DIE USA SIND FÜR KUBA NICHT EXISTENZIELL

Mit der republikanischen Administration von Donald Trump hat sich die US-amerikanische Kuba-Politik um nahezu 180 Grad gedreht. Wie erklären Sie sich das?
Die jetzige Administration hat die Logik der Obama-Jahre geändert, weil sie der Miami-Gruppe der republikanischen Partei, angeführt vom Senator Marco Rubio aus Florida, nicht gefallen hat. Und weil sie den radikalsten rechten Gruppierungen der Administration nicht gefallen hat. Das hat dazu geführt, dass Präsident Trump, als er ins Weiße Haus gekommen ist, die Kuba-Politik Obamas Stück für Stück abgebaut hat. Er hat im Juni 2017 einem Memorandum zugestimmt, das gegen alles spricht, was Obama zuvor in Gang gesetzt hatte. Trotzdem hat sich die Politik zunächst nicht ruckartig verändert, denn in Regierungskreisen gab es Diskussionen darüber, wie mit Kuba zu verfahren sei. Schließlich gibt es viele gemeinsame Interessen: Kampf gegen den Drogenhandel, Kampf gegen illegale Immigration, usw … Der Kurswechsel vollzog sich erst mit John Bolton als nationaler Sicherheitsberater. Er kam im April 2018 ins Weiße Haus. Seitdem gab es viele negative Aktionen, zum Beispiel, dass die Kreuzfahrtschiffe nicht mehr nach Kuba kommen können, Einschränkungen der remesas (Rücküberweisungen) durch Exil-Kubaner, die in den Vereinigten Staaten wohnen und die komplette Anwendung des Helms-Burton-Gesetzes. So wurde der dritte Abschnitt in Kraft gesetzt. Damit sind vor US-Gerichten Schadensersatzklagen gegen Unternehmen aus aller Welt möglich, die nach der Revolution 1959 beschlagnahmten und verstaatlichten Besitz nutzen. Abschnitte eins, zwei und vier sind bereits seit dem Jahr 1996 in Kraft. Der dritte Abschnitt ist eine Stellschraube, die Kuba höhere Kosten verursacht.

Industriepark an der Küste Havannas / Foto: Flickr, Cary Lee (CC BY-NC 2.0)

Wie wirken sich die verschärften US-Sanktionen zurzeit in Kuba aus? Gibt es keine Sorgen um eine drohende Versorgungskrise?
Für Kuba sind die Vereinigten Staaten wichtig, aber nicht existenziell. Kuba ist ein Land mit 11 Millionen Einwohnern mit breiten wirtschaftlichen Beziehungen. Kuba ist seit über 50 Jahren daran gewohnt, von den USA blockiert zu werden. Deshalb ändert sich qualitativ erst einmal sehr wenig. Die Situation hat sich wegen der Lage in Venezuela verschlechtert, wegen der Verschärfung der Blockade, besonders im finanziellen Bereich mit dem Helms-Burton-Gesetz. Aber ich glaube, dass dieses Gesetz weniger dazu führt, dass die Unternehmen, die bereits Investitionen in Kuba haben, sich jetzt zurückziehen, sondern eher dafür sorgt, dass keine neuen Investitionen kommen. Denn diejenigen, die bereits in Kuba finanziell engagiert sind, haben bereits mit so etwas kalkuliert. Sie haben ihre Investitionen gemacht als es das Helms-Burton-Gesetz und die Blockade schon gab. Dennoch haben sie Gewinne erzielt und Kuba hat ein legales System, dass ihre Investitionen beschützt. Das Problem sind neue Investitionen. Man bespricht jetzt verschiedene Optionen mit Großbritannien, Frankreich, Deutschland, denn die Welt kann keine Angst vor den USA haben. Man muss Trump jetzt zeigen, so wie das China und die EU bereits machen, dass man reagiert. Sonst glaubt er, dass er gewinnt und wird dadurch bestärkt. Deshalb müssen wir eine breite globale Front gegen die aggressive Politik aufbauen.

