassen, dass anstelle der Indigenen-, Kleinbauern- und Arbeiterbewegung die Mittelschicht zum historischen Subjekt des Kampfes wurde.

Aus geopolitischer Perspektive ist das Interesse an unseren natürlichen Ressourcen gewachsen, vor allem am Lithium. Hinzu kam, dass die bolivianische Mittelklasse behauptete, dass sie unter der Regierung der MAS in einer Diktatur lebe und für ihre Freiheit kämpfe. Die hauptsächlichen Ursachen des Putsches waren jedoch der politische Machtkampf und die Kooperation der Regierung mit den oligarchischen Sektoren.


Wie kam es vor diesem Hintergrund zu dem Putsch?

Nach dem Referendum vom Februar 2018, bei dem sich das Volk gegen die Möglichkeit einer dritten Kandidatur von Evo Morales zur Präsidentschaftswahl entschied, ließ dieser sich vom Verfassungsgericht seine Wiederaufstellung genehmigen. Als Morales die Präsidentschaftswahl im Oktober 2019 gewann, erhob die Organisation Amerikanischer Staaten den Vorwurf des Wahlbetrugs, woraufhin die rassistische Gewalt der paramilitärischen Gruppen gegen das Volk und gegen Repräsentanten der MAS begann und viele Politiker der MAS zurücktraten. Der Rücktritt von Evo Morales verursachte ein Machtvakuum und nachdem seine Nachfolgerin, Adriana Salvatierra, ebenfalls zurückgetreten war, wurde Jeanine Áñez auf nicht-demokratischem Weg von Polizei und Militär als Präsidentin eingesetzt.

Kaum an der Regierung, verbrannten sie die Wiphala, Flagge und Symbol der indigenen Nationen, und machten deutlich, dass die Indigenen an den Platz zurückgekehrt waren, der ihnen ihrer Ansicht nach zustand. Nachdem Áñez dem Militär und der Polizei per Dekret Immunität zusicherte, verübten diese im November 2019 die Massaker von Sacaba und Senkata, die von der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte als solche anerkannt wurden.


Was waren die Folgen des Putsches bezüglich der politischen Verfolgung und der Funktion der Rechtsinstitutionen in Bolivien?

Die ersten Folgen waren die Massaker und ein politischer Pakt, welcher die MAS im Parlament entmachtete und die Durchführung von Wahlen garantieren sollte. Dies war zunächst das einzige Ziel der De-facto-Regierung. Doch mit dem Ausbruch von Covid-19 begann eine noch kompliziertere Periode, die den Klassenkampf verstärkt, den Rassismus verdeutlicht und in der keines der strukturellen Probleme des Landes gelöst wird.

Unter der De-facto-Regierung gibt es einen institutionellen Kollaps und alles bewegt sich nur noch ausgehend von Regierungsanweisungen. Es gibt politisch Verfolgte der MAS, und solche, die ihr nicht angehören und deren einziges Vergehen es war, die Regierung zu kritisieren. Seit den Massakern gibt es Gefangene, die auf illegale und willkürliche Art und Weise inhaftiert wurden. Frauen mit pollera wurden von Militärs und Polizisten vergewaltigt (in Bolivien ist die pollera eine typische Bekleidung der indigenen Frauen und Kleinbäuerinnen, Anm. d. Red.). Der argentinische Fotograf Facundo Molares befindet sich weiterhin in Gefangenschaft, ebenso wie viele Frauen noch immer in den Strafanstalten für Frauen inhaftiert sind.

Der institutionelle Bruch zeigt sich auch darin, dass die paramilitärischen Gruppen von der Regierung nicht nur toleriert, sondern auch finanziert werden. Vor einigen Tagen ließ die Regierung verlauten, dass es politisch angemessen sei, die Demonstranten zu erschießen. Hinzu kommt, dass in Bolivien drei Millionen Arbeitslose und ein Anstieg der extremen Armut erwartet werden. Das Gesundheitssystem wurde privatisiert, das Schuljahr wurde aufgrund der Pandemie ausgesetzt.

Das sind die Folgen des Putsches und eines Staates, der kein Rechtsstaat ist und der auf Kritiker das Strafrecht anwendet, das diese nicht als Bürger behandelt, sondern als Terroristen brandmarkt. Aufgrund dieser Situation sehen sich die sozialen Bewegungen nun gezwungen, sich zu äußern. Gleichzeitig schürt die Regierung Hass und stigmatisiert diejenigen, die von ihrem Recht auf Protest Gebrauch machen, als Angehörige der MAS. Die Bevölkerung ist unzufrieden und mobilisiert sich, aber gleichzeitig ist sie auch tief getroffen, denn seit neun Monaten ist kein neuer sozialer Pakt (gemeint ist ein gesellschaftliches und politisches Übereinkommen zur Überwindung der Spaltung der Gesellschaft, Anm. d. Red) ausgehandelt worden.


Wie ist die aktuelle Situation in Bolivien und wie ist es zu den erneuten Mobilisierungen gekommen?

Viele sahen in den Wahlen, die für den 6. September angesetzt waren, einen politischen Ausweg. Zwar bestand Unsicherheit darüber, welche Partei gewinnen würde, aber es wurde angenommen, dass ein neuer sozialer Pakt verhandelt werden würde. Dann jedoch gab der Wahlprüfungsausschuss bekannt, dass sich die Wahl auf den 18. Oktober verschieben würde. Daraufhin wurde in El Alto ein Treffen von sozialen Bewegungen und Gewerkschaften einberufen und dem Wahlprüfungsausschuss ein Ultimatum von 72 Stunden gestellt, um zum ursprünglichen Wahltermin zurückzukehren. Würde dies nicht geschehen, käme es zu nationalen Blockaden.

Wie angekündigt begannen nach Ablauf der 72 Stunden die Blockaden. Nachdem regierungsnahe Sektoren wie das oligarchische Bürgerkomitee von Santa Cruz verlauten ließen, dass wir von der indigenen Bewegung Bestien seien, dass wir es nicht verdient hätten, Bürger zu sein, und dass wir die Hand beißen würden, die uns zu essen gäbe, erhielten die Blockaden Zulauf. Die Indigenen und Kleinbauern repräsentieren über 80 Prozent der Bevölkerung des Landes und die Indigenen sind in der Verfassung mit 36 Nationen anerkannt. Zudem ließen das Bürgerkomitee und die Regierung verlauten, dass Bolivien „zur Republik zurückkehren“ sollte (gemeint ist eine Rückkehr zur vor der MAS-Regierungszeit gültigen Verfassung, Anm. d. Red.). Diese Vorkommnisse verschärften die Streitigkeiten, weswegen sich die Losung der Mobilisierungen schließlich nicht mehr auf den Wahltermin bezog, sondern auf den Rücktritt von Áñez.

Es wurde versucht, die Blockaden unter anderem mit dem Vorwurf, sie würden den Transport von Sauerstoff für Covid-19 Patienten verhindern, zu delegitimieren. Doch es hat seit zwei Monaten keine Sauerstofflieferungen gegeben und das Gesundheitssystem ist seit neun Monaten praktisch inexistent. Schließlich jedoch akzeptierte das Parlament, in der die MAS die Mehrheit stellt, den neuen Wahltermin am 18. Oktober und hob die Blockaden auf, rief aber gleichzeitig die permanente Alarmbereitschaft aus.


Wie wird es jetzt weitergehen, nachdem der neue Wahltermin akzeptiert und die Blockaden aufgehoben wurden?

Es zeichnet sich ab, dass es zu einer politischen Verfolgung derjenigen kommt, die zu den Mobilisierungen aufgerufen haben. Es wurden diesbezüglich Anzeigen erstattet, die von der Staatsanwaltschaft aufgenommen wurden. In Samaipata wurden 43 Personen auf unrechtmäßige und willkürliche Weise festgenommen. Drei von ihnen befinden sich in Präventivhaft. In San Ignacio de Moxos haben drei Menschen Schusswaffenverletzungen durch die Paramilitärs erlitten und wir haben im Resultat ein in seiner Würde verletztes Volk. Heute sehen wir die Notwendigkeit uns zu organisieren, denn wir wissen, dass der Staat durch Polizei, Militär und Paramilitär darauf vorbereitet ist, das Volk zu unterdrücken. Angesichts der Verschärfung des Problems ist das Einzige, was uns bleibt, eine Volksmacht zu organisieren. Wir wissen nicht, ob die Wahlen tatsächlich stattfinden werden. Aber was wir wissen,ist, dass es notwendig ist, uns zu organisieren, uns zu vereinen und zu kämpfen.

DROHENDER GENOZID IN AMAZONIEN

Schon vor Corona machte Davi Kopenawa auf den Genozid der Yanomami aufmerksam (Foto: Alain GiA via flickr.com, CC BY-NC-ND 2.0)

Die Corona-Pandemie bedroht weltweit die Gesundheit und das Leben Hunderttausender, wenn nicht von Millionen von Menschen. Da es sich bei dem SARS-CoV-2 um ein neuartiges Virus handelt, ist die Weltbevölkerung nicht immunologisch auf die Krankheit vorbereitet. Für die globalisierte Welt ist dies eine neue Gefahr, es lebt fast niemand mehr, die oder der sich an die letzte große Pandemie, die Spanische Grippe von 1918 bis 1920, bewusst erinnert.

Weder Herdenschutz noch immunologisches Gedächtnis

Im amazonischen Tiefland ist dies anders. Viele indigene Gemeinschaften erinnern sich noch gut an regionale Grippe- oder Masernepidemien. So sind zum Beispiel die Yanomami im äußersten Norden Brasiliens erst in den 1960er Jahren in Kontakt mit der brasilianischen Gesellschaft getreten. Carlo Zaquini, ein italienischer katholischer Missionar, der seitdem mit den Yanomami arbeitet, erinnerte sich gegenüber dem britischen Guardian an die Epidemien: „Es war wie ein Bulldozer in der Glasfabrik. Alles ging zu Bruch.“ An einem Masernausbruch in den 1960er Jahren sind nach Schätzungen etwa neun Prozent der gesamten Yanomami-Bevölkerung verstorben, in manchen Dörfern starben 50 Prozent der Bevölkerung. Unter den Yanomami ist Anfang April mit dem 15-jährigen Alvanei Xirixana auch der erste Todesfall durch die Lungenkrankheit Covid-19 im Amazonasgebiet registriert worden. Am 14. Mai meldete das Sondersekretariat für Indigene Gesundheit (SESAI) für den brasilianischen Teil des Amazonasgebiets „301 indigene Fälle in ländlichen Gebieten“ und 19 Todesfälle.

Während der Eroberung des amerikanischen Kontinents durch europäische Kolonisatoren rafften Masern-, Grippe- und Pocken-Epidemien einen großen Teil der indigenen Bevölkerung dahin. Aber es gab auch Erreger, die von Amerika nach Europa kamen und dort großen Schaden anrichteten. Der bekannteste Fall ist wohl die Syphilis, die sich im frühen 16. Jahrhundert in ganz Europa ausbreitete.

Nicht nur alte und kranke Menschen zählen zur Covid-19 Risikogruppe

Die jetzige Pandemie, so befürchten viele, könnte für Indigene im amazonischen Tiefland ähnlich katastrophale Folgen wie die Infektionen während der Kolonisation haben. Wie in einem Artikel im US-amerikanischen Wissenschaftsmagazin Science erläutert, sollten Indigene deshalb grundsätzlich, neben Älteren und Menschen mit Vorerkrankungen, zu den Risikogruppen gezählt werden. Dies hat verschiedene Gründe. Einerseits ist die Gesundheitssituation der indigenen Bevölkerung Südamerikas meist sehr schlecht. Krankheiten wie Dengue, Gelbfieber, Tuberkulose, Malaria und HIV sind weit verbreitet. Aufgrund der Armut und der damit verbundenen Ernährungssituation sind nach Schätzungen der UN etwa die Hälfte aller über 35-jährigen Indigenen an Diabetes Typ 2 erkrankt. Ein großer Teil der Indigenen ist also gesundheitlich vorbelastet und wäre schon aus diesem Grund bei einer Infizierung mit dem neuartigen Corona-Virus besonders gefährdet.

Zum anderen ist die Gesundheitsversorgung für Indigene in entlegenen Regionen unzureichend. In vielen Gebieten Amazoniens haben die Menschen kaum Zugang zu Krankenhäusern. Insbesondere in Brasilien hat sich die Gesundheitsversorgung durch die Politik des rechtsradikalen Präsidenten Jair Bolsonaro drastisch verschlechtert. Aus ideologischen Gründen verwies der Präsident im Jahr 2019 rund 8.000 kubanische Mediziner*innen des Landes. Diese hatten in einem Programm der Arbeiterpartei PT in besonders entlegenen und armen Regionen des Landes gearbeitet. Vor allem Indigene hatten von dieser Gesundheitsdienstleistung profitiert, die nun, wo sie am dringendsten benötigt wird, nicht mehr besteht.

Die Regierung Bolsonaro hat die mögliche Gesundheitsgefährdung der Indigenen noch auf andere Weise massiv verstärkt. In einem viel kritisierten Schritt wurde Anfang des Jahres Ricardo Lopes Dias zum Abteilungsleiter der Indigenenbehörde FUNAI berufen, die für in Isolation lebende Indigene zuständig ist. Der neue Chef war früher Missionar der New Tribes Mission. Die 1942 gegründete evangelikale Organisation versucht Indigene – auch solche in freiwilliger Isolation Lebende – zu kontaktieren und zu missionieren. In den 1980er Jahren war sie zum Beispiel im paraguayischen Chaco aktiv und hat mit Gewalt Indigene der Ayoreo Totobiegosode in Lager verschleppt, zu Arbeit gezwungen und evangelisiert. Es gab mehrere Tote aufgrund von eingeschleppten Krankheiten.

Während der Abwesenheit des Staates helfen die Indigenen sich selbst

Die Nachfolgeorganisation der New Tribes Mission, Ethnos 360 – die auch in Deutschland aktiv ist, missionierte zuletzt im Vale do Javari. In dem noch verhältnismäßig ungestörten Regenwaldgebiet in der Grenzregion zwischen Peru und Brasilien leben die meisten unkontaktierten Gruppen. Bislang hatte die FUNAI die Missionar*innen dort immer wieder ausgewiesen, damit sie dort keine Krankheiten verbreiten. Viele befürchten, Ricardo Lopes Dias könnte als neuer Zuständiger für isolierte Indigene bei der FUNAI seinen ehemaligen Missionarskolleg*innen freien Zugang in das entlegene Tal gewähren – und damit praktisch einen Genozid auslösen. Indigene Gemeinden, die bereits Kontakt zur brasilianischen Gesellschaft haben, aber sich als Beschützer der isolierten Indigenen begreifen, zogen vor Gericht. Angesichts der Gefahr durch Covid-19 verwiesen Gerichte Ethnos 360 aus dem Schutzgebiet. Ob die fanatischen Missionar*innen sich an die weltlichen Gesetze gebunden fühlen, ist jedoch fraglich.

Doch nicht nur Brasilien, auch andere südamerikanische Staaten lassen die Indigenen Amazoniens weitgehend im Stich. „Die Situation ist wirklich sehr schwierig. Das Militär versagt bei den Kontrollen der Boote und Transporter. Auch die schleppend anlaufende Belieferung der Gemeinden mit Nahrungsmitteln und medizinischen Materialien geht ohne Schutzvorkehrungen vonstatten“, sagt Lizardo Cauper, Präsident der Indigenen Vereinigung zur Entwicklung im peruanischen Regenwald (AIDESEP) in einer gemeinsamen Pressemitteilung des Dachverband Indigener des Amazonasbeckens (COICA), des Klima-Bündnisses und des Instituts für Ökologie und Aktions-Ethnologie. Der indigene Verband COICA hat deshalb 14 Forderungen an die Regierungen der Region geschickt, in denen unter anderem eine verbesserte Versorgung mit Gesundheitsdienstleistungen und Lebensmitteln für die indigene Bevölkerung in dieser Notsituation verlangt wird. Zudem müssten die Regierungen das weitere Eindringen von Bergbau-, Erdöl- und anderen nicht-indigenen Arbeiter*innen in die Schutzgebiete stoppen, um die Ausbreitung der Epidemie zu unterbinden.

Viele Gemeinden helfen sich in dieser Situation vor allem selbst. In Ecuador warnen stärker in die Nationalstaaten integrierte Indigene die isolierteren Gemeinschaften vor der Pandemie, über Crowdfunding werden Hilfsleistungen finanziert. Im Gebiet des Tapajós, im brasilianischen Teil des Amazonasbeckens, hat die Frauenorganisation der Munduruku die Informationen zum neuen Corona-Virus selbst übersetzt und über Radio und WhatsApp in den Dörfern verbreitet – eigentlich eine Aufgabe der Indigenenbehörde FUNAI. Die Munduruku haben sich – wie viele andere indigene Gruppen auch – eine Selbstisolation verordnet, um der Epidemie zu entgehen. Eines der größten Treffen indigener Gruppen Brasiliens, das Acampamento Terra Livre („Freies Land-Camp“, Anm. d. Red.), fand zwischen dem 27. und 29. April nur online statt. In dem Abschlussdokument der Veranstaltung werden Krankheiten als „die wichtigste biologische Waffe“ zur Vernichtung der indigenen Bevölkerung Brasiliens genannt und die aktuelle Regierungspolitik Jair Bolsonaros als „institutionalisierter Genozid“ bezeichnet. In 21 Punkten fordern die beiden Dachverbände Artikulation Indigener Völker Brasiliens (APIB) und Indigene Nationale Mobilisierung (MNI) darin unter anderem einen Ausbau der für die Bewältigung der Pandemie notwendigen Infrastruktur, einen verbesserten Zugang zu Schutzmaterial für alle Menschen in indigenen Gemeinschaften und die Rücknahme jüngster Erlasse der Regierung Bolsonaro, die die Invasion indigener Gebiete entkriminalisieren.

Regenwaldschutz bedeutete auch Pandemieschutz

Die Folgen der katastrophalen Amazonaspolitik der Regierung Bolsonaros werden durch die Pandemie noch verstärkt. Bergbau, land- und holzwirtschaftliche Nutzung, der Bau von Wasserkraftwerken – all dies will Bolsonaro in den Regenwaldgebieten Amazoniens erleichtern, um Wirtschaftswachstum und „Entwicklung“ zu bringen, die jedoch wenig Vorteile für die lokale Bevölkerung bietet. In verschiedenen Gesetzesinitiativen hat er die Schutzbestimmungen für indigene Schutzgebiete geschwächt oder aufgehoben. Holzhändler*innen und Garimpeiros – also Menschen, die mit einfachen Methoden Edelmetalle schürfen und fördern – strömen seitdem in die indigenen Gebiete, wo es immer häufiger zu Konflikten kommt. Dabei berufen sich die illegalen Eindringlinge darauf, dass Präsident Bolsonaro auf ihrer Seite stehe.

In den ersten drei Monaten dieses Jahres sind nach Angaben der brasilianischen Raumfahrtbehörde INPE um 51 Prozent mehr Waldflächen zerstört worden, als im ersten Trimester der Vorjahre. Aus Angst vor der Epidemie arbeiten auch staatliche Behörden, die die illegalen Rodungen unterbinden sollen, weniger intensiv – was die Arbeit von Kriminellen, die den Wald zerstören, enorm erleichtert. Dabei ist der Schutz indigener Gebiete die beste Garantie für den Erhalt des amazonischen Regenwaldes mit seiner wichtigen Rolle für das Weltklima, wie zahlreiche Studien belegen.

Hinzu kommt: Die Zerstörung von Regenwäldern bringt uns in Kontakt mit neuen Krankheitserregern. Das Corona-Virus ist höchstwahrscheinlich von Fledermäusen auf den Menschen übertragen worden. Einer Studie von 2008 zufolge sind 60 Prozent der neuen Krankheiten zwischen 1960 und 2004 von Tieren auf Menschen übertragen worden, zum Beispiel die Nipah-Krankheit in Südostasien und Ebola in Westafrika. Durch die Verkleinerung ihrer natürlichen Habitate geraten Wildtieren häufiger in Kontakt zu Menschen und übertragen so leichter Krankheitserreger – über Nutztiere, Moskitos oder direkt – auf den Menschen. Die nächste Pandemie könnte aus Amazonien kommen – als Folge der Zerstörung des Regenwaldes.

UNGEAHNTE REALITÄTEN

© Spectre Productions, Stenar Projects

Kurzfilm-Fans haben es bei der Berlinale nicht immer leicht. Im Programm finden sich zwar meist zahlreiche Beiträge des Formats, aber neben dem offiziellen Programm Berlinale Shorts sind viele in anderen Sektionen versteckt. Abgesehen davon macht auch die fehlende regionale oder thematische Einteilung die Entscheidung für einen Kurzfilmblock oft schwierig. Umso schöner, dass die Berlinale-Sektion Forum Expanded dieses Jahr drei halbstündige Kurzdokumentationen aus Lateinamerika im Paket zeigt, die noch dazu ähnliche Themen behandeln (indigene bzw. rurale Gemeinschaften). Ein gelungenes Experiment, denn alle drei Filme sind durchaus sehenswert.

Die Reise in entlegene Regionen des südamerikanischen Kontinents führt zunächst nach Kolumbien. In Jiíbie zeigt Regisseurin Laura Huertas Millán die traditionelle Herstellung von grünem Koka-Pulver in der indigenen Gemeinschaft der Muiná-Muruí im kolumbianischen Amazonasgebiet. Für die Muiná-Muruí ist die Koka-Pflanze ein heiliges Medium, das für rituell-spirituelle und medizinische Zwecke benutzt wird. An rituellen Stätten, den Malokas wird das Jíibie oder Mambe genannte Pulver während gemeinschaftlicher Versammlungen konsumiert, um den kommunikativen Austausch und die Entscheidungsfindung zu fördern. Anders als das mit Chemie vermischte weiße Kokain ist Jíibie ein rein natürliches Produkt, das nur aus den Blättern des Kokastrauchs und des Yarumobaums besteht. Der Film zeigt in ruhigen Bildern die traditionelle Verarbeitung der Pflanzen (Ernte, Rösten, Mahlen, Koka mit Yarumo-Asche mischen, Sieben), untermalt mit rituellen Erzählungen der Muiná-Muruí. So kreiert Jiíbie ein gutes Gefühl für die spezielle Bedeutung der heiligen Pflanze, ohne allerdings Aufnahmen der Versammlungen, auf denen das Koka-Pulver als Vermittlung zur kollektiven Erfahrung eingesetzt wird, zu zeigen.

Weniger meditativ geht es in Jogos Dirigidos von Regisseur Jonathas de Andrade zu. Der Film zeigt die Bewohner*innen der 900-Seelen-Gemeinde Várzea Queimada („Verbrannte Ebene“) im Hinterland des nordöstlichen brasilianischen Bundesstaates Piauí. Die Besonderheit der Siedlung besteht darin, dass dort überdurchschnittlich viele taubstumme Menschen leben. Die kommunale Infrastruktur ist jedoch sehr schwach ausgeprägt, so dass für sie keine Gebärdendolmetscher*innen zur Verfügung stehen. Statt zu jammern, hat die Dorfgemeinschaft aber aus der Not eine Tugend gemacht und kurzerhand ihre eigene Gebärdensprache erfunden. Die ist, wie im Film schnell klar wird, sehr lebendig und expressiv und auch für Nicht-Eingeweihte relativ leicht verständlich. Die Aufnahmen zeigen die titelgebenden Jogos Dirigidos („angeleitete Spiele“), bei denen die Bewohner*innen mit großer Begeisterung Kinderspiele wie Stuhltanz oder Ochs am Berg durchführen und dann auf einer Bühne in der selbst entwickelten Gebärdensprache Geschichten aus ihrem Leben preisgeben. Dabei werden die Erzählungen zunächst meist ohne Erklärung gezeigt und danach noch einmal mit Untertitelung der wichtigsten Wörter und Ausdrücke wiederholt. Interessant ist das nicht nur aus sprachlichen Gesichtspunkten, sondern auch, weil die Geschichten viel über das nicht immer einfache Leben in der ländlichen Umgebung der brasilianischen Peripherie verraten. Die Lebensfreude der Bewohner*innen und deren oft emotionale Reaktionen beim Spiel und beim Hören der Geschichten machen Jogos Dirigidos zu einem aufschlussreichen und vergnüglichen Filmerlebnis.

Den Abschluss der Trilogie bildet der ebenfalls brasilianische Beitrag Apiyemiyekî? von Regisseurin Ana Vaz. Der Titel bedeutet „Warum?“ in der Sprache der indigenen Gruppe der Waimiri-Atroari aus dem brasilianischen Amazonasgebiet. Diese wurden Opfer des größten Genozids unter der Herrschaft der brasilianischen Militärdiktatur, der Film erzählt ihre Geschichte. Weil die Regierung Mitte der 1970er Jahre eine Straße nach Manaús baute, vertrieb sie die Waimiri-Atroari mit brutalen Mitteln aus ihrem Territorium, das auf dem Weg dorthin lag. Durch chemische Waffen wie Napalm und Massenexekutionen mit Macheten und Gewehren wurden bis zu 3000 Menschen ermordet. Erst 2019 kam es zum Prozess gegen die Regierung, der bis heute andauert.

Die Regisseurin verwendet für die künstlerisch ansprechende Dokumentation gemalte Bilder und erste schriftliche Zeugnisse der kurz vor dem Terror der Militärs alphabetisierten Mitglieder der indigenen Gemeinschaft. Visuell aufwändig werden diese wie transparente Folien über die reale Naturlandschaft des Gebietes der Waimiri-Atroari gelegt. Besonders gut gelingt dies bei den Aufnahmen von fließendem Wasser, auf die gezeichnete Boote montiert werden. Die grafischen und schriftlichen Zeugnisse dienen als Beweisstücke im Prozess gegen den Staat und bewahren eine kollektive Erinnerung der grausamen Begegnung mit den sogenannten „zivilisierten Menschen“. Die Frage nach dem Warum der Tötungen durch die „Zivilisierten“ wurde von den Indigenen am häufigsten gestellt und deshalb auch als Titel des Films ausgewählt. Mit Apiyemiyekî? ist Ana Vaz eine eindrucksvolle und visuell ambitionierte Verarbeitung eines der düstersten Kapitel der brasilianischen Militärdiktatur gelungen, die im Grunde einen Langfilm verdient hätte.

Das verbindende Element zwischen den drei filmischen Beiträgen ist der Einblick in lateinamerikanische Welten, deren Realitäten bislang vielen nicht bekannt sein dürften und die einfühlsam und informativ auf die Leinwand transportiert werden. Bleibt zu hoffen, dass trotz der etwas versteckten Platzierung als Programm 6 der Experimentalfilm-Sektion Forum Expanded viele diese empfehlenswerte Kurzfilm-Trilogie im Programm entdecken und auf dem Festival ansehen.

EIN TAUZIEHEN

(Foto: Fluxus Foto)

Am Abend des 13. Oktober hatte sich die Regierung Moreno dann doch auf Verhandlungen mit den Indigenen eingelassen. Im Ergebnis der Gespräche, die live übertragen wurden, zog die Regierung das umstrittene Dekret 883 zurück und kündigte an, in einer Kommission mit Protestvertreter*innen an einem Ersatzdekret arbeiten zu wollen. Daraufhin endeten die Proteste, bald strömten die Einwohner*innen von Quito zu einer großen minga (kommunitäre Gemeinschaftsarbeit) zusammen, um die Spuren der Zerstörung zu beseitigen. Bands gaben spontane Konzerte, während in ausgelassener Stimmung aufgeräumt, repariert und gefegt wurde.

Mindestens elf Tote sowie Tausende Verletzte und Inhaftierte nach zehn Tagen Protest

Nach zehn Tagen Protest bilanziert der Ombudsmann mindestens elf Tote sowie Tausende Verletzte und Inhaftierte. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission ist derzeit vor Ort, um Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen. Der Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten, Luis Almagro, lobte hingegen bei einer regionalen Sicherheitskonferenz die Regierung für ihre Dialogbereitschaft und Umsicht während der Krise.

Die Regierung um Präsident Lenín Moreno ist seitdem nicht nur bemüht, den Protest systematisch zu kriminalisieren und zu delegitimieren; sie rüstet für künftige Protestwellen militärisch, polizeilich und geheimdienstlich auf. Mehrere prominente Anhänger*innen von Expräsident Rafael Correa wurden verhaftet oder baten in Botschaften um politisches Asyl. Scharfgemacht von Verteidigungsminister Oswaldo Jarrín spricht man nicht mehr nur von einer Verschwörung der Anhänger*innen Correas und einem gescheiterten, aus Venezuela und Kuba gesteuerten Putschversuch, sondern von einer ganzen Reihe bewaffneter Gruppen, die eingeschleust worden seien und neue Antiterrormaßnahmen notwendig machten. Für die tatsächliche Anwesenheit solcher Gruppen gibt es wenige Indizien, auch während des Aufstands war lediglich improvisierte, meist defensive Bewaffnung zu beobachten.

Die sozialen Netzwerke quillen über von rassistischen Kommentaren

Leonidas Iza, Präsident der Indigenen Organisationen der Provinz Cotopaxi, sieht in den Behauptungen der Regierung einen Vorwand, um die heftige Reaktion der Bevölkerung auf eine verfehlte Wirtschaftspolitik kleinzureden: „Es ging ausschließlich um wirtschaftliche Forderungen. Wenn dahinter eine politische Absicht oder gar eine politische Manipulation aus dem Ausland gestanden hätte, hätten die Leute nach dem Rückzug des Dekrets weiter protestiert“. Die Mobilisierung und dahinterstehende Logistik sei spontan und selbstorganisiert gewesen.

Derweil wird die Legitimität der indigenen Anführer, die seit der Ausstrahlung des Dialogs recht bekannt sind, medial und politisch untergraben. Gegen viele von ihnen wurde Anklage erhoben, etwa wegen Entführung von Polizist*innen. Auch wurden Recherchen über angebliche Reichtümer der indigenen Autoritäten veröffentlicht – diese hätten „sogar Kleinflugzeuge“, obwohl es für indigene Gemeinschaften im Amazonasgebiet lebensnotwendig ist, kollektiv Zugang zu diesem oft einzig möglichen Verkehrsmittel zu haben, dessen hohe Kosten die Mobilität auf ein Minimum beschränken.

Die Diskussion um Subventionen für Treibstoffe wird auf das gesamte Wirtschaftsmodell ausgeweitet

Die sozialen Netzwerke quillen unterdessen von rassistischen Kommentaren einer weißen und mestizischen Mittelschicht über, die vorgibt, eine Demokratie gepachtet zu haben, die den Frieden der Privilegierten und die systematische und allgegenwärtige Diskriminierung von Schwarzen und Indigenen bedeutet. Regionalzeitungen veröffentlichen mitunter Stimmen, die offen zur Gewalt gegen Indigene aufrufen. Die Klassenfrage ist neben dem Wiederaufflammen des Rassismus heute so aktuell wie lange nicht mehr.

Die Indigenen weiten die Diskussion um Subventionen für Treibstoffe auf das gesamte Wirtschaftsmodell aus und thematisieren vor allem die Verteidigung und Anerkennung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft. „70 Prozent der in Ecuador konsumierten Lebensmittel werden von Kleinbäuer*innen produziert. Die Agrarunternehmen, die die Bewässerung und das Land auf sich konzentrieren, ernähren uns nicht, die produzieren für den Weltmarkt“, so Leonidas Iza.

Die indigene Konföderation CONAIE berief Ende Oktober alle sozialen Organisationen ein „Parlament des Volkes“ ein. Gewerkschaften, Studierende, Akademiker*innen, Frauenorganisationen und Umweltschützer*innen arbeiteten dort zusammen an Vorschlägen für eine zukünftige Wirtschaftspolitik. Als das Dokument Ende Oktober offiziell der Regierung übergeben wurde, hieß es herablassend, man werde den Vorschlag genauso berücksichtigen wie 60 andere, die man schon erhalten habe. Wurden die Indigenen beim Dialog am 13. Oktober noch als legitime Repräsentant*innen der Bevölkerung behandelt, so degradieren Regierung und rechte Presse sie nun wieder zu unbequemen Hinterwäldler*innen.
Der erarbeitete Vorschlag beansprucht eine tiefgreifende Veränderung. „Es ist uns bewusst, dass die Diskussion um Treibstoffsubventionen in eine langfristige Strategie der Energiewende eingebettet sein muss, um in einer postextraktivistischen Gesellschaft der globalen Erwärmung entgegenzuwirken“, heißt es etwa. Um die Staatskassen zahlungsfähig zu halten und gleichzeitig den im Land produzierten Reichtum gerecht zu verteilen, schlägt man eine progressive Einkommenssteuer vor, die für die 270 größten Unternehmensgruppen im Land um vier Prozent erhöht werden soll, sowie eine Vermögenssteuer von einem Prozent bei gleichzeitiger Senkung der Mehrwertsteuer. Für einen „zivilisatorischen Perspektivwechsel“ soll unter anderem die Gemeinschaftsökonomie gestärkt werden. Alle Bergbaukonzessionen sollen einem Audit unterzogen und die Großkonzessionen zurückgenommen werden. Auch die Ausweitung der Ölförderung im Amazonasgebiet soll gestoppt werden. Neben der Förderung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft und der traditionellen Fischerei soll auch der Tourismus ausgebaut werden, jedoch umwelt- und sozialverträglich. Zuletzt wird eine Offenlegung der Vereinbarungen mit dem IWF gefordert.

Ein Maßnahmenpaket der Regierung für die Förderung ländlicher Gebiete kritisierte die CONAIE als „unglaublich“. Viele dieser Maßnahmen hätten sie bereits vor zwei Jahren in einem Dialogprozess gefordert, heißt es in einer Presseerklärung. Das Paket sieht u.a. neue Kreditlinien für Bäuer*innen, die landesweite Direktvermarktung landwirtschaftlicher Produkte, die Registrierung von Fahrzeugen, die der Landwirtschaft und dem Personentransport dienen, sowie die Wiedereröffnung von 500 ländlichen Schulen vor. Auch hat Moreno dem Parlament einen Gesetzentwurf für die „Transparenz der staatlichen Haushaltspolitik“ vorgelegt. Eine Gruppe von Wirtschaftsexpert*innen äußerte in einem Manifest ihre Sorge darüber, dass dieses Gesetz genau den vom IWF gestellten Bedingungen entspricht und gleichzeitig die wirtschaftliche Stabilität und die Dollarisierung gefährdet – in Ecuador ist seit der Bankenkrise 1999 der US-Dollar Landeswährung. Moreno möchte die Stabilitätsauflagen für private Banken lockern und so ihren Einfluss auf die staatliche Finanzpolitik und die Zentralbank stärken.

Wie es scheint, hat die Moreno-Regierung aus dem Aufstand nur „gelernt“, dass sie beim nächsten Mal besser vorbereitet sein will. So nimmt sie offenbar auch ein Wiederaufflammen der Proteste in Kauf. Bisher ist das Tauziehen um die künftige wirtschaftspolitische Ausrichtung Ecuadors noch in vollem Gang, genauso wie das um Legitimität in der Öffentlichkeit.

 

ECUADORS INDIGENE MELDEN SICH ZURÜCK

Brennende Barrikaden Straßenproteste in Ecuadors Hauptstadt Quito // Foto: Miriam Lang

Die Übereinstimmung der Zahlen ist frappierend: Einen Kredit von vier Milliarden und 200 Millionen Dollar will die ecuadorianische Regierung unter Lenín Moreno vom Internationalen Währungsfonds. Um den zu bekommen, muss sie bestimmte Strukturanpassungsmaßnahmen durchführen: Unter anderem die staatlichen Subventionen für Treibstoffe streichen und die Diesel- und Benzinpreise dem Weltmarktniveau anpassen; aber auch Arbeitnehmer*innenrechte zurücknehmen, um den Arbeitsmarkt zu flexibilisieren. Soziale Organisationen haben errechnet, dass es genau vier Milliarden und 295 Millionen Dollar sind, die Lenín Moreno in den vergangenen Jahren Banken und großen Unternehmen an Steuerzahlungen erlassen hat. Es handelt sich also, so wird argumentiert, um eine eindeutige Umverteilungsmaßnahme von unten nach oben.
Die breite Bevölkerung muss zahlen, damit die Eliten noch reicher werden. 554 Millionen Dollar Profit sollen die Banken allein 2018 gemacht haben, während nun die Gehälter von Staatsangestellten mit Gelegenheitsverträgen pauschal um 20 Prozent gekürzt werden sollen. Zehntausende werden aus dem Staatsapparat entlassen, in eine Ökonomie, die stagniert und kaum Arbeitsplätze zu bieten hat.
Eine Erhöhung der Benzin- und vor allem Dieselpreise bedeutet eine unmittelbare Verteuerung der allgemeinen Lebenshaltungskosten. Die Busfahrkarten im öffentlichen Nahverkehr werden um zehn Cent teurer, aber auch Lebensmittel und Dienstleistungen. Nicht nur, weil die Transportkosten aufgrund des zunächst um 123 Prozent verteuerten Treibstoffs tatsächlich steigen, sondern weil Transportunternehmen und Zwischenhändler*innen obendrein die Gelegenheit nutzen, ihre Gewinnspanne zu erhöhen. Das ist der Hauptgrund für die massiven Proteste, die seit dem 3. Oktober in Ecuador ausgebrochen sind und das Land lahmgelegt haben.
Es geht nicht etwa um eine umweltfreundliche Politik, die die Menschen von der privaten PKW-Nutzung auf öffentliche Verkehrsmittel umlenken soll – dafür müsste in einen sauberen öffentlichen Nahverkehr investiert werden, um eine reale Alternative zu schaffen. Der Effekt wird vielmehr eine weitere Vertiefung der Ungleichheit sein in einem Land, in dem die Ökonomie bereits stark monopolisiert ist. Auch die Ökologiebewegung hat sich den Protesten angeschlossen. Eine konsequente Umwelt- und Klimapolitik, so die Organisation Acción Ecológica, würde eine Rücknahme der vielfachen Subventionen und Steuerausnahmen für Erdölfirmen, Bergbau- und Palmölunternehmen erfordern, die jedoch ihre zerstörerischen Tätigkeiten im Land immer mehr ausweiten.
Seit Beginn der Proteste brennen in allen Teilen des Landes Barrikaden, die wichtigsten Verkehrsadern sind blockiert, Zehntausende Menschen sind auf den Straßen und mehrere Präfekturen besetzt. Einige Tage lang waren auch drei der wichtigsten Ölfelder im Amazonasgebiet lahmgelegt, was den Staat an seiner empfindlichsten Stelle trifft. Während Taxifahrer*innen und Transportarbeiter*innen mit den Protesten begonnen hatten, führt nun die indigene Bewegung den Aufstand an, mit Unterstützung der Gewerkschaften und einiger Sektoren der Mittelschichten. Als Antwort auf den von der Regierung für 60 Tage ausgerufenen Ausnahmezustand, der Tausende von Soldat*innen und schweres Gerät auf die Straßen brachte, rief auch die Konföderation der Indigenen Völker Ecuadors (CONAIE) in ihren Territorien den Ausnahmezustand aus und kündigte an, Polizist*innen und Soldat*innen festzunehmen, die diese ohne Erlaubnis betreten. Dies geschah dann auch prompt in der Provinz Chimborazo in den Anden, wo knapp 50 Uniformierte für mehrere Tage festgesetzt wurden.

Zum ersten Mal in zwölf Jahren hebt die Bevölkerung wieder den Kopf


Die größten Demonstrationen von bis zu 40.000 Menschen gibt es in der Hauptstadt Quito. Lastwagenweise kommen Indigene sowie Bauern und Bäuerinnen aus den umliegenden Provinzen und schlagen ihr Lager im zentralen Parque el Arbolito und in Universitäten auf. Die Bevölkerung der Hauptstadt heißt sie mit Decken, warmer Kleidung, Lebensmittel- und Medikamentenspenden willkommen, Großküchen werden spontan eingerichtet, um die Ernährung der Landbevölkerung solidarisch zu gewährleisten. Die massiven Protestmärsche wurden von heftigen Krawallen begleitet, an denen sich vor allem Studierende und andere junge urbane Männer beteiligen und von denen die indigenen Protestteilnehmer*innen sich deutlich distanzieren. Polizei und Armee antworten mit einem Niveau an Repression, wie sie das kleine Andenland bisher kaum kannte, inklusive Angriffe auf Krankenhäuser und Unis. Bis Redaktionsschluss bilanzierte der ecuadorianische Ombudsmann landesweit fünf Tote, über 1000 Festnahmen und über 800 Verletzte. Eine Lösung des Konflikts ist nicht in Sicht. Es geht heute in Ecuador nicht nur darum, eine Regierung zu zwingen, ein vom IWF aufgezwungenes neoliberales Maßnahmenpaket rückgängig zu machen oder sie zu stürzen. Zum ersten Mal seit zwölf Jahren hebt die Bevölkerung Ecuadors wieder den Kopf und zieht mit Massenmobilisierungen gegenüber den Mächtigen und der Oligarchie eine rote Linie. „Einmal mehr gibt die indigene Bewegung uns unsere Würde zurück“, bewertet der Intellektuelle Jaime Breilh die Situation.

Zehntausende auf den Straßen Die indigene Bewegung führt den Aufstand an // Foto: Miriam Lang

Anders als in einigen ausländischen Medien behauptet, drücken die Proteste im Oktober 2019 keineswegs den Wunsch der Bevölkerung aus, den Expräsidenten Rafael Correa (2007-2017) an die Regierung zurückzuholen. Dessen Partei wurde vielmehr bei den Regionalwahlen im März 2019 deutlich abgestraft und gewann lediglich zwei von 23 Präfekturen. Ein harter Kern von Correa-Anhängern und der Expräsident selbst, der sich nach wie vor im belgischen Exil befindet und aufgrund mehrerer Strafverfahren nicht nach Ecuador zurückkehren kann, versuchten jedoch schnell, den Protest politisch für sich zu instrumentalisieren. Während ihre Kritik an der Vertiefung neoliberaler Politik durch die Moreno-Regierung zutreffend ist, vertuschen sie systematisch, dass sie selbst den Weg für diese Politik bereitet und ihre ersten Stadien bereits umgesetzt hatten, beispielsweise durch die Unterzeichnung des Freihandelsabkommens mit der Europäischen Union. Die CONAIE distanzierte sich denn auch deutlich von den correistischen Vereinnahmungsversuchen, während diese der Moreno-Regierung einen willkommenen Vorwand lieferten, um zu behaupten, der Oktober-Aufstand sei lediglich eine von den Correisten aus dem Ausland gesteuerte Verschwörung, und kein Ausdruck echten Unmuts in der Bevölkerung.
Auffällig ist, dass keine der offiziellen Verlautbarungen der CONAIE den Rücktritt von Präsident Moreno fordert, sondern lediglich den seiner Innenministerin María Paula Romo und seines Verteidigungsministers Oswaldo Jarrín. Politischen Analysen zufolge sieht die Moreno-Regierung sich als eine Übergangsregierung, die der expliziten Rechten um den Christdemokraten Jaime Nebot den Weg ebnen soll. Dies hat eine Entsprechung in einem deutlichen Rechtsruck in offiziellen Medien und sozialen Netzen, wo die protestierenden Indigenen und Arbeiter*innen vielfach klassistisch und rassistisch diskriminiert werden. Ein Rücktritt Morenos könnte den Aufstieg der Rechten katalysieren, während der Verbleib dieses relativ schwachen Präsidenten im Amt den Organisationen die Chance gibt, sich wieder stärker in die gesellschaftliche Debatte um die Zukunft des Landes einzumischen.
Hierbei ist es wichtig zu betonen, dass es den Indigenen mehrheitlich um ganz andere Dinge geht als Wahl- und Parteipolitik. Im Vordergrund steht nicht nur die Rücknahme des IWF-Pakets, sondern auch die Abkehr vom Extraktivismus, der rücksichtslosen Ausbeutung von Rohstoffen mit Billigung der Politik. Diese Praxis dringt immer weiter in ihre Territorien vor und bedroht ihre nackte Existenz, sowohl in materieller als auch in kultureller Hinsicht. Wie die Indigenen aus Chimborazo in einer Erklärung darlegten, verlangen sie Reparation für die seit der Kolonialzeit erlittene Ausplünderung. Und zwar nicht etwa in barer Münze, sondern in Form einer radikal anderen Agrarpolitik, die nicht auf die Ausrottung der Kleinbauern- und bäuerinnen und der kommunitären Subsistenzökonomie abzielt, sondern sie stärkt: Der Zugang zu Bewässerung, nicht patentiertem Saatgut und fruchtbarem Land im Kollektivbesitz stehen dabei im Vordergrund, sowie eine systematische Förderung ökologischer Anbaumethoden anstelle von korporativen Saatgut-Kunstdünger-Pestizid-Kits, die die Bauern und Bäuerinnen in die Abhängigkeit des transnationalen Kapitals zwingen. Plurinationalität, seit den 90er Jahren die zentrale Forderung der Indigenen, meint außerdem territoriale Selbstregierung mit eigenen Justiz-, Erziehungs- und Gesundheitssystemen, aber vor allem auch eigenen Formen der Versammlungsdemokratie. Das Recht auf eine Lebensweise, die nicht vom globalen Kapitalismus diktiert wird und von der Moderne nur das nimmt, was die Gemeinschaft souverän entscheidet, das ist es, worum Ecuadors indigene Bewegung im Grunde kämpft.

„ICH KANN NICHT UNTERWÜRFIG SEIN“

Claudia Ancapán Quilape ist Mapuche und arbeitet als Hebamme in Santiago. Sie kämpft als politische Aktivistin für die Rechte von LGBTIQ*-Personen. (Foto: Alea Rentmeister)

Seit kurzem läuft der Dokumentarfilm Claudia – vom Mond berührt in den Kinos. Wie sehen Sie die Rolle der Kunst im Kampf für die Rechte der LGBTIQ*-Community in Chile?
Die Kunst ist der Schlüssel und Antrieb zugleich, um uns sichtbar zu machen. Der Dokumentarfilm ist kein Mega-Hollywood-Film, aber er dient dazu, über das Thema Transidentität zu sprechen. Kunst schafft Realität und lädt zum Denken und Hinterfragen ein. In Chile wurde vielfach versucht, die Erinnerung an die Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur, gegen Frauen, die LGBTIQ*- und indigenen Gemeinschaften auszulöschen. Kunst, Bücher, Filme, Bilder sind Formen, Erinnerung zum Ausdruck zu bringen. Wir müssen dafür kämpfen, diese Erinnerungen zu bewahren. Vielleicht wird unsere LGBTIQ*-Community eines Tages ein Museum errichten, denn wir haben eine Geschichte und die werden wir irgendwann erzählen. Ich gehöre zu einem anderen, unsichtbar gemachten Chile, das als „das Andere“ bezeichnet wird, trotzdem aber Teil dieses Landes ist. Unsere Community wurde zum Schweigen gebracht, verdrängt und unterdrückt, doch das werden wir nicht mehr zulassen, unsere Geschichte muss erzählt werden.

Der Dokumentarfilm wurde schon auf der ganzen Welt auf Festivals gezeigt, kam aber erst vor kurzem in chilenische Kinos. Warum?
Weil sich viele Kulturorganisationen und -orte geweigert haben den Film zu zeigen, vermutlich aus Angst. Aber Francisco (gemeint ist Francisco Aguilar, der Regisseur des Films, Anm. d. Red.) und ich wussten vorher, dass genau das passieren würde, weil Sexualität für viele Menschen in Chile ein Problem ist. Ich erscheine auf dem Titelfoto nackt, denn das Foto soll dazu beitragen, die Unterdrückung der Sexualität in Frage zu stellen. Als ich den fertigen Film gesehen habe, habe ich gesagt: Das ist mächtig, das wird Konsequenzen haben.

Woher kommt die Unterdrückung der Sexualität in Chile?
Grund dafür ist nicht nur die Diktatur, sondern eine koloniale Struktur, die Jahrhunderte weit zurück reicht. Bevor die Spanier kamen, gab es in der indigenen Bevölkerung keinen Genderkonflikt. Es gab dazu eine neutralere Position. Die Religion des Kolonialismus zwang die Menschen dazu, sich vor Gott zu rechtfertigen und ihre Sexualität als etwas Sündhaftes zu empfinden. Machismo und Patriarchat nahmen ihre Stellung ein und positionierten sich als politische Kräfte, deren Konsequenzen die Frauen bis heute zu spüren bekommen. Die Erfolge des Feminismus – wie das Recht auf Abtreibung, auf Verhütungsmittel, sexuelle und reproduktive Rechte − zeigen sich erst allmählich und sehr verspätet.
Die sexuelle Unterdrückung beeinflusst Menschen in jeder Hinsicht. Früher gab es die Klassifizierung, in der Männer an erster Stelle standen, Frauen an zweiter und alle anderen an dritter. Sogenannte Minderheiten wurden in diesem Land lange unsichtbar gemacht. Rette sich, wer „anders“ ist, denn „das Andere“ durfte nicht existieren. Mit dem Aufkommen von AIDS ab 1984 wurde über LGBTIQ*-Personen nur als Homosexuelle gesprochen. Aber dahinter verbarg sich eine ganze Reihe von Identitäten.

Haben Sie das Gefühl, dass es in Mapuche-Communities weniger Diskriminierung von LGBTIQ*-Personen gibt?
Das ist ein sehr aktuelles und noch nicht eingehend behandeltes Thema, weil erst seit kurzem darüber gesprochen wird. Ich bin Indigene, aber ich bin auch trans und ich bin eine Frau. Wenn ich mit Menschen aus meiner Community, also den Mapuche, über dieses Thema spreche, scheint es so, als ob die Akkulturation bei manchen keinen so starken Einfluss gehabt hat. Sie sagen: „Schon unsere Großeltern haben uns davon erzählt, das hat etwas mit dem Mond und ganzheitlicher Liebe zu tun“. Doch diejenigen, die von der Religion beeinflusst sind, greifen dich sofort an: „Nein, das kann nicht sein, das geht gegen Gott“. Durch die Kolonisierung haben auch Menschen indigener Communities diese ablehnende Haltung angenommen. Auch in unserer Community gibt es intolerante und diskriminierende Personen, aber es gibt auch andere, die wissen, dass es vor der Ankunft der Spanier viele kulturelle Manifestationen gab, die genderlos oder transgender waren. Und daraus schöpfe ich, um zu zeigen, dass meine Existenz Fundamente hat.
Vor Jahren war es sehr schwierig, mich an dem Ort zu äußern, wo ich meine Kindheit und Jugend verbracht habe: ein Ort, der nicht nur religiös, sondern oft auch sehr konservativ, rassistisch und misogyn war. Ich bin evangelisch aufgewachsen und war an einer katholischen Schule. Durch die Religion habe ich mich für meine Genderidentität und meine Sexualität schuldig gefühlt. Wenn ich an die Religion und die Sünde glaubte, brächte ich mich um, denn das Einzige, was ich davon verstehe, ist, dass ich keinen Grund zu leben habe, kein Recht zu existieren. Heute verstehe ich, warum ich mich als trans Person wie in einer Blase befunden habe. Es kommt darauf an, woran du glaubst. Ich glaube an Gott, aber nicht im Rahmen der Religion. Wenn ich mich meiner eigenen Kultur zuwende, fühle ich mich frei.

Ende letzten Jahres verabschiedete der chilenische Kongress ein Gesetz zur Genderidentität, das trans Personen ermöglicht, ihren Namen und ihr Geschlecht auf dem Standesamt zu ändern. Das Gesetz wurde bereits 2013 vorgeschlagen. Ein langwieriger Prozess, wie es scheint?
Tatsächlich hat der Prozess schon viel früher angefangen, davor gab es schon zwei Gesetzesentwürfe. Der erste stammt aus den 90er, der zweite aus den 2000er Jahren.
Aber 2013 war die chilenische Gesellschaft durch den Tod von Daniel Zamudio sensibilisiert, einem jungen homosexuellen Mann, der auf grausamste Weise von einer Gruppe Neonazis ermordet wurde. Der Fall ging durch die Medien und führte dazu, dass die Menschen aufwachten. Durch diese Sensibilisierung gelangte der Gesetzesentwurf in den Kongress.
Ich war zweimal im Kongress, um über die Notwendigkeit des Gesetzes zu sprechen. Es war eine ewige Diskussion und währenddessen gab es weiterhin Selbstmorde und Morde an Personen unserer Community, sodass wir eines Tages damit begannen, Lobbyarbeit zu machen. Um Teil des Spiels zu sein, mussten wir Allianzen bilden, die Politik und öffentliche Räume nutzen, um über uns zu sprechen und uns zu zeigen. Schlussendlich wurde das Gesetz verabschiedet.
Ein Teil der Gegner des Gesetzes wollte, dass unsere Ausweisdokumente in irgendeiner Form gekennzeichnet werden, um uns als „anders“ zu kategorisieren. Gegen solche Argumente müssen wir immer noch ankämpfen. Das Gesetz lässt eine Kennzeichnung nicht zu, aber es gab die Absicht. Wie können sie uns markieren? Wir sind doch kein Vieh!

Im Hinblick auf das Gesetz über Genderidentität 2018, das Antidiskriminierungsgesetz 2013, den Oscar für Eine Fantastische Frau 2018, in dem Daniela Vega, eine trans Frau, die Hauptrolle spielt – haben Sie den Eindruck, dass sich die Situation der LGBTIQ*-Community verbessert hat? Oder hat sich letztlich nicht viel verändert?
Das alles sind Errungenschaften für eine inklusivere Gesellschaft, aber jede Errungenschaft hat ihren Preis. Daniela Vega hat Chile verlassen, denn abgesehen davon, dass es hier keine Filmindustrie gibt, die Kultur und Kunst achtet, hat man in den sozialen Netzwerken unglaublich viele Hasskommentare zu lesen. Wenn ich im Fernsehen oder in den Medien erscheine, passiert dasselbe. Aber das ist mir egal. Ich verlasse dieses Land nicht, höchstens im Urlaub. Ich bleibe hier, weil ich mein Land und meine Kultur liebe. Ich möchte aber deswegen nicht Nationalistin genannt werden, weil die konservative Rechte diesen Begriff in sehr negativer Weise benutzt: um Migration, indigene Herkunft und die LGBTIQ*-Community abzuwerten.
Unsere Gesellschaft ist eine gespaltene Gesellschaft. Dennoch müssen wir fähig sein, mit unseren Differenzen zusammenzuleben. Bislang schaffen wir das noch nicht. Unsere Gesellschaft hat so viele Probleme, die mich dazu inspirieren, zur Veränderung beizutragen.

Haben Sie deshalb aus Ihrem persönlichen Kampf einen politischen Kampf gemacht?
Ich glaube, ich bin bereit für die Politik. Ich würde gerne meine Leute repräsentieren, meine indigene Community und meine LGBTIQ*-Community. Ich möchte sie repräsentieren, weil ich gereift bin. Im November 2005 wurde ich von Neonazis vergewaltigt und fast umgebracht, weil ich trans bin. Ich fühle mich verpflichtet, dafür zu sorgen, dass niemand mehr solche Gewalt erleiden muss.
Ich habe Dinge erreicht, die ich erreichen wollte: als Hebamme zu arbeiten, zum Beispiel. Ich habe immer davon geträumt, eine Familie zu haben, einen Partner und zu heiraten. Bisher habe ich es nicht geschafft zu heiraten, aber ich habe einen Partner und eine Familie. Ein immenser Kampf für etwas so simples: sich verlieben zu können, ein Lebensprojekt zu entwerfen. Hätte ich dir gesagt, dass mein Traum wäre, Millionärin zu sein, Schauspielerin, berühmt zu werden…, aber das war nie mein Traum. Mein Traum war es, eine Bibliothek zu haben, ein Haus, einen Partner, eine Familie, es waren sehr einfache Dinge. Nur weil du anders bist, wird dir das Recht dazu abgesprochen. Dagegen kämpfe ich jeden Tag. Aber sie haben nicht gewonnen. Ich wollte unbedingt Claudia sein, das habe ich auch geschafft. Ich bin stolz auf meine indigene Herkunft, ich liebe es, trans zu sein und ich liebe es, Teil der LGBTIQ*-Community zu sein. Ich bin mir meiner Herkunft und meiner Identität bewusst, und ich bin bereit in die Politik zu gehen. Ich bin darauf vorbereitet, dass mich die Rechten angreifen und bereit mich zu verteidigen. Aber anstatt uns anzugreifen sollten wir debattieren und einander begegnen. Ich bin bereit für ein politisches Amt, denn ich glaube das ist meine Zukunft. Ich kann nicht unterwürfig sein, nie mehr!

 

WIDERSTAND IM CHOCÓ

Die autonome Dorfgemeinde von Marcial / Foto: Javier Serna

Kinder sitzen aneinander gekauert in einem Loch in der tiefroten Erde, vielleicht ein, zwei Meter tief. Sie ducken sich verängstigt, ziehen die Köpfe ein, ein paar etwas Ältere drücken die Kleinsten eng an sich. Diese Bilder aus dem Chocó, dem nordwestlichen Department Kolumbiens zwischen Pazifik und Karibik, gingen im August durch die Medien. Aufgenommen mit Handys von Familienangehörigen. Grund für die Situation waren Hubschrauberflüge vom Militär über der Gemeinde. Solche Drohgebärden verängstigen die Menschen, wurden ihre Gemeinden in der Vergangenheit doch immer wieder von Militär und Paramilitär bombardiert.
Hier im Norden Kolumbiens, ein paar Tage mit dem Boot von Panama entfernt, befinden sich zahlreiche Autonomiegebiete von Indigenen und Afrokolumbianer*innen. Sie umfassen insgesamt über 93 Prozent der Fläche des Chocó. Die Autonomie dieser Gebiete wurde in der Verfassung von 1991 legal verankert. Zur Wahrung der ethnisch-territorialen Rechte müssen die Bewohner*innen im Falle einer Intervention auf ihrem Gebiet vorher befragt werden, denn die Landtitel sind kollektiv, können nicht an externe Akteure veräußert, sondern maximal verpachtet werden. In den Gebieten der Indigenen ist zudem die eigene Justiz per Gesetz anerkannt. Im Chocó existieren 120 solcher indigener Autonomieregionen, zumeist bewohnt von Embera und Wounaan.

“Es ist eine Gemeinde von Vertriebenen, die […] seit Jahrzehnten des Bürgerkriegs auf der Flucht sind”

Eine davon ist Jagual-Río Chintadó, in der sich auch das Dorf Marcial befindet. Es liegt am Fluss Chintadó, einem Nebenarm des Atrato, und wurde 1984 von rund 1000 Indigenen gegründet. „Die Geschichte der Siedlung Marcial reicht aber mindestens 500 Jahre zurück“, erzählt Pedrito García von den Wounaan: „Während all dieser Zeit waren wir auf der Suche nach einem geeigneten Territorium, wo der Boden eine gute Ernte garantiert, wo genügend Fische und andere Tiere leben.“ Bevor die Familien in Marcial siedelten, waren sie als Halbnomad*innen in großen Familienzusammenhängen organisiert. Erst mit den Jahren wurden immer mehr Familien in Marcial sesshaft und bauten Häuser. „Es ist eine Gemeinde von Vertriebenen, die wegen der verschiedenen bewaffneten Auseinandersetzungen seit Jahrzehnten des Bürgerkriegs auf der Flucht sind – teilweise waren sie sogar bis nach Panama geflohen“, erklärt García. Die Region ist von dichtem Urwald bewachsen, es gibt keine Straßen oder befestigten Wege, nur über die Flusswege gibt es Zugänge. Die Bezirkshauptstadt ist acht Stunden mit dem Boot entfernt, sofern der Fluss nicht vom vielen Schwemmholz verstopft ist.
Doch selbst der dichte Urwald kann bewaffnete Akteure nicht abschrecken. Heute geht es ihnen vor allem um die Kontrolle der Transportwege für illegale Märkte, für Drogen, Waffen, illegalen Rohstoffhandel mit Ressourcen wie Kupfer, Gold und Coltan. Aber auch illegal geschlagene Edelhölzer werden über das weit verzweigte Flusssystem transportiert – 4.000 Hektar der Regen­wälder im Chocó werden jährlich abgeholzt. Nicht zuletzt boomt das Geschäft mit Ölpalmen auf den gerodeten Flächen. Mit den Monokulturen verlieren die Menschen die Kontrolle über ihre kollektiven Gebiete und ihre Autonomierechte. Die Biodiversität und der biologische Genpool sind von Interesse für die Pharmaindustrie und der Atrato ist von großer Bedeutung als Süßwasserreservoir. Am dramatischsten sind jedoch die Geschäfte mit Migration und Menschenhandel. Der Atrato ist das Nadelöhr für die globale Migration über Mittel- nach Nordamerika. Die Migrant*innen kommen nicht nur aus der Karibik, sondern auch aus Westafrika und Südasien.
Und der kolumbianische Staat? Der vernachlässigt die Bedürfnisse der Menschen vor Ort und verdient kräftig mit an den illegalen Geschäften. Er tritt nicht für die Rechte der Anwohner*innen ein, sondern für die Militarisierung mit Blick auf zu fördernde Ressourcen. So kam es auch unter Mitwirken des Staates zur ersten massiven Vertreibung in den Jahren 1996 und 1998. Damals wurden erste Megaprojekte initiiert und zum Schutz der Interessen der internationalen Firmen die paramilitärischen Gruppen bewusst aufgebaut.

Foto: Andreas Hetzer

Die Folgen sind verheerend. Im Chocó leben 500.000 Menschen – laut Statistikamt sind fast 80 Prozent der lokalen Bevölkerung arm. Zum Vergleich, im nationalen Landesdurchschnitt sind es 28 Prozent. Rund 27 Prozent der Menschen im Chocó leiden unter extremer Armut – in ganz Kolumbien betrifft das sieben Prozent, zumindest nach offiziellen Angaben. In Marcial sind allein in den letzten beiden Monaten acht Kleinkinder an Unterernährung gestorben. Da die bewaffneten Akteure die Zugänge über die Flüsse kontrollieren, kommen Nahrungsmittel und Medikamente nicht an – oder sie werden mit Schutzgeld belegt und werden damit unerschwinglich für die Bevölkerung. Die Folge sei chronische Mangelernährung, weil die Menschen nie ins bäuerliche Leben zurückfinden, so die Ombudsstelle für Menschenrechte in Kolumbien.
Der Krieg dauert bis heute an und hat in den letzten Jahren sogar an Intensität zugenommen. Seit dem Friedensabkommen von 2016 ist nirgendwo in Kolumbien die Vertreibung so massiv, rund 70 Prozent aller aktuellen Fälle finden am Pazifik statt. Die Vertriebenen suchen oft monate- oder jahrelang vergeblich Hilfe in den urbanen Zentren. Die Menschen fliehen, um ihre Kinder vor Zwangsrekrutierungen zu schützen. Zwischen Januar 2018 und Juni 2019 wurden 57 Massenvertreibungen gemeldet – 21.000 Personen sind auf der Flucht. „Wir bleiben in Marcial. Was haben wir sonst für eine Wahl. In anderen Dörfern müssen sie bei jedem lauten Knall fliehen. Dann leben sie im Elend in Riosucio oder anderen urbanen Zentren“, beschreibt García.

21.000 Menschen sind auf der Flucht

Von den Vertreibungen im Jahr 2018 waren laut der UNO vor allem Indigene und Afrokolumbianer*innen betroffen. Im Bezirk von Riosucio, zu dem auch Marcial gehört, wurden laut staatlichen Quellen zwischen 1985 und 2019 mindestens 382 Menschen ermordet, und 190 Menschen entführt, die seitdem verschwunden sind. Seit 2017 wurden 17 Aktivist*innen im Chocó ermordet, davon 9 am Flusslauf des Atrato. Dabei sind die Menschen nicht mitgezählt, die den Landminen zum Opfer fallen. „Das schlimmste, was der Konflikt uns hinterlässt, sind die Minen,“ erzählt García. In der gesamten Region seien sie verlegt. „Eigentlich überall dort, wo es Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen bewaffneten Gruppen gibt, um ihre Einflussgebiete vor ihren Gegnern zu verteidigen“, ergänzt er. Die Embera und Wounaan rufen das Militär zu Hilfe, wenn sie Landminen auf ihrem Gebiet vermuten. Denn nur das Militär hat die notwendige Ausrüstung und Personen mit Spezialausbildung zu deren Räumung und Entschärfung. In allen Autonomiegebieten werden immer wieder Minen gefunden, manchmal tritt nachts ein Tier darauf und explodiert. Gleich hinter dem Sportplatz von Marcial steht ein Schild, das vor dem Betreten des Waldstücks warnt. Eigentlich wären es zur Nachbargemeinde Jagual nur ein paar Minuten zu Fuß. Der einzig sichere Zugang bleibt nur über den Fluss.

Foto: Andreas Hetzer

Und wer legt die Minen? Vor allem Paramilitärs, aber auch Guerilla und sogar das Militär selbst. Es ist schwer nachzuweisen, da die Minen immer selbstgebastelte Sprengkörper sind, die nicht eindeutig einem Akteur zugeordnet werden können. Seit 2015, also inmitten der Verhandlungen der FARC mit der Regierung, sind nun wieder paramilitärische Verbände in der Region verankert – sie lassen Menschen verschwinden und säen Terror unter der Bevölkerung. Die Paramilitärs rekrutieren auch zwangsweise Minderjährige. Ebenfalls wächst der Einfluss der ELN-Guerilla in der Region am Atrato. Seit der Präsident Iván Duque die Verhandlungen mit ihnen abgebrochen hat, ziehen sie sich in ihre traditionellen Gebiete zurück. Unter anderem in den Chocó. Sie sollen viermal mehr Mitglieder haben als noch vor zwei Jahren.
Aber es gibt Widerstand aus den indigenen Gebieten – vollkommen unbewaffnet. „Alles was wir einsetzen, ist unsere Gemeinschaft und die Solidarität untereinander“, beschreibt García. Ein Teil der Gemeinde in Marcial ist damit beauftragt ihr Gebiet zu bewachen. Sie nennen sich selbst Verteidiger*innen des Territoriums und lassen sich an ihrem symbolischen Kommandostab, dem bastón de mando, erkennen, den sie immer mit sich führen. Die Verteidiger*innen werden auf den Treffen der ganzen Dorfgemeinschaft bestimmt. Simón ist einer von ihnen. Mit seinen 31 Jahren gilt der in Marcial geborene junge Wounaan schon als einer der Älteren. Er ist damit beauftragt, die Verteidiger*innen zu koordinieren und ihre Aufgaben einzuteilen. Die Gemeinschaft habe ihn mit dieser wichtigen Aufgabe betraut, weil sie seine Disziplin und seinen Gemeinschaftssinn schätze, teilt er schüchtern und mit leiser Stimme mit. Seit knapp drei Jahren ist er dabei – von Beginn an. Die Idee kam im Austausch mit anderen Indigenen bei einem Treffen in der Hauptstadt Bogotá. „Andere indigene Gemeinschaften haben schon seit vielen Jahren eigene Verteidigungseinheiten, die sie woanders guardia indígena nennen. Wir befinden uns noch im Aufbau und benötigen die Unterstützung von anderen indigenen Völkern, die uns in Theorie und Praxis der Selbstverteidigung schulen können.“ Bisher haben sie sich alles selbst beigebracht und greifen auf den Erfahrungsschatz der Älteren in der Gemeinde zurück.

Unterricht in Marcial "Eine Gemeinde von Vertriebenen" Unterricht in Marcial – “Eine Gemeinde von Vertriebenen” / Foto: Javier Serna

Schon den Kindern ab zwölf Jahren wird in der Schule grundlegendes Wissen zur Verteidigung des Territoriums beigebracht, aber Aufgaben dürfen sie erst ab 18 Jahren übernehmen. In Marcial gibt es 54 Verteidiger*innen, davon 21 Frauen. Die Frauen haben dieselben Aufgaben wie die Männer. Der einzige Unterschied ist, dass sie tagsüber über das Gebiet wachen und die Männer nachts. Der Mut und die Überzeugung, ihre Gemeinschaft und ihr Territorium zu verteidigen, verleiht ihnen die notwendige Kraft, um sich notfalls gegen bewaffnete Akteure zu stellen. „Wenn es gravierende Probleme in einer der Nachbargemeinden gibt, schicken wir eine Kommission zur Unterstützung oder Verstärkung, und umgekehrt. Wir arbeiten immer gemeinschaftlich“, erläutert Simón selbstverständlich. Nur in Ausnahmefällen, wenn die Bedrohung sehr groß sei, werde die gesamte Gemeinde mobilisiert.

In Marcial gibt es 54 Verteidiger*innen, 21 davon sind Frauen.

Die Verteidigung des Rechts zu bleiben geht weit über Marcial hinaus. “Wir verstehen uns als einen kleinen Teil der Bewegung für das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben“, sagt García. Gerade deswegen ist die Verteidigung des Territoriums existenziell. Denn das Territorium bedeutet mehr als nur der Boden. Es gilt den Embera und Wounaan als vitaler Lebensraum, der unmittelbar mit der eigenen Kosmovision und Identität zusammenhängt. Der Erhalt der eigenen Kultur ist deswegen immer auch ein kollektiver Akt des Widerstands gegen die Kolonisierung und Unterdrückung. „In vielen Bereichen sind wir bereits gescheitert, denn die sogenannte Zivilisation, die Konquistadoren und ihre Religion haben viel von unserer Tradition und sogar unsere Sprache zerstört“, sagt García. Im Jahr 1995 hat die Gemeinschaft in Marcial deshalb beschlossen, nach ihren eigenen Ursprüngen und ihrer Kosmovision zu forschen und dieses Wissen zu verschriftlichen. „Denn es gibt kaum schriftliche Überlieferungen. Wir haben quasi von null angefangen“, so García weiter.

Verteidigerin des Territoriums – Frauen haben die gleichen Schutzaufgaben wie die Männer / Foto: Nicolás Achury González

Das Gleiche gilt für die Schule im Dorf. Anfangs gab es ein Gebäude aus traditionellen Naturmaterialien, um den Kindern traditionelles Wissen beizubringen. Allerdings hatten die Kinder nur bis zur fünften Klasse Unterricht, da es keine ausgebildeten Lehrer gab. Später dann setzte die Gemeinde durch, dass der Staat die Lehrer*innen bezahlte, jedoch kamen diese immer von außerhalb und unterrichteten nur auf Spanisch. „Bis 1995 gab es keinen Lehrer mit linguistischen Kenntnissen unserer Muttersprache, aber nun gibt es welche aus unseren eigenen Reihen. Wir haben erhebliche Fortschritte gemacht. Heute sind wir über 300 Wounaan-Lehrer in Kolumbien“, berichtet García stolz, der selbst Lehramt studiert hat und an der eigenen Schule arbeitet. Nun wird besonders in den ersten Jahren Wert darauf gelegt, einen Teil der Lehre in Wounaan und Embera abzuhalten. Zudem wird der Lehrplan selbst entwik-kelt und eigenes Lehrmaterial zu indigener Kultur und Geschichte erstellt. Doch nicht nur die Lehrer*innen und Schüler*innen sind daran beteiligt. „Die Bildung ist ein Gemeinschaftsprojekt. Wir beziehen die gesamte Gemeinde mit ein, denn das Wissen und die Wissenschaft besitzen die Weisen und Ältesten“, gibt sich García sicher. Nicht nur die Bildung, sondern eigentlich alles wird in Marcial gemeinschaftlich organisiert. Jeden Tag kommt die große Versammlung zusammen, an der alle teilnehmen, auch die Kinder über 12 Jahre. García lächelt und sagt: „Deshalb bezeichnen wir die Versammlung als unsere Universität, da wir jeden Tag etwas über die indigenen Rechte und die politische Organisierung des Widerstands lernen.“

* Namen der Autoren von der Redaktion geändert

 

 

WARUM LEBEN WIR IM PARADIES?

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Memo war kurz nach deren Gründung im Juni 2009 Kommandant der Guardia Comunal von Ostula. Seitdem ist ihm bewusst geworden, wie wichtig das Land für die Gemeinde ist. Er hat miterlebt, wie mehrere seiner compañeros von der kriminellen Vereinigung Caballeros Templarios gewaltsam verschwunden gelassen wurden.

Die 1531 gegründete Nahua-Gemeinde von Santa María Ostula an der Pazifikküste von Mexiko ist eigentlich eine paradiesische Gegend. Sie liegt in Aquila, einem der größten Kommunalverbände des Bundesstaates Michoacán und wahrscheinlich einem der rohstoffreichsten. Doch genau dies wird ihren Bewohner*innen zum Verhängnis. Seit 1964 kämpft die Gemeinde um die Wiederaneignung von 1.200 Hektar fruchtbarer Ländereien. Landraub, organisierte Kriminalität und politische Parteien verhindern seit Anfang des 20. Jahrhunderts aber immer wieder, dass die Nahua ihr Land nutzen können.

Pedro lebt in Xayacalan. Das gemeinsame Haus hat er zusammen mit seiner Frau Baudelia gebaut. Beide waren eng mit Don Trino befreundet, einem der beharrlichsten Kämpfer gegen die doppelte Macht aus Politik und organisiertem Verbrechen, der 2011 von den Caballeros Templarios ermordet wurde.

Ein Erlass des Präsidenten im Jahr 1964 ermöglichte zwar der Gemeinde, das Land legal zu nutzen. Doch weder die landwirtschaftlichen Gerichte noch irgendeine andere Behörde erkannten dieses Recht an. Stattdessen ließen sie weiteren Landraub zu, entweder durch die Lokalpolitik in Form von Vertreter*innen der langjährigen Regierungspartei PRI oder, wie in jüngster Vergangenheit, durch das organisierte Verbrechen, insbesondere durch die bekannte kriminelle Gruppe Caballeros Templarios (Tempelritter).

Doña Juana schaut skeptisch nach dem Fotografen. Die mexikanische Essayistin Marina Azahua nannte diese Reaktion ein „unfreiwilliges Porträt“. Aber in Doña Juanas Blick ist auch Neugier. Sie hat seit vielen Jahren Widerstand geleistet und um ihr Land gekämpft. In ihrem hohen Alter hat sie von der Geschichte der Gemeinde Ostula viel mitbekommen: Eine Geschichte von Stärke trotz des großen Leids, trotz Angst und Tod.

Bis 2009 hatte die Gemeinde von Ostula für politische Rahmenbedingungen gekämpft, die eine Legalisierung der wiederangeeigneten Landflächen ermöglichen sollten. Seitdem gehen das organisierte Verbrechen und die Politik gewalttätig gegen die Gemeinde vor. Die Bilanz: 34 Ermordete und sechs Verschwundene. Der eiserne Widerstand und die gesammelte Erfahrung im Kampf gegen solche Repressionen bilden heute die grundlegende Basis für den Zusammenhalt der Gemeinde.

Felipa und Rosendo lächeln in die Kamera, die etwas von der Friedlichkeit einzufangen versucht, in der sie leben. Sie bearbeiten Holz und Palmenblätter und bewahren damit eine Tradition: Sie weben equipales, eine Art kleine Korbstuhlbank die zum traditionellen Mobiliar der Gemeinde gehört. Während der Jahre der Gewalt konnten sie diese Arbeit lange nicht ausüben, weil kriminelle Gruppen das verboten.

Nach einer Offensive gegen die organisierte Kriminalität und institutionelle Korruption gelang es Santa María Ostula im Jahr 2014, mit ihrer selbst gegründeten Kommunalwache Guardia Comunal, die Bewohner*innen zu schützen. Sie beruft sich in ihrem autonomen Handeln auf das Abkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), das in Mexiko Anfang der Neunziger ratifiziert und 2011 in die Verfassung aufgenommen wurde. Das Abkommen gesteht indigenen Gemeinden unter anderem das Recht auf Land und eigene Kultur zu.
Bergbau, Straßenbauprojekte und Tourismus sind eine zusätzliche Bedrohung für Ostula, nicht nur durch die drohende Umweltzerstörung. Die naheliegende Mine Las Encinas des italienisch-argentinischen Unternehmens Ternium übt permanent Druck auf die Nahua-Gemeinde aus: Das Unternehmen will den Bergbau ausweiten und um jeden Preis auch die Grundstücke der Nahua-Gemeinde an sich reißen.

Trueno hat viel dafür gekämpft, dass seine Gemeinde die Landflächen behalten kann, ohne sich unter die Kontrolle des organisierten Verbrechens zu stellen. Seit 2009 – dem Jahr, in dem sich die Gemeinde 1.250 Hektar wiederaneignetete – hat Trueno an allen Initiativen von Ostula teilgenommen. Heute wird diese wiederangeeignete Fläche zum Wohnen und für Landwirtschaft genutzt. Auch Trueno hat hier seinen Wohnsitz.

Ein Abkommen zwischen der bundesstaatlichen Regierung von Silvano Aureoles und dem indischen Unternehmer Lakshmi N. Mittal (ArcelorMittal ist der weltgrößte Stahlproduzent, Anmerkung der Redaktion) bildet eine zusätzliche Gefahr für die Biodiversität der gesamten Küsten- und Gebirgsregion von Michoacán. Der Vertrag besiegelt den Ausbau des Hafens Lázaro Cárdenas sowie die Weiterentwicklung von Bergbauaktivitäten an der fast 300 Kilometer langen Küste – eine Bedrohung für die Sicherheit und Stabilität aller dort angesiedelten Gemeinden.

Ariana hält in der Küche ihre kleine Tochter im Arm, während der Morgen sich langsam über der Hitze des Herdes ausbreitet. Zehn Jahre nach der Wiederaneignung des Landes, auf die damals eine Offensive krimineller Banden und der Politik mit 34 Ermordeten und sechs Verschwundenen folgte, hält sich die Gemeinde heute stabil, vereint und stark. Sie erbaut sich wieder einen Alltag.

Lakshmi N. Mittal, einer der hundert reichsten Menschen der Welt, konnte bei dem Abkommen mit der Regierung drei Forderungen durchsetzen: erstens, dass das organisierte Verbrechen verschwindet, zweitens: die juristische Zusicherung, die Landflächen nutzen zu können. Und drittens: die Abwesenheit von jeglicher Opposition, seien es Umweltschützer*innen oder indigene Gemeinden. Allein letzteres bedeutet ein ökologisches, soziales und kulturelles Desaster.

Alle machen mit Mehr und mehr nehmen junge Frauen eine entscheidende politische Rolle innerhalb der Gemeinde ein. Ihre Unterstützung der Familien, die für das Land kämpfen, macht sie zu gesellschaftlich handelnden Subjekten. Das geben sie auch an die nachfolgenden Generationen weiter.

Trotz der komplexen Situation ist die Nahua-Gemeinde von Ostula für viele ein Vorbild im Widerstand gegen das organisierte Verbrechen und Megaprojekte. Sie steht für ein Streben nach einem friedlichen Leben, im völligen Einklang mit der Umwelt.
Aktuell konnte Santa María Ostula die Sicherheit ihrer Grundstücke verbessern und andere benachbarte Gemeinden stärken, sodass die Region ein wenig friedlicher (und produktiver) ist.
Auf den wiederangeeigneten Landstücken hat die Gemeinde von Ostula eine Ortschaft gegründet: Xayacalan. Hier werden Papaya, Hibiskus, Melonen, Tamarindenfrucht und Mais gesät – statt Marihuana und Mohn. Statt der heimlichen Massengräber, wie sie von der organisierten Kriminalität geschaffen werden, entsteht etwas Neues.

 

BRASILIANISCHES TAGEBUCH

18.9. [2016]
Ein Aktivist der Tupi, der Nachkommen der Urbevölkerung im Gebiet des heutigen Brasilien, hatte mich zu einem größeren Treffen der Guarani bei São Paulo eingeladen. […] In einem großen Haus aus Holz, Bambus und Erde (Adobe), dem „Gebetshaus“ oder „Opy“, fand das offizielle Treffen statt. Es waren Guarani Mbyá aus fünf brasilianischen Bundes­staaten anwesend, die über verschiedene Fragen sprachen, über Landrechte, ihre Kultur, und Dokumente an Regierungs­stellen schrieben und ihre interne Organisation regelten.
Verschiedene Leute redeten. Einer von der Gewalt, die in Brasilien gegen die Indigenen passiert. Seit der Ankunft der Portugiesen. Die offizielle Indigenenorganisation FUNAI mache nichts für die Rechte der Indigenen, meinte einer. Immer wieder gab es Beifall und Zwischenrufe: „Añeteeee!!“ was nach meinen Guaranikenntnissen bedeuten musste: „richtig!“ Añete bedeutet „Wahrheit“, wie ich mich von Guaranibüchern aus Paraguay erinnerte.
Einer sagte, die Indigenen hätten immer den Wald („mata“) bewahrt, die Eindringlinge aus Europa aber alles zerstört. Ein anderer, der wie er sagte, 1950 geboren wurde, erzählte, dass er sich an sein Land erinnerte, wie es war, als er erst 6 Jahre alt war; aber jetzt gebe es die mata (Wald) nicht mehr, keinen Fisch im Flusse, kein Wild („caça“) im Wald mehr, nicht mehr, wovon der Guarani sich ernähre.
An einem anderen Tag redeten alle auf Guarani. Da verstand ich nichts außer den Zwischenrufen „Añeteee!“

11.4. [2018]
[…]
In einer U-Bahnlinie in São Paulo höre ich regelmäßig die Durchsage, dass bettelnden Menschen bitte nichts gegeben werden solle. Dies erinnert mich an das Mittelalter, besser gesagt an das 16. Jahrhundert in Europa, als sich das Privateigentum durchsetzte und Massen an Menschen besitzlos wurden und man begann, die Ausgeschlossenen auch noch dafür zu beschuldigen, dass sie arm waren. Auf den Straßen mitten in São Paulo sehe ich schlecht gekleidete Männer, die riesige Wagen mit Müll hinter sich her ziehen. Warum tun sie das in einem Zeitalter, wo es bereits Autos gibt, mit denen man den Müll wegtransportieren kann? Weil das für sie eine Einkommensquelle ist. Die Regierungen von Lula und Dilma Rousseff haben zwar nicht den Neoliberalismus, schon gar nicht den Kapitalismus abgeschafft, sondern nur an „Symptomen“ gearbeitet, Sozialprogramme durchgeführt, die Situation der Menschenrechte in vielen Bereichen verbessert, aber das war besser als die Politik der jetzigen Regierung, die alle Reichtümer Brasiliens an große Unternehmen vermacht. Auch einem Bettler etwas zu geben, ändert scheinbar nur etwas an „Symptomen“; aber auf der anderen Seite bedeutet jede wirkliche Hinwendung zu armen oder unterdrückten und ausgeschlossenen Menschen eine Delegitimierung des Systems, das sie ausschließt, und den konkreten Menschen zu bejahen.

„UNSERE STIMME NACH EUROPA BRINGEN“

Indigenes Protestcamp 2019 Jedes Jahr findet mit dem Acampamento Terra Livre die größte indigene Versammlung mit tausenden Teilnehmer*innen in Brasilia statt // Foto: Edu Marin / Flickr (CC BY 2.0)

Es sind nun sechs Monate vergangen, seitdem Jair Bolsonaro die Präsidentschaft übernommen hat – hat sich in dieser Zeit die Lebenssituation der Guarani Kaiowá verändert?
Alenir Ximendes: Diese Veränderung findet seit der Regierung des vorherigen Präsidenten Temer statt. Temer hat begonnen, was Bolsonaro jetzt fortsetzt. In den sechs Monaten, in denen Bolsonaro an der Macht ist, haben wir das Gefühl, dass er die Rechte der Guarani Kaiowá zerstört. Und nicht nur unsere Rechte, sondern auch die Rechte der ganzen Gesellschaft mit seinen präsidialen Initiativen zu Bildung, Gesundheit und Altersversorgung.
Janete Ferreira: Die brasilianische Politik war gegenüber indigenen Angelegenheiten niemals wohlwollend. Um etwas zu erreichen, mussten wir indigenen Völker immer Druck auf die Regierungen ausüben und auf die Straße gehen. Auch wenn wir nicht parteipolitisch orientiert sind, sind wir doch ein Volk, das wählt, wir haben Ideen, wir schaffen Neues und wir verteidigen, was uns wichtig ist. Wir machen unsere Politik, die unserer Art zu leben entspringt. Wir sind nicht verpflichtet, die Politik anzunehmen, die von den brasilianischen Politikern kommt, wir haben unsere eigene. Und meistens wird das, was wir wollen, von der brasilianischen Politik nicht akzeptiert, für sie ist das ohne Bedeutung: das Recht auf Land, die Verteidigung der Natur. Sie übersehen dabei, dass wir die Humanität verteidigen, das Leben. Weil ihnen das nichts bedeutet.

Was ist das Ziel Ihrer Reise durch Europa?
A.X.: Wir können uns mit unseren Anliegen nicht an die politischen Repräsentanten wenden, sei es der Präsident, der Gouverneur oder lokale Abgeordnete. Im April sind wir zum jährlichen Protestcamp Acampamento Terra Livre nach Brasília gefahren, wir haben demonstriert, Gespräche mit Politikern geführt und ein gemeinsames Dokument übergeben. Bisher haben wir keine Antwort erhalten, nichts hat sich geändert.
Ende letzten Jahres hat uns eine Delegation der Euopäischen Union besucht. Seitdem haben wir nichts mehr von der EU gehört und es ist kein Bericht erschienen, der unseren Präsidenten unter Druck setzen könnte. Es beunruhigt uns sehr, dass dieser Prozess so langsam ist, denn während wir warten, bleiben die großen Landbesitzer nicht untätig. Wir wollen die Stimme der Indigenen nach Europa bringen, um zu erreichen, dass das Ausland sich ebenfalls dafür verantwortlich fühlt, dass die Rechte der Indigenen in Brasilien respektiert werden.

Denken Sie da zum Beispiel an einen Boykott von brasilianischem Soja, solange die Rechte der Indigenen verletzt werden?
A. X.: Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht, aber deutsche Firmen exportieren Pestizide in unsere Region, die in Deutschland verboten sind. Sie sagen, dass sie für den Einsatz nicht verantwortlich sind, aber das stimmt nicht. Denn immerhin geht es um die Gesundheit von Menschen. Sie verkaufen in Mato Grosso, was sie in der EU nicht mehr verkaufen dürfen.
J.F.: Die Politik der Regierung Bolsonaro, jetzt noch mehr Pestizide zu erlauben, wird viele Indigene aus unseren Gemeinden töten. Schon jetzt verursachen die Pestizide viele Krankheiten, auch in meiner Familie: Hautausschläge, Übelkeit und Erbrechen, verschiedene Formen von gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Und wir wissen nicht, welche Heilmittel gegen die Vergiftungen helfen, deshalb müssen wir dann ins Krankenhaus. Gleichzeitig ist unser Land durch die Ackergifte wie eine Wüste, so dass wir gar keine Heilkräuter mehr sammeln können. Also müssen wir auch bei anderen Krankheiten ins Krankenhaus. Und es gibt in unseren sieben Gemeinden nur ein einziges Auto, das Kranke dorthin bringen kann. Es dauert lange, bis es kommt, wenn wir es brauchen, denn die Gemeinden liegen alle zehn Kilometer von einander entfernt.

Foto: Wolfgang Günzel, Weltkulturen Museum Frankfurt

ALENIR XIMENDES TEHOKÁ UND JANETE FERREIRA
Alenir Ximendes Tehoká (rechts) ist Repräsentantin der vier Versammlungen der Guarani Kaiowá in Mato Grosso do Sul und Lehrerin in der Gemeinde Antonio João. Jenete Ferreira (links) ist eine der Führungspersönlichkeiten der Kaiowá aus Guapo’Y Amombai in Mato Grosso do Sul. Beide sind in der Frauenorganisation Kuñangue Aty Guasu aktiv. 

 

Hat die Repression gegen die indigenen Gemeinden in ihrer Region in den letzten sechs Monaten zugenommen?
A.X.: Die Situation war schon vorher sehr schlecht, es gibt sehr viel Gewalt in unserer Region. Viele Guarani Kaiowá werden ermordet und es wird als „Unfall“ getarnt. Meistens sind es Viehtransporter, die die Menschen auf der Straße einfach überfahren. Das ist wirklich sehr schmerzhaft für die Familien, weil sie die Körper ihrer Angehörigen meistens nicht einmal mehr sehen können und die Blutflecken auf den Straßen nicht beseitigt werden. Sie werden getötet wie Tiere. Und wir haben niemanden, an den wir uns wenden und um Hilfe bitten können.
J.F.: Das sind keine „Unfälle“, in den retomadas (s. Infokasten, Anm. d. Red.) werden viele Menschen aus Hass oder Wut getötet. Wenn sie alleine auf der Straße sind – umso besser. In den Medien heißt es dann, die Opfer wären betrunken gewesen oder hätten Drogen genommen. Aber wenn wir uns die Fälle anschauen, dann ist das sehr unwahrscheinlich. Und die staatlichen Organe interessiert das überhaupt nicht. Ohne konkrete Fakten wie ein Foto oder ein Handyvideo können wir gar nichts machen. Die Polizei untersucht die Fälle nicht, denn meistens sind sie Familienangehörige, Freunde oder sonstwie mit den Mördern verbandelt.

Sie sind beide in der Frauenorganisation Kuñangue Aty Guasu aktiv, wie ist die Situation der Frauen der Guarani Kaiowá in Mato Grosso do Sul?
J. F.: Es ist für Frauen besonders schwierig an den Orten, an denen sie keinen Zugang zu irgendetwas haben, zu Nahrungsmitteln, Gesundheitsversorgung oder Bildung. Dort, wo sie keine Form der Unterstützung erhalten, auch nicht für ihre Kinder. Oft werden sie auch in Krankenhäusern nicht richtig behandelt und sterben. Indigene Frauen aus den retomadas werden als Invasorinnen betrachtet, sie verdienen keine Aufmerksamkeit und keine Unterstützung.
Und viele Frauen verstehen es nicht, für sich zu sprechen, zu diskutieren und für ihre Rechte zu kämpfen. Sie bleiben in ihrer vertrauten Umgebung, in ihrem Haus, sie sprechen nicht öffentlich. Kuñangue Aty Guasu ist eine Gruppe von Frauen, die andere Frauen dabei unterstützt, lauter zu sprechen, Mut zu haben und mit allem fertig zu werden.

Sie leben in zwei unterschiedlichen Regionen, die rund 200 Kilometer von einander entfernt sind. Wie verläuft jeweils in Ihrer Region der Prozess der Anerkennung der indigenen Territorien? Welche Erwartungen haben Sie in Bezug auf die Politik von Bolsonaro, wird er alle Demarkierungen stoppen können?
A.X.: Der Prozess der Demarkierung ist in unserer Region doch schon gestoppt worden! Seit 2005 passiert gar nichts. Und in vielen indigenen Gemeinden ist es genauso. Insofern erwarten wir gar nichts von diesem Präsidenten. Bolsonaro hat ja sehr deutlich gemacht, dass er nicht vorhat, irgendetwas zu tun. Aber das kann sich auch ändern – durch Druck aus dem Ausland. Wenn sie in den ausländischen Medien darüber berichten, wie er die Indigenen behandelt, wie er die Guarani Kaiowá in ihrem eigenen Bundesstaat abwertet, dann ist das schlecht für ihn. Deshalb bitten wir hier um Hilfe.
J.F.: Wir erwarten keinen guten Willen von Bolsonaro, um unser Land zu demarkieren. Die Anerkennung der indigenen Territorien war immer ein sehr langsamer Prozess und so haben sie uns dazu gebracht, selbst die Demarkierung durchzuführen. Eigentlich haben sie die retomadas provoziert. Sie sprechen über „Eindringen in Privatbesitz“, aber eigentlich hätten die Behörden die Probleme mit den lokalen Landbesitzern lösen  müssen. In vielen Fällen haben die Behörden die Konflikte zwischen den Indigenen und den lokalen Landwirten erst entstehen lassen. Sie nähren Streit und Hass in allen nicht-indigenen Familien. Das Interesse an den Demarkierungen ist indigen, es ist kein staatliches Interesse. Das Land sichert unser Überleben, wir nehmen uns nur das, was uns gehört. Wir fordern von diesem Präsidenten, dass er uns endlich die Dokumente über unser traditionelles Land ausstellt.

 

„FÜR EINEN INDIGENEN DAS SCHLIMMSTE, WAS PASSIEREN KANN“

Illustration: Joan Farias Luan, www.cuadernoimaginario.cl

…ich komme aus Miraflores und wuchs dort im indigenen Reservat El Gran Cumbal, in der Nähe von Pasto an der Grenze zu Ecuador auf. Unsere Nachbarn sind die Awá, die dort auch in Reservaten leben. Wir alle leiden unter einem brutalen Konflikt. Unsere Region war lange Zeit unter der Kontrolle der FARC (Bewaffnete Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens, Anm. d. Red.). Zum Friedensprozess haben einige ihre Waffen abgegeben und andere gründeten Dissidentengruppen wie die Frente Oliver Sinisterra in unserer Region. Diese kämpfte gegen die ELN (Nationale Befreiungsarmee, Anm. d. Red.) um die Vorherrschaft in unserer Region. Auch die Präsenz von Paramilitärs nahm zu. Vor allem die Awá leiden unter ihnen, viele wurden von Paramilitärs ermordet.

Worum geht es bei diesen Kämpfen?
Dabei geht es um Kokain und Gold, vor allem der illegale Bergbau ist ein Problem. Außerdem wird über die Grenze viel geschmuggelt, zum Beispiel Waffen. Es ist bei uns für einen Bauern viel rentabler, Kokain oder Mohn zu kultivieren als Kartoffeln. Doch mit dem Drogenanbau ändert sich auch das Zusammenleben. Deswegen haben wir vom Indigenen Rat immer versucht, die Leute davon abzubringen, Kokain anzubauen. Wir Indigenen wollen keinen dieser bewaffneten Akteure in unserer Region haben. Keine Paramilitärs, keine Guerilla. Die benutzen die Angst, um die Dörfer unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie töten einen oder zwei Anführer aus dem Dorf und alle folgen ihrer Herrschaft. Darum haben sie auch meine Familienmitglieder umgebracht, zwei Onkel und eine Tante.

Als wir 2003 von unserem Land vertrieben wurden, trug mein Großvater mir auf, es zu verteidigen.

Waren die auch Oberhäupter der Gemeinde?
Ja. Mein Onkel brachte jeden Tag die Milch vom Land ins Dorf, um sie dort zu verkaufen. Er war wichtig für die Wirtschaft unseres Reservats. Mein Vater war zuständig für die Bildung, er war Lehrer. Mein anderer Onkel wiederum war einer der wichtigsten Bauern und mein Großvater war der politische Anführer. Wie also bringst du ein Dorf unter Kontrolle? Indem du die zentralen Personen umbringst und so Angst säst.

Sie haben von den Anstrengungen der Gemeinde erzählt, die Jugendlichen davon abzubringen, in den Kokainhandel einzusteigen oder sich einer bewaffneten Gruppe anzuschließen. Wie kann das gelingen?
Nach den Morden an meiner Familie 2003 floh ich zunächst nach Cali. Ich sollte aber weiter für den Indigenen Rat mit Jugendlichen arbeiten. Ich versuchte, die Jugendlichen zu motivieren, an die Universität zu gehen. Dann half ich ihnen auch mit den Dokumenten, der Bewerbung. In Cali gründeten wir ein Studentenwohnheim für indigene Studierende und einen Indigenen Rat in der Universität, damit die Jugendlichen, die aus den Dörfern in die Stadt kamen, nicht ihre Traditionen und ihre Wurzeln verlieren. Das war interessant, weil wir Indigene aus verschiedensten Regionen Kolumbiens waren. Wir luden indigene Anführer nach Cali ein, um uns weiterzubilden.

Was haben Sie eigentlich studiert?
Agrarwissenschaften und später dann in Neiva Erdölingenieurswissenschaften. Ich wollte wissen, wie die Erdölgewinnung funktioniert, damit wir uns dann besser gegen die Ölkonzerne verteidigen und ihre Informationen überprüfen können. Ich konnte mein Studium aber nicht beenden, da ich wieder mit dem Tode bedroht wurde.

Wie kam es zu diesen Bedrohungen?
Als wir 2003 von unserem Land vertrieben wurden, trug mein Großvater mir auf, es zu verteidigen. Nun gibt es in Kolumbien aber ein Gesetz, wonach derjenige, der ein Land zehn Jahre bearbeitet, automatisch zum Landbesitzer wird. Also bemühten wir uns 2013 um die Rückgewinnung unseres verlorenen Landes und ich stellte den Antrag dazu. Die dafür zuständige Person in Nariño war eine Bekannte von mir. Ich dachte also, dass die Chancen gut stünden, unser Land zurückzuerhalten. Weißt du, was sie mir sagte? Dass wir in meiner Region die einzigen Antragsteller gewesen wären und deswegen zunächst alle anderen Regionen bearbeitet würden. Und das kann Jahrzehnte dauern.

Was passiert zur Zeit mit dem Land, das Ihnen gehört hat?
Dort wird Kokain angebaut. Ich habe mehrere Versuche gestartet, das Land mit der Guardia Indigena zurückzuholen. Doch so konnten wir die Leute nicht vertreiben.
Stattdessen erhielt ich Bedrohungen und musste erneut nach Cali fliehen. Als die Bedrohungen nicht aufhörten, ging ich nach Palmira und schließlich nach Neiva. Schließlich wurde mir gesagt, dass ich Kolumbien verlassen müsste. Die ELN hatte einen meiner Schulfreunde umgebracht. Sie zogen ihn um 5 Uhr morgens aus seinem Haus und schossen 16 Mal auf ihn. Am nächsten Tag riefen sie das Dorf zusammen und sagten, dass sie ihn ermordet hätten, weil er ein Informant der Paramilitärs gewesen sei, und dass sie zwei weitere Menschen umbringen würden, von denen einer ich war. Dann erhielt ich eine SMS, in der stand, ich hätte sieben Tage, um zu verschwinden. Ich wandte mich an die Opferschutzbehörde des Staates, doch die sagten, sie bräuchten zwei Wochen, um die Ermittlungen aufzunehmen und über Schutzmaßnahmen für mich zu entscheiden. Später erzählte mir ein Bekannter, der für dieselbe Behörde arbeitet, dass sie kaum Gelder zur Verfügung hätten und sogar die schusssicheren Westen ausgegangen seien.

Die Bedrohungen haben Sie bis in verschiedene Städte weiterverfolgt?
Ja, das funktioniert systematisch. Der Landbesitzer, der mich umbringen lassen möchte, kann verschiedenste Gruppen an unterschiedlichen Orten damit beauftragen. Und diese Bedrohungen werden in vielen Fällen auch wahr gemacht.

Trotz dieser schwierigen Situation gibt es eine starke indigene Bewegung im Südwesten Kolumbiens. Wie erklärt sich diese?
Dafür ist es wichtig, die indigene Gemeinschaft zu verstehen. Unsere Einheit war immer unsere Stärke. Bei uns hat sich die Individualisierung nie so durchgesetzt wie im Rest Kolumbiens. Dazu gehört auch, dass alle unsere Entscheidungen in Versammlungen getroffen werden. Wenn jemand einen Fehler begeht, entscheidet die Gemeinschaft, welche Form der Bestrafung er erhält. Das stärkt die Gemeinschaft. Uns wurde immer beigebracht, dass wir verschwinden, wenn wir nicht stark genug sind. Wenn wir nicht zusammenhalten, verschwinden wir. Es ist also auch ein Schutzmechanismus. Es sind Kämpfe, die notwendig sind, aber auf die wir eigentlich keine Lust haben. Wer will protestieren gehen, Straßen blockieren und sich einer bewaffneten Gruppe entgegenstellen? Aber wir sind dazu gezwungen, weil die Regierung nie die Versprechen uns gegenüber eingehalten hat. Die Minga, unser Protest, hat dieses Jahr viel Aufmerksamkeit erhalten, das ist gut. Aber eigentlich machen wir das jedes Jahr.

Wird auch Ihre Arbeit mit den Jugendlichen vor Ort weitergeführt?
Nein, gerade nicht. Mein Freund Miguel Ángel hatte die Aufgabe übernommen und kümmerte sich um die Jugendlichen des Reservats. Er wurde dieses Jahr am 1. Mai umgebracht. Ich habe nun den Kontakt zum Reservat etwas abgebrochen, seit ich in Deutschland bin. Aus Sicherheitsgründen, meine Familie ist ja noch dort und auch in Gefahr. Dazu kommt, dass für einen Indigenen das Verlassen des Landes das Schlimmste ist, was ihm passieren kann. Das ist, wie wenn dir jemand das Herz bricht. Innerhalb unserer Gemeinschaft bestrafen wir Menschen, die schwere Verbrechen begangen haben damit, dass sie ihre Dörfer verlassen müssen. Deswegen wollte ich nie das Land verlassen, ich versteckte mich lieber, lebte fern von meiner Familie, wechselte meine Wohnorte. Aber dann gab es keine Alternative mehr. Eines Tages sagte mir die staatliche Menschenrechtsverteidigerin: „Christian, du musst Kolumbien verlassen, es gibt keine andere Möglichkeit.“

Welche Erfahrungen haben Sie bei Ihrem Asylantrag in Deutschland bisher gemacht?
Für mich kam das alles sehr schnell. Die Menschenrechtsverteidigerin sagte, Deutschland sei ein gutes Ziel. Sofort kaufte ich das Ticket und einen Ratgeber „Wie ich mich in Deutschland verhalte“ (lacht). Am Flughafen in Deutschland wurde ich mehrere Stunden festgehalten, bis sie mich schließlich zur Erstaufnahmestelle schickten. Es war 11 Uhr nachts und ich hatte Angst, da man in Kolumbien nachts nicht einfach so rumlaufen kann. Jetzt weiß ich, dass das hier kein Problem ist. Ich habe meinen Antrag gestellt, aber ich habe kaum Informationen darüber, wie genau der Prozess weitergeht. Für mich ist das neu und alles sehr fremd, wie ein Sprung ins kalte Wasser. Ich wohne derzeit in einer Geflüchtetenunterkunft und es gibt einfach nichts zu tun. Alles ist verboten für mich – dabei bin ich ein Mensch, der gerne unterwegs ist, arbeitet und Pläne schmiedet. Dafür kann ich ohne Angst leben. Manchmal wache ich nachts auf und denke, dass ich immer noch in Kolumbien bin. Und dann erinnere ich mich wieder daran, dass es hier sehr ruhig und sicher für mich ist.

ZWISCHEN CHINA UND USA


Wahlsieger Laurentino ‘Nito’ Cortizo // Foto: Wikimedia, (CC BY-SA 4.0)

Am Ende wurde es eine Hängepartie: Erst kurz vor Mitternacht – Stunden später als erwartet – erklärte die Wahlbehörde am 5. Mai Laurentino ‘Nito’ Cortizo von der Revolutionären Demokratischen Partei (PRD) zum Sieger. Er gewann mit 33,5 Prozent der Stimmen, nur rund 45.000 mehr als Rómulo Roux von der konservativen Partei Demokratischer Wandel (CD), der auf 31,15 Prozent kam.

Verschiedene Korruptionsskandale seit Bekanntwerden der „Panama Papers“ hatten vor der Wahl für großen Unmut gesorgt. Neben der Wiederbelebung der Wirtschaft und der Bekämpfung der Armut zielten Cortizos Wahlversprechen daher besonders auf die Eindämmung der Korruption sowie Verfassungsänderungen zur Konsolidierung der Demokratie. Cortizo betonte etwa, dass bei Verfehlungen künftig keine Politiker*innen mehr unantastbar sein würden und kündigte an, der Korruption überführte Firmen wie den aus Brasilien stammenden Baukonzern Odebrecht landesweit von Aufträgen ausschließen zu wollen. Die als abhängig wahrgenommene Justiz solle stark und unabhängig werden. Aufbauend auf Empfehlungen der Nationalen Konzertation für die Entwicklung, einem dauerhaften Dialogforum unter Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen, sollen einige Verfassungsänderungen vom Parlament beschlossen und anschließend der Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt werden. Nach den Skandalen hofft Cortizo so auch, den internationalen Ruf Panamas sowie den „Nationalstolz“ wiederherzustellen.

Bei der gleichzeitigen Parlamentswahl war mit Spannung erwartet worden, wie stark sich die Kampagne #NoalaReelección mit ihrem Engagement gegen die Wiederwahl von korrupten Abgeordneten auswirken würde. Die Kampagne gab sich als Bürger*innenbewegung, war jedoch maßgeblich von der Oligarchie initiiert worden. Auf den ersten Blick war sie erfolgreich: Nur 14 von 50, d.h. 28 Prozent der sich zur Wiederwahl stellenden Abgeordneten wurden erneut gewählt, der geringste Wert seit 1994. Fünf Abgeordnete werden parteilos sein, vier mehr als bisher. Die einzige de facto nicht-neoliberale Partei Panamas, die linke Breite Front für die Demokratie (FAD), hat keinen Sitz im Parlament bekommen und blieb als einzige Partei landesweit unter zwei Prozent der Wähler*innenstimmen. Sie muss sich nach den gesetzlichen Bestimmungen daher auflösen. Cortizos Wahlbündnis „Uniendo Fuerzas“ aus PRD sowie der Molirena-Partei kam dagegen nach Auszählung aller Stimmen auf eine Mehrheit von 40 der 71 Sitze.

Was ist von dem ehemaligen Unternehmer zu erwarten?

Cortizo hat also im Prinzip freie Bahn. Was ist ab der Amtsübergabe am 1. Juli von dem ehemaligen Unternehmer zu erwarten, dessen Partei formell Mitglied der Sozialistischen Internationalen ist? Nach der Wahl auf seine ideologische Verortung angesprochen, sagte er dem Sender Telemetro: „Ich bin pragmatisch. Private Investitionen schaffen Arbeitsplätze und erhöhen so den Konsum. Das ist sehr wichtig, um einem Land mit solcher Armut und Ungleichheit wie Panama zu helfen. Dabei geht es nicht um rechts oder links.“ Cortizo sieht sich als Vermittler zwischen den gesellschaftlichen Gruppen, zwischen Unternehmer*innen, Arbeiter*innen und Bauern und Bäuerinnen. Konkret bedeutet das etwa: Die Verbesserung der Qualität im Bildungssystem, eines seiner Anliegen im Wahlkampf, versteht er insbesondere als stärkere Ausrichtung an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes. Cortizo möchte, dass sich Investoren „wie zu Hause fühlen“ und hat daher bereits einen Minister eigens für die Erleichterung privater Investitionen ausgewählt.

Unter den potenziellen Investoren könnte China eine wichtige Rolle spielen. Bereits Cortizos Vorgänger Varela hatte im Jahr 2017 diplomatische Beziehungen mit der Volksrepublik China aufgenommen und dafür die langjährigen Beziehungen zu Taiwan abgebrochen. Panama schloss sich Chinas „Neue Seidenstraße“-Initiative an. Der chinesische Staatspräsident Xi Jinping kam im Dezember 2018 sogar zu einem Staatsbesuch. Zahlreiche Kooperationsabkommen wurden vereinbart, chinesische Investor*innen stecken in großem Stil Geld in Häfen am Panamakanal und schlagen die Finanzierung weiterer Infrastruktur vor. Diskutiert wird etwa ein Bahnprojekt zur Verbindung des westlichen Landesteils mit der Hauptstadt.

Diese Entwicklung missfällt den USA, die Lateinamerika traditionell als ihren Hinterhof betrachten, erst recht Panama, wo sie bis 1999 den von ihnen errichteten Kanal kontrollierten. In dem sich entwickelnden Handelskrieg zwischen den USA und China sitzt Panama nun mittendrin. Daraus erwächst neues Selbstbewusstsein. Cortizo, der in den USA studiert und gearbeitet hat, möchte mit beiden Großkunden des Kanals Geschäfte machen und hat auf Kritik aus den USA mit dem Hinweis reagiert, dass sie künftig der Region mehr Aufmerksamkeit schenken sollten, auch über Panama hinaus. Ansonsten könne Chinas Einfluss zunehmen.

Die wirtschaftliche Bedeutung seines Landes will der neue Präsident nutzen, um Panama politisch ein stärkeres Gewicht zu verschaffen. Er möchte auch auf diplomatischem Terrain ein Vermittler sein und bei der Lösung von Krisen in der Region wie derzeit in Venezuela eine Rolle spielen. Dazu passt allerdings nicht, dass er die Anerkennung Juan Guaidós als Interimspräsident Venezuelas durch seinen Vorgänger nicht in Frage stellt. Nimmt er sich zu viel vor?

Denn neben dem fehlenden Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen drohen weitere Probleme. Die Rentenkasse steht vor dem Kollaps, Medikamente sind rar. Trinkwasserknappheit ist vielerorts ein Problem, während der Betrieb des Panamakanals – das Fundament der Wirtschaft – dem Ökosystem der Kanalzone große Wassermengen entnimmt. Um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, schielen alle Regierungen schon immer auf die Ressourcen in indigenen Autonomiegebieten. In den nächsten Jahren dürfte es zu einer Zunahme von Konflikten mit indigenen Gruppen kommen. Als eine der wenigen Akteure haben diese in den letzten Jahren demonstriert, dass sie effektiv gegen neoliberale Regierungspolitik mobilisieren können: Die letzte größere, von unten entstandene Protestbewegung Panamas war der indigene Widerstand gegen ein neues Bergbaugesetz im Jahr 2011 (LN 443). Trotz Repression und massiver Diffamierung durch die Medien inklusive rassistischer Untertöne hatte der Protest damals Erfolg, das Gesetz wurde schließlich zurückgezogen.
Die Demokratie in der Krise, Verfassungsänderungen, ökologisch-soziales Konfliktpotential und dann am Reibepunkt zwischen US-amerikanischen und chinesischen Interessen: Es gibt einiges zu tun für den selbsternannten Vermittler.

DIE 120 TAGE VON SODOM IN BRASÍLIA

Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl

Seit dem Amtsantritt des Präsidenten Jair Bolsonaro verging kaum ein Tag, an dem nicht eine der zu einem demokratischen Gemeinwesen gehörenden Selbstverständlichkeiten von ihm oder seinen Regierungsmitgliedern erst unter Beschuss geriet, dann in schwerem Gewässer ohne Seenotrettung ausgesetzt und damit dem Untergang überlassen wurde. Schon in den ersten Tagen seiner Regierung setzte Bolsonaro mit der Erleichterung des Zugangs zu Feuerwaffen eines seiner Wahlversprechen um. Seit Januar dieses Jahres haben „Bewohner von städtischen Gebieten mit hoher Kriminalität“ sowie „Eigentümer von kommerziellen oder industriellen Geschäften“ die Erlaubnis, sich legal mit bis zu vier Feuerwaffen hochzurüsten. Flankiert wird diese Liberalisierung des Waffengesetzes von einer Lizenz zum Töten.

Die dahinter waltende Exzellenz ist Justizminister Moro, jener Richter, dessen Hauptmission es war, den ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva zu verhaften und ihn damit an der erneuten Kandidatur zum Präsidenten zu hindern, und der dafür mit einem Ministeramt beschenkt wurde. Moro hat rasch eine Justizreform ins Parlament gebracht. Zum Kern dieser „Reform“ gehört die Entkriminalisierung von Tötungsdelikten der Polizei in Fällen von „entschuldbarer Angst, Überraschung und heftigen Emotionen“, falls diese der Erschießung von Banditen (fast immer junge, schwarze Männer) vorausgegangen seien. Dazu soll es dem Gesetzentwurf zufolge ausreichen, wenn die Polizist*innen dies anschließend glaubhaft deutlich machen. Wahre Leidenschaft aus dem ersten der Höllenkreise.

Zeitgleich lässt der neugewählte faschistische Gouverneur von Rio de Janeiro, Wilson Witzel, mit Scharfschützen auf Favela-Bewohner*innen schießen, denen aus hunderten Metern Entfernung beim Blick durch das Zielfernrohr unterstellt wird, sie seien bewaffnet. Mehrere Fälle von Regenschirmen und Bohrmaschinen bezeugen deren Unschuld. Witzel beglückwünschte die Todesschützen. Fehlt nur noch der Orden aus dem Höllenkreis des Blutes.

Demokratisch verfasste Gemeinwesen brauchen eine lebendige Zivilgesellschaft, die Partizipation erkämpft und verteidigt, was der brasilianischen Zivilgesellschaft nach 1988 durchaus gelungen ist. Dem wurde nun de facto ein Ende gesetzt: Sämtliche der bestehenden Beiräte und Partizipationsorgane aller Ministerien wurden mit einem Federstrich abgeschafft, einschließlich staatlicher Organe, die in der Verfassung verankert sind oder durch völkerrechtlich verbindliche internationale Abkommen Rechtssicherheit genießen. Der Klageweg dagegen ist lang und steinig.

Wo die Bolsonaro-Truppe Widerstand mutmaßt, wird die Axt angesetzt. Der Kulturförderung wurde der Garaus gemacht, der Indigenenbehörde der Großteil ihres Etats genommen, und Philosophie und Soziologie sollten an Bundesuniversitäten gar nicht mehr gefördert werden. Bolsonaro will Fächer, die einen konkreten Nutzen haben. Ingenieur*innen haben sich schon immer angepasster an faschistische Systeme gezeigt als Geisteswissenschaftler*innen. Grundsätzlich sollen die Kids der Wohlhabenden die Universität wieder für sich alleine haben. „Die Universitäten sollen für eine intellektuelle Elite reserviert werden“, so der wegen interner Streitigkeiten inzwischen zurückgetretene Bildungsminister Ricardo Vélez Rodríguez. Der Minister ist gegangen, aber das Ziel bleibt: Arme sollen sich der Berufsausbildung widmen oder besser gleich malochen, sie haben an einer Hochschule im Brasilien des Haupt­manns Bolsonaro nichts zu suchen.

Bolsonaro liefert auch die Umsetzung weiterer Wahlkampfversprechen. Seine Hauptunterstützer – die Agrarlobby und die Industrie – rieben sich schon vor seiner Wahl die Hände, denn Bolsonaro will indigenes Land für das Agrobusiness und Bergbaukonzerne öffnen. Der tausendfache Protest der Indigenen, die Ende April das Acampamento Terra Livre, die größte indigene Versammlung zur Verteidigung des Amazonas­gebietes, in Brasília organisiert haben, wird von den militarisierten Bundestruppen der Força Nacional de Segurança Pública in Schach gehalten.

Die Aussortierung der Armen aus der Rentenversicherung, das ist der Plan der lange erwarteten Rentenreform seiner Durchlaucht, dem ultraneoliberalen Wirtschaftsminister Paulo Guedes. Alte Menschen aus dem ländlichen Raum gehören zu den großen Verlierern, die Privilegien bei der Rente der Militärs sind aber aus der Reform herausgenommen. Überhaupt soll die Rentenkasse de facto den Banken übertragen werden: Kapitalgedeckte Altervorsorge heißt der Renner, der schon in Chile die Massen unter das Existenzminimum brachte und den Banken explodierende Börsenwerte verschaffte.

Sollen die Arbeiter*innen im dritten Höllenkreis doch Scheiße fressen.

Brasiliens Arbeiter*innen müssten sich entscheiden, tönte Bolsonaro im Wahlkampf: „Arbeit oder Rechte?“ Die logische Konsequenz aus diesem scheinbaren Gegensatz ist die Schleifung der Gewerkschaften über geschickt angesetzte Rahmenänderungen bei der Gewerkschaftsfinanzierung. Hinzu kommt, dass die Firmen nun – über die Tarifverträge hinweg – individuell mit den Arbeiter*innen verhandeln. Nicht nur wegen dieser Maßnahme freut sich die Wirtschaft über die neue Regierung und deutsche Firmen fühlen sich in Brasiliens Sodom pudelwohl. So sagt zum Beispiel André Clark, CEO von Siemens in Brasilien: „Die Zusammenarbeit zwischen der Regierung und den Unternehmern läuft sehr gut und effizient“. Sollen die Arbeiter*innen im dritten Höllenkreis doch Scheiße fressen. Da schon unter der Temer-Regierung die Arbeitsjustiz dereguliert wurde, fehlte nur noch die logische Fortsetzung der Brutalo-Politik im Lohnbeutel: Der Stopp des Zuwachses des Mindestlohns. Die regelmäßige Erhöhung des Minimalbetrages über die Inflationsrate hinaus gehörte zu den wichtigsten Instrumenten der PT-Regierung zur Armutsbekämpfung und zum sozialen Ausgleich. Ab jetzt wird bei der Erhöhung höchstens die Inflation berücksichtigt und die bindende Kraft des gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohns erheblich eingeschränkt werden – anders ausgedrückt, er gilt nicht mehr in allen Bereichen und Regionen.

Bolsonaro erklärt, „Demokratie und Freiheit gibt es nur, wenn die Armee es so will“. Und erlaubte, dass der Militärputsch von 1964 auf „angemessene Weise“ in den Armeebaracken gefeiert wird – Demokratie als Gnade der Militärs, so versteht die Bolsonaro-Truppe das politische System.Die Ermittlungen um die vielfältigen Verstrickungen des Bolsonaro-Clans in die tiefen Staatsstrukturen der Mafiamilizen kommen nicht voran, wenn sie denn je ernsthaft von den zuständigen Ermittlungsbehörden aufgenommen wurden. „Wer hat Marielle Franco erschossen, und wer gab den Mordauftrag?“, fragen Brasilianer*innen auch ein Jahr nach dem Mord millionenfach. Obwohl die mehr als anrüchigen, direkten Verbindungen der ersten festgenommenen, mutmaßlichen Täter mit dem Bolsonaro-Clan zwar höchste mediale Klickzahlen erreichen, enden sie im juristischen Niemandsland.

Die brasilianische Demokratie und die ohnehin schwache, politische und staatliche Institutionenlandschaft sind täglich in Auflösung begriffen und das ist das eigentliche Programm: „Brasilien ist nicht das Feld, wo wir viele gute Sachen für unser Volk aufbauen wollen. Wir müssen eher viel dekonstruieren“, so Bolsonaro bei seinem Besuch in den USA. Bolsonaros Brasilien ist ein Land mit immer weniger „checks and balances“. Anders sieht das allerdings die Deutsche Bundesregierung: „Wir vertrauen in die Festigkeit der brasilianischen Institutionen“, erklärte jüngst ein über die Einschätzung des Deutschen Außenministeriums informierter Mitarbeiter. Und Außenminister Heiko Maas sieht „gemeinsame Werte“ am walten.

Als Dekonstrukteur stellt sich Bolsonaro auch als Anti-Präsident dar: Er demontiert seine Minister*innen und lässt seinen Guru, den selbst ernannten Philosophen Olavo de Carvalho aus den USA, gegen die Militärs wettern (zuletzt beschimpfte er diese als „Hosenscheißer”). Mal interveniert Bolsonaro im halbstaatlichen Mineralölunternehmen Petrobras, um eine Dieselerhöhung zu verhindern. Mal beugt er sich dem Rat seines Wirtschaftsministers und verspricht, dies nie wieder zu tun. „Ich verstehe ja nichts von diesen wirtschaftlichen Prozessen“, erklärte er. Dann wieder hetzt er seinen jüngeren Sohn Carlos, den Monsignore, gegen seinen Vize-Präsidenten, einen General.

„Ich verstehe ja nichts von diesen wirtschaftlichen Prozessen“

Bolsonaros Partei PSL, aufgefüllt mit politischen Parvenüs und Abenteurern, agiert im Parlament völlig orientierungslos. Bolsonaro lässt sie nicht an die Fleischtöpfe der Macht. Und so vergeht kaum ein Tag ohne ein Verwirrspiel, das keines ist, weil es mit dem klaren Ziel geschieht, die Institutionen allmählich zu zersetzen und in diesem Chaos eine Atmosphäre der Angst zu erzeugen. Parlament und Justiz geben völlig widersprüchliche Signale und die obersten Richter*innen begehen elementare Fehler. Die etablierten Medien distanzieren sich von Bolsonaro aus Furcht, dass dieser Mann am Ende für die Herrschaft der Elite doch zu dysfunktional sein könnte. Bolsonaro schimpft über den größten Fernsehsender des Landes: „Rede Globo ist der Feind“. Und die Opposition schweigt: Die rechte Opposition der PSDB ist im Nichts verschwunden und die Linke verbleibt in der Schockstarre. Noch einmal die Journalistin Eliane Brum: „Bolsonaro ist Regierung und Opposition zugleich.”

Flankiert wird das ganze Schmierentheater durch den Auftritt der Signora in Brasiliens Sodom, der Ministerin für Frauen, Familie und Menschenrechte, Damares Alves, der wir die Erkenntnis verdanken, dass in den Niederlanden Eltern ihre Babys sexuell stimulieren, und dass Touristen nach Brasilien reisen, um dort in den Motels Sodomie zu begehen. Woraufhin der Präsident selbst diese Einsichten durch die Aufforderung ergänzte, die Ausländer sollten ruhig nach Brasilien reisen, um dort mit den schönen Frauen zu schlafen, aber die Schwulen sollten das nicht tun, in Brasilien gälten schließlich familiäre Werte. Werte aus den Höllenkreisen der Leidenschaft, des Blutes und der Scheiße.

 

“EINE ANERKENNUNG WIE NIE ZUVOR”

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(Foto: Martin Schäfer)

AUCÁN HUILCAMÁN
ist Jurist und Sprecher (Werkén) der Mapuche-Organisation Consejo de todas las tierras (Rat aller Gebiete). Er beschäftigt sich damit, wie die Mapuche internationale Beziehungen und Rechtsnormen für den Kampf um ihre Rechte nutzen können. Er nimmt am Allgemeinen Periodischen Überprüfungsverfahren des UN-Menschenrechtsrates teil, in dessen Rahmen Chile 2018/2019 turnusgemäß zur Anwendung internationaler Rechtsnormen in Bezug auf die indigenen Völker überprüft wurde.


 

In welcher Rolle und Funktion innerhalb der verschiedenen Mapuche-Organisationen Chiles sind Sie gerade in Europa und was ist Ihre Vision?
Ich wirke schon lange am Allgemeinen Periodischen Überprüfungsverfahren in Genf mit. Außerdem beschäftige ich mich mit der Ausarbeitung von internationalen Rechtsnormen, die die Rechte der indigenen Völker und im Besonderen der Mapuche schützen. Das geht also über die Vertretung von Interessen bestimmter Mapuche-Gemeinschaften hinaus. Erklärungen der Vereinten (UN) und der Organisation amerikanischer Staaten (OAS) besagen, dass die indigenen Völker ein Selbstbestimmungsrecht haben und daher ihre politische Verfassung bestimmen können. Die Mapuche sind aufgefordert, dieses Recht auszugestalten. Wir müssen die internationale Gemeinschaft auf die künftige Bildung einer Mapuche-Regierung in Ausübung dieses Rechts vorbereiten, damit eine solche Regierung international anerkannt wird. Das sehe ich als meine Aufgabe an. Außerdem möchte ich alle Mapuche einladen, an dem Prozess der freien Selbstbestimmung mitzuwirken. Sich daran zu beteiligen oder nicht, ist eine freie Entscheidung, die jeder zunächst für sich selbst treffen muss. Sobald jemand entscheidet, mitzuwirken, ist der nächste Schritt, zu sagen, welche Rolle er spielen möchte, sobald es zur Bildung einer Regierung kommt.

Wie soll die Vorbereitung einer Regierungsbildung unter den Mapuche ablaufen?
Es gibt den Prozess einer verfassunggebenden Versammlung der Mapuche, im November 2016 gab es eine erste Sitzung. Wir haben etwa die Frage diskutiert, ob wir eher eine Regierung im Sinne der Mapuche-Tradition möchten, eine in der Form üblicher zeitgenössischer Regierungen oder eine Mischung aus beidem. Wichtig ist, dass eine solche Regierung auch auf der internationalen Ebene effektiv wäre. Warum eine verfassunggebende Versammlung? Wir wollen, dass unsere künftige Regierung Legitimität genießt. Wenn es soweit ist, werden wir UN und OAS um eine formale Anerkennung bitten. Falls sie dies ablehnen, müssten sie gegen ihre eigenen Prinzipien verstoßen. Die Idee einer verfassunggebenden Versammlung ist, anders als traditionelle Konzepte der Mapuche, universell verständlich und zeigt der Welt, dass es sich bei der neuen Regierung nicht um eine Aktion einzelner Personen handelt, sondern um einen öffentlichen Prozess. Es muss keine Mehrheit der Mapuche mitmachen, aber wichtig ist, dass das Anliegen legitim ist und es keinen Einfluss der chilenischen Regierung und Parteien gibt. Bei der ersten Sitzung haben wir Leitlinien festgelegt, nun bereiten wir ein zweites Treffen vor, bei dem wir über die Inhalte eines Selbstbestimmungs-Statuts sprechen werden. Nachdem es ausgearbeitet ist, muss entschieden werden, wann die Regierung gebildet werden soll.

Wie hoch ist die Beteiligung, kommen die Teilnehmer*innen aus bestimmten Gemeinschaften?
Ich schätze, etwa 300 Gemeinschaften beteiligen sich an dem Prozess. Es müssen Personen mit der nötigen Mentalität und den Fähigkeiten zum Regieren sein. Am Anfang war es nur eine kleinere Gruppe, da nur wenige Mapuche sich mit diesem Thema beschäftigen. Dabei spielt auch eine Rolle, dass wir Mapuche einem langen Prozess des Kolonialismus und der Unterwerfung ausgesetzt waren, der uns Schaden zugefügt hat. Nicht alle Mapuche denken daher aus der kollektiven Perspektive heraus. Und natürlich gibt es Mapuche, die sich mehr mit unserer juristischen Verteidigung befassen oder dem Protest gegen Unrecht, wie anlässlich des Todes von Camilo Catrillanca. Das ist wichtig, aber nicht ausreichend, weil es nur eine Reaktion auf das Verhalten des Staates ist. Die Bewegung muss auch Zukunftsperspektiven entwickeln. Ich habe mich darum gekümmert, diese Thematik, die zuvor etwas isoliert war, in die Gemeinschaft der Mapuche zu tragen.

Gibt es Schwierigkeiten bei diesem Prozess?
Ein Problem ist, dass der individuelle Wille vieler Mapuche häufig eher politischen Parteien, dem Staat, der Kirche oder einer Sekte verpflichtet ist als dem kollektiven Handeln. Oder es wird lediglich gegen die aktuelle Regierung protestiert. Ob es nun die Rechte oder die Linke ist, die auf die Mapuche nicht angemessen eingeht, letztlich waren wir Mapuche bisher kollektiv ineffizient. Um das Selbstbestimmungsrecht zu nutzen, müssen wir selbst aktiv werden.

Wie hat sich der Mord an Camilo Catrillanca auf die Bemühungen ausgewirkt?
Unter den Mapuche hat die Bewegung, die sich um die Rechte des Volkes bemüht, nun eine festere Position. Heute hat die Mapuche-Bewegung gegenüber Staat und Gesellschaft in Chile eine immense Anerkennung erreicht, die es so zuvor nicht gab: Als Präsident Piñera und mehrere Minister nach dem Mord kamen, wollten die Mapuche sich nicht mit ihnen treffen, eine seit der „Befriedung der Araucanía“ (die Unterwerfung der Mapuche durch den chilenischen Staat im 19. Jahrhunderts) einzigartige Brüskierung. Das ist ein wichtiges Kapital. Die Regierung wird weiter auf ihrem „Plan Araucanía“ bestehen, aber die Militarisierung ist für sie ein komplexes Thema. Ich denke nicht, dass die Regierung bedeutende Maßnahmen ergreifen wird, weil der Fall Catrillanca eine Zäsur darstellt. Vor dem Mord hatte ich etwa ein Treffen mit mehreren Ministern organisiert, wir sprachen – erfolglos – über die Umsetzung von Empfehlungen nationaler und internationaler Einrichtungen zum Schutz der Menschenrechte sowie über die politische Beteiligung mittels reservierter Parlamentssitze. Dann kamen die Ereignisse um Camilo Catrillanca und ab da hat es keinen weiteren Kontakt zur Regierung mehr gegeben.

Gibt es dadurch nun eine größere Einheit unter den Mapuche? Die verschiedenen Gruppen haben ja sehr unterschiedliche Strategien.
Angemessener fände ich zu sagen, dass es jetzt es eine größere Übereinstimmung bei bestimmten Themen gibt. Und die Selbstbestimmung ist ein Thema, bei dem wir alle zusammenkommen können, weil es uns verbindet. Die Schattenseite der jetzigen Situation ist, dass wir aufgrund des Fehlens staatlicher Maßnahmen und seitens der Mapuche von Interesse am Dialog mit der Regierung in ein Szenario größerer sozialer Konflikte geraten könnten. Die Regierung von Präsident Piñera könnte uns in der Araucanía in eine ethnische Konfrontation stürzen, wie sie es in Europa auf dem Balkan gab, und diese Art der Konfrontation ist komplexer als jene mit einem Polizisten.

Würden Sie sagen, dass die langjährigen internationalen Bemühungen etwas bewirkt haben?
Sie haben eine Menge bewirkt. Auf der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz war es 1993 noch ein Novum, dass fünf indigene Vertreter wenige Minuten sprechen durften, und die Regierungen lehnten das Selbstbestimmungsrecht ab. Bei der UN-Vollversammlung 2007 wurde es dann beschlossen. Ich war bei beiden Konferenzen dabei und damals selbst überrascht und bewegt. Außerdem haben OAS und UN anerkannt, dass Verträge wie der von Quilín, in dem 1641 den Mapuche von Spanien ein unabhängiges Territorium südlich des Bío-Bío Flusses zugesprochen wurde, gültig sind. Wir haben also erreicht, dass die Verträge, die der chilenische Staat ignoriert hatte, wieder zu einer Norm des Völkerrechts wurden. In der UN-Erklärung heißt es außerdem, dass die Parteien auf die internationale Gerichtsbarkeit zurückgreifen können, wenn es eine unterschiedliche Auslegung der Verträge gibt. In unserem Fall wären das der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte oder der internationale Gerichtshof in Den Haag. Daher könnten wir Mapuche heute, wenn wir die kollektiven Fähigkeiten dazu hätten, unser Land beanspruchen und diese Frage in Den Haag zur Prüfung vorlegen.

Wie realistisch sind diese Pläne? Haben Sie ein Vorbild, bei dem das indigene Selbstbestimmungsrecht erfolgreich umgesetzt wurde?
Den Inuit in Grönland wurde dieses Recht von Dänemark schrittweise gewährt, und anders als bei der Dekolonialisierung afrikanischer Länder, die arm in die Unabhängigkeit entlassen wurden, hatte sich Dänemark verpflichtet, die neue Regierung über einen längeren Zeitraum finanziell zu unterstützen. Das ist im Sinne der UN-Erklärung von 2007, die festlegt, dass indigene Völker Anspruch auf angemessene Entschädigung für ihnen „ohne ihre freiwillige und in Kenntnis der Sachlage erteilte vorherige Zustimmung” abgenommenes Land haben. Die Inuit nehmen inzwischen weitreichende Rechte wahr, von der Verantwortung für die Polizei bis zur Verfügung über die Rohstoffe. Das scheint mir ein gutes Beispiel zu sein.

Wie könnte für Chile bestimmt werden, wie eine angemessene Entschädigung aussieht?
Das könnte entweder einer der beiden internationalen Gerichtshöfe entscheiden oder es könnte durch eine Wahrheitskomission geklärt werden.

Mapuche-Gemeinschaften haben zuletzt vor einigen Monaten eine solche Wahrheitskommission gefordert. Was verbirgt sich dahinter?
Es ist notwendig, über eine von allen Seiten anerkannte Wahrheit über die historischen Geschehnisse in der Araucanía zu verfügen. Bisher hat jeder seine eigene Wahrheit: Ein europäischer Auswanderer, der in Chile Mapuche-Land erhalten hat, glaubt, dass Geschichte und Recht bei seiner Ankunft beginnen. Jemand, der während der Pinochet-Ära Mapuche-Land gekauft hat, glaubt, dass sie bei seinem Kauf beginnen. Die Mapuche sehen das anders, also brauchen wir für eine Verständigung eine gemeinsame Version der Ereignisse. Darauf aufbauend müssen Entschädigungen an die Opfer geleistet werden, seien es Mapuche oder andere. Schließlich müssen wir akzeptable Institutionen für das Zusammenleben von Mapuche und Nicht-Mapuche schaffen, um einen festen und dauerhaften Frieden zu erreichen. Zur Aufarbeitung der Militärdiktatur wurden damals die Rettig-Kommission und die Valech-Komission gebildet. Jetzt muss der Staat eine ähnliche Komission für die Araucanía einrichten, denn er ist verantwortlich für das, was dort passiert ist. Dabei muss klar bestimmt werden, um welche Zeitspanne es geht – die Kolonialzeit, die Zeit nach der Unabhängigkeit oder die Pinochet-Ära? Und es muss definiert werden, welche Geschehnisse genau geklärt werden sollen. Bei einer ersten, von Präsident Lagos im Jahr 2000 zu diesem Thema einberufenen Wahrheitskomission wurde das leider nicht gemacht. Und dort ging es auch um die anderen indigenen Völker Chiles, die deutlich kleiner sind und andere Bedingungen hatten. Es kam also nichts Greifbares heraus, und anstatt die Verantwortung des Staates für das Unrecht anzuerkennen, stand im Abschlussbericht, dass die Gebiete der Mapuche verloren gingen, weil sie kein Spanisch konnten und die Gesetze nicht kannten, d.h. sie wurden beinahe selbst für ihre Enteignung verantwortlich gemacht. Ich war damals als Mitglied der Komission nicht damit einverstanden.

 

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