TALENTE FÜR DIE GUTE SACHE

Foto: Guillermo Díaz Morales

Die Stadt Tumaco im Südwesten Kolumbiens wird in den Medien überwiegend als ein von Gewalt und Armut geprägtes Gebiet dargestellt. Wie sehr identifizieren Sie sich als Bewohner*innen dieser Stadt mit dieser Darstellung?
Neisy: Die Darstellung ist einerseits gut, weil sie der Realität entspricht und auch dazu beiträgt, die Bedürfnisse, die wir in der Gemeinde haben, sichtbar zu machen. Aber sich nur auf das Negative zu konzentrieren, kann viel Schaden anrichten. Tumaco ist nicht nur gekennzeichnet von Armut und Übel, es gibt auch viel Gutes hier: So gibt es einige Organisationen, die sich für den Schutz der Menschen, der Kunst und der Kultur einsetzen. Außerdem sind da die vielen jungen Menschen, die Musik machen und tanzen und ihre Talente für die gute Sache hier bei uns einsetzen. Tumaco hat wunderschöne Strände, das Essen ist spektakulär, es gibt eine große Artenvielfalt und die Menschen sind sehr gastfreundlich – in jedem Haus hier würde dir ein Teller Essen angeboten werden. In Tumaco herrscht viel Armut und es sind auch bewaffnete Akteur*innen unterwegs, aber es ist nicht alles schlecht. Wir als Gruppe sind gewillt, die schöne Seite Tumacos zu zeigen.

Tumaco wird als vom Staat vergessene Stadt bezeichnet. Ist diese Vernachlässigung spürbar?
Leonardo: Ich glaube, man muss das ganze politische System in Kolumbien betrachten, in dem alles zentral regiert wird. Wir, die im Süden und in der Pazifikregion leben, werden als die „schlechte Seite“ Kolumbiens betrachtet. Das Departamento del Chocó, Valle del Cauca und Nariño sind Departements, in denen die Armutsquote stets hoch ist. Dabei handelt sich um eine multidimensionale Armut, die die Gemeinschaft auf allen Ebenen betrifft. Es wäre naiv zu sagen, dass sich alles schnell verbessern wird, aber was wir versuchen können ist, unsere Talente und Begabungen zu nutzen, um Dinge voranzubringen.

Verschiedene Regierungen haben versucht, die Armut in diesen vernachlässigten Regionen zu lindern. Spiegeln sich diese Bemühungen in Städten wie Tumaco wider?
Leonardo: Es gibt jetzt die Entwicklungspläne mit einem territorialen Ansatz. Diese Pläne sind aus dem Friedensabkommen entstanden. Hierbei handelt es sich um Projekte, in denen die Gemeinderäte Menschen dabei unterstützen, der Armut oder prekären Lage, in der sie sich befinden, zu entkommen. Dies ist jedoch auch eine Frage der politischen Entscheidung, die nicht nur vom Willen unserer Gemeinschaft abhängt. Die Hilfe kommt hauptsächlich von der Regierung, aber auch von den Kommunalverwaltungen. Teilweise kommen die Hilfen kaum oder gar nicht bei den Menschen an, die darauf angewiesen sind. Das spiegelt sich vor allem in der Bildung, im Gesundheitswesen, am Arbeitsmarkt und in einem beschränkten Zugang zu öffentlichen Universitäten wider. Jede weitere Regierung, die antritt, verspricht etwas und hält es am Ende nicht ein – das ist eine unendliche Geschichte in Kolumbien.

Sind Sie der Meinung, dass die afrokolumbianische Bevölkerung von der Anerkennung der Multiethnizität Kolumbiens in der Verfassung von 1991 profitiert hat?
Leonardo: Ja, dafür müssen wir uns das einzige Gesetz angucken, das die ethnischen Bevölkerungsgruppen betrifft – das Gesetz Nummer 70. Dieses Gesetz gibt Afrokolumbianer*innen die Möglichkeit, sich in Gemeinderäten zu organisieren. Durch diese Räte wurde anerkannt, dass die Gemeinschaften über kollektive Territorien verfügen. Ein Kampf, den alle Schwarzen Gemeinschaften bis heute führen, ist es, dieses Gesetz zu vervollständigen. Nur so können alle Rechte und Vorteile für die Menschen in den einzelnen Gebieten vollständig ausgeschöpft werden.

Wie sind Sie dazu gekommen, Musik zu machen? Welchen Einfluss hat das auf andere junge Menschen in Tumaco?
Emerson: Ich bin vor sieben Jahren zufällig durch einen Workshop dazu gekommen, Musik zu machen. Einige Kinder, die mit uns Musik gemacht haben, haben gerappt, das hat uns auch inspiriert. Unsere Musik hat auf die Jüngeren einen großen Einfluss, denn sie sehen, dass wir keinerlei böse Absichten haben, sondern einfach nur Musik machen wollen. Somit haben wir eine Art Vorbildfunktion und motivieren Jüngere dazu, Gutes zu tun.
Neisy: Pedro Luis, wie kommt es, dass Du heute kein Guerillero mehr bist, sondern in einer Musikgruppe aktiv?
Pedro Luis: Vor allem dank meiner Familie: Meine Mutter hat mir immer eine gute Ausbildung ermöglicht und mir einen Weg für die Zukunft geebnet. Ich habe die Musik im Centro Afro kennengelernt, das war ein wichtiger Meilenstein in meinem Leben. Ich weiß nicht, wo ich jetzt wäre, wenn ich die Musik nicht kennengelernt hätte. Dafür bin ich der Gruppe sehr dankbar. Wir haben sogar ein Aufnahmestudio, die jungen Leute kommen dahin, um Aufnahmen zu machen, sie wollen in unsere Fußstapfen treten. Es bereitet mir sehr viel Freude, so einen Beitrag für die Gemeinschaft leisten zu können.

Ist es in Tumaco gefährlich, Musik zu machen, um grundlegende Lebensrechte einzufordern, wie an so vielen anderen Orten in Kolumbien?
Neisy: Wir als Gruppe, die zu einer Stiftung gehören, fühlen uns sicher, denn wir werden als Teil von etwas anerkannt. Wir sind die Kinder aus dem Centro Afro, das wiederum zu der Gemeinde gehört. So haben wir die Freiheit, uns auszudrücken und werden dabei von der Gemeinde unterstützt. Es ist etwas anderes, raus auf die Straße zu gehen und etwas zu verkünden – das ist wie auf einem Podest zu stehen und dann zu singen. Die Musik beschützt uns ein wenig und gibt uns das Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein. Als Gruppe wurden wir nie bedroht oder hatten Angst, unsere Meinung zu äußern. Wir kämpfen für die Verteidigung der Menschenrechte, für den Frieden in unserem Land und für ein anderes Tumaco. Wir sind nie wegen jemandem fortgegangen, wir befinden uns also auch nicht in den Händen der öffentlichen Gewalt, solange wir die Freiheit haben, unsere Gefühle in Liedern auszudrücken.

Wie war es für Sie, zum ersten Mal nach Berlin zu kommen?
Maria Paula: Ich bin glücklich und stolz, dass meine Kolleg*innen und ich es so weit geschafft haben – für uns ist das ein großer Erfolg. Für die Zukunft hoffe ich, dass wir so weitermachen, neue Orte kennenlernen und uns musikalisch entwickeln können. Vor allem aber ist es uns wichtig, Jugendlichen eine Chance auf eine andere Lebensperspektive aufzuzeigen, damit sie nicht bloß an das schnelle Geld denken. Denn der einfache Ausweg ist nie eine Lösung.
Neisy: Wenn es da draußen jemanden gibt, der uns eine weitere Reise ermöglichen will, dann sind wir mehr als bereit und stehen sofort zur Verfügung.

Wie würden Sie jemanden dazu einladen, Tumaco zu besuchen?
Maria Paula: Tumaco ist ein Ort ist, an dem viel Freude und guter Geschmack herrscht – beim Essen und auch, was die Menschen dort betrifft. Es ist sehr schön dort. Der Strand, die Landschaft, die Atmosphäre und die Musik – einfach alles! Ich hoffe, ihr verliebt euch auch in Tumaco.
Emerson: Ich kann euch nur ans Herz legen, Tumaco zu besuchen. Habt einfach eine gute Zeit, genießt das Essen, lauscht der Musik und lasst es euch gut gehen!

MUT ZUM WANDEL ODER ANGST VOR VERÄNDERUNG?

Foto: Alexa Rochi (@alexarochi__)

Es war ein überraschender Wahlabend in der ersten Runde um die Präsidentschaft in Kolumbien: Die ersten Ergebnisse zeigten am 29. Mai Federico Gutiérrez, Kandidat des Uribismo, noch weit vorne. Doch innerhalb von 15 Minuten nahmen die Ergebnisse eine drastische Wende. Nach knapp einer Stunde war das Ergebnis klar: Bei der Stichwahl erhielt Gustavo Petro etwa 8,5 Millionen Stimmen und lag mit rund 40 Prozent vor Rodolfo Hernández, ehemaliger Bürgermeister von Bucaramanga, der fünfgrößten Metropolregion Kolumbiens. Hernández, ein 73-jähriger Geschäftsmann, wurde durch seinen parteiunabhängigen Wahlkampf auf sozialen Netzwerken wie TikTok oder Facebook vor allem bei den jungen Wähler*innen beliebt und lag mit 28 Prozent der Stimmen direkt hinter Gustavo Petro. Gutiérrez wurde schließlich Dritter, sein konservatives politisches Lager war damit der größte Verlierer des Abends. Die meisten Kolumbianer*innen haben sich für einen Kandidaten entschieden, der nicht für die Politik des Noch-Präsidenten Iván Duque und seines Vorgängers Álvaro Uribe steht. Das heißt jedoch nicht unbedingt, dass sich eine Mehrheit der Bevölkerung einen tiefgreifenden Wandel wünscht.

Denn noch herrscht große Angst vor Themen, die auf der Agenda von Gustavo Petro eine wesentliche Rolle spielen: Beteiligung gesellschaftlicher Minderheiten, Frauenrechte und Genderaspekte, Umwelt und grundlegende Reformen, die die Politik im Land grundlegend verändern würden.

Besonders die Rolle von Frauen spielt bei diesen Wahlen eine große Rolle. Laut dem staatlichen Statistikinstitut DANE machen Frauen 51,2 Prozent der kolumbianischen Bevölkerung aus. Gleichzeitig gehören geschlechtsbezogene Faktoren zu den Hauptgründen für die im Land herrschende Ungleichheit. Nicht ohne Grund steht das Thema Gleichberechtigung der Geschlechter also hoch oben auf der politischen Agenda. Eine Person, die diese Themen in Gustavo Petros Wahlkampf eingebracht hat, ist seine Vizepräsidentschaftskandidatin Francia Márquez (siehe LN 574). Als afrokolumbianische Umweltaktivistin, Feministin und Rechtsanwältin setzt sie sich seit Jahren für den Schutz von Minderheiten ein. Mit ihr an seiner Seite hat Gustavo Petro ein inklusives und partizpatives Wahlprogramm entwickelt.

Dazu gehört unter anderem die Gründung eines Ministeriums für Gleichberechtigung. Laut Petros Wahlprogramm soll es „alle politischen Maßnahmen zur umfassenden Stärkung der Rolle von Frauen, des Geschlechts, der sexuellen Orientierung, der Generationen sowie der ethnischen und regionalen Unterschiede in Kolumbien bündeln.“ So sollen öffentliche Politiken und Ressourcen entwickelt und umgesetzt werden, um die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen in all ihren Ausdrucksformen zu beseitigen. Ebenso sollen gleiche Rechte für alle ethnischen Gruppen sowie unterschiedliche Generationen gewährleistet werden. Der intersektionale Ansatz macht sich auch die Beseitigung jeglicher Gewalt gegen Frauen, LGBTIQ*-Personen, Kinder, Jugendliche und ältere Menschen zum Ziel und sieht Gleichstellungsmaßnahmen in allen staatlichen Bereichen vor. „In diesem Rahmen werden wir gleiche Bedingungen für alle Bevölkerungsgruppen gewährleisten, die von Rechtsverletzungen betroffen sind: Opfer des bewaffneten Konflikts, Menschen mit Behinderungen, Straßenbewohner und andere“, so heißt es.

Tradition gegen den Wunsch nach Wandel

Das Programm des Pacto Histórico ist in Kolumbien etwas gänzlich neues und lässt viele Gemeinsamkeiten mit dem Plan der aktuellen chilenischen Regierung erkennen (siehe LN 573). Tatsächlich zeigen beide Beispiele, dass Ansätze, die vor allem auf gesellschaftliche Gleichberechtigung hinarbeiten, in vielen Ländern des lateinamerikanischen Subkontinents gerade großen Aufwind bekommen. In Kolumbien hoffen daher viele Feministinnen, Aktivist*innen und LGBTIQ*-Gruppierungen, dass ihre Anliegen bei einer möglichen zukünftigen Regierung von Gustavo Petro auf offene Ohren stoßen werden. Bei einer öffentlichen feministischen Debatte mit 30 Organisationen und Vertreter*innen der LGBTIQ*-Community, an der im Vorfeld der Stichwahl nur Gustavo Petro teilnahm (siehe Bild auf S. 23), war die Ansage gegen den Populisten Hernández klar: „Herr Hernández, Ihre Untätigkeit wird Ihnen bei den Wahlen zum Verhängnis werden“, sagte die Moderatorin der Debatte.

Nicht ohne Grund wird Petros Gegenkandidat Hernández von Aktivist*innen und vielen Medien als der kolumbianische Donald Trump bezeichnet: In der Vergangenheit fiel der Geschäftsmann nicht nur im Umgang mit Frauen durch seinen populistischen Diskurs auf. So hatte er in der Vergangenheit seine Bewunderung für Adolf Hitler ausgedrückt, nur um sich Jahre später zu korrigieren – er habe eigentlich Einstein gemeint. Im Wahlkampf hatte er nicht auf die Frage eines Journalisten zum Departamento Vichada antworten können, da er nicht wusste, wo das Verwaltungsgebiet liegt. Hernández‘ Wahlprogramm legt trotz Korruptionsvorwürfen gegen ihn selbst den Schwerpunkt auf den Kampf gegen die Korruption und eine transparente Handhabung des Staatshaushalts. Zu geschlechts- und frauenspezifischen Themen beinhaltet es gerade einmal eine vage Seite voller loser Versprechen, die Gewalt gegen Frauen anzugehen und geschlechtsspezifische Ungleichheiten zu beseitigen. Doch konkrete Pläne liefert Hernández nicht. Stattdessen ist etwa von einer „Ausarbeitung neuer und dem Ausbau bestehender Programme für eine umfassende Ausbildung der Frauen in ländlichen Regionen in Bereichen wie der Prävention häuslicher Gewalt, Stärkung des Unternehmertums sowie der guten land- und viehwirtschaftlichen Praktiken“ die Rede. Hernández: „Es gefällt den Leuten nicht, wenn Frauen in der Regierung sitzen.“ Ohnehin steht die Stärkung der politischen Teilhabe von Frauen im Gegensatz zu zahlreichen Aussagen von Hernández. Im Jahr 2019 war er in einem Interview mit El Tiempo der Meinung, venezolanische Frauen seien eine „Fabrik für arme Kinder“. In einem aktuellen Interview mit dem Radiosender Bésame wurde der Geschäftsmann gefragt, ob er an die Führungsfähigkeiten von Frauen glaube, woraufhin er prompt mit einem klaren „Nein“ antwortete: „Es ist gut, dass die Frau Kommentare macht und sich unterstützend zeigt – von zu Hause aus. Es gefällt den Leuten nicht, wenn Frauen in der Regierung sitzen.“ Zwar ist Hernández‘ Kandidatin für die Vizepräsidentschaft, Marelen Castillo, auch Afrokolumbianerin, allerdings katholischen Glaubens. Falls sie gewählt wird, plant sie eine Überprüfung des Urteils zur Legalisierung von Abtreibungen. Das kolumbianische Verfassungsgericht hatte das Urteil im Februar dieses Jahres gefällt, eine Abtreibung ist seitdem ohne Angabe von Gründen bis zur 24. Schwangerschaftswoche legal. Trotz solcher umstrittenen Äußerungen haben fast sechs Millionen Kolumbianer*innen für Rodolfo Hernández gestimmt. Mit seiner Anti-Establishment-Haltung scheint der Unternehmer einen Nerv getroffen zu haben. Für weite Teile der kolumbianischen Gesellschaft, denen konservative Werte wie Traditionalismus und Katholizismus wichtig sind, ist der progressive Linkskandidat Petro keine Option. Und der Uribismo, zuletzt verkörpert von der Regierung unter Iván Duque, hat sie enttäuscht.

Das Wahlverhalten in den verschiedenen Regionen des Landes zeigt sich allerdings sehr unterschiedlich. In Regionen, in denen Petro deutlich punkten konnte, gab es in der ersten Wahlrunde eine deutlich geringere Wahlbeteiligung als im Rest des Landes. In der Karibik lag die Wahlbeteiligung sogar unter den Werten von vor vier Jahren. Da dieses Gebiet in Richtung Petro schwankt, wird es zur Schlüsselstrategie seiner Kampagne, die Nichtwähler*innen solcher Regionen zu mobilisieren. Kolumbien ist eines der Länder mit der niedrigsten Wahlbeteiligung in Lateinamerika. In der ersten Wahlrunde am 29. Mai lag sie bei etwa 54 Prozent. Für das Ergebnis am 19. Juni wird auch entscheidend, wie viele der 46 Prozent Nichtwähler*innen noch überzeugt werden können.

Petro steht nun vor der dringenden Aufgabe, Wähler*innen der politischen Mitte, vor allem Frauen, Feminist*innen und Mitglieder gesellschaftlicher Minderheiten, für sich zu gewinnen und Nichtwähler*innen an die Wahlurnen zu bringen. Insgesamt müsste er auf etwa 11 Millionen Stimmen kommen, um zu gewinnen. Nachdem der Uribist Federico Gutiérrez dem Zweitplatzierten Rodolfo Hernández öffentlich seine Unterstützung zugesagt hat, kann man davon ausgehen, dass ein Großteil seiner Wählerbasis für den Geschäftsmann aus Bucaramanga stimmen wird. Das wird aber wiederum den Verlust der Stimmen zur Folge haben, die Hernández aus Protest gegen den Uribismo bei der ersten Runde wählten. Der Kandidat Sergio Fajardo aus der Mitte hat seinen Wähler*innen die freie Wahl zwischen beiden Kandidaten offen gelassen, was wieder einmal die Spaltung der politischen Mitte beweist. Mit diesen Stimmen würde Rodolfo Hernández auf mehr als 11 Millionen Stimmen kommen und wäre somit der nächste Präsident des Landes. Für Petro wird es also knapp.

Es hängt vom Erfolg der jeweiligen Wahlkampagnen der kommenden Wochen ab, ob die Kolumbianer*innen einen Populisten zum Präsidenten wählen oder mit Petro den Kurs des tiefgreifenden Wandels einschlagen, der vor allem für die vielen Opfer des bewaffneten Konflikts, Frauen und gesellschaftliche Minderheiten so nötig wäre. Die sozialen Bewegungen des Landes werden dafür auch weiterhin kämpfen, das steht nach der feministischen Diskussionsveranstaltung mit Petro fest: „Unsere Rechte, liebe Kandidatinnen und Kandidaten, unsere Rechte warten nicht, und wir werden eines immer wieder sagen: Die Regierungen kommen und gehen, aber die sozialen Bewegungen bleiben“, hieß es dort.

// SCHLECHTE ALTERNATIVE

Plötzlich will in Europa fast niemand mehr russische Rohstoffe kaufen. Theoretisch. Denn wo die Auswirkungen auf die eigene Wirtschaft zu groß wären, wie zum Beispiel bei einem Verzicht auf Gasimporte, passiert erst einmal wenig bis nichts. Auch die Einfuhr von Metallen wie Titan, Nickel, oder Eisenerz geht vorerst weiter. Da der deutsche Ressourcenhunger den Angriffskrieg auf die Ukraine aber zumindest indirekt mitfinanziert, befinden sich Politiker*innen und Unternehmen nun fieberhaft auf der Suche nach Alternativen.

Fakten schaffen die EU und Deutschland zunächst vor allem dort, wo Sanktionen der eigenen Wirtschaft nicht weh tun. So enthält das Anfang April von der EU beschlossene fünfte Sanktionspaket ein ab Mitte August geltendes Einfuhrverbot für russische Steinkohle, die bisher mehr als die Hälfte der deutschen Kohle-Importe ausmachte. Doch im Gegensatz zum Gas gibt es hier Alternativen, die innerhalb weniger Monate umgesetzt werden können. Wie problematisch diese in menschenrechtlicher und umweltpolitischer Hinsicht jedoch sind, zeigt sich beispielhaft an einem der Produktionsländer, das nun auf höhere Exportzahlen hoffen kann: Kolumbien.

Bis vor wenigen Jahren gehörte Deutschland zu den Haupt-Importländern kolumbianischer Kohle. Mittlerweile ist die eingeführte Menge jedoch von über zehn auf unter zwei Millionen Tonnen jährlich gefallen. Dazu haben auch fortlaufende Berichte über Menschenrechtsverletzungen und Umweltverbrechen beigetragen. Ein (Teil-)Erfolg der lokalen und internationalen Aktivist*innen. Denn die Auswirkungen von Kohleprojekten in den Departamentos La Guajira und Cesar sind verheerend: gewaltsame Vertreibungen, Zerstörung von Ackerflächen, massive Wasserverschmutzung und -mangel. Unidas por la Paz Alemania, ein Kollektiv von Kolumbianer*innen in Deutschland, spricht von „kolumbianischer Blutkohle“.

El Cerrejón im nordöstlichen Bundesstaat La Guajira in Kolumbien ist eine der größten Kohleminen Lateinamerikas, seit 2021 gehört sie komplett dem Schweizer Konzern Glencore. Transnationale Konzerne fördern fast ausschließlich im Tagebau: Die regelmäßigen Sprengungen verursachen zahlreiche Gesundheitsprobleme bei der lokalen Bevölkerung, vor allem die indigenen Wayúu sind davon betroffen. Das kolumbianische Verfassungsgericht forderte El Cerrejón 2019 dazu auf, die umliegenden Gemeinschaften besser zu schützen. Aktivist*innen vor Ort berichten jedoch, dass das Unternehmen dies kaum umsetzt und stattdessen Drohungen ausspricht, zuletzt gegen diejenigen, die sich für den Schutz eines wichtigen, von der Mine umgeleiteten Baches einsetzen: „In diesem ganzen Kampf gab es wiederholt Einschüchterungen, Schikanen und Stigmatisierungen. Gleichzeitig hat das Unternehmen mit Geldzahlungen Brüche und Konflikte zwischen den Gemeinschaften verursacht“, beklagen betroffene Gemeinden und unterstützende Organisationen im April in einer Erklärung.

Wenig besser sieht es in anderen Ländern aus, die als Alternativen für ausbleibende Rohstofflieferungen aus Russland in Betracht kommen. Sei es Steinkohle aus Südafrika, Flüssiggas aus Katar, Nickel aus Indonesien und den Philippinen oder Eisenerz aus Brasilien: Menschenrechte, Gesundheit und Umwelt bleiben stets auf der Strecke. Die Debatte um russische Rohstoffe und deren ebenfalls problematische Alternativen zeigt vor allem eines: Unsere gesamte Produktions- und Lebensweise ist offensichtlich nicht aufrecht zu erhalten, ohne woanders auf der Welt massiven Schaden anzurichten. Wo also Menschenrechte verletzt werden und die Umwelt verschmutzt wird, muss Abhilfe geschaffen werden – etwa durch wasserdichte Lieferkettengesetze, die keine Schlupflöcher zulassen. Vor allem aber sollten wir unsere Produktions- und Lebensweise grundlegend hinterfragen, anstatt russische Kriegskohle durch kolumbianische Blutkohle zu ersetzen.

NEUE POLITISCHE LANDSCHAFT IM KONGRESS

Es war ein Erdrutschsieg. Zum ersten Mal in der kolumbianischen Geschichte ist die Linke die meistgewählte Kraft im Kongress. Allein das Linksbündnis Pacto Histórico gewann 48 der 295 Sitze und damit 16 Prozent der Stimmen (letzter Stand 1. April, Anm. der Red.). Der Zusammenschluss wird somit in den nächsten vier Jahren eine ernstzunehmende Rolle spielen.

Als Präsidentschaftskandidatin des linken Bündnisses landete die Umweltaktivistin Francia Márquez (LN 534) mit über 700.000 Stimmen auf dem zweiten Platz. Márquez wird nun als erste Afrokolumbianerin für die Vizepräsidentschaft neben dem meistgewählten Gustavo Petro kandidieren.

Der Erfolg des Bündnisses Pacto Histórico ist zwar eng mit Francia Márquez, doch vor allem mit Gustavo Petro verbunden. Der ehemalige Bürgermeister von Bogotá hatte bereits bei den Präsidentschaftswahlen von 2018 einen Meilenstein erreicht, indem er als erster linker Kandidat in der zweiten Runde gegen den jetzigen Präsidenten Iván Duque antrat. Als Oppositionsführer galt er seitdem als wichtiger Verbündeter jener Teile der kolumbianischen Gesellschaft, die die massiven Proteste von 2019 und 2021 angeführt haben. Nun hat sich Petro der Vereinigung der kolumbianischen Linken verschrieben. Diese neue Linke steht für eine seit langem bestehende Unzufriedenheit mit dem Uribismo und prangert die schlechte Umsetzung des Friedensabkommens an. Petro plant, das Friedensabkommen mit der FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) tatsächlich umzusetzen und die Gespräche mit der ELN-Guerilla (Nationale Befreiungsarmee) wieder aufzunehmen.

Das linke Bündnis strebt außerdem die Abkehr vom extraktivistischen Wirtschaftsmodell an. Stattdessen soll das zukünftige Wirtschaftsmodell auf einer nachhaltigen industriellen und landwirtschaftlichen Produktion beruhen: „Die erste Entscheidung, die ich als Präsident treffen werde, ist die Einstellung der Auftragsvergabe für die Ölgewinnung in Kolumbien. Es ist eine klare Botschaft: Wir bewegen uns auf eine produktive Wirtschaft zu, nicht auf eine extraktivistische“, so Präsidentschaftskandidat Petro im Interview mit El Tiempo. Die Entprivatisierung des Bildungs-, Renten- und Gesundheitssystems sind zentrale Punkte des Wahlprogramms, um die ökonomische Ungleichheit im Land zu bekämpfen.

Die Hoffnung der Mitte, das Bündnis Centro Esperanza, erhielt neun Prozent der Sitze im Kongress. Es handelt sich dabei um ein Bündnis von kleinen sozialdemokratischen Bewegungen. Dessen Zugpferd ist die Mitte-links-orientierte Alianza Verde, die Partei der derzeitigen Bürger-
meisterin von Bogotá, Claudia López. Die Liste für den Kongress führte Humberto de La Calle, Chefunterhändler des FARC-Friedensabkommens. De La Calle genießt unter Akademiker*innen und der progressiven Elite zwar große Sympathien. Die meisten Stimmen für seine Koalition erhielt jedoch ein junger YouTuber namens Jota Pe Hernández, der mit seiner hohen Stimmenzahl sogar die eigene Partei überraschte.

Das Ergebnis der Mitte-Koalition ist auch für die künftige Regierungsbildung relevant. Denn sollte der linke Kandidat Petro die Präsidentschaftswahl am 29. Mai gewinnen, kann sein Bündnis Pacto Histórico trotz des Erfolgs bei den Wahlen keine absolute Mehrheit im Kongress bilden und daher nicht allein regieren. Es gilt also als sehr wahrscheinlich, dass Petros Pacto Histórico zusammen mit Centro Esperanza und anderen Minderheiten ein Mitte-links-Bündnis bilden müsste. Dazu gehört auch die Ex-FARC-Partei Comunes, die, ungeachtet ihrer Wahlergebnisse, bis 2026 zehn Sitze im Kongress erhält. Zusammen würde dieses Bündnis jedoch höchstens ein Drittel des Kongresses ausmachen – nicht ausreichend also, um eine absolute Mehrheit zu erreichen.

Fajardo als Präsidentschaftskandidat der Mitte gilt als wenig 
erfolgversprechend

Auch das Spektrum der politischen Mitte wählte am 13. März einen Präsidentschaftskandidaten: Sergio Fajardo, ehemaliger Bürgermeister von Medellín und Dritter bei den Präsidentschaftswahlen von 2018. Obgleich Fajardo die Wahl zur Kandidatur gewann, kann er sich des Rückhalts seines eigenen politischen Lagers längst nicht sicher sein, da ein Teil der Alianza Verde Petro unterstützt. Fajardo erhielt sechsmal weniger Stimmen als Petro. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass die Präsidentschaft zwischen Gustavo Petro und dem Kandidaten der derzeit regierenden politischen Rechten entschieden wird.

Die aktuelle Regierungskoalition musste jedoch bei der Kongresswahl schwere Einbußen hinnehmen. Das Fehlen einer politischen Identität, die katastrophale Arbeit der Regierung Iván Duques und die zunehmende Abneigung gegen ihre Klientelpolitik haben die rechten Parteien Unidad Nacional, Cambio Radical und Centro Democrático stark geschwächt. Tot, wie manch einer vorausgesagt hatte, ist der rechtsextreme Uribismo trotz der erlittenen Verluste aber nicht.

Die Rechte erleidet Verluste, doch ein Königsmacher ist geboren

Zwischen den beiden rechten Parteien Cambio Radical und der Unidad Nacional gibt es so gut wie keine ideologischen Unterschiede. Sie verteidigen den freien Markt, ausländische Investitionen sowie die Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Sie waren die führenden Kräfte während der Regierung von Juan Manuel Santos, als 2016 der Frieden mit der FARC-EP unterzeichnet wurde. Zwei Jahre später koalierten sie jedoch mit der Partei Centro Democrático, die das Friedensabkommen ablehnte. Einer der Gründe für ihre Verluste im Kongress ist, dass einige ihrer bekanntesten Anführer, wie Roy Barreras und Armando Benedetti, die Seiten gewechselt und sich dem Pacto Histórico angeschlossen haben. Hinzu kommt, dass große Namen in diesen Parteien, wie der Char-Clan (Cambio Radical), wegen Korruption und Vetternwirtschaft großen Image-Schaden verursacht haben. Viele der Politiker*innen, die in den vergangenen Jahren wegen Korruption verurteilt wurden, gehörten der Unidad Nacional oder der Cambio Radical an. Gemeinsam fielen beide Parteien nun von 32 auf 18 Prozent der Sitze im Kongress.

Der größte Verlierer indes ist die rechte Partei Centro Democrático, die vom umstrittenen Ex-Präsidenten Álvaro Uribe Vélez (2002-2010) gegründet wurde und auch den derzeitigen Präsidenten stellt. Gewann die Partei 2018 noch 19 Prozent der Sitze im Kongress, sind es heute nur noch 9,5 Prozent.

Hauptverantwortlich für diese Verluste ist Uribe selbst: Der ehemalige Präsident ist aufgrund seiner Verstrickungen mit der Justiz in Verruf geraten, weshalb er 2020 aus dem Senat ausscheiden musste und momentan kein politisches Amt innehat. Doch auch das negative Image der Regierung Duques hat für große Verluste gesorgt (siehe LN 573).

Uribes Partei befürwortet eine militärische Lösung von bewaffneten Konflikten, sieht die nationale Sicherheit als Pflicht aller Bürger*innen an, ermutigt zur Selbstverteidigung und unterstützt umfassenden Landbesitz. Sie betrachtet die linke Opposition als terroristische Gefahr und war Hauptgegner des Friedensabkommens. Die meisten ihrer Wähler*innen sind Menschen, die unter der Gewalt der Guerilla gelitten haben.

Denkfabriken wie PARES hatten im Vorfeld der Wahlen das Ende des Uribismo vorhergesagt. Ganz so scheint es sich jedoch nicht bewahrheitet zu haben: Trotz der Verluste wurde etwa die der Partei angehörige Senatorin María Fernanda Cabal die meistgewählte Frau im Kongress. Cabal ist in mancher Hinsicht extremer als Uribe selbst: Sie strebt den Verkauf von Schusswaffen an die Zivilbevölkerung nach US-amerikanischem Vorbild an und plädiert offen für den Einsatz tödlicher Gewalt gegen Demonstrierende.

Die einzige Partei aus der Regierungskoalition, die ihren Anteil leicht steigern konnte, war die konservative Partido Conservardor, die sich von 12,5 auf 14 Prozent verbesserte. Ihre stärkste Figur ist die derzeitige Außenministerin Marta Lucía Ramírez. Die konservative Partei verteidigt die traditionelle heterosexuelle Familie, die katholische Religion, Sozialkonservatismus und Neoliberalismus. Trotz des Erfolgs der Konservativen fielen die derzeitigen Regierungsparteien von etwa 66 auf 44 Prozent. Damit verlieren sie die Mehrheit, die sie benötigen, um in beiden Häusern des Kongresses zu regieren (siehe Grafiken).

Die Abstimmung über die Präsidentschaftskandaditur der Rechten gewann Federico Gutiérrez, ehemaliger Bürgermeister von Medellín. Das rechte Lager, das ihn unterstützt, räumt ihm als Einzigem Chancen ein, Petro zu schlagen. Doch Gutiérrez‘ größte Schwäche ist die Unterstützung, die er durch den Uribismo erhielt. Viele sehen in ihm daher einen Nachfolger Iván Duques.

Die letzte große Partei im rechten Lager ist die liberale Partido Liberal. Ihr Anführer, Cesar Gaviria, war zwischen 1990 und 1994 Präsident. Er war derjenige, der den Neoliberalismus in Kolumbien einführte. Heute ist seine Partei mit 15 Prozent der Sitze neben dem Pacto Histórico eine der stärksten Kräfte im Kongress. Derzeit arbeitet die Partido Liberal unabhängig von Regierung und Opposition. Manchmal stimmt sie für Regierungsvorschläge, manchmal dagegen. Bislang war sie nicht von allzu großer Bedeutung, war die Regierungsmehrheit doch auch ohne sie gesichert.

Mit der neugewählten politischen Landschaft ändert sich nun alles. Die linke Mitte verfügt über 33 Prozent der Sitze im Kongress, die Rechte über 44 Prozent. Die liberale Partei könnte daher den Ausschlag in die eine oder andere Richtung geben und entweder eine knappe Mehrheit für ein mögliches Mitte-links-Bündnis oder eine sehr komfortable Mehrheit für die Rechten erzielen. Über die Ausrichtung der Partei wird in den kommenden Monaten intern debattiert, da sich die Führungspersönlichkeiten noch nicht einig sind. Sicher ist: Wer auch immer die Präsidentschaftswahl gewinnt, wird sich auf große Kompromisse einstellen müssen. Denn in einer solch privilegierten Situation wird die Partido Liberal sicherlich das Ziel verfolgen, mehrere Namen im Kabinett des nächsten Präsidenten zu bestimmen.
Im Repräsentantenhaus werden auch die kleineren Parteien für die Bildung von Mehrheiten entscheidend sein. Die meisten von ihnen sind die 16 Vertreter*innen aus Organisationen der Opfer des bewaffneten Konflikts, die dieses Jahr zum ersten Mal Sitze im Kongress bekommen haben, wie es das Friedensabkommen vorsieht.

Derweil blieben die Wahlen von Vorwürfen des Wahlbetrugs überschattet. Bereits zuvor hatten mehrere Politiker*innen der Mitte-Koalition Centro Esperanza den Direktor des kolumbianischen Wahlamts Alexander Vega dafür kritisiert, dass er keine Prüfungen der Wahlsoftware zuließ. Als Reaktion auf die Kritik entgegnete Vega, diejenigen, die dem System nicht trauten, sollten sich gar nicht erst zur Wahl stellen (siehe LN 569/570). Eine Aussage, die zu noch mehr Misstrauen und Zweifel an der Transparenz der Wahlen führte.

Das Gespenst des Wahlbetrugs bleibt

Nur Stunden nach den Wahlen wurde jenes Misstrauen erneut entfacht. Aus dem Pacto Histórico wurden Beschwerden laut, dass ein Viertel ihrer Stimmen für die Senatswahlen nicht gezählt wurde. Bei der zweiten Auszählung bekam das Linksbündnis Recht und gewann weitere vier Sitze im Senat. Anschließend beschuldigte Ex-Präsident Uribe die Opposition des massiven Betrugs, ohne jedoch Beweise dafür zu liefern. Vega und Duque griffen die Beschwerden Uribes auf und verlangten eine vollständige Neuauszählung der Stimmen – ein bislang nie dagewesener Vorgang und obendrein ohne Rechtsgrundlage, da das Ergebnis der zweiten Auszählung offiziell ist.

Aus Protest kündigte Petro anschließend an, dass er nicht länger an weiteren Präsidentschaftsdebatten teilnehmen werde, da die Transparenz nicht gewährleistet sei. Der Aufschrei war so groß, dass das Wahlamt seine Entscheidung am nächsten Tag zurückzog. Dennoch fordern Teile der Linken, der Mitte und der Rechten aufgrund des Fehlers bei der ersten Auszählung und des steigenden Misstrauens den Rücktritt von Vega. Je näher die Präsidentschaftswahlen rücken, desto mehr wächst also jener Argwohn gegenüber dem Leiter des Wahlamts.

Der Vorwurf eines möglichen Wahlbetrugs spannt die kommenden Präsidentschaftswahlen zusätzlich an, denn er kommt zu einem bereits äußerst polarisierenden Duell noch hinzu: zwischen Federico Gutiérrez als Vertreter einer geschwächten Rechten und Gustavo Petro als Anführer einer Linken, die so stark ist wie nie zuvor.

ZEITENWENDE IN KOLUMBIEN?

Widerstand Ein Teilnehmer der Proteste anlässlich des Nationalstreiks 2021 (Foto: Walter Tello)

Die politische Landschaft Kolumbiens war lange Zeit durch denselben Kreislauf geprägt: vor den Wahlen versprachen Politiker*innen Kolumbianer*innen aus allen Milieus die Verbesserung ihrer Lebensumstände, nach gewonnenen Wahlen vergaßen sie dieses Versprechen sogleich. Wieso sollte es bei dieser Wahl anders sein?

Der Grund ist der Generalstreik von 2021. Das erste Mal, dass die kolumbianische Zivilgesellschaft das Establishment in die Knie zwang und es schaffte, zumindest für ein paar Tage, die gesamte Exekutive zu erschüttern. Der Generalstreik schien wie das Erwachen einer mächtigen Zivilgesellschaft nach mehreren Jahrzehnten neoliberaler Reformen und des uribismo, der Ideologie um den ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe.

Doch das Fehlen einer geeinten Gruppe von Anführer*innen und Gewaltausbrüche bei den Demonstrationen höhlten den Protest von innen aus. Die Gleichgültigkeit des Präsidenten Ivan Duque und die polizeiliche und (para-)militärische Repression brachen ihn von außen. Die Strategie Duques machte deutlich, dass der Präsident nicht in der Lage war, die so dringend notwendigen großen Sozialreformen durchzuführen und dass er die Bürger*innen schlichtweg nicht verstand. Darum änderten die verschiedenen Anführer*innen des nationalen Streiks ihre Strategie. Sie konzentrierten sich nun darauf, ihre Bündnisse mit Hilfe der Oppositionsfraktionen zu stärken.

Diese Bündnisse wurden im Februar 2022 gefestigt, als Demonstrant*innen dem progressiven Historischen Pakt (Pacto Histórico) und dem eher in der politischen Mitte zu verortenden Zentrum der Hoffnung (Centro Esperanza) ihre Unterstützung zusicherten. Einem Sprecher des Nationalen Streikkomitees (CNP) zufolge, waren diese Oppositionskoalitionen in den letzten zwei Jahren harter Kämpfe bedingungslose Verbündete des CNP,, der Arbeiter*innen und der Gewerkschaftsbewegung: „Sie haben sich innerhalb und außerhalb des Kongresses als Ausdruck des CNP konstituiert und Debatten der politischen Kontrolle und öffentliche Anhörungen gefördert. Auch haben sie dazu beigetragen Morde, Gewalt und die Verletzung von Menschenrechten international und national anzuprangern.” Zusammen machen die zwei Koalitionen derzeit allerdings lediglich 20 Prozent des Kongresses aus, was sie noch zu einer sehr schwachen Opposition macht.

Das Chaos in Kolumbien betrifft den gesamten Alltag

Die große Frage im Wahljahr 2022 lautet: Wer wird der nächste Präsident Kolumbiens? Seit Monaten gilt der Senator Gustavo Petro, ehemaliger Bürgermeister von Bogotá und Vorsitzender des Pacto Histórico in allen Umfragen als Favorit. Doch vor dem ersten Wahlgang am 29. Mai hat Petro noch eine dringende Aufgabe zu bewältigen: Sein Pacto Histórico muss bei den Kongresswahlen am 13. März eine Mehrheit erreichen, um regieren zu können.

Um dieses Ziel zu erreichen setze der Pacto Histórico einige Kandidat*innen auf die Wahllisten, die den Demonstrant*innen nahe stehen. Denn diese hatten zuletzt das Fehlen von Vertreter*innen des Nationalstreiks auf den Wahllisten kritisiert. Ein gutes Beispiel ist der Journalist Alberto Tejada, der für das Unterhaus des Kongresses kandidiert und bei den Demonstierenden aus dem Jahr 2021 beliebt ist. Eine davon ist Malú. Die kolumbianisch-deutsche Aktivistin wohnt in Cali, der Hauptstadt des Valle del Cauca, und hat die Widerstandspunkte während der Proteste im letzten Jahr unterstützt. Sie wirft dem Präsidentschaftskandidaten Gustavo Petro vor, sich nicht vehement genug für die Proteste eingesetzt zu haben. Dennoch ist Malú für die Kandidatur von Alberto Tejada. „Er hat sich klar für uns ausgesprochen und er kennt und unterstützt die Jugendlichen”, sagt sie. „Deshalb haben die Jugendlichen an der primera línea ihn gebeten, die Regionalliste des Pacto Histórico im Valle del Cauca anzuführen”.

Geeinte Linke, gespaltene Mitte

Ein weiteres Bindeglied zwischen dem Pacto Histórico und den Demonstrierenden ist der Senator Gustavo Bolivar. Er stattete die primeras lineas mit Schildern und Gasmasken aus, damit diese sich während der Proteste gegen die Polizei verteidigen konnten. Bolivar steht auf der Kandidat*innenliste für den Senat an erster Stelle. Laut dem politischen Analysten Héctor Riveros könnte der Pacto Hístorico alleine mehr als 20 Prozent der Sitze erringen und mit Unterstützung weiterer verbündeter Parteien die wichtigste Kraft im Oberhaus des Kongresses, dem Senat, werden.
Eine solche Verbündete wäre die zweite Oppositionskoalition Centro Esperanza. Dieses Bündnis ist jedoch in interne Streitigkeiten verwickelt und hat sich noch nicht für einen Präsidentschaftskandidaten entschieden. Dennoch wird erwartet, dass die Koalition mit Kandidaten wie Humberto de la Calle, Chefunterhändler des Friedensabkommens mit der Guerillaorganisation FARC, bis zu 12 Prozent der Sitze im Senat erhält.

Die zwei Koalitionen könnten mit indigenen und afrokolumbianischen Vertreter*innen in beiden Kammern des Kongresses eine gemeinsame Koalition bilden, die, sehr optimistisch geschätzt, die Hälfte der Sitze erhalten könnte.

Analyst*innen sind sich zudem darüber einig, dass der uribismo ausstirbt. Uribe, der bis mindestens 2008 der beliebteste Politiker des Landes war, wird heute nur noch von 19 Prozent der Kolumbianer*innen positiv bewertet. Da ein Prozess wegen Zeug*innenbeeinflussung gegen ihn läuft, will er nicht mehr in den Kongress zurückkehren. Eine schlechte Nachricht für seine Partei Demokratisches Zentrum (Centro Democrático). Die Partei der Großgrundbesitzer*innen und rechten Politiker*innen könnte im Kongress von circa 17 Prozent auf 7 Prozent schrumpfen.

Das Centro Democrático stellt jedoch nur einen Bruchteil des Kongresses. Die Mehrheiten liegen derzeit bei den rechtsorientierten, traditionellen Parteien wie der konservativen Partei, der liberalen Partei, der Partei Radikaler Wandel (Cambio Radical) und der Sozialen Partei der Nationalen Einheit (la U), die in der Vergangenheit immer über die größte politische Macht verfügt haben. Zusammen machen sie etwa die Hälfte der Sitze im Kongress aus.

Diese Parteien haben keinen ausgeprägten politischen Diskurs und verdanken ihren Erfolg laut dem Meinungsforschungsinstitut PARES vor allem der Zusammenarbeit mit Mafias und regionalen autoritären Gruppen. Einen Großteil ihrer Stimmen gewinnen sie durch Klientelismus, Stimmenkauf und der übertriebenen Finanzierung politischer Kampagnen. Die zahllosen Skandale ihrer Mitglieder schaden ihren Zustimmungswerten nicht. Ein Beispiel ist der Char-Clan des Cambio Radical, gegen den die Staatsanwaltschaft ein Verfahren wegen Wahlstimmenkauf eingeleitet hat. Die Senatorin Aida Merlano beschuldigt ihn außerdem des versuchten Mordes. Auch Alexander Vega, unter anderem Wahlleiter für die bevorstehenden Wahlen, fällt wegen seiner Nähe zu diesem politischen Sektor auf.

Bisher gibt es keine Anzeichen dafür, dass diese große Parteiengruppe Einfluss verlieren wird. Abzuwarten bleibt, wie sich der landesweite Streik auf ihre Wähler*innenbasis ausgewirkt hat. Trotz dem Erstarken der Oppositionskoalitionen ist ein echter Wandel nicht gesichert.

Präsident Duque wird inzwischen von 79 Prozent der Bevölkerung abgelehnt. Unter anderem sprach er sich gegen die Ratifizierung des Escazú-Abkommens aus, einer Vereinbarung, die Umweltaktivist*innen mehr Sicherheitsgarantien bieten sollte. Kolumbien hat die höchste Mordrate von Umweltaktivist*innen weltweit. Mitte Februar, nur einen Monat vor den Wahlen in Kolumbien, berichtete der Präsident im Europäischen Parlament über seinen angeblichen Regierungserfolg. Wie üblich brüstete sich Duque mit den wenigen Fortschritten des Friedensabkommens und der Klimapolitik, für die jedoch andere, nach dem Friedensabkommen entstandene unabhängige Gruppen, maßgeblich verantwortlich sind. Einzelne Abgeordnete des Europäischen Parlaments organisierten daraufhin eine kleine Protestaktion, bei der sie den Empfang Duques durch das Parlament als „heuchlerisch“ beschrieben.

In Duques Regierungszeit fällt gleich eine ganze Reihe beschämender Rekorde: Laut dem „Big Mac Index“ von The Economist ist der kolumbianische Peso die am meisten abgewertete Währung weltweit; die soziale Ungleichheit hat sich stark vergrößert. Im Jahr 2021 wurden laut offiziellen Angaben 145 soziale Aktivist*innen ermordet, die Obdach- und Arbeitslosigkeit sind enorm gestiegen, genauso wie die Zahl der Corona-Toten und -Infizierten. In Kolumbien herrscht ein politisches, soziales und wirtschaftliches Chaos, das den gesamten Alltag betrifft.

Das Ende des uribismo?

Noch dazu haben die bewaffneten Gruppen, die die FARC überlebt haben, ihre Aktivitäten seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens verdoppelt. Heute verläuft weiter ein blutiger Krieg zwischen bewaffneten Akteuren um die Kontrolle ihres Territoriums. Dieses eklatante Versagen in der Sicherheitspolitik zeigt, dass Duque weder das Friedensabkommen wirklich umsetzen konnte, noch die in Havanna im Jahr 2016 vereinbarte Entwaffnung.

Aus diesen Gründen mobilisiert sich die kolumbianische Bevölkerung kurz vor den Wahlen gegen Präsident Duque und den uribismo. So ist denkbar, dass die kleinen Oppositionsfraktionen der Linken und der Mitte, die im letzten Jahr die Forderungen der Demonstrant*innen in den Kongress einbrachten in diesem Jahr eine parlamentarische Mehrheit erringen. Gleichzeitig ist wahrscheinlich, dass der uribismo viel von seiner Macht einbüßen wird. Die Stärke der traditionellen Parteien, die einem Wandel im Weg stehen könnten, bleibt bestehen. In Stein gemeißelt ist sie jedoch nicht.

Wenn die Hauptstrategie der Demonstrant*innen im Jahr 2021 darin bestand, die Straßen zu füllen, so wird sie im Jahr 2022 darin bestehen, im Kongress eine Regierungskoalition zu bilden.

KOLLEKTIVES EMPOWERMENT

Alis, Berlinale 2022 (Foto: © Casatarantula, deFilm, Pantalla Cines)

Bewertung: 5 / 5

Alis, das ist eine imaginäre Freundin, die sich zehn Jugendliche aus einem Internat für ehemalige Straßenkinder in Bogotá vorstellen sollen. Der Trick, den sich die kolumbianischen Filmemacher*innen Clare Weiskopf und Nicolás van Hemelryck ausgedacht haben, ist so einfach wie wirkungsvoll: Statt über sich selbst sprechen Luisa und Magaly, Shesley und Obando in ihren gefilmten Interviews über die Erfahrungen eines 15-jährigen fiktiven Mädchens, das neu zu ihnen in die Schule kommt. Was spielerisch mit der Beschreibung von Alis‘ Person beginnt – mal ist sie blond und groß, mal klein und gepierct, mal trägt sie schicke Kleidung und mal Baggy Pants – entwickelt sich schnell zu einer schonungslosen und brutal offenen Schilderung ihrer Erfahrungen auf der Straße. Spätestens nach den hochemotionalen Erzählungen von Schlägen und Verstoßung, von sexueller Gewalt, Drogenkonsum und Mord wird klar: Das hier kann sich niemand ausdenken, der es nicht selbst gesehen hat oder gar am eigenen Leib durchmachen musste. Alis funktioniert wie eine Projektionsfläche für alles, was die zehn Teenager*innen selbst erlebt haben. Ihre Erfahrungen werden durch das gemeinsame Erzählen zu einem kollektiven Narrativ, zur Anklage einer brutalen Gesellschaft, die sie ohne eigenes Verschulden misshandelt und ausgestoßen hat.

Aber Alis ist kein reiner Horrorfilm geworden und das ist das Wunderbare an der Dokumentation. Denn die Protagonist*innen behalten durch den Filter Alis immer die Kontrolle über das, was sie sagen und wie sie es sagen. Alis schützt sie davor, in eine reine Opferrolle zu rutschen und ermutigt sie, über ihre Hoffnungen und Träume zu sprechen. Tierärztin und Lehrerin wollen sie werden, Pilotin oder – warum klein denken? – Präsidentin von Kolumbien. Ob Alis Mutter werden will, wird David, der früher Xiomara hieß, gefragt. „Nein, Vater!“ kommt wie selbstverständlich die Antwort. An Nicol stellt die Interviewerin die etwas verdruckste Frage, wie die erste „intime Beziehung“ von Alis war, und bekommt prompt von ihr eine Lektion verpasst: „Intime Beziehung? Meinst du Sex? Sag‘s doch gleich so, damit ich dich auch verstehe!“ Später gibt es noch Tanz-Performances und Flirttipps, selbstgeschriebene Raps und Songs, die zwar melodisch komplett schräg, aber dafür mit umso beeindruckender Selbstsicherheit vorgetragen werden. Ein besseres Empowerment ist schwer vorstellbar.

Dass der Film trotz seines einfachen Aufbaus wie magnetisch in seinen Bann zieht, liegt natürlich vor allem an seinen Hauptdarsteller*innen, die mit entwaffnender Offenheit und Klarheit über ihre Erfahrungen sprechen, wobei sie fast nie den Blick von der Kamera wenden – Blicke, die niemanden kalt lassen. Es liegt aber auch an der großartigen Regiearbeit von Weiskopf und van Hemelryck, die das statische Setting der Einzelinterviews in der Umkleide der Schule mit Aufnahmen der Institution konterkarieren. Diese wirken zu Beginn des Films ebenso unbewegt, da sie menschenleere Räume zeigen. Während die Interviewten aber immer mehr auftauen, werden auch die anderen Filmszenen immer belebter. Am Schluss tanzen alle zusammen auf dem Schulhof Reggaeton.

Alis ist ein Film, der seine Zuseher*innen so schnell nicht loslässt und seine Preise auf der Berlinale 2022 (bester Jugendfilm, beste queere Dokumentation) völlig zu Recht gewonnen hat. Und offensichtlich auch das Leben der Teenager*innen im Film verändert hat. Denn auf die Frage, ob Alis denn nur eine Vorstellung war oder ob es sie wirklich gibt, ist die Antwort am Ende so eindeutig wie einstimmig: „Ja, Alis existiert!“

Alis, Berlinale 2022 (Foto: © Casatarantula, deFilm, Pantalla Cines)

Alis, Berlinale 2022 (Foto: © Casatarantula, deFilm, Pantalla Cines)

Zwei Stimmen, viele Ebenen

Mis dos voces, Berlinale 2022 (Foto: Courtesy of Rayon Verde)

Auf den allerersten Blick könnte der Dokumentarfilm Mis dos voces von Lina Rodriguez ein Architekturfilm sein, wenn die Kamera langsam die Fassaden von Hochhäusern in Toronto erklimmt. Vieles eröffnet sich bei diesem Film erst auf den zweiten Blick, denn Rodriguez setzt die filmischen Mittel Ton und Bild nicht direkt zueinander ins Verhältnis, sondern lässt sie umeinander kreisen.

Die Protagonistinnen Ana (Garay) Kostic, Marinela Piedrahita und Claudia Montoya hat es zu verschiedenen Zeiten und auf unterschiedlichen Wegen nach Kanada verschlagen. Ihre Herkunftsländer Kolumbien und Mexiko spielen mal mehr, mal weniger eine Rolle in den abwechselnden Erzählungen der drei Frauen, die stets als Stimmen aus dem Off die grobkörnigen Bilder des 16-mm-Films überlagern. Währenddessen gleitet die Kamera über Alltagsgegenstände, Dekoartikel und Einrichtungselemente. Die Bildsprache verliert sich im Detail, zwei Hände, die abwaschen, Close-Up-Aufnahmen von Füßen, die bei einer Parade tanzen. Erst ganz am Ende erreichen die Kamerabilder die Totale, so dass die Protagonistinnen mit ihren Familien zu sehen sind.

Die Erfahrungen der drei Frauen kreisen um Erinnerungen, um teilweise gewaltvolle Erlebnisse aus der Vergangenheit und deren Folgen für die Gegenwart. Durch die indirekte Form bleiben die Erzählungen vage. Die Stimme im Hintergrund berichtet von traumatischen Erfahrungen wie einem Bombenalarm in Medellín mitten in der Nacht, bei dem Pablo Escobar mit Megafon Menschen anweist und damit unbewusst die Protagonistin vor der kurz danach eintretenden Explosion warnt. Sie erzählt aber auch von schwierigen Momenten des Ankommens in der neuen Heimat, die scheinbar diametral zu den farbenfrohen Detailaufnahmen stehen: Türkisfarbener Nagellack wird sichtbar, eine Hand, die ein Holzstück abschleift, während das Voiceover demütigende Arbeitserfahrungen als Putzhilfe schildert.

Text und Subtext wechseln sich ab und bilden damit gewissermaßen die zwei Stimmen, mit denen die Frauen ihren Alltag bewältigen. Sprachlich nähern sich die drei aufgrund ihrer Migrationserfahrung an: Spanisch dominiert als emotionales Ausdrucksmittel, während die englische Fremdsprache nur indirekt thematisiert wird. Meistens ist unklar, wer gerade spricht und da die Gesichter zu den drei Stimmen bis ans Ende nicht gezeigt werden, entsteht ein Erzählfluss, der sinnbildlich für die fließenden Identitäten der drei Frauen steht. Lina Rodriguez ist damit ein mehrstimmiger Blick auf die Lebensrealitäten der drei Migrantinnen gelungen, der in seiner Uneindeutigkeit mitunter anstrengend ist, aber dessen experimenteller Charakter bestens in die Berlinale Sektion Forum passt.

Mis dos voces, Berlinale 2022 (Foto: Courtesy of Rayon Verde)

Mis dos voces, Berlinale 2022 (Foto: Courtesy of Rayon Verde)

FÜNF JAHRE ABKOMMEN

Der 24. November 2016 war ein hoffnungsvoller Tag für Millionen von Kolumbianer*innen, die seit 2012 die Friedensverhandlungen zwischen der FARC-Guerilla und der Regierung unterstützt hatten. An diesem Tag unterzeichneten beide Parteien ein Abkommen, um den jahrzehntelangen bewaffneten Konflikt zu beenden.

Die FARC war nur einer der im Konflikt involvierten bewaffneten Akteur*innen. Linke Guerillas wie die Nationale Befreiungsarmee (ELN), rechte paramilitärische Gruppen, mafiöse Strukturen und auch der Staat und seine Sicherheitskräfte waren und sind weiterhin verantwortlich für gravierende Menschenrechtsverletzungen. Das Verschwinden der FARC als bewaffnete Organisation bedeutet somit nicht die Beendigung des langjährigen Konflikts in Kolumbien.

Dennoch waren die Friedensverhandlungen und die Wiedereingliederung der FARC in das zivile politische Leben ein notwendiger Schritt, um den Weg für einen langfristigen und ganzheitlichen Frieden zu ebnen. Mit diesem Ziel verhandelten Delegierte der FARC, der Regierung und der Opfer des Konflikts umfangreiche strukturelle Reformen etwa in Bezug auf Land, illegale Anbaukulturen und politische Teilhabe.

Die Hoffnungen großer Teile der Zivilgesellschaft auf Frieden sind fünf Jahre nach der Unterzeichnung des Abkommens großteils der Enttäuschung gewichen. Der Jesuitenpater Javier Giraldo, eine wichtige Figur in der Verteidigung der Menschenrechte, äußerte sich in einem Interview mit der Zeitung El Espectador kritisch: „Es ist wie eine Konstante aller vorheriger Friedensabkommen. Der Konflikt wird nicht an den Wurzeln angepackt, die ehemaligen Kämpfer werden ermordet und die Gründe für den Krieg werden immer wieder hervorgeholt und dadurch auch der Krieg selbst.“

Das größte Hindernis der Umsetzung des Abkommens ist der fehlende politische Wille: In der Tradition des uribismo, der politischen Tradition des Ex-Präsidenten Álvaro Uribe, leugnet die aktuelle Regierung den bewaffneten Konflikt mitsamt seinen historischen Ursachen, versucht die Umsetzung des Friedensabkommen mit allen Mitteln zu torpedieren und diskreditiert öffentlich die entstandenen Organe für alternative Justiz und Wiedergutmachung.

Die Hoffnungen auf Frieden sind der Enttäuschung gewichen

Bereits vor der Unterzeichnung des Abkommens äußerten zivilgesellschaftliche Sektoren Sorgen bezüglich der Leerstelle nach Abzug der FARC aus den von ihnen kontrollierten Regionen. Die Befürchtung vieler Menschen, dass Kämpfe zwischen anderen bewaffneten Akteur*innen aufkommen würden, hat sich bestätigt. Nach dem Machtvakuum, das die FARC hinterlassen hatten, verpasste der Staat die Gelegenheit, mit einer sozialen Politik und Reformen zugunsten der verarmten Bevölkerung in diesen geostrategisch wichtigen (und deshalb gewaltvoll umkämpften) Territorien anzukommen. Der ehemalige FARC-Kämpfer Martin Batalla sagte dazu im LN-Interview: „Es ging nicht darum, die Regionen einfach sich selbst zu überlassen, dafür waren im Abkommen Programme und politische Maßnahmen vorgesehen – wie die umfassende Reform des ländlichen Raums, der Nationale Plan zur Substitution illegaler Anbaukulturen, das Sicherheitsprogramm für ländliche Gemeinden und für ehemalige Kämpfer“ (siehe LN 567). Umgesetzt davon wurde nichts.

Das Land braucht eine Regierung, die gewillt ist, das Abkommen umzusetzen

Der Staat ist in diesen umkämpften Territorien nur in Form des Militärs präsent, welches laut Pater Giraldo zumindest im Bundesland Antioquia „sehr offensichtlich mit dem Paramilitarismus zusammenarbeitet“. Vor dem Abkommen dominierte die FARC als prominenteste illegale bewaffnete Gruppe mit einer klaren Struktur und Ideologie. Gegenwärtig existieren über 30 bewaffnete Konflikt- gruppen, neben der ELN-Guerilla auch paramilitärischen Strukturen wie das mächtige Drogenkartell Clan del Golfo. Die große Leidtragende ist nach wie vor die ländliche Zivilgesellschaft.

Es kann nicht von einer „Beendigung des Konfliktes und der Etablierung eines stabilen und langanhaltenden Friedens“ die Rede sein, wie der Titel des Abkommens lautet. Anfänglich trat eine Zeit der relativen Ruhe in den ländlichen Regionen ein. Seit 2017 steigen jedoch die Zahlen der Morde, Massaker und Vertreibungen erneut an: Zwischen November 2016 und November 2021 wurden laut der NGO Indepaz 1.270 lideres/as sociales und 299 Unterzeichner*innen des Abkommens ermordet, 250.000 Menschen wurden gewaltsam vertrieben und zwischen Januar 2020 und November 2021 wurden 179 Massaker verübt. Die ermordeten líderes/as setzten sich oft für die Ersetzung von Anbaukulturen für illegale Drogen ein. Der Staat schweigt und selten werden die Täter*innen ermittelt.

Laut aktuellen Zahlen der UNO sind 95 Prozent der ehemaligen FARC-Mitglieder nach wie vor mit dem Abkommen verbunden. Jedoch hat der fehlende Wille der Regierung zur Umsetzung der mit dem Abkommen einhergehenden Garantien für ehemalige Kämpfer*innen dazu geführt, dass einige in illegale Gruppen eingetreten sind.

Auch innerhalb der aus dem Abkommen gegründeten Partei Fuerzas Alternativas Revolucionarias del Común (Farc), 2021 in Comunes unbenannt, funktioniert nicht alles wie erhofft: Machtkämpfe und divergierende Vorstellungen über Parteipolitik führten zum Austritt vieler Parteimitglieder. Batalla verwies jedoch darauf, dass die Unterzeichner*innen des Abkommens in verschiedenen Weisen für den Frieden kämpfen, die nicht notwendigerweise parteipolitisch sind.
Dennoch ist nicht alles negativ. Aus dem Abkommen resultierten mehrere Institutionen. Eine „Einheit zur Suche von als gewaltsam verschwunden geltenden Personen“, eine „Sonderjustiz für den Frieden“ (JEP) und eine außergerichtliche Wahrheitskommission (CEV). Die JEP ist verantwortlich für die juristische Aufarbeitung der Verbrechen und sieht für alle am Konflikt beteiligten Akteur*innen, im Gegenzug für die Mitarbeit zur Aufklärung der Geschehnisse, Straferlasse vor. Aussagen von Führungspersönlichkeiten der FARC, der Paramilitärs und des Militärs ermöglichten wichtige Einblicke in die Dynamiken des Kriegs. Die CEV soll bis Mitte 2022 einen umfassenden Bericht des bewaffneten Konflikts anfertigen, in der die Perspektive der Opfer im Mittelpunkt steht.

Seit Verabschiedung des Abkommens ist zivilgesellschaftlich  viel geschehen

Als Iván Duque 2018 zum Präsidenten gewählt wurde, wussten die Unterstützer*innen des Abkommens, dass sie verhindern mussten, dass sich die Drohung des Regierungsvertreters Fernando Londoño „das verdammte Friedensabkommen zu zerstören“ erfüllen würde. Seitdem ist zivilgesellschaftlich viel geschehen: Ein in Kolumbien nie zuvor gesehener Generalstreik und die Entstehung einer kollektiven Stimme, die ihr Recht auf ein würdevolles Leben und die Umsetzung des Abkommen einfordert. Die Hoffnungen liegen jetzt auf den Kongress-, Senats- und Präsidentschaftswahlen im März und Mai dieses Jahres. Das Land braucht dringend eine Regierung, die gewillt ist, das Abkommen umzusetzen, umfassende soziale und ökonomische Reformen durchsetzt und nicht von Korruption, Klientelismus und mafiösen Strukturen durchdrungen ist.

UMKÄMPFTE VERGANGENHEIT

Lorena Díez und Juana Corral Unterstützen die Wahrheitskommission (Foto: Paul Welch Guerra)

Es gibt bereits viele systematische Untersuchungen und Berichte, die versuchen, die gewaltvolle jüngere Geschichte Kolumbiens aufzuarbeiten. Was war die Idee hinter einer Wahrheitskommission und welche Funktion soll sie erfüllen?
Juana Corral: Es hat in der Geschichte Kolumbiens mehrere Anläufe gegeben, die bewaffneten Gruppen zu demobilisieren. Dabei wurden auch immer wieder Konfliktdokumentationen erstellt. Das Besondere an der Wahrheitskommission ist, dass sie die Perspektive der Opfer in den Mittelpunkt stellt und ihr Leid anerkennt. Dafür hat sie in allen Regionen des Landes und sogar im Ausland systematisch Erlebnisberichte und Zeugenaussagen verschiedener Opfergruppen gesammelt. Die Täter sind meist in aller Munde, aber kaum jemand spricht von und mit den Betroffenen.
Lorena Díez: Die Wahrheitskommission hat außerdem eine spezifische zeitliche Periode im Blick. Sie wurde infolge des Friedensvertrages zwischen der FARC-EP und dem kolumbianischen Staat gegründet. Aufgearbeitet werden soll deshalb die Zeit zwischen der Entstehung der Guerilla 1958 und ihrer Entscheidung von 2016, die Waffen niederzulegen. Das deckt natürlich nicht die ganze Geschichte der Gewalt in Kolumbien ab.

Wie ist die Kommission vorgegangen um die Mammutaufgabe zu bewältigen, einen so komplexen Konflikt abzubilden?
J.C.: Die Wahrheitskommission hat von Anfang an die Strategie verfolgt, ihre Arbeit zu dezentralisieren, auch weil die Gewalterfahrungen von Region zu Region sehr unterschiedlich sind. Die Ausprägungen des Konfliktes sind an der kolumbianischen Pazifikküste völlig andere als im Amazonasgebiet. Deshalb gibt es Sitze der Kommission in zehn Makroterritorien Kolumbiens. Außerdem wurde „Kolumbien außerhalb Kolumbiens“ als elftes Territorium aufgenommen, um die Erfahrungen hunderttausender Exilkolumbianer*innen die heute im Ausland leben, miteinzube- ziehen. Bei ihrer Arbeit greift die Kommission natürlich auf die Arbeit von anderen Institutionen zurück, die ähnliche Dokumentationsprozesse schon seit Jahrzehnten durchführen. Das Sammeln der Zeugenberichte wurde außerdem von psychosozialen Expert*innen begleitet. Das war wichtig, da in den Interviews immer wieder traumatische Erfahrungen thematisiert werden. Danach ging es vor allem darum, territoriale Muster von Gewalterfahrungen und Querschnittsthemen zu identifizieren. Ein zentrales Thema sind dabei zum Beispiel die geschlechtsspezifischen Gewalterfahrungen von LGBTQI*-Personen. Gleichzeitig zeigt eine intersektionale Perspektive auf den Konflikt, dass die Erfahrungen eben extrem heterogen sind und sich auch so in dem Abschlussbericht widerspiegeln müssen. Und trotzdem wird immer ein Teil der Realität fehlen.

Ihr seid Teil der deutschen Unterstützungsgruppe der Wahrheitskommission. Was bedeutet es für euch, von hier aus den Prozess zu begleiten?
J.C.: Ich halte es für sehr wichtig, dass die Dimension des Exils in diesem Prozess mitgedacht wird. Das steht im Kontrast zu vielen anderen Erfahrungen im lateinamerikanischen Kontext. Für uns, die wir aus verschiedenen Gründen nicht mehr in Kolumbien sind, ist es von großer Bedeutung, dass auch unsere Erfahrungen dort sichtbar und anerkannt werden. Es gehört zu meinen schönsten Erfahrungen dieser Arbeit die diversen Stimmen des Exils zu hören und sich auszutauschen. Mit Unterstützung der baskischen Regierung hat die Kommission zum Beispiel ein Treffen von Exilkolumbianer*innen der zweiten Generation organisiert. Dort haben wir gemeinsam überlegt, wie wir uns hörbar machen können. Warum? Weil wir wählen, weil wir die politischen und sozialen Prozesse in Kolumbien tagtäglich mitverfolgen, aber doch irgendwie ausgeschlossen sind.

Der kolumbianische Staat war nie ein neutraler Akteur in dem andauernden Konflikt und trägt selbst Verantwortung für viele Gewalttaten. Welche Probleme gehen damit einher, dass die Wahrheitskommission eine staatliche Institution ist?
L.D.: Die Kommission ist eine staatliche Institution, aber keine Regierungsinstitution. Das ist ein wichtiger Unterschied, den viele nicht sehen. Trotzdem ist sie natürlich abhängig von Regierungsgeldern und die aktuelle Regierung ist keine Freundin der Wahrheitskommission. Das erste, was sie gemacht hat, ist, der Kommission 40 Prozent der Mittel zu kürzen. Um das aufzufangen, waren internationale Kooperationen sehr wichtig. Doch die vielen Feind*innen der Wahrheitskommission in der aktuellen Regierung beeinflussen natürlich auch die gesellschaftliche Atmosphäre. Die Lage ist sehr polarisiert und viele, die den Friedensprozess mit der FARC-EP abgelehnt haben, sind auch bezüglich der Wahrheitskommission voreingenommen. Bei diesem Teil der Bevölkerung ist die Bereitschaft mit der Wahrheitskommission zu sprechen und Zeug*innenberichte abzugeben kaum vorhanden – auch wenn es Ausnahmen gibt. Für die letzte Phase ist der Ausgang der Präsidentschaftswahlen deshalb sehr wichtig.
J.C.: Dem stimme ich zu. Ein zentrales Ziel des Friedensvertrages und der Kommission ist es ja, zu verhindern, dass die Gewalt sich in der Zukunft wiederholt. Das wird uns aber nur gelingen, wenn es den politischen Willen dazu gibt, Räume in Schulen, Universitäten und anderen Kontexten zu schaffen, in denen über die Vergangenheit gesprochen werden kann.

Ansätze einer Übergangsjustiz, wie sie beim Friedensprozess in Kolumbien jetzt angewendet werden, zielen meist darauf ab eine gewaltsame Vergangenheit aufzuarbeiten und aufzuklären. Doch die Gewalt und der Konflikt prägen immer noch die Gegenwart des Landes. Wie wirkt sich das auf eure Arbeit aus?
J.C.: Das ist für uns sehr hart. Der jüngste Generalstreik und die damit einhergehende Gewalt ist ein gutes Beispiel dafür. Viele aus unserer Unterstützungsgruppe sind aus der Pazifikregion oder aus Cali, wo die Proteste und die Repression besonders stark waren. Es hat uns paralysiert, täglich diese schrecklichen Nachrichten und Videos zu bekommen und zu merken, dass wir zu der Situation zurückkehren, die wir überwunden glaubten. Und von außen sieht man die Dinge auch oft negativer. Das Ganze hat uns in einen Zustand der Hoffnungslosigkeit gebracht.
L.D.: Ich habe dazu eine etwas andere Position, was auch damit zu tun hat, dass ich aus Cali komme und erst seit zwei Jahren und nicht seit 20 Jahren hier lebe. Meine Netzwerke dorthin sind noch sehr aktiv und ich habe, so gut es geht, versucht von hier aus aktiv zu sein. Der Streik war ein bisher nicht erreichter Höhepunkt von Mobilisierungen, ein Moment des Umbruchs. Mich hat es hoffnungsvoll gestimmt, so viele sehr junge Leute zu sehen, die etwas verändern wollen. Die Räume, die in diesem Kontext entstanden sind, werden essentiell sein, um die Ergebnisse der Wahrheitskommission zu diskutieren und zu verbreiten. Ich hoffe, dass der Abschlussbericht breit diskutiert wird und wir uns trauen, daraus eine politische Debatte zu machen. Das würde auch erlauben nicht mehr nur über einzelne Akteur*innen oder Gruppen zu sprechen, sondern über strukturelle Probleme unserer Gesellschaft. Eines dieser Probleme ist zweifellos die Drogenökonomie und ihre Folgen für viele Länder dieses Kontinents.

Was sind die nächsten Schritte in der Arbeit der Wahrheitskommission und wie geht es für euch als Unterstützungsgruppe weiter?
L.D.: Nach der Veröffentlichung des Abschlussberichts im Juni 2022 ist eine zweimonatige Phase zur Verbreitung und Debatte der Ergebnisse geplant. Wir gehen davon aus, dass der Bericht auch konkrete Vorschläge für politische und kulturelle Maßnahmen enthalten wird, die dazu beitragen sollen, den Friedensprozess voranzu- bringen.
J.C.: Außerdem soll dann eine neue Kommission gegründet werden, mit dem Ziel, die Umsetzung der vorgeschlagenen Maßnahmen zu begleiten. Wir als Unterstützungsgruppe haben eine Finanzierung bis 2022 und wollen in dieser Zeit das Terrain für eine öffentliche Debatte der Ergebnisse vorbereiten. Zum Glück gibt es viele Gruppen wie kolko oder die Kolumbienkampagne, die in den letzten Jahren mit ihrer Arbeit eine wichtige Basis geschaffen haben, auf der wir aufbauen können. Wie wir genau vorgehen werden, steht noch nicht fest.
L.D.: Genau. Ich glaube es wird darum gehen, sich zu öffnen und mit allen Kolumbianer*innen hier in Deutschland ins Gespräch zu kommen. Aber natürlich müssen wir auch die deutsche Zivilgesellschaft erreichen. Viele Deutsche kennen uns durch super Serien [lacht ironisch], als exotisches Reiseland und vielleicht noch wegen der Musik, aber das war es. Aktuell gibt es viele Kolumbianer*innen, die hier in Deutschland ankommen und Asyl beantragen, über 90 Prozent davon erfolglos. Umso wichtiger ist es, dass hier ein Bewusstsein über die Situation in Kolumbien geschaffen wird.

VOM GENERALSTREIK ZU DEN WAHLEN 2022

Der Staat tötet Wandbild zur Erinnerung an die Getöteten des Generalstreiks 2020 am Tempelhofer Feld in Berlin (Foto: Jara Frey-Schaaber)

Der Streik in Kolumbien wurde Opfer seines eigenen Erfolgs, denn niemand hatte erwartet, dass er so weitreichend und lang anhaltend sein würde. Große Demonstrationen über einen Zeitraum von drei Monaten führten zu zahlreichen Veränderungen in der politischen Landschaft. Vier Minister wurden abgesetzt, Kolumbien verlor die Gastgeberschaft der Copa América, die Regierung musste zwei wichtige Reformen zurücknehmen und sich vor der internationalen Gemeinschaft für die Menschenrechtsverletzungen verantworten. Man kündigte eine Polizeireform an, deren größte Errungenschaft darin bestand, die Farbe der Uniformen von grün auf blau zu ändern. Die vielleicht einzige greifbare und dauerhafte Errungenschaft ist eine kostenlose öffentliche Universitätsausbildung für Menschen mit niedrigem Einkommen. Unter den Menschen jedoch herrscht das Gefühl, der Streik habe zu lange gedauert. Die Straßenblockaden hielten über Wochen an. Ohne klare Führungspersönlichkeiten gerieten Wut und Frustration außer Kontrolle, und schließlich verlor der Streik die breite Unterstützung in der Bevölkerung, die er zuvor genossen hatte.

Die Spitze des Streikkomitees, die sich zunächst aus Gewerkschaftsvertreter*innen und Studierenden zusammengesetzt hatte, erweckte den Anschein, ein autonomer politischer Akteur zu werden, der die Wahlen im Jahr 2022 beeinflussen könnte. Doch diese Illusion verblasste zusehend. Schließlich wurde die Streikbewegung so groß, dass sie keine Anführer*innen mehr anerkannte. Jede Gruppe beharrte auf ihren eigenen Forderungen: Die formalen, gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer*innen wollten ihren Status nicht verlieren; die Verzweifelten, die große Mehrheit, wollte in die Bewegung integriert werden. Diese zerfiel und die internen Spaltungen und Vorwürfe nahmen zu. Das Streikkomitee legte seine eigenen Forderungen vor, ohne die der großen Mehrheit zu berücksichtigen. Die marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen hatten keine sichtbaren Anführer*innen. Während die soziale Revolte in Chile neue Führungspersönlichkeiten hervorbrachte, die ihre Listen in den Verfassungskonvent einbrachten (siehe Artikel auf Seite 8), müssen die Protestierenden in Kolumbien auf bereits bestehende Koalitionen setzen, die sich der Regierung Duque entgegenstellen: Das Bündnis Pacto Histórico der Linken und die Coalición de la Esperanza der Mitte.

Für einige besteht kein Zweifel, dass die Zeit des Uribismus vorbei ist

Eine der Hauptforderungen der Streikenden waren Maßnahmen von Seiten Duques gegen die politische Gewalt in Kolumbien, die derzeit größte Bedrohung für soziale Bewegungen. Die Regierung Duque und ihre drei Verteidigungsminister verharmlosen die Verfolgung von Aktivist*innen und bestreiten, dass Morde politisch motiviert seien. Dabei stigmatisieren sie die Opfer und die Umstände ihres Todes. Nach Angaben des Instituts Indepaz wurden seit dem 28. April mehr als 80 führende Persönlichkeiten aus zivilgesellschaftlichen, bäuerlichen, indigenen und afrokolumbianischen Gruppen sowie aus Umwelt- und Menschenrechtsbewegungen ermordet – zusätzlich zu den mehr als 1.200 Aktivist*innen, die seit 2016 ermordet wurden. Eine regelrechte Vernichtung der Demokratie und sozialen Bewegungen.

Die politische Verfolgung trägt sich inzwischen sogar in kolumbianischen Organisationen in Europa zu. Vor einigen Tagen erhielt Karmen Ramírez Boscán, Vertreterin der Wayú-Indigenen und Mitglied der Partei Colombia Humana, zusammen mit anderen Aktivist*innen Morddrohungen aus der Schweiz. Es gibt außerdem Gerüchte, dass der jüngste Mord an dem in Genf lebenden Geflüchteten und Aktivisten Alfredo Camelo Franco mit den kolumbianischen Paramilitärs in Europa in Verbindung steht.

Die unabhängige Presse, die von der Unterdrückung des nationalen Streiks berichtete, ist ebenfalls Zielscheibe politischer Gewalt geworden. Der Journalist Alberto Tejada von Canal 2, der während der Proteste über die illegale Inhaftierung hunderter junger Menschen in geheimen Polizeigewahrsamzentren in Cali berichtete, erhielt Morddrohungen, mutmaßlich finanziell unterstützt von wohlhabenden Menschen aus Cali, wie mehrere Medien berichteten. Aus diesem Grund beantragte die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) vorsorgliche Maßnahmen zu seinem Schutz und dem seines Kameramanns. Auch der junge Journalist Christian Guzmán vom digitalen Medium La Direkta musste aus dem Land fliehen, nachdem er erfahren hatte, dass ein Mordanschlag auf ihn geplant war. Am 23. August wurde der Studierendenanführer und unabhängige Journalist Esteban Mosquera ermordet, der vor drei Jahren bereits ein Auge verloren hatte, als die Polizei ihn anschoss. Der Killer, der ihn von einem Motorrad aus erschoss, gestand, dass er dafür bezahlt worden war, den Journalisten zu töten, weil er „eine gefährliche Person für die Gesellschaft” sei.

Die Aktivist*innen werden auch gerichtlich verfolgt, insbesondere die der sogenannten primera línea (siehe Interview auf Seite 42). Während der heftigen Proteste rüsteten sich diese jungen Leute mit selbstgebauten Schilden und Tränengasmasken aus, mit denen sie sich gegen die Brutalität der Polizei wehrten. Heute sind schätzungsweise 165 von ihnen unter anderem wegen Vandalismus und Terrorismus verhaftet worden.

Ein weiterer Grund für die Unzufriedenheit mit Duque ist die Kooptation der Justiz durch die Ernennung seines persönlichen Freunds Francisco Barbosa zum Generalstaatsanwalt. Barbosa ist für seine Unfähigkeit bekannt, Ermittlungen voranzutreiben, die Duque mit dem Drogenhändler José Guillermo (El Ñeñe) Hernández in Verbindung bringen, der angeblich seine Präsidentschaftskampagne 2018 finanzierte. Überraschenderweise war Barbosa sehr effizient bei der Einleitung harmloser und medienwirksamer Strafverfolgungsmaßnahmen gegen Duques Hauptgegner*innen wie die Bürgermeisterin von Bogotá, Claudia López, und den linken Präsidentschaftskandidaten Gustavo Petro.

Trotz allem gehen die Mobilisierungen weiter. Obwohl weniger Menschen auf die Straße gehen, sind die Vorwürfe nach wie vor schwer. Für den 20. Oktober rief das Streikkomitee zu einer Demonstration auf, bei der sie die Erneuerung des Gesundheitssystems und eine bessere Bezahlung von Ärzt*innen forderten. Ein Sprecher des Ausschusses verwies insbesondere auf einen Fall, in dem die Beschäftigten eines Rehazentrums über 33 Monate kein Gehalt bezogen.

Wenn die Regierung jedoch zu Beginn des Streiks keine wirkliche Verhandlungsbereitschaft gezeigt hat, besteht wenig Hoffnung, dass die Demonstrationen zu diesem Zeitpunkt etwas bewirken werden. Die gescheiterten Gespräche zwischen den sozialen Bewegungen und der Regierung von Iván Duque dauerten drei Wochen. Das allein genügte den Demonstrierenden, um zu erkennen, dass die Regierung absichtlich Zeit schindete, und sich vom Verhandlungstisch zurückzog. Man wollte warten, bis sich die Demontrationen auflösten. Duque ist inzwischen der unbeliebteste Präsident in der Geschichte Kolumbiens, rund 70 Prozent lehnen ihn ab. Das Gleiche gilt für Álvaro Uribe, ehemaliger Präsident und Parteivorsitzender des rechtskonservativen Centro Democrático (CD), dem auch Duque angehört. Angesichts der bevorstehenden Wahlen im Jahr 2022 führt ein solch negatives Image auch in der eigenen Partei zu einer heftigen Ablehnung des Präsidenten. Die Regierung ist so unpopulär, dass sich viele Abgeordnete angesichts der näher kommenden Wahlen um jeden Preis von Duque distanzieren wollen. Für einige besteht daher kein Zweifel, dass die Zeit des Uribismus vorbei ist.

Die Voraussetzungen für einen Machtwechsel sind gegeben

Doch der Weg für eine politische Alternative ist noch nicht frei, was vor allem an einem Aspekt liegt: Der bekannte Politikwissenschaftler Ariel Ávila, der jetzt für den Senat kandidiert, hat eindringlich vor möglichem Wahlbetrug im Jahr 2022 gewarnt. Seine Besorgnis dreht sich um die Registraduría – jene Behörde, die für die Organisation der Wahlen zuständig ist.

Unter anderem kritisiert er den Fluss von Bestechungsgeldern zur Veränderung der Stimmauszählung. Ein weiterer Grund zur Besorgnis sei, dass der Leiter der Behörde, Alexander Vega, eine Überprüfung der sieben Softwarepakete vom Privatunternehmen Thomas Greg and Sons, die zur Auszählung der Stimmen verwendet werden, verhindert hat. Das Unternehmen hatte bereits die Software für jede Wahl in Kolumbien seit 2009 geliefert und erfüllt somit als einzige eine umstrittene Anforderung: bereits in früheren Wahlen eingesetzt worden zu sein. Mit anderen Worten: Der Auftrag ist auf das Unternehmen zugeschnitten. Angesichts dessen haben Kandidat*innen und zivilgesellschaftliche Organisationen die Entsendung von internationalen Wahlbeobachtungsmissionen gefordert, um gewisse Garantien zu gewährleisten. Einige führende Politiker*innen bestehen darauf, dass die Aufgabe der Bürger*innen in nächster Zeit darin bestehen solle, die Wahlen zu überwachen und die Transparenz des Prozesses zu kontrollieren. Die Besorgnis über die Transparenz des demokratischen Kampfes wächst.

Generell scheinen die Auseinandersetzungen zwischen der derzeitigen Regierung und den sozialen Bewegungen unversöhnlich zu sein.

Die Voraussetzungen für einen Machtwechsel sind gegeben: weit verbreitete Unzufriedenheit, eine unnachsichtige und isolierte Regierung, eine schwerwiegende Menschenrechtslage und zwei Oppositionskoalitionen, die immer stärker werden. Die tatsächlichen Folgen des nationalen Streiks werden jedoch erst bei den Kongress- und Präsidentschaftswahlen im Jahr 2022 sichtbar werden. Angesichts des Misstrauens gegenüber dem von Vega geleiteten Wahlregister scheint es, dass nur die sozialen Bewegungen und die alternativen politischen Sektoren die Transparenz des demokratischen Wettbewerbs garantieren können. Ebenso hängt die neue Zusammensetzung des Kongresses und der Regierung im Jahr 2022 davon ab, ob und wie die sozialen Bewegungen einen Ausweg aus der politischen Verfolgung und ein offenes Ohr für ihre Forderungen finden.

FREI WIE DER ALBATROS

Widerständig Das “Anti-Denkmal” in Puerto Resistencia (Foto: Remux via Wikimedia Commons – CC BY-SA 4-0)

Auf dem Bildschirm taucht zuerst Nahuel auf: Sein Bild zeigt ein schlicht eingerichtetes Zimmer, irgendwo in Santiago de Chile. Ein junger Typ mit dunklen Locken, Brille und Ohrringen fängt an zu erzählen:

Nahuel: Hey, ich bin Nahuel Herane, 19 Jahre alt. Ich war bei der Revolte vom 18. Oktober 2019 in der primera línea dabei. Am 21. Dezember des gleichen Jahres – ich war 17 – haben mich sieben Schrotkugeln der Carabineros getroffen. Sechs auf den Körper und eine ins Auge. Bis heute kann ich auf dem linken Auge nichts mehr sehen.

Inzwischen ist auch Rolando Quintero da. Sein Bild wackelt, er ist auf dem Fahrrad in Puerto Resistencia unterwegs. Die Kreuzung war einer der zentralen Orte des kolumbianischen Nationalstreiks in Cali und ist heute ein Ort der Selbstorganisation von unten. Hier ist Rolando besser als El Profe (Der Lehrer) bekannt.

Profe: Hallo, ich bin Rolando, viele nennen mich el Profesor Papas oder el Profesor P. Ich habe an der Universidad del Valle Politikwissenschaften und Konfliktlösung studiert. Hier an dieser Kreuzung, früher Puerto Rellena und heute Puerto Resistencia genannt, habe ich mich am 28. April 2021 dem Generalstreik angeschlossen.

Der Profe ist an einer großen Baustelle angekommen. Hier entstehe ein riesiges Infrastrukturprojekt, erzählt er. Auf der Mitte des Platzes ragt eine große Hand in die Höhe – das „Anti-Denkmal der primera línea“, wie er es nennt.

LN: Wie kam es eigentlich dazu, dass ihr in der primera línea seid?
Nahuel: Ist es okay, wenn ich anfange, Profe?

Profe: Na klar, erzähl!

Nahuel: Also zu Beginn der Revolte war ich noch in der Oberstufe. Schon meine Familie hat eine sehr politische Geschichte: Mein Großvater war vor der Diktatur bei der Ermittlungspolizei PDI und 1973 als Personenschützer von Präsident Allende im Regierungspalast. Auch in der Diktatur waren meine Familienangehörigen in Widerstandsorganisationen wie der MIR aktiv. Mein politisches Bewusstsein hat in der Mittelstufe angefangen, also mit 14 oder 15. Ich fand die Politik der Regierungen schlecht, ging auf die Demos der Studierenden und Schüler und fand mich in einer anderen Welt wieder. Und dann kam der estallido social (so wird in Chile der Beginn der Revolte im Oktober 2019 bezeichnet, Anm. d. Red.). Erst da lernte ich die primera línea kennen. Die Tage nach dem 18. Oktober 2019 liefen immer gleich ab: Aufstehen, etwas essen und zur Plaza de la Dignidad, dem zentralen Ort der Proteste, laufen. Am späten Nachmittag kam ich nach Hause, habe gechillt und etwas gegessen, dann ging es auch schon wieder los zur Digni: zum Material suchen, andere Dinge vorbereiten. Es waren die chaotischsten Tage meines Lebens. Das ging zwei Monate, bis das mit dem Auge geschah. Von da an übernahm ich ruhigere Aufgaben.

Profe: Oft erwacht das Bewusstsein über gesellschaftliche, politische oder wirtschaftliche Zusammenhänge ja an der Uni oder am Arbeitsplatz. In meinem Fall war das an der Universidad del Valle. Dort wurde mir die soziale Ungerechtigkeit in Kolumbien bewusst, die an vielen Orten unseres Subkontinents eine systematische Geschichte hat, die mit den Interessen nationaler und transnationaler Akteure zusammenhängt. Aus diesem Bewusstsein entwickelte sich in meiner Studienzeit ein Kampf – zuerst sehr persönlich. Schließlich habe ich beschlossen, dass dieser Kampf mein Platz in der Welt zum Sein, zum Denken und zum Fühlen ist. Das alles war vor dem 28. April 2021. An diesem Tag haben uns die Indigenen eine große Lektion erteilt: Dass Dinge geschehen, wenn man sie selbst in die Hand nimmt. Die Indigenen haben für das Niederreißen der Statue des sogenannten Gründers von Cali, Santiago de Cali, gesorgt. In dem Moment, als diese Statue fiel, fingen wir an, unser Anti-Denkmal, die Hand der Würde, zu errichten. Mit allem, was wir heute tun, knüpfen wir an die Kämpfe unserer indigenen Vorfahren an, die wir niemals begraben und vergessen können. Puerto Resistencia ist heute zu unserem Territorium geworden, auf dem wir diese Erfahrungen gemeinsam mit kämpferischen Menschen säen und düngen.

Wer sind die Leute links und rechts von euch, wenn ihr in der primera línea steht?
Nahuel: Die Revolte haben wir Oberstufenschüler angefangen, indem wir über die Drehkreuze der U-Bahn gesprungen sind und das ganze Land aufgeweckt haben. Aber in der primera gibt es alles. Oft sehen wir uns gegenseitig nur vermummt. Da weißt du nicht viel über die anderen – nur, dass die anderen Gefährten im Leben und im Kampf sind. Man riskiert sein Leben füreinander und denkt trotzdem kaum darüber nach, mit wem man dort ist. Oft sind es junge Menschen wie ich, aber es gibt auch Ältere, Arbeiter und so weiter. Von den Leuten, mit denen ich organisiert bin, kann ich sagen, dass wirklich alle mitmachen, auch Frauen, Queers, trans Personen, nicht-binäre Personen.

Profe: Das war in den Tagen von Puerto Resistencia auch so. In der primera línea verbündeten sich frühere Feinde, bauten gemeinsam dieses Anti-Denkmal auf und errichteten Barrikaden. Es gab eine 500 Meter lange Barrikade, die sich weder die Polizei noch andere Sicherheitsorgane zu durchbrechen trauten, weil dahinter so viele Menschen waren: 24 Stunden am Tag, 90 Tage lang. Da gab es Leute, die endlich die T-Shirts feindlicher Gruppen ablegten und beschlossen, ihre gewalttätigen oder sogar tödlichen Auseinandersetzungen beiseite zu lassen, um Puerto Resistencia aufzubauen.

Und natürlich dürfen wir den Beitrag der Mütter und Tanten in der Küche, beim Kochen und bei der Wäsche nicht vergessen. [Zeigt auf ein kleines Haus] Dort in diesem Häuschen hatten wir unsere improvisierte Krankenstation. Da gab es alles von Notfallsanitätern bis hin zu ausgebildeten Ärzten, sogar Chirurgen. Besonders bemerkenswert war die Hilfe der Bauarbeiter: Statt nach 14-Stundenschichten nach Hause zu gehen, kamen sie danach zu uns und halfen beim Bauen.

Wände machen Mut “Halte durch, primera línea!” (Foto: Ute Löhning)

Und wie versteht ihr euch mit den Protestierenden außerhalb der primera línea?
Nahuel: Das kommt sehr auf die Protestierenden an. Mich nervt es, wenn Leute auf Demos Alkohol trinken oder kiffen. Das ist nicht der richtige Ort dafür. Manchmal gab es auch nervige Diskussionen um Gewalt. Und trotzdem sorgt man sich natürlich um die Menschen hinter einem: um die Kinder, die Eltern, die alten Leute. Denn auch sie sind ja Gefährten im Kampf. Oft bilden sie die zweite Reihe und sind in den kritischen Momenten für uns da.

Profe: Also in Puerto Resistencia gibt es diese Unterscheidung gar nicht. Die primera línea sind wir alle, primera línea steht für Gemeinschaft. In der primera línea kommen alle zusammen, die für den Kampf um Würde und soziale Gerechtigkeit aus dem Schatten getreten sind. Da wird nicht zwischen den einen und den anderen unterschieden. Und wenn es Gewalt bei Aktionen gab, dann weil sie zur Verteidigung nötig war.

War das schon immer so?
Profe: Die Geschichte der primera línea begann dem Mythos nach vor ungefähr fünf Jahren an der Universidad Nacional de Colombia, der größten Uni des Landes. Dort haben sich ein paar junge Typen ohne militärische Ausbildung und ohne Erfahrung mit Gewalt und Konfrontation zusammengetan, um die Demos zu schützen: gegen die Waffengewalt des Staates, ganz besonders gegen die ESMAD. Die primera línea hatte Gasmasken, Schilder und Bleche dabei – und war gewillt und naiv genug, ihre Leute, die Protestierenden, zu schützen. Damals wurden sie belächelt wie der Albatros im Gedicht von Baudelaire. Heute, nach fünf Jahren, fliegt die primera línea wie ein freier Albatros. Heute werden wir mit Respekt behandelt und die Vertreter von Unternehmen verhandeln mit uns. Wir haben die Vermummung abgenommen. Deshalb sagen wir auch offen, dass wir alle primera línea sind. Stimmts?

Junge aus dem Off: Ich bin primera línea!

Profe: Der Freund hier ist gerade mal 15 Jahre alt und schon unser Menschenrechtskoordinator. Als Mensch, der das alles am eigenen Leib erlebt hat, erfüllt er alle Voraussetzungen, die es für diese Arbeit braucht. Dazu muss er heute unsere Verfassung nicht verstehen oder irgendwelche Artikel lesen – das kommt mit der Zeit. Ich verstehe das als zweite Phase unseres Widerstands: Heute nimmt fast die ganze primera línea an Kursen zu Menschenrechten und politischer Mitbestimmung teil, holt ihre Abschlüsse nach.

Aber habt ihr keine Angst vor Repression?
Profe: Wir haben die Angst verloren. Denn unsere Träume von einem Leben in Würde fliegen hoch wie der Albatros, von dem ich vorhin sprach – zu hoch für die Angst. Das heißt nicht, dass es keine Repression gibt. Wir beobachten, dass Leute aus der primera línea verschwinden oder für Taten verurteilt werden, für die es gar keine Beweise gibt. Manchmal landen sie auch ohne Verurteilung im Gefängnis. Wir aus Puerto Resistencia haben angesichts der willkürlichen Hinrichtungen der Staatsgewalt die Garantie unserer Rechte gefordert – aber das hat zu nichts geführt, denn Präsident Duque ist eine Marionette des Uribismus. Und vom Uribismus kennen wir die Stimmen der 6.402 falsos positivos – unschuldige Jugendliche, die entführt, ermordet und als angebliche von der Armee getötete Guerrilla-Kämpfer dargestellt wurden. Diese Art staatlicher Gewalt gibt es nur in Kolumbien.

Ich selbst bin schon drei Mal Opfer der Staatsgewalt geworden: Meine Freundin wurde von Militärs ermordet, mein Vater von Paramilitärs, weil er Gewerkschafter war. Und im Juni wurde mein Neffe von Polizisten in den Rücken geschossen, als er mit seinem Roller bei Rot über eine Ampel fuhr. Ihm geht es langsam besser, aber eine Zeit lang war er vom Nacken abwärts gelähmt. Trotz dieser Erfahrungen steht für meine Familie fest: Wir werden weiterhin unser Gesicht zeigen und unsere Geschichten erzählen. [Zeigt auf eine Ecke des Platzes] Guckt mal, da drüben sitzt die ESMAD. Sie spielen dort rund um die Uhr auf ihren Smartphones. Der einzige Grund, warum sie hier sind, ist, dass es eine angebliche Bedrohung der öffentlichen Sicherheit gibt. Die ESMAD ist eine systematisch mörderische und kriminelle Institution, die zur Unterdrückung von Protesten geschaffen wurde. Selbst hohe Richter in diesem Land geben zu, dass sie Gewalttäter und Mörder sind. Aber trotzdem wurde bisher keiner von ihnen verurteilt. Warum? Weil sie alle die gleiche schwarze Uniform tragen und es nicht möglich sei, zu sagen, wer von ihnen genau für die grausamen oder sogar tödlichen Handlungen gegen Protestierende verantwortlich ist. Da kommt es zu Gewaltexzessen: Die Leute verlieren ihre Augen oder Gliedmaßen.

Nahuel: Ja, so wie ich. Sie standen auch schon vor meiner Tür und wollten mich festnehmen. Das Justizsystem in Chile ist das Letzte. Und die Bullen werden immer mehr und die Demonstrierenden weniger. Sie haben auch neue Kampfmittel, riesige Wasserwerfer, gigantische LKWs, da wird die Repression immer stärker. Aber wir bleiben trotzdem auf der Straße, das sehen wir als unsere Pflicht den Menschen gegenüber an.

Was erhofft ihr euch davon für die Zukunft?
Nahuel: Ich setze absolut keine Hoffnung mehr in die politischen Parteien dieses neoliberalen Systems. Der wichtigste linke Kandidat für die kommenden Präsidentschaftswahlen ist Gabriel Boric. Das war der, der während der Revolte Piñeras Präsidentschaft gerettet hat, als er mit der Rechten paktiert hat. Und auch im Verfassungskonvent sitzen die gleichen, all das wird in Chile nichts ändern. Deshalb ist meine Hoffnung, dass die Leute wieder auf die Straße gehen und Chile wieder erwacht. Mit dieser Regierung, mit der Rechten werden wir nicht verhandeln, denn sie und ihre neuen Gesetze sind dafür verantwortlich, dass unsere Freunde im Knast sitzen. Also müssen wir wieder auf die Straße – es ist das einzige Mittel, das uns bleibt.

Profe: Das ist hier ein bisschen anders. Wir stellen sogar Kandidaten für den Jugendstadtrat auf und werden unsere Unterstützung für bestimmte Kandidaten öffentlich machen. Eigentlich sind sich alle Widerstandsorganisationen, nicht nur hier in Cali, sondern in ganz Kolumbien, darin einig, dass sie die Präsidentschaftskandidatur von Gustavo Petro und die Koalition Pacto Histórico unterstützen, also die Parteien, Bewegungen und Organisationen, die sich gegen das uribistische System stellen. Damit will ich nicht sagen, dass ganz Puerto Resistencia Petro- oder Pacto Histórico-Anhänger ist, aber dass sich die Menschen hier am ehesten mit den politischen Vorschlägen und progressiven humanistischen Ideen identifizieren können, die Gustavo Petro vorbringt. Wir wollen in dieser politischen Debatte nicht schweigen, denn es geht um unsere Zukunft.

REPRESSION OHNE GRENZEN

“Gerechtigkeit” Die Gesichter der Opfer von Menschenrechtsverletzungen an einer Hauswand in Santiago (Foto: Ute Löhning)

Eine Folge der Repression gegen die sozialen Proteste in Chile seit Oktober 2019 waren Tote und Verletzte, viele Menschen erlitten Augenverletzungen, es gibt Berichte über Folter durch Polizeikräfte. Wie haben Sie bei CODEPU diese Zeit erlebt?
Die Menschen kannten CODEPU noch aus Zeiten der Diktatur, als wir, wie auch die Vicaría de la Solidaridad, uns der zahlreichen Menschenrechtsverletzungen annahmen. Nach dem Beginn der Revolte 2019 kamen sofort zahllose von Polizeiübergriffen Betroffene zu uns. Wir besuchten Festgenommene in Polizeidienststellen und Verletzte in den Krankenhäusern. Wir begannen die Informationen zu systematisieren und errichteten eine eigene – informelle – Gesundheitsstation, in der wir Verletzte betreuten und an Krankenhäuser weiterleiteten. Diese Arbeit führen wir bis heute fort. Wir haben bislang etwa 200 Strafanzeigen wegen Menschenrechtsverletzungen gestellt. Und wir vertreten etwa 60 Menschen anwaltlich, die während der Proteste verhaftet wurden.

Wie verlaufen die Strafverfahren wegen Menschenrechtsverletzungen, die von Angehörigen der staatliche Sicherheitskräfte begangen wurden? Gibt es Verurteilungen?
Seit dem 19. Oktober 2019 wurden tausende Strafanzeigen gestellt. Bislang gibt es erst vier verurteilte Polizisten. Eine dieser Verurteilungen – wegen Folter an einem Demonstranten aus Lo Hermida – haben wir erreicht. Doch die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Wir stellen leider fest, dass die Staatsanwaltschaft mit zweierlei Maß misst: Bei Vorwürfen gegen Protestierende wird schnell und eingehend ermittelt, es gab zahlreiche Verurteilungen und viele Beschuldigte sitzen über lange Zeit in Untersuchungshaft.

Bei Ermittlungen gegen Angehörige der staatlichen Sicherheitskräfte ziehen sich dagegen die Verfahren in die Länge, etwa 40 Prozent der Untersuchungen wurden eingestellt. Staatliche Stellen, die diese Verfahren unterstützen sollten, wie das gerichtsmedizinische Institut SML, wurden personell nicht aufgestockt und sind überfordert. So werden beispielsweise bei Foltervorwürfen notwendige forensische Gutachten verzögert. Das erschwert die Beweis-*führung, führt zu Frustration bei den Betroffenen und einem Glaubwürdigkeitsverlust des Justizsystems.

Sitzen mutmaßliche Täter*innen aus den Reihen der Polizei in Untersuchungshaft?
Einige Wenige. Beispielsweise führen wir Nebenklage im Fall eines am 23. Oktober 2019 in Buin verhafteten Demonstranten, Mario Acuña. Er wurde nach seiner Festnahme von sechs Polizisten schwer verletzt und gefoltert. Seit März dieses Jahres befinden sich nun drei Beschuldigte in Untersuchungshaft. Das ist ein großer Erfolg, denn wir beobachten, dass in vielen sehr bekannten Fällen, wie Gustavo Gatica oder Fabiola Campillay, die ihr Augenlicht verloren haben, die Beschuldigten unter Auflagen auf freiem Fuß sind. Wir hoffen, dass im Fall von Mario Acuña bei der anstehenden Haftprüfung die Untersuchungshaft der Beschuldigten aufrecht erhalten wird. Sie sind eine Gefahr für die Gesellschaft, sie haben im Verfahren nachweislich gelogen und die Ermittlungen behindert. Im Moment sind sie zumindest vom Polizeidienst suspendiert.

Wie viele der verhafteten Demonstrant*innen sitzen derzeit in Untersuchungshaft?
Es gab bis vor einiger Zeit um die 2500 politische Gefangene. Die Anzahl ist nun zurückgegangen, gegenwärtig sitzen noch etwa 70 politische Gefangene in Untersuchungshaft. Von den Gefangenen, die CODEPU vertritt, sind im Moment noch zwei inhaftiert. Wir haben vielfach eine Aufhebung der Untersuchungshaft beantragt. Doch obwohl keinerlei Beweise gegen sie vorliegen, sitzen sie weiterhin im Gefängnis. Das sind keine Einzelfälle: Viele Beschuldigte werden trotz fehlender Beweise nicht aus der Untersuchungshaft entlassen.

Auf politischer Ebene wird derzeit über ein Amnestiegesetz für die politischen Gefangenen debattiert. Wie steht CODEPU dazu?
Wir unterstützen die Forderungen nach einer Amnestie. In einer Stellungnahme haben wir den verfassungsgebenden Konvent dazu aufgefordert, die Problematik der politischen Gefangenschaft zu behandeln. Das Parlament hat eine Abstimmung über den Gesetzesentwurf für eine Amnestie bislang immer wieder verzögert. Formell handelt es sich bei dem Gesetzesentwurf um eine Begnadigung. Es sollen jedoch sowohl bereits Verurteilte wie auch Beschuldigte einbezogen werden, es handelt sich also letztlich um eine Amnestie. Vor einigen Tagen haben Angehörige der politischen Gefangenen einen Hungerstreik begonnen, der so lange aufrechterhalten werden soll, bis das Parlament darüber abstimmt. Ursprünglich gab es weitreichende Unterstützung im Parlament. Jetzt sieht es so aus, als würde eine Abstimmung bis nach den Wahlen hinausgezögert, das wäre kein gutes Zeichen.

Was bedeutet das für die politischen Gefangenen?
Die Gefangenen leiden körperlich und psychisch unter den schlechten Haftbedingungen, die internationalen Standards zuwiderlaufen. Es ist ein Wunder, dass es unter diesen Umständen noch zu keinen Corona-Erkrankungen unter ihnen kam. Viele der Gefängnisse in Chile werden von privaten Unternehmen verwaltet, die Mindeststandards nicht einhalten. Wir haben beim Rechnungshof eine Beschwerde eingereicht, damit der Staat regulierend eingreift und menschenwürdige Haftbedingungen garantiert.

Im vergangenen Juli waren Sie als Vertreterin von CODEPU Teil der internationalen Beobachtungsmission SOS Colombia, die während der sozialen Proteste in Kolumbien begangenen Menschenrechtsverletzungen dokumentiert und darüber einen Bericht verfasst hat. Wie waren Ihre Erfahrungen in Kolumbien?
Vor SOS Colombia haben andere Beobachter*innen Kolumbien besucht: Eine Delegation der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) sowie eine argentinische und eine katalanische Delegation. Sie besuchten einzelne Regionen und waren nur wenige Tage im Land. Unsere Delegation bestand aus 41 Mitgliedern aus 14 Ländern und war vom 3. bis 23. Juli in elf Regionen Kolumbiens unterwegs. Dort konnten wir an geschützten Orten etwa 180 Zeug*innen befragen.

Während der drei bis vier vorangegangenen Monate waren etwa 7.000 Menschen Opfer von Menschenrechtsverletzungen geworden. 8.500 wurden festgenommen, mehr als 800 Menschen sind verschwunden oder ihr Aufenthaltsort war zeitweilig nicht bekannt. Wenn dieses Ausmaß an Staatsterrorismus anhält, kann das zu hunderttausenden von Opfern führen.

Sowohl in Kolumbien als auch in Chile wurden die Proteste von staatlicher Seite als „Krieg“ bezeichnet und von internen Feinden gesprochen. Welche Unterschiede und Parallelen gibt es bei der Repression gegen die sozialen Proteste in beiden Ländern?
Bei den Menschenrechtsverletzungen in Chile und Kolumbien gibt es ähnliche Verhaltensmuster der Sicherheitskräfte. Es ist beispielsweise kein Zufall, dass es in Kolumbien, Chile und auch in Ecuador zahlreiche Augenverletzungen gab. In Chile gab es in den beiden vergangen Jahren 500 Opfer von Augenverletzungen. In Kolumbien waren es in drei Monaten bereits 114 Opfer. Auch in Ecuador wurden während der sozialen Proteste mehr als 80 Menschen an den Augen verletzt.

Ich denke, es gibt eine Politik des Staatsterrorismus, die darauf abzielt, die Demonstrierenden zu bestrafen, um die Proteste einzudämmen. In Zeiten der Diktatur sollten die Proteste ganz unterbunden werden. Heute geht es darum, die Zahl der Protestierenden zu verringern, indem ihnen Schmerzen zugefügt werden, indem sie verängstigt werden. Durch jede*n verletzte*n Demonstrierende*n wird Angst geschürt und weniger Menschen beteiligen sich am Protest.

Gibt es auch strukturelle Gemeinsamkeiten?
Chile und Kolumbien erhalten ihre Waffen von denselben Firmen und es sind Sicherheitskräfte aus diesen beiden Ländern, die Schulungen für Polizeikräfte in der gesamten Region durchführen. In beiden Ländern gab es bisher keine Polizeireform. In Chile agiert heute dieselbe Polizei wie zu Zeiten der Pinochet-Diktatur. Die ESMAD (Aufstandsbekämpfungseinheit der kolumbianischen Polizei, Anm. der Red.) wird auf der Grundlage eines Diskurses des „inneren Feindes“ für die Aufstandsbekämpfung instruiert.

Beide Organisationen werden nicht dafür ausgebildet, friedliche soziale Proteste zu begleiten. Ich denke, der Ursprung dieser Haltung liegt in der Escuela de las Américas (Schulungszentrum der USA für lateinamerikanische Polizeikräfte während der lateinamerikanischen Diktaturen, Anm. d. Red.) und dass diese Kooperation in den 1990er Jahren vertieft wurde.

Waren an den Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien und Chile extralegale Gruppen beteiligt, wie Paramilitärs oder andere bewaffnete Einheiten?
Ja, es gibt neben der Nationalpolizei und der ESMAD eine Reihe weiterer extralegaler Gruppen, die in Koordination mit Mitgliedern der Polizei Aktivist*innen einschüchtern und bedrohen. Das gibt es auch in Chile, zum Beispiel die paramilitärische Gruppe APRA, eine faschistische Gruppe, die vor allem in Wallmapu – den Mapuche-Territorien – aktiv ist. Die Aktivitäten solcher Gruppen haben sich dem Beginn der Revolte verstärkt, sie versuchen, Selbstjustiz zu üben, bleiben meist straflos und werden von Polizeikreisen gedeckt.

In Kolumbien sind solche extralegalen Gruppen noch weiter verbreitet. Letztlich agiert die Regierung dort gegen die Bürger*innen und die Institutionen funktionieren schlechter als in Chile. Beispielsweise gibt es in Kolumbien im Bezug auf gewaltsames Verschwindenlassen ein Warn- und Suchsystem. Dieses hat jedoch während der Proteste bei mehr als 800 Fällen von Verschwundenen vollständig versagt. Auch die Staatsanwaltschaften wurden nicht aktiv. Was die Institutionen angeht, sind wir in Chile einen Schritt weiter.

Es heißt, dass sich viele neue soziale Akteur*innen an den Protesten beteiligen. Welche Menschen gehen in Chile und Kolumbien auf die Straße?
Es gibt eine Reihe von neuen sozialen Akteur*innen in diesen Protestbewegungen, die nicht alle gleichermaßen von staatlicher Gewalt betroffen sind. Zu den wichtigsten Akteur*innen zählen in beiden Ländern die Aktivist*innen der primera línea, die besonderer Gewalt und Verfolgung ausgesetzt waren und sind. Unter den Opfern von Menschenrechtsverletzungen in beiden Ländern gab es viele Schüler*innen und Studierende, auch viele politisierte Fußballfans. Die Repression richtete sich gegen queere Menschen, gegen Migrant*innen, gegen medizinische Versorgungsposten auf den Demonstrationen. Besonders stigmatisiert und kriminalisiert wurden auch unabhängige Journalist*innen, die Übergriffe dokumentierten. Ihre Berichterstattung über Menschenrechtsverletzungen war oft nützlich für Strafanzeigen und Ermittlungen. Hier in Chile gab es fünf Fotograf*innen beziehungsweise Kamaraleute, die ein Auge verloren haben.

Der Abschlussbericht von SOS Colombia enthält eine Reihe von Empfehlungen. Welche würden Sie hervorheben?
Zu den besonders dringlichen Empfehlungen gehört die Demilitarisierung der Polizei. Sie sollte nicht mehr dem Verteidigungsministerium unterstehen. Außerdem sollten reale Verhandlungen zwischen dem kolumbianischen Staat und den an den Protesten beteiligten Gruppen geführt werden. Es gab bislang etwa elf Dialogrunden, die ergebnislos beendet wurden. Ebenfalls dringlich sind ein besserer Zugang zur Justiz, eine umfassende Entschädigung der Opfer sowie Garantien, dass sich das Vorgehen nicht wiederholt. Es sollte eine Untersuchungskommission zur Straflosigkeit von Akteur*innen, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, gegründet werden. Ausländische Investor*innen sollten zur Bedingung machen, dass die staatliche Gewalt endet und die Arbeitsgesetze eingehalten werden. Und als internationale Gemeinschaft sollten wir die Menschenrechtsverletzungen sichtbar machen, um Druck auf die kolumbianische Regierung auszuüben.

SELBSTSCHUTZ VOR SEXISTEN WIE DER POLIZEI

„Hört auf, uns zu töten!“ Proteste gegen Polizeigewalt in Cali (Foto: Leonard Mikoleit @mikolente)

Colombia Informa: Wie ist die Idee einer feministischen Selbstverteidigungsorganisation beim Generalstreik entstanden?
Hier in Boyacá, insbesondere in Duitama, haben wir die unterschiedlichsten Gewalterfahrungen gemacht. Deshalb haben wir uns als Menschenrechtler*innen, Künstler*innen, Handwerker*innen, Journalist*innen zusammengeschlossen; jede bringt andere Ideen und Erlebnisse mit, aber uns allen ist bewusst, dass es wichtig ist, uns als Frauen, als Feministinnen zu organisieren, Sicherheit für Frauen und Queers zu garantieren und Gewalt vorzubeugen. In einigen Organisationen und sozialen Bewegungen herrschen immer noch Ignoranz, männliche Komplizenschaft und Vertuschung. Deshalb haben wir beschlossen, als Teil der Protestbewegung unsere Themen selbst in die Hand zu nehmen, uns zu organisieren und innerhalb der politischen Strukturen selbst für unsere Sicherheit zu sorgen. Auf sexistische und patriarchale Gewalt reagieren wir mit eigenen Sanktionen. Mit der feministischen Selbstschutzorganisation haben wir schon verschiedene Aktionen durchgeführt, zum Beispiel die 24-stündige Besetzung in Duitama. Wir haben auch bei der ersten Nationalversammlung in Boyacá mitgemacht. Das Treffen wurde von der Guardia Campesina (Anm. d. Red.: Bäuer*innen-Schutz), dem Cimarrona-Schutz (Anm. d. Red.: Schutz der afrokolumbianischen Gemeinden), der Guardia Indígena (Anm. d. Red.: indigener Schutz) und der Guardia Popular (Anm. d. Red.: „Volksschutz“) begleitet und geschützt. Ich hatte dann die Idee, innerhalb der Nationalversammlung eine feministische Selbstschutzorganisation, die Guardia Feminista, aufzubauen, weil ich dachte: Alle diese Guardias haben sich anhand ihrer Schwerpunkte und ihrer gemeinsamen Erfahrungen gegründet. Das sollten wir auch machen: unseren eigenen Schutz aufbauen, mit feministischem und antipatriarchalem Fokus.

Welche Ansprüche formuliert ihr aus feministischer Perspektive an die Guardia Popular?
Wir arbeiten am Konzept einer Guardia Popular, der sich sämtliche feministische Strömungen anschließen können. Eine Organisation, die einen Raum bietet für Erfahrungen aus unterschiedlichen Vierteln, Bezirken und Gemeinden und sie verbindet. Also Erfahrungen, die beim Kampf auf der Straße, bei den Gemeinschaftsküchen und bei politischen Aktionen entstanden sind. Es geht um eine generationenübergreifende Schutzorganisation, die verschiedene soziale Gruppen zusammenbringt. Wir fangen gerade erst an, dieses Schutzkollektiv aufzubauen, ohne fertig ausgearbeitetes Konzept oder Prinzipien. Das ganze Schutzkonzept befindet sich noch im Entstehungsprozess, aber natürlich denken wir an eine breite Basis, da die Idee aus der Nationalversammlung heraus entstanden ist.

Welche Schwerpunkte soll eure Guardia im Einzelnen haben?
Was uns vorschwebt, ist ein Unterstützungsnetzwerk, in dem es Raum zum Zuhören, für Hilfestellung und für feministische Selbstverteidigung gibt. Damit wir in jeder Situation in der Lage sind, uns zu schützen. Manchmal begehen nämlich Frauen den Fehler zu denken, man mache besser nichts, um die Räume nicht zu gefährden. Aber das Gegenteil ist der Fall, das hat die Geschichte uns gelehrt: Wo wir uns nicht eingebracht haben, wurden Räume komplett von Männern dominiert, insofern ist es an der Zeit, dass wir aktiv werden.

Was würdest du sagen: Inwiefern hat der landesweite Generalstreik auch Frauen und Queers beeinflusst, die nun auf der Straße protestieren?
Die aktuelle politische Mobilisierung hat auf jeden Fall dazu geführt, dass Frauen und Queers, sowie unterschiedliche Lebensrealitäten vielmehr Anerkennung und Sichtbarkeit erfahren. Wir haben unsererseits auch massiv darauf hingewiesen, dass dieser Streik uns Frauen in allen Punkten betrifft. Wir verkörpern diesen Streik mit der Verteidigung von Menschenrechten; indem wir organisieren, Strukturen aufbauen, anführen; wir verkörpern ihn bei den direkten Aktionen, in gemeinschaftlichen Küchen, mit kulturellen Beiträgen, mit Kunst und Musik. Und schließlich auch was das Umsorgen betrifft, denn die Rolle der Mütter war gigantisch. Was queere Themen und sexuelle Diversität betrifft, möchte ich unbedingt die verschiedenen Performances erwähnen, z.B. die Vogue-Tanzperformances. Auf der anderen Seite hat auch die allgegenwärtige Gewalt ihre verschiedenen Ausprägungen. Wir haben es mit drei Arten von Gewalt zu tun: Der staatlichen Gewalt, der Gewalt innerhalb der Organisationen und der Gewalt im Zusammenhang mit der Primera Línea, der Speerspitze bei den Aktionen und Demos. Wir finden es richtig und wichtig, was die vordersten Reihen machen, wir unterstützen und begleiten ihre Aktionen, wo wir können, aber man muss einen Haufen Präventions- und Sensibilisierungsarbeit machen. Wir hatten es da schon mit einigen ziemlich autoritären, patriarchalen Verhaltensweisen zu tun.

Bei der Asamblea Nacional Popular, also der Nationalversammlung der Bewegungen in Cali, haben Frauen und Queers die Bühne besetzt. Warum?
Erstmal ist wichtig zu betonen, dass wir uns bei der Organisation in Cali ziemlich rausgehalten haben. Nichtsdestotrotz hat die Asamblea Nacional Popular ihrerseits auch nicht gerade den Anschein erweckt, als hätte sie uns Frauen und Queers mitgedacht und von sich aus überlegt, wie unsere Beteiligung aussehen könnte.

Das heißt, es wurde davon ausgegangen, dass wir schon irgendwie teilnehmen werden, aber wie dann Gleichberechtigung in der Praxis aussehen kann und was wir als Frauen und Queers brauchen, um an den Kommissionen und Diskussionsrunden teilzunehmen, tja… Daran, dass der antipatriarchale Fokus auf alle Bereiche ausgedehnt werden muss, daran wurde nicht gedacht. Die Art und Weise, wie die Versammlung in Cali organisiert wurde, hat das ganz deutlich gemacht: In der Grundstruktur waren wir_nicht vertreten und in den Diskussionsrunden auch nicht. „Frauen und Queers“ war irgendwie so als Unterthema einer Arbeitsgruppe geplant. An diesem Punkt haben wir alle zusammen beschlossen, uns unabhängig zusammenzuschließen und in unserem eigenen Tempo und zu unseren eigenen Fragen zu arbeiten. Wir waren mit Vielem nicht einverstanden und dass wir einbezogen werden, war überhaupt nicht garantiert. Unter anderem deswegen haben wir entschieden, die Bühne zu besetzen.

In Duitama, Boyacá war der feministische Selbstschutz besonders aktiv. Kannst du uns mehr zu den Erfahrungen dort erzählen?
In Duitama hat sich deutlich gezeigt, dass jegliche Sicherheitsgarantien für die Teilnahme von Frauen an der Streikbewegung fehlen und dass geschlechtsspezifische Gewalt nicht beachtet oder nicht ernst genommen wird. Das Kollektiv Chinas Berriondas in Duitama hat unter anderem die 24-stündige Besetzung der Straße San Luis initiiert und den Aufbau der Guardia Feminsta Popular wesentlich vorangetrieben. Jenifer Solano, Mitglied des feministischen Selbstschutzes vor Ort hat es so ausgedrückt: „Wir haben während des Streiks psychische Gewalt und sexuelle Schikane erlebt. Wir mussten uns vor Sexisten genauso schützen wie vor der Polizei“. Mit dem Aufbau der Schutzorganisation wurden verschiedene spezifische Gewaltakte analysiert und entsprechende Selbstverteidigungstaktiken entwickelt, die Frauen helfen sollen, sich in verschiedenen Angriffsszenarien zu schützen.

“DIE PROJEKTE SIND EIN BEWEIS UNSERES FRIEDENSWILLENS”

ANDRÉS MAURICIO ZULUAGA
bekannt als Martín Batalla, ist Rapper und Künstler und war seit 2005 Mitglied der ehemaligen FARC. Heute leitet er eine Kooperative von 120 ehemaligen Guerillerxs in Anorí im Nordwesten Kolumbiens, die verschiedene Produkte in den Bereichen Bekleidung, Lebensmittel und Schmuck herstellt. Er ist Gründer der Textil-Kooperative Confecciones la Montaña, einem der bekanntesten Wiedereingliederungsprojekte der ehemaligen FARC-Kämpfer*innen und koordiniert die 28 Schneidereien von Ecomún, dem nationalen Verband der Produktionsgenossenschaften der ehemaligen Guerilla. (Foto: Confecciones la Montaña)

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Du bist vor Kurzem nach Europa gekommen, was ist der Grund für Deine Ausreise aus Kolumbien?
Vor Kurzem erhielt ich Anrufe und Nachrichten aus den USA und Mexiko, die mich bedrängten, über Drogenhandelsrouten und -umschlagplätze zu sprechen.

Das ist besorgniserregend, weil es sich um ein systematisches Vorgehen handelt, in dem in Kolumbien die Morde an Unterzeichnern des Abkommens mit vorgegebenen gerichtlichen Anklagen wegen angeblichen Drogenhandels in Verbindung gebracht werden. Diese Unterstellungen und auch konkrete Drohungen haben mich dazu bewogen, das Land zu verlassen. Außerdem haben wir eine Agenda in Europa, um über das Friedensabkommen und die Schwierigkeiten bei der Umsetzung in Kolumbien zu sprechen.

Seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens 2016 wurden in Kolumbien 284 Ex-Kombattant*innen getötet. Wie ordnest Du diese Situation ein?
Allein 2021 wurden mehr als 100 ehemalige Kämpfer, die sich dem Friedensabkommen verpflichtet hatten, getötet und seit der Unterzeichnung des Abkommens wurden mehr als 1.000 soziale Aktivisten, die für nichts als ihre Grundrechte kämpfen, ermordet. Dieses Problem beschränkt sich also nicht nur auf das Friedensabkommen, sondern ist eine historische Konstante, die sich zu bestimmten Zeiten verschärft.

Die Unterzeichner des Abkommens leiten und entwickeln heute soziale und ökonomische Projekte, beteiligen sich an politischen Prozessen und sind gesellschaftlich aktiv in den Gemeinden. Deshalb verstehe ich diese Morde als Teil der Stra-tegie, die politische Opposition und soziale Aktivisten systematisch zu vernichten, um die Bestrebungen für eine Veränderung in Kolumbien von der politischen Landkarte zu löschen.

Wer tötet die Ex-Kombattant*innen und welche Interessen stehen dahinter?
Die Akteure sind vielfältig, wobei der kolumbianische Staat sowohl durch sein Handeln als auch durch seine Untätigkeit eine sehr große und direkte Verantwortung trägt. Die Regierung hat die im Friedensabkommen vorgesehenen Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit der Gemeinden und der ehemaligen Kämpfer nicht umgesetzt. Gleichzeitig hat sie viele der Strategien zur Beseitigung und Verfolgung des Paramilitarismus nicht nur ignoriert, sondern ist diesen Strukturen gegenüber nachsichtig und arbeitet mit ihnen zusammen. Ohne diese Unterstützung durch den Staat könnte der Paramilitarismus gar nicht überleben.

Außerdem sprechen wir mit den Bauern darüber, freiwillig illegale Anbaukulturen (wie z.B. Kokapflanzen, Anm. d. Red.) zu ersetzen, was dazu geführt hat, dass wir in vielen Gebieten von Gruppen, die Drogenhandel und andere illegale Geschäfte betreiben, als Feinde angesehen werden.

Was hat sich in Anorí nach dem Friedensabkommen verändert?
Nach der Niederlegung der Waffen gab es eine sehr kurze, schöne und ruhige Zeit. Die Realität der Regionen, in denen der Konflikt stattgefunden hatte, veränderte sich, es entstand ein Gefühl des Friedens und der Gelassenheit. Wir sahen, dass andere Wege möglich waren. Aber dann kam die Regierung Duque mit ihrem Versprechen, das Friedensabkommen zu zerstören; sie wechselte die militärische Führung aus und hielt ihren Teil der Vereinbarung nicht ein. Bewaffnete Gruppen begannen wieder zu erstarken und wir gerieten in eine neue Konfliktdynamik. Viele Menschen sind der Meinung, dass wir seit Duques Regierungsantritt viele Errungenschaften verloren haben. Die Situationen in den Regionen sind jedoch sehr unterschiedlich. In Anorí zum Beispiel sind bisher keine paramilitärischen Strukturen angekommen. Es gibt einen historischen Widerstand der Gemeinden gegen den Paramilitarismus und im Gegensatz zu anderen Regionen wurde hier kein einziger ehemaliger FARC-Kämpfer getötet. Die ELN (Guerilla Nationale Befreiungsarmee, Anm. d. Red.) und eine sehr kleine Splittergruppe ehemaliger FARC-Mitglieder haben zwar einen gewissen Einfluss in der Region, aber die Realität in Anorí ist völlig anders als vor sechs Jahren.

Der soziale und politische Konflikt wird jedoch wieder spürbar denn zusätzlich zu den Drohungen und Morden führt die Nichteinhaltung des Abkommens durch den Staat zu zunehmenden sozialen Konflikten mit den Gemeinden und Bauern. Selbst wenn die FARC nicht mehr existieren, werden mit Sicherheit andere bewaffnete Formen der Gewalt auftauchen, wenn wir die Ursachen, die zum Aufstand geführt haben, nicht beseitigen. Die Realität in den Gebieten ist komplex, vor allem dort, wo Paramilitärs und andere Gruppen die Kontrolle übernehmen.

Wie erklärst Du die relative Stabilität in Anorí im Vergleich zu anderen Regionen des Landes?
Die Gemeinden wissen es zu schätzen, dass wir mit der Kooperative einen anderen Weg einschlagen, neue wirtschaftliche Möglichkeiten und Al-ternativen für die Gemeinschaft schaffen, Bündnisse mit den Bauern eingehen und ihnen Arbeit geben. Diese Prozesse werden respektiert, und so haben wir verhindert, dass Anorí zu einem Ort starker Konfrontation wird. Dies zeigt, dass es möglich ist, diese Konflikte zu beenden und Frieden in den Gebieten zu schaffen, wenn wir den Menschen Chancen und Arbeitsplätze geben und eine neue Wirtschaft schaffen.

Wie hat sich der Prozess dieser Produktionsprojekte nach der Unterzeichnung des Abkommens gestaltet?
Es war und ist eine große Lernerfahrung für uns. Der Eintritt in die Legalität erfordert formale Kenntnisse der administrativen und wirtschaftlichen Abläufe einer Genossenschaft. Ein weiterer sehr wichtiger Lernprozess fand im Bereich der Produktion statt. Die FARC haben Rucksäcke, Hängematten und Westen hergestellt, aber im Rahmen einer Strategie und Logik des bewaffneten Konflikts und nicht, um diese Produkte zu verkaufen. Wir erlernen jetzt die technische Seite, die Verfahren und Qualitätsstandards, um neue Sektoren zu erreichen und die Botschaft des Friedens in andere Länder und Städte zu tragen.

Aber der Staat hat uns in diesem Prozess sehr allein gelassen. Nach der Unterzeichnung des Abkommens warteten wir vier Jahre lang auf die staatlichen Mittel, um die Genossenschaften für die Produktion zu gründen. Als sie schließlich eintrafen, hatten wir bereits konsolidierte Projekte. Dies ist auch ein Beweis für unseren Friedenswillen und unser Engagement, um voranzukommen.

Ein weiteres komplexes Thema ist der Zugang zu Land. Wir haben uns dazu verpflichtet, uns durch produktive Projekte in den vom Konflikt am stärksten betroffenen Gebieten wieder in das zivile Leben einzugliedern, aber wir haben keinen Zugang zu Land, was bedeutet, dass wir keine Möglichkeit haben, diese Projekte durchzuführen. Wenn der Ex-Kombattant kein Haus hat und weiterhin seinen Rucksack von hier nach dort trägt, ist eine würdige Wiedereingliederung nicht möglich.

Was passiert mit den territorialen Gebieten für die Ausbildung und Wiedereingliederung (ETCR)?
Die ETCR wurden für sechs Monate geplant und haben nur eine prekäre Infrastruktur. Mittlerweile sind wir aber schon seit vier oder fünf Jahren dort. Im ETCR in Anorí kann man nirgends etwas anbauen oder Häuser bauen. Außerdem gehört das Land dem Staat und wir haben keine Sicherheit, dort bleiben zu können, was ein großes Problem darstellt. Wir haben andere Ländereien gepachtet, auf denen wir einige Projekte entwickeln aber um eine Produktion aufzubauen brauchen wir eine Zukunftsperspektive und das geht nicht an einem Ort, von dem uns der Staat jederzeit vertreiben kann.

Können auch Bauern und Bäuerinnen aus den Gemeinden Mitglied in den Genossenschaften sein oder gilt dies nur für ehemalige Kämpfer*innen?
Laut Satzung kann jeder unserer Genossenschaft angehören. Ziel ist, dass sie offen sind, dass sie nicht nur ein Werkzeug für die Wiedereingliederung ehemaliger Kämpfer sind, sondern auch für die soziale Entwicklung der Gemeinden. In der Realität sehen wir uns jedoch im Organisationsprozess mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert. Wir haben kein Land und keinen Wohnraum, weshalb wir uns zunächst der Organisation von Genossenschaften und produktiven Projekten für ehemalige Kämpfer gewidmet haben, denn darüber ergibt sich die Möglichkeit der Wiedereingliederung. Aber das schließt nicht aus, dass die Bauern sich an den verschiedenen Produktionsprojekten beteiligen, die wir in dem Gebiet entwickeln. In Confecciones la Montaña erhalten die Menschen zum Beispiel einen monatlichen Mindestlohn.

Die große Mehrheit der 13.000 Unterzeichner*innen steht nach wie vor zum Abkommen und bleibt in den Gebieten. Fühlt Ihr Euch noch als Teil eines Kollektivs?
Es gibt Konflikte und unterschiedliche Positionen denn die Lebensrealitäten sind landesweit sehr heterogen. Aber es gibt ein grundlegendes kollektives Verständnis. Die überwiegende Mehrheit der Menschen fühlt sich als fariana (dt. etwa „FARC-angehörig“, Anm. d. Red.): Wir sind eine Familie, waren zusammen im Krieg und fühlen uns als Teil des gleichen Kampfes.

Es gibt mehrere Instanzen zur Wiedereingliederung aber unsere Zusammengehörigkeit beschränkt sich nicht auf einzelne Institutionen. Was wir erreichen müssen, ist, dass alle gemeinsam an der Umsetzung des Friedensabkommens arbeiten, denn momentan suchen wir immer noch nach einer politischen Lösung und die werden wir zersplittert nicht erreichen können. Es darf aber auch nicht eine einzelne Instanz geben, die alles kontrolliert oder alle vertritt.

Die Genossenschaften sind eine grundlegende Struktur für die im Friedensprozess festgelegte Wiedereingliederung. Wie fügt sich das in den allgemeinen Prozess der Umsetzung des Abkommens ein?
Die Frage der Produktion allein reicht nicht aus, um das Abkommen voranzubringen. Es gibt Leute, die wollen, dass wir uns nur der Herstellung von Rucksäcken widmen und den politischen Teil vergessen. Aber wir sind keine Geschäftsleute, wir haben gerade ein Friedensabkommen unterzeichnet. Diese Genossenschaft existiert dank dieser Tatsache und dank einer Vorstellung von den Veränderungen, die wir erreichen wollen.

Die produktive Entwicklung ist von grundlegender Bedeutung, aber wenn sie uns weiterhin umbringen, wenn sie die Reform des ländlichen Raums oder das Sicherheitsprogramm nicht umsetzen, wenn sie die Bauern mit der Substitution von illegalen Anbaukulturen allein lassen, dann wird es irgendwann zu einer Explosion kommen. Wir brauchen ein Gleichgewicht und einen umfassenden Wandel.

Was hälst Du von Avanzar, der neu gegründeten Bewegung der Unterzeichner*innen?
Es gibt Leute, die meinen, dass sie die Partei spalten und dass sie keine Leninisten mehr sind. Aber in den Wiedereingliederungsgebieten gibt es auch Menschen, die mit der Partei Comunes (ursprünglich als politische Organisation aus der Guerilla infolge des Friedensschlusses unter dem Namen FARC gegründete Partei, seit 2021 Comunes, Anm. d. Red.) unzufrieden sind. Avanzar erweitert die Möglichkeiten, sich für den Weg zum Frieden einzusetzen, indem sie mit den Gemeinden und sozialen Bewegungen kämpft. Sie scheint mir ein gültiger und wichtiger Ausdruck, solange sie sich für die Umsetzung und für eine politische Lösung des Konflikts in Kolumbien einsetzt.

„WIR WOLLEN DIE WAHRHEIT WISSEN“

LUZ MARINA HACHE CONTRERAS
ist Sprecherin für den Bereich gewaltsames Verschwindenlassen in der Bewegung der Opfer von Staatsverbrechen Movice (Movimiento Nacional de Víctimas de Crímenes de Estado). Aufgrund von Morddrohungen musste sie Kolumbien verlassen. (Foto: privat)

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Warum wurde Movice gegründet?
Die Nationale Bewegung der Opfer von Staatsverbrechen wurde im Jahr 2004 gegründet. Damals war unser Motto: Für Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung. Später kam die Forderung nach Garantien dafür hinzu, dass sich die Taten der Vergangenheit nicht wiederholen. Wie die Mitglieder der sozialistischen Partei Unión Patriótica und anderer politischer Gruppen, die in Kolumbien ausgelöscht wurden, waren wir Opfer von Massenmorden, gewaltsamer Vertreibung in einem Land, in dem es über acht Millionen Binnenflüchtlinge gibt, Opfer von selektiven Morden, außergerichtlichen Hinrichtungen und des gewaltsamen Verschwindenlassens. Unsere Bewegung fordert die kolumbianische Regierung auf, dafür Verantwortung zu übernehmen. Und wir fordern eine Garantie der Nicht-Wiederholung. Niemand – weder in Kolumbien noch weltweit – sollte das erleiden, was wir Opfer in Kolumbien erleiden mussten. Damit meine ich Opfer verschiedenster Verbrechen, die dazu geführt haben, dass Kolumbien jetzt ein Land mit über zehn Millionen Opfern ist.

Welchen Erfolg hat die Bewegung seit ihrer Gründung gehabt?
Ein Erfolg unserer Bewegung ist, dass wir heute ein politischer Akteur und eine moralische Stimme in der kolumbianischen Gesellschaft geworden sind. Die Bewegung der Opfer findet Gehör! Fast alle NGOs im Menschenrechtsbereich gehören zu unserer Bewegung, weil wir für die Wahrheit und gegen die Straflosigkeit kämpfen. Es kann nicht sein, dass in einem Land, das von sich behauptet, die Menschenrechte zu wahren, 99 Prozent der Verbrechen straflos bleiben. Die Wahrheit ist umkämpft. Es gibt die Wahrheit der Sieger und die Wahrheit der Opfer. Aber die Wahrheit der Opfer und das, was wirklich in diesem Land passiert ist, muss bekannt gemacht werden!

Aber die Straflosigkeit gibt es doch weiterhin?
Die Straflosigkeit existiert weiter. Nach dem Friedensschluss haben wir Opfer große Hoffnungen in das System von Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Garantie der Nicht-Wiederholung gesetzt, das mit dem Friedensvertrag geschaffen wurde. In Bezug auf die Straflosigkeit gibt es jetzt die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden JEP (Jurisdicción Especial para la Paz). Die JEP hat mehrere große Verfahren eröffnet, in denen nun ermittelt wird, was passiert ist und die auf ihre Weise für Gerechtigkeit sorgen wollen. Wir Opfer fordern keine Haftstrafen. Es nützt uns nichts, wenn ein Täter im Knast vergammelt, wenn wir nicht genau wissen, welche Gründe zu den ganzen Verbrechen geführt haben, durch die in Kolumbien so viel Blut vergossen wurde.

Wie ließe sich die Straflosigkeit durchbrechen?
Dieser Weg beginnt damit, die Wahrheit zu kennen. Wir müssen wissen wer die Befehle für diese Taten gegeben hat und den Tätern wiederum die Möglichkeit geben, uns die Wahrheit zu sagen. Dafür wurde die Wahrheitskommission gegründet, die aber nicht ausreichend Zeit bekommen hat, um durch das ganze Land zu reisen und alle Zeugenaussagen der Opfer und Täter zu sammeln. Drei Jahre sind nicht genug Zeit, denn die Wahrheit gibt es auf beiden Seiten: Es gibt die Wahrheit der Täter und das, was wir Opfer für die Wahrheit halten.

Inzwischen wurde viel aufgeklärt, aber die Menschenrechtsverbrechen gehen weiter. Wie sollte es jetzt weitergehen?
Solange die kolumbianische Regierung nicht das Problem der sozialen Ungleichheit im Land löst, wird es sehr schwer, die Verbrechen zu stoppen. Die Agrarreform war einer der Punkte der Friedensvereinbarung, aber die Regierung hat sie nicht umgesetzt. Probleme wie den Mangel an Land, oder Drogenhandel gibt es weiterhin. Der Staat profitiert vom Reichtum, den der Drogenhandel bringt und verfolgt nur den kleinen Erzeuger, während die großen Profiteure des Drogenhandels in Ruhe gelassen werden. Gleichzeitig haben nicht alle einen Zugang zu Bildung. Es ist also notwendig die staatlichen Strukturen grundlegend zu verändern, um diesen bereits seit über 60 Jahren anhaltenden Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen. Wir wollen ein anderes Land, ein Land voller Hoffnungen, Liebe und Freude; ein Land mit der Möglichkeit, ohne Angst zu leben.

Und wenn Gustavo Petro die Wahl gewonnen hätte?
Das hätte nichts gebracht. Was gewinnen wir denn mit einem Präsidenten, der sein Amt nicht wirklich ausüben kann, weil es im Kongress eine rechte Mehrheit gibt? Die Wahlen sind nur ein Teilaspekt des Konflikts in Kolumbien und werden nicht die Probleme der Bevölkerung lösen. Es kann nicht angehen, dass der Reichtum eines Landes in den Händen von 58 Familien liegt. Wir brauchen unbedingt Reformen, die wirklich die Sozialstruktur in Kolumbien verändern.

Wie sehen Sie den landesweiten Streik und dessen Forderungen?
Die Forderungen des Streiks gibt es bereits seit den 1970er Jahren, aber was in Bezug auf Gesundheit, Arbeit und Bildung gefordert wurde, hat man nie erfüllt. Dieses Mal haben die sozialen Netzwerke dazu geführt, dass die internationale Gemeinschaft aus erster Hand mitkriegt, dass der Staat mit Repression reagiert. Die Toten, die Verschwundenen, die gewalttätige Antwort auf die soziale Mobilisierung – das ist die Gewalt, die seit 60 Jahren auf dem Land angewendet wird. Niemand wollte wahrhaben, dass so etwas passiert. Aber jetzt hat die Weltöffentlichkeit darauf geblickt, weil es in den größten Städten Kolumbiens stattfand.

Geht der Streik denn noch weiter?
Der Streik hat inzwischen an Kraft verloren, aber er setzt sich in den großen Städten fort. Es gibt keine Blockaden mehr, aber die Leute leisten weiter Widerstand und fordern, gehört zu werden.

Sieht die Bevölkerung die Rolle des Staates und der Polizei jetzt mit anderen Augen?
Viele stellen langsam fest, dass Uribe nicht der Retter des Volkes ist, sondern eine neue Form des Faschismus in Kolumbien anstrebt. Durch den Streik wacht ein Teil der Leute auf. Der Streik hat gezeigt, was wir schon immer gesagt haben: Mit Repression lässt sich keiner der Konflikte in Kolumbien lösen. Man merkt, dass die Leute die Angst vor der Repression verloren haben. Dass Menschen mit Steinen gegen Gewehrkugeln kämpfen, zeigt deutlich: Wir haben nichts zu verlieren!

Wie sieht diese neue Form des Faschismus aus?
Uribe will, dass wir alle gleich denken. Seit dem Jahr 2000 setzt er auf die Politik der harten Hand. Ich habe das nie verstanden. Eine harte Hand, um uns zu bestrafen, zu verprügeln, zu unterdrücken? Wenn in Kolumbien behauptet wird, dass es nur eine Lösung für den Konflikt geben darf, dann ist das Faschismus. Man kann nicht erwarten, dass die ganze Bevölkerung dieselbe Lösung will. Anders zu denken, darf uns nicht das Leben kosten! Außerdem ist es auch eine politische Frage, wie man die Ungleichheit in Kolumbien löst. Das Konzept, das gerade vorherrscht, ist der neue Faschismus, den Uribe und der Centro Democrático errichten wollen.

Welche Rolle spielt Iván Duque?
Iván Duque ist eine Marionette. Er folgt den Vorgaben der Partei Centro Democrático, dessen Vorsitzender Álvaro Uribe ist.

Sie sind aktuell nicht in Kolumbien. Warum?
Ich habe Morddrohungen bekommen, sodass Movice veranlasst hat, dass ich in einem Schutzprogramm für Menschenrechtsverteidiger*innen aufgenommen werde. Mehrere Mitglieder von Movice sind ermordet worden, andere mussten das Land verlassen und konnten nicht zurückkehren. Und mit dem Wandbild „Wer gab den Befehl?“ sind wir jetzt auch noch in eine juristische Auseinandersetzung verwickelt.

Worum geht es bei diesem Wandbild?
Im Oktober 2019 haben wir mit anderen Organisationen eine Kampagne für die Wahrheit gestartet und zusammen mit Künstlern in Bogotá ein Wandbild erstellt, gegenüber einer Militärkaserne. Unter der Aufschrift “Wer gab den Befehl?” sind mehrere Militärkommandanten gezeichnet, zusammen mit der Anzahl an außergerichtlichen Hinrichtungen, die unter ihrem Befehl begangen wurden. Seitdem ist diese Parole Teil der Forderungen der sozialen Bewegung, denn die Untersuchungen haben gezeigt, dass diese Verantwortlichen den Befehl gegeben haben. Aber sie haben einen Oberbefehlshaber und das ist der Präsident.

Sind das alles außergerichtliche Hinrichtungen?
Es geht vor allem um 6.402 Fälle von außergerichtlichen Hinrichtungen (falsos positivos) seit dem Jahr 2000. Wir gehen allerdings von über 10.000 Fällen aus. Falsos positivos gab es in Kolumbien schon vor Álvaro Uribe, aber während seiner Amtszeit von 2002 bis 2010 sind die Zahlen explodiert. Alle Fälle haben bestimmte Eigenschaften. Deshalb weiß man auch, wer dafür verantwortlich ist. Es gibt auch Verurteilungen von Militärs unterer Ränge, aber es gab nie einen Befehlshaber, der verantwortlich gemacht wurde.

Was wissen Sie über den Verbleib ihres Partners?
Er ist noch immer verschwunden. Ich weiß nicht, ob er erschossen wurde. Er war Gewerkschaftsführer, aktiv in der Guerilla M-19 und politischer Gefangener. Als er nach zwei langen Jahren wieder freikam, hat man ihn verschwinden lassen. Wer es getan hat? Ich weiß es nicht. Aber die Art seines Verschwindenlassens passt zu den Taten, die Mitglieder der 20. Brigade in Bogotá – die Aufklärungseinheit der kolumbianischen Armee – begangen haben. Aber man kann erst dann beweisen, dass diese Brigade mit dem Verschwindenlassen meines Partners zu tun hat, wenn einer von diesen Leuten eines Tages sagt: Ja, wir hatten etwas mit dem Verschwindenlassen zu tun. Das ist jetzt fast 35 Jahre her.

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