Wie wird die Rolle der Europäischen Union (EU) eingeschätzt? Es wurden umfangreiche Wirtschafts- und Kooperationsverträge zwischen der EU und Kuba abgeschlossen, die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini war mehrfach in Havanna zu Besuch. Hilft die EU im Konflikt mit den USA?
Die Beziehung zwischen Kuba und der EU hat sich verbessert seit der Unterzeichnung eines Abkommens über politischen Dialog und Zusammenarbeit 2016 verbessert. In diesem Abkommen respektiert die EU die innere Situation Kubas, genauso wie Kuba die innere Situation der EU-Länder auf Basis des internationalen Rechts respektiert. Und die EU hat den sogenannten Gemeinsamen Standpunkt aufgegeben, der seit 1996 angewendet wurde. Außerdem hat sie schon 2008 die Sanktionen ausgesetzt, die seit 2003 in Kraft waren. Mit diesen Sanktionen hatte sich die EU in innere Angelegenheiten Kubas eingemischt. Damit hat sie Provokationen der kubanischen Konterrevolution und ihres Verbündeten George W. Bush im Weißen Haus unterstützt. Mit dem Unterzeichnen des Abkommens von 2016 wurde das korrigiert. Die heutigen Beziehungen sind sehr gut. Es entwickelten sich wirtschaftliche Beziehungen sowie ein politischer Austausch. Der damalige italienische Ministerpräsident Matteo Renzi war 2015 in Havanna, Raúl Castro hat im Gegenzug Italien besucht. Es gab in hohem Umfang Besuche von Außenministern und Regierungschefs europäischer Staaten auf Kuba und umgekehrt. Mit dem Wechsel zu Trump hat die EU die Interessen europäischer Unternehmen auf Kuba unterstützt und eine prinzipientreue Politik verfolgt. Sie haben sich nicht von Trump einschüchtern lassen. Soviel zum Fall Kuba.

Und die Haltung der Europäischen Union im Fall von Venezuela? Die EU-Staaten haben sich nahezu geschlossen gegen die Maduro-Regierung von Venezuela gestellt, die ein wichtiger Bündnispartner Kubas ist.
Die EU und die Vereinigten Staaten haben in ihrer transatlantischen Agenda einige gemeinsame Interessen: das Thema der Zölle, die Haltung gegenüber Russland, die NATO, die UNO, der Klimawandel, aber auch Kuba und Venezuela. In diesem Spannungsfeld von Gemeinsamkeiten und Konflikten haben sich die EU-Staaten beim Thema Venezuela den US-amerikanischen Interessen untergeordnet. Bei anderen Themenfeldern haben sie eine würdevolle Opposition aufrechterhalten, eine Opposition, die ihre eigenen Interessen repräsentiert. Im Falle Venezuela hat die EU aus meiner Sicht eine fehlerhafte Einschätzung getroffen in Bezug auf das, was zurzeit in Venezuela passiert. Wir haben alle das Recht, Fehler zu machen. Aber Fakt ist, dass EU-Staaten mit Juan Guaidó einen Präsidenten anerkannt haben, den damals kaum jemand kannte und der auch heute nicht genug Unterstützung hat, um international anerkannt zu werden. Man stelle sich vor, die internationale Gemeinschaft würde heute einen selbsterklärten Präsidenten oder Kanzler in Deutschland anerkennen. Das wäre gegen die deutsche Verfassung und erzeugt einen schlechten Präzedenzfall in den internationalen Beziehungen. Das was in Venezuela passiert ist – im Februar mit der Provokation an der kolumbianisch-venezolanischen Grenze und im April als in der Carlota Air Base zu einem Staatsstreich aufgerufen wurde – lässt die Länder, die Guaidó anerkannt haben, in schlechtem Licht erscheinen. Selbst Trump hat zugegeben, dass die Hardliner um John Bolton ihn da in etwas hereingezogen haben. Die Vereinigten Staaten erhöhen die Spannungen gegenüber Venezuela und es besteht die Möglichkeit, dass – wir wollen es nicht hoffen – die USA militärisch intervenieren. Die EU widersetzt sich jedenfalls nicht direkt der US-amerikanischen Politik und eine Intervention in Venezuela wäre sehr gefährlich für den Frieden in Amerika.

Wie würde Kuba im Falle einer solchen US-amerikanischen Militär-Intervention in Venezuela reagieren?
Die wirtschaftlichen Beziehungen zu Venezuela sind sehr wichtig. Venezuela ist der erste Handelspartner, vor allem, weil Kuba seinen Brennstoffbedarf mit venezolanischem Öl deckt. Im Falle einer militärischen Intervention der USA in Venezuela würde das Kuba sehr treffen, allein wegen der Präsenz von mehr als 20.000 kubanischen Mitarbeitern in Venezuela, um die sich Kuba natürlich kümmern muss. Es gibt viele denkbare Szenarien. Die hängen davon ab, wie sich diese Intervention tatsächlich gestaltet. Es ist sehr schwierig, mögliche Reaktionen vorauszusehen. Meine Einschätzung ist, dass sich die Situation durch politische Verhandlungen entspannen kann. In jedem Fall glaube ich, dass wenn die USA militärisch in Venezuela intervenieren sollten, sie große Probleme bekommen würden. Schon seit vielen Jahren haben sie keinen Krieg mehr gewonnen. Sie verlieren gerade den Krieg in Afghanistan, nach 18 Jahren militärischer Präsenz. Sie haben auch den Krieg im Irak nicht gewonnen. Sie konnten sich in Syrien nicht direkt einmischen, weil Präsident Obama bewusst war, dass er keinen dritten Krieg führen konnte. Deshalb benutzt die aktuelle Administration so oft Sanktionen, weil sie wissen, dass sie weder die Unterstützung der eigenen Bevölkerung, noch die diplomatische Unterstützung der Weltgemeinschaft noch die militärischen Möglichkeiten haben, um einen weiteren Krieg in Venezuela zu beginnen. Ich glaube, dass das in gewisser Weise die Verletzlichkeit der Militärmacht USA verdeutlicht. Sie können nicht mehr so verfahren wie 1989 in Panama oder 1991 im Irak. Die Situation verändert sich. Trotzdem sollte man auf alles vorbereitet sein, wenn Trump sagt, alle Karten liegen auf dem Tisch.

 

GLÜCK UND TRAGÖDIEN, TRADITIONEN UND SITTEN

Tierra Guajira Cienfuegos, 2016. Das Foto ist Teil des Themas Tierra (Land) / Foto: Raúl Cañibano

Wie haben Sie Interesse an der Fotografie gefunden?

Ich habe damals in der Luftfahrt als Schweißer gearbeitet. Gelegentlich konnte ich mit dem Flugzeug aufs Land fliegen. So habe ich einmal das Dorf besucht, in dem ich als Kind gelebt habe. Dort lernte ich einen Lehrer kennen, der von seinen Schülern Fotos machte. Ich konnte einen Blick in die Arbeit dahinter werfen, die mich ausgesprochen faszinierte und so sagte ich mir: „Das ist, was ich gerne machen würde.“ In Havanna begann ich dann mit russischen und mit deutschen Kameras, also einer bunten Mischung, zu experimentieren. Zuerst kamen Hochzeiten, Geburtstage, um mir mein Leben zu finanzieren. Im Jahre 1991 stolperte ich in die Ausstellung des kubanischen Fotografen Alfredo Sarabia. Als ich seine Arbeiten sah, wollte ich mich genauso wie er ausdrücken. Seine Fotografie und sein Stil waren sehr magisch.

Esencia Raúl Cañibano in Berlin / Foto: Anatol Kotte

Wie und wann wurden Sie zum Fotografen?
Ich bin Autodidakt. In Kuba gab es keine Schulen für Fotografie. Ich begann im Grunde damit, dass ich in die Bibliothek ging, um Kunst im Allgemeinen zu studieren. Dort lernte ich dann die Werke großer Fotografen aus der ganzen Welt kennen, wie die von Sebastião Salgado. Aber mir gefällt auch die bildende Kunst, die großen Impressionisten und Surrealisten. Die Surrealisten haben mich jedoch am meisten beeinflusst. Vielleicht hat deswegen meine Fotografie einen surrealistischen, mysteriösen Touch. Am Anfang machte ich Fotos nur um des Fotos Willen, denn ich wusste nicht, wie eine richtige Fotoarbeit aussieht. Später jedoch fiel mir auf, dass es besser ist, Arbeiten nach Themen zu erstellen.
Deswegen habe ich verschiedene Themen in meinen Arbeiten, die von Stadt, Land, Alter bis Religion reichen. Als ich noch ein Kind war, habe ich auf dem Land gelebt. Dieses Bild, das ich vom Land habe, wollte ich dann als Fotograf zelebrieren. So ging ich immer häufiger aufs Land hinaus. Und deswegen ist die Fotostrecke Tierra (Land) mein bestes und am weitesten fortgeschrittenes Projekt.

Was sind die Motive, die man immer in Ihrer Fotografie auffinden kann?
Ich bilde nicht die Landschaft, sondern den Menschen ab. Ihm gilt mein Interesse, und dabei besonders dem anthropologischen Aspekt des Mensches. Dabei bearbeite ich viele Themen. Was ich mache, sind fotografische Essays. So arbeite ich an einem Thema über mehrere Jahre lang. Jedes Thema wird weiterentwickelt. Keins beendet. Es ist anthropologisch. Und wenn ich mal draußen bin, auf der Straße, so kann es sein, dass ich mehrere Themen gleichzeitig bearbeitet, oder dass die Fotografie am Ende gar zu einem anderen Thema passt.
So verknüpfte ich letztlich verschiedene Themen miteinander. Ich habe jedoch stets eine vordefinierte Idee von meinen Arbeiten. Diese haben aber immer etwas mit meinem eigenen Privatleben zu tun.

Was möchten Sie mit Ihrer Fotografie erreichen?
Ich arbeite nicht für die Presse. Meine Arbeit ist sehr persönlich. Es ist meine Sicht, mein Blick durch das Auge einer anderen Person. Wenn man ein Bild sieht, ist es mein Leben, das Leben auf Kuba. Mit meiner Arbeit möchte ich das widerspiegeln, was derzeit auf Kuba passiert. So sieht man Strukturen von Kultur und Politik. In meiner Fotografie suche ich keinen einzigen, sondern mehrere Bildhintergründe mit einer oder mehreren Geschichten zur selben Zeit. Nur ganz selten schieße ich normale Porträts. Denn alles, was drumherum passiert, macht die Fotografie interessanter.

Ocaso 2 Rincón, Havanna 2006, Thema Anciano (Alter) und Traición (Tradition)

Warum sind Ihre Fotografien in schwarz-weiß?

Ich habe nichts gegen die Farbfotografie. Es ist bloß, dass ich eher von der Schwarz-Weiß-Schule bin. Ich mag Farbe trotzdem, deswegen habe ich auch Farbfotos. Dennoch bleibt für mich die Fotografie monochrom. Im Grunde ist das Wichtigste, dass die Fotografie am Ende gut ist, dass sie Dinge, Ideen, Emotionen vermittelt. Die Kunst musst du auch nicht unbedingt erklären.

In Ihren Fotos sind keine Stereotype zu erkennen. Wie genau repräsentiert Ihre Fotografie Kuba?
Die Fotos gehen auf die Essenz Kubas zurück. Die Fotografie darf sich nicht in einen Tourist verwandeln, denn man muss die Essenz des jeweiligen Landes erkennen können. Meine Fotografie repräsentiert meine Person und meine Gefühle. Ich weiß daher nicht, ob ich etwas Bestimmtes über Kuba sagen möchte. Es ist eher eine anthropologische, dokumentarische Arbeit zu Kuba. Diese Ausstellung in Berlin ist wichtig für mich, weil ich noch nie in Berlin war. Ich möchte ein Stückchen von Kuba hierherholen, damit man ein wenig von Kuba sieht.

Kuba hat eine facettenreiche Geschichte. Können Sie mir etwas über Kuba zu der Zeit erzählen, als Sie mit der Fotografie angefangen haben?
Ich habe mit der Fotografie in den 90er Jahren begonnen. Es war ein schwieriger Moment, um sich der Fotografie anzunehmen. Zu dem Zeitpunkt war gerade erst das sozialistische Lager gefallen. Da wir wirtschaftlich von den sozialistischen Ländern abhängig waren, fiel das Land in eine Krise. Es gab weder Brennstoff noch Essen. Also ein totales Chaos. Dieser Moment war schwierig für die Fotografie, weil kein Material mehr nach Kuba geliefert wurde. Und wenn ein Fotograf anfängt, braucht er viele Ressourcen, um zu lernen. Ich hatte am Anfang eine alte Kamera, denn wir konnten nur mit abgelaufenem Material arbeiten. So habe ich ganze vier Jahre lang nicht fotografieren können, weil es nichts gab.

 

 

Ocaso 1 Havanna, 2012, Thema Anciano (Alter)

Als ab 1998 der Tourismus nach Kuba kam, suchte man sich Freunde im Ausland. Sie fragten mich,, was ich brauchte, weil auf Kuba alles fehlte. Ich wollte jedoch nur Filmrollen. Manchmal wirst du kreativ, denn andernfalls würdest du es niemals schaffen. Am Ende jedoch brauchen die Menschen gar nicht so viele Dinge.

Und wie ist es heute Fotograf auf Kuba zu sein?
Mein Leben als Fotograf auf Kuba ist nichts Besonderes − Alltag. Immer wenn ich Zeit habe, gehe ich raus. Es ist zum Bedürfnis geworden. So versuche ich, das ganze Jahr über auf Kuba zu reisen. Ich werde nie müde, denn ich liebe es, Kuba zu bereisen. Ich bin deswegen nicht gerne für lange Zeit weg – sechs Tage, nicht mehr. Am Anfang war es schwierig für mich. Nun aber lebe ich von der Fotografie, reise, verkaufe meine Fotos und arbeite weltweit mit Werkstätten zusammen. Aber ja, es war anstrengend wie eben auf der ganzen Welt. Jetzt habe ich mehr Arbeit, viel mehr Projekte. Und anscheinend auch viel Anerkennung. Meine Werke haben etwas, einen Stil. Ich weiß nicht, was die Personen in ihnen sehen. Ab 1999 habe ich recht viel von der Welt gesehen. Ich war in den USA, in England, Norwegen, Frankreich, Belgien, Mexiko, in vielen Ländern. Aber man kennt mich eher auf Kuba. Ja, auf Kuba werde ich wiedererkannt. Ich bin nun sogar Fotografiemeister.

Kuba ist weitaus mehr als nur die Politik. Können Sie mir etwas über die Kunst auf Kuba erzählen?
Ich glaube, auf Kuba haben wir viel Kunst. Die Kunst ist nämlich sehr lebendig; in allen Bereichen – in der bildenden Kunst, im Theater, in der Plastik, überall. Denn trotz der vielen Mängel gibt es sehr gute Akademien auf Kuba. Und sehr gute Künstler. Da ich Autodidakt bin, kann ich wenig über die Kunstszene erzählen. Aber die kubanische Fotografie hat sich verändert. Vor den 90er Jahren war sie sehr revolutionär, dann erfuhr sie jedoch eine radikale Veränderung. Man hatte dann etwas Anderes, das man vermitteln wollte. Aber ich glaube, das war in allen Kunstformen so.

 

DER SCHULDENDIENST HAT PRIORITÄT

Omar Everleny Pérez Villanueva
ist ehemaliger Leiter des Studienzentrums der kubanischen Wirtschaft (Centro de Estudios de la Economía Cubana – CEEC) an Havannas Universität und arbeitet derzeit als freier Analyst. Der 1960 geborene Wirtschaftswissenschaftler plädiert für zügigere Reformen und sieht derzeit erste Ansätze dafür unter dem neuen Präsidenten Miguel Díaz-Canal.

Foto: Knut Henkel


Kuba macht derzeit eine Versorgungskrise durch. Nachdem im Dezember Mehl und Brot knapp wurden, fehlt es inselweit an Speiseöl und an Devisen, um die nötigen Importe zu tätigen.
Ja, und das hat die Regierung bereits Ende 2018 bei der letzten Sitzung des Parlaments angekündigt. Die Importe müssen reduziert werden, weil nicht ausreichend Devisen zur Verfügung stehen. Hintergrund ist, dass die Exporte in den letzten Jahren eingebrochen sind, sowohl beim Zucker als auch bei anderen Produkten. Dieses einkalkulierte Geld fehlt heute, und deshalb ist Kuba weder in der Lage, seine Auslandsschulden zu bedienen, noch das Importniveau aufrechtzuerhalten. Das hat die Regierung entsprechend angekündigt, und Priorität hat die Bedienung dieser Schulden.
Das ist nachvollziehbar, denn sowohl der Pariser Club als auch Russland sind der Regierung in Havanna weit entgegengekommen, haben einen Großteil der Schulden erlassen, diese umgeschuldet und klare Zahlungsziele für die Restschulden vereinbart. Die will Kuba bedienen, um auf dem internationalen Finanzmarkt nicht erneut zum Aussätzigen zu werden und nur noch Zugang zu teuren Risikokrediten zu haben. Die Bedienung der Auslandsschulden hat seitdem Priorität, auch wenn es schwerfällt.

Die Einnahmen im Tourismus steigen nicht ausreichend?
Nein, denn die Touristenzahlen steigen zwar, aber die Einnahmen stagnieren. Der wesentliche Grund dafür ist, dass die Zahl der Kreuzfahrttouristen zugenommen hat. Die bringen aber wenig Geld in die Kassen, denn sie essen in der Regel an Bord und übernachten auch dort. Folgerichtig bringen sie kaum Geld.
Hinzu kommt, dass die Zuckerrohrernte 2018 erneut eingebrochen ist und nur noch 1,1 Millionen Tonnen Zucker produziert wurden – in etwa das Doppelte war geplant. Ein weiterer Faktor ist, dass im vergangenen Jahr der Vertrag mit Brasilien, wo rund 8000 kubanische Ärzte im Einsatz waren, gekündigt wurde. Das hat zu Einbußen von 300 bis 400 Millionen US-Dollar in der Staatskasse geführt, die nicht kompensiert werden konnten. Zudem wirkt sich die politische und ökonomische Krise in Venezuela negativ aus, denn es kommt weniger Erdöl nach Kuba als früher. Derzeit sind es etwa 50.000 Barrel täglich, früher war es das Doppelte. Das große Problem in der Regierung ist, dass weniger Devisen in der Kasse sind.

 

Fast leere Regale Die Versorgungskrise macht sich bemerkbar (Foto: Knut Henkel)

 

Raúl Castro hat vor ein paar Tagen angekündigt, dass die finanzielle Situation schwierig ist und gleichzeitig bekräftigt, dass die sich abzeichnende Krise nicht vergleichbar wäre mit jener zu Beginn der 1990er Jahre. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ja, denn die Strukturen der kubanischen Wirtschaft haben sich deutlich verändert. Ein Teil der Bevölkerung verfügt heute über ganz andere finanzielle Möglichkeiten als früher.

Für die Regierung hat der Schuldendienst Priorität gegenüber der Versorgung der eigenen Bevölkerung?
Ja, gerade weil die Gläubiger auf bis zu 90 Prozent der Altschulden wie im Falle Russlands verzichtet haben; allerdings pochen sie auf verbindliche Zahlungen für die Restschulden.

Die USA verschärfen die Sanktionen. Anfang April hat die US-Regierung mehreren Schifffahrtsgesellschaften Sanktionen angekündigt, deren Tanker Rohöl aus Venezuela nach Kuba transportieren. Droht eine Energiekrise auf der Insel?
Das ist eine Entscheidung, die sich in den nächsten Monaten negativ auswirken kann. Bisher ist aber die Versorgung mit Benzin in Kuba stabil und auch bei der Stromversorgung läuft alles normal. Das kann sich aber ändern. Allerdings gibt es auch Optionen für Dreiecksgeschäfte, so dass Russland in die Bresche springen könnte, um die Versorgung Kubas aufrechtzuerhalten. Ich hoffe, dass der Schlag der USA nicht so gravierend werden wird. Zudem gibt es die Option aus Algerien oder Angola Erdöl zu beziehen. Aber natürlich ist die Entscheidung aus dem State Department eine neue Herausforderung für Kuba.

1990 hat die ökonomische Krise die ganze Bevölkerung hart getroffen – ist das 2019 anders?
Oh ja, die kubanische Gesellschaft ist heute deutlich stärker ausdifferenziert. Besitzer eines paladar (kubanisches Restaurant) oder einer Bar werden von der Krise nicht so heftig getroffen wie ein Mitarbeiter in einer staatlichen Fabrik – da gibt es immense Unterschiede. Die Zahl der Menschen, die direkt vom Staat und seinen Arbeitsplätzen abhängt, ist deutlich geringer als früher.

Für den Privatsektor könnte sich die Krise negativ bemerkbar machen, wenn es an Produkten fehlt, die für ein Restaurant, für eine Bar oder für den Klempner an der Ecke notwendig sind, oder?
Ja, das ist richtig. Engpässe bei der Lebensmittelversorgung wirken sich auch auf das Angebot in den Restaurants aus, aber die sind es gewohnt zu improvisieren.

Die USA haben den Artikel III des Helms-Burton-Gesetzes in Kraft gesetzt. Damit haben US-Bürger seit 2. Mai die Möglichkeit, gegen ausländische Unternehmen auf Entschädigung zu klagen, die Eigentum nutzen, das nach der Revolution 1959 in Kuba enteignet wurde. Wer mit solchem Eigentum gehandelt hat, soll kein US-Visum mehr bekommen. Wie beurteilen Sie das?
Das ist eine politisch motivierte Maßnahme. Wie die sich in der Realität auswirken wird, muss man abwarten, denn die Kubaner, aber auch ihre Partner sind seit Jahren auf die Implementierung dieses Artikels vorbereitet. Warum? Weil das Helms Burton Gesetz seit 1996 existiert und es viel Zeit gab, sich mit dem Artikel III zu beschäftigten. Zudem denke ich, dass die Umsetzung mit einer Klagewelle einhergeht, die erst einmal lange Jahre keine direkte Auswirkung haben wird.
Zudem gehe ich davon aus, dass große Hotelgruppen wie Melía oder Iberostar aus Spanien sich sehr genau überlegt haben, ob sie ein Hotel übernehmen oder dort bauen, wo es us-amerikanische Ansprüche gibt. Das Gros der Neubauten im Tourismussektor wurde auf Grundstücken errichtet, die aus der Perspektive des Gesetzes „unbelastet“ sind. Natürlich werden die Anwälte in den USA nun aktiv werden, aber ich denke nicht, dass es schnell gravierende Auswirkungen geben wird. Zudem werden sich die Europäer zu wehren wissen und die spanische Regierung wird ihre Tourismusunternehmen nicht hängen lassen.

Aber wird sich durch den Artikel III nicht das Investitionsklima in Kuba eintrüben?
Das ist wahrscheinlich, denn alle Unternehmen werden genau kalkulieren, ob sich der Aufwand lohnt, wenn es derart viele Dinge zu bedenken gibt, wenn man in Kuba investieren will. Insofern ist der Artikel III eine zusätzliche Hürde, aber das gilt zum Beispiel nicht für neue Investitionsstandorte wie Mariel, wo Kubas Freihandelszone mit speziellen Bedingungen lockt.

Wie entwickelt sich Mariel? Es sind doch gerade mal 17 Unternehmen, die dort bisher produzieren.
Ja, aber man kommt voran, die Freihandelszone wird wichtiger.

Welche Initiativen erwarten Sie angesichts der Versorgungsprobleme von der kubanischen Regierung?
Die Regierung hat angekündigt, dass sie reagieren wird. Großmärkte sollen nun wirklich für die Privaten eröffnet werden, Gesetze, die kleine und mittlere Unternehmen fördern sollen, sollen nun endlich kommen. Die ökonomische Situation zwingt dazu, und Präsident Miguel Díaz-Canel hat sich in den vergangenen Monaten flexibel gezeigt und angekündigt, dass er das Reformtempo erhöhen wird. Warten wir es ab.

Schon der frühere Präsident Raúl Castro äußerte, dass die anstehende Währungsreform „nicht länger hinausgeschoben“ werden könne. Wird Díaz-Canel das doppelte Währungssystem antasten.
Nein, das ist zu komplex, denn es existieren mehrere Wechselkurse im Land. Aber Aussagen, dass keine Unterschiede mehr gemacht werden zwischen staatlichen und privaten Unternehmen, sind neu und interessant.

Wichtig wäre es, die Agrarwirtschaft zu reanimieren. Wo liegen die Hürden?
Ich denke, dass das staatliche Ankaufsystem „Acopio“ ein Bremsklotz ist, aber die Bauern müssen auch in die Lage versetzt werden Agrartechnik kaufen zu können: Gerät, Werkzeug, Saatgut – all das fehlt. Die neuen Traktoren, die man im Land sieht, gehören den staatlichen Unternehmen. Doch die privaten sind es, die 95 Prozent der Zwiebeln, des Knoblauchs im Land produzieren – ihnen muss man endlich helfen. Großmärkte für Agrarinputs fehlen, und darüber haben wir schon vor neun Jahren diskutiert.

 

NEUE VERFASSUNG FÜR 60-JÄHRIGE REVOLUTION

Renovierung Neue Verfassung erhielt signifikant viele Nein-Stimmen (Foto: Jaques Lebleu, Flickr CC-BY-NC 2.0)

 

„Ich fühle einen immensen Stolz, Teil unseres heroischen, tapferen und standhaften Volkes zu sein”, kommentierte Kubas Präsident Miguel Díaz-Canel mit viel Pathos das Ergebnis des Referendums auf Twitter.

Laut amtlichem Wahlergebnis votierten 86,9 Prozent der Wahlbeteiligten am 24. Februar mit „Ja”. Auf die „Nein”-Stimmen entfielen neun Prozent. Leere oder ungültige Wahlzettel machten 4,1 Prozent der abgegebenen Stimmen aus. Die Wahlbeteiligung lag bei offiziell 90,1 Prozent. In absoluten Zahlen bedeutet dies: Insgesamt 78,3 Prozent der 8,7 Millionen Wahlberechtigten haben ihr Kreuz hinter das „Ja” gesetzt. Mehr als ein Fünftel der Abstimmungsberechtigten blieben entweder der Wahl fern oder stimmten dagegen.

Vor der Abstimmung hatte es eine massive staatliche „Ja”-Kampagne gegeben – auf Straßenplakaten, an Bussen und in den staatlichen Medien. Ein gewaltiges Banner am Platz der Revolution warb für Zustimmung zu dem neuen Verfassungstext. Die Gegner*innen mussten ihren Kampf für ein „Nein” vor allem auf die sozialen Netzwerke beschränken. Dass es überhaupt eine nennenswerte „Nein”-Kampagne gab, war schon bemerkenswert.

Die Präsidentin der Nationalen Wahlkommission (CEN), Alina Balseiro Gutiérrez, wollte die „Nein”-Stimmen auf Nachfrage nicht interpretieren. Die Wahlkommission sei für den ordnungsgemäßen Ablauf der Abstimmung verantwortlich, ihr obliege aber keine politische Beurteilung der Ergebnisse, sagte sie auf einer Pressekonferenz.

Die neue Verfassung – die bisher gültige Magna Charta stammt aus dem Jahr 1976 – soll die veränderten kubanischen Realitäten besser widerspiegeln und die Wirtschafts- und Sozialreformen der vergangenen Jahre rechtlich verankern. Nach der landesweiten öffentlichen Debatte in Tausenden Nachbarschafts- und Betriebsversammlungen 2018 waren rund 60 Prozent der Artikel vom Parlament modifiziert worden (siehe LN 531/532). Über diese wurde in dem Referendum abgestimmt. Einige der Vorschläge aus der Bevölkerung schlugen sich in kleinen Wendungen im Text nieder. Andere eröffneten heftige Debatten, wie um jenen Artikel, der gleichgeschlechtliche Ehen ermöglicht hätte. Nach Widerstand der Kirchen und aus der Bevölkerung wurde er jedoch wieder gestrichen. Die umstrittene Frage der Einführung der „Ehe für alle” soll in den kommenden zwei bis drei Jahren in einem neuen Familiengesetzbuch geregelt werden.

Der Verfassungstext bekräftigt den sozialistischen Charakter Kubas und die Führungsrolle der Kommunistischen Partei (PCC) in Staat und Gesellschaft. Planwirtschaft und Staatseigentum bleiben fundamental für Kubas Wirtschaft. Gleichzeitig wird die Rolle des Marktes, ausländischer Investitionen und neuer privater Eigentumsformen anerkannt. Neben dem Staatspräsidenten wird der Posten eines Ministerpräsidenten neu geschaffen. Unter anderem werden Amtszeitbeschränkungen von zweimal fünf Jahren für wichtige Staatsämter eingeführt. Die lokale Ebene soll gestärkt werden.

Innerhalb von sechs Monaten nach Inkrafttreten der neuen Verfassung muss ein neues Wahlgesetz verabschiedet werden, das den geänderten Strukturen Rechnung trägt. Bedeutend werden zudem die vom Parlament zu verabschiedenden nachgeordneten Gesetze sein, in denen die Verfassungsprinzipien in neues Recht umgesetzt werden.

In einem Land wie Kuba mit traditionell sehr hohen Zustimmungsraten birgt eine nennenswerte Anzahl von „Nein“-Stimmen bzw. Enthaltungen Stoff für Diskussionen und Interpretationsversuche. Bei der Abstimmung über die Verfassung 1976 hatte die Wahlbeteiligung noch bei 99 Prozent gelegen, die Zustimmung bei 98 Prozent. Gerade einmal 54.000 Menschen sprachen sich damals gegen die Verfassung aus. Dass diesmal fast zwei Millionen Menschen ihr Kreuz beim „Nein“ gesetzt haben, ungültige Stimmzettel abgegeben haben oder der Abstimmung ferngeblieben waren, bedeutet ein Gegengewicht, das „die Regierung nicht ignorieren kann“, so der frühere kubanische Diplomat und unabhängige Analyst, Carlos Alzugaray.

Vor diesem Hintergrund verweist Eduardo Sánchez, Computerwissenschaftler der Universität Havanna, darauf, dass die PCC weiterhin die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung habe, „aber weniger als zu früheren Zeiten. Gerade einmal 73 Prozent (nach Zahlen des vorläufigen Wahlergebnisses, das am 25. Februar bekannt gegeben worden war, Anm. d. Red.) unterstützen explizit die neue Verfassung, trotz der intensiven Debatte in den offiziellen Medien.“ Die „demographische Minderheit“ (der „Nein“-Stimmen) sei in der Nationalversammlung (ANPP) nicht abgebildet. „In der ANPP müsste es 161 Abgeordnete geben, die das Verfassungsprojekt nicht unterstützen.“ Der Verfassungsentwurf war im Dezember von der ANPP einstimmig verabschiedet worden. „In Kuba gibt es heute fast 2,5 Millionen Kubaner*innen, die in den Vorschlägen der Regierung nicht die Lösung ihrer Probleme und Nöte sehen“, so Sánchez. Diese müssten in Rechnung gestellt werden.

Der kubanische Soziologe und Politikwissenschaftler Juan Valdés Paz sieht die Hauptherausforderung der Regierung darin, die Zustimmung der Bevölkerung zur Revolution aufrecht zu erhalten. Dafür sei das Thema Wirtschaft entscheidend. „Im Verlauf der vergangenen 60 Jahre hat diese Zustimmung, die einmal bei 97 Prozent lag, augenscheinlich abgenommen, laut einigen Studien liegt sie noch bei 70 Prozent”, so Valdés. Das entspricht in etwa dem Wahlergebnis.

Rafael Hernández, Direktor der Zeitschrift Temas, lobt die Regierung. Das eingegangene Risiko einer demokratischen Abstimmung, die die Abweichung, die Diskrepanz, die Ablehnung sichtbar macht, verdiene Anerkennung. „Diejenigen, die aus einem staatsbürgerlichen Bewusstsein heraus mit „Nein“ stimmen, verdienen speziellen Respekt, denn sie repräsentieren eine aktive Bürgerschaft, die ihr durch den Verfassungsprozess anerkanntes Recht ausübt“, so Hernández. Er verwiest darauf, dass schon 60-65 Prozent eine „formidable“ Zustimmungsrate wären. Der Brexit in Großbritannien hatte knapp 52 Prozent.

 

EXPERIMENT MISSGLÜCKT

Foto: © C-Side


Leonel und Antuán sind Freunde. Zwar trennen die beiden kubanischen Jungen 4 Jahre, aber die Verbindung zwischen den beiden ist stärker als der Altersunterschied. Antuán, mit 13 Jahren der Ältere, färbt sich schon die Haare blond und rasiert sich die Beine – bei den Teenagern im etwas heruntergekommenen Provinzkaff Pueblo Textil momentan offenbar der letzte Schrei. Leonel will von solchen Moden noch nichts wissen, bricht mit Antuán aber dennoch bereitwillig zu gemeinsamen Streifzügen in den gemeinsamen Sommerferien auf. Die beiden Heranwachsenden erforschen dabei stillgelegte Industrieanlagen, trockengelegte Swimmingpools und geheimnisvolle Höhlen, träumen von einer Fahrt ans Meer oder kabbeln sich auch mal. Doch die Freundschaft wird auf eine Probe gestellt: Antuán zieht mit seinem Vater in die Hauptstadt La Habana, wo sich die Familie ein besseres Leben erhofft.

© C-Side

Der Argentinier Pablo Briones hat Baracoa im modischen Genre der Dokufiktion verortet und sich für eine angeleitete Dokumentation mit realen Protagonisten entschieden. Was genau spontan passiert und was erfunden ist, bleibt also offen. Doch auch wenn Briones dies mit einem vielversprechenden Mittelweg zwischen realistischer Situation und ungebundener Kreativität der beiden Hauptdarsteller zu erklären versucht – es tut dem Film alles andere als gut. Denn das Experiment des Changierens zwischen den Formaten missglückt an zu vielen Stellen. Wenn die beiden Jungen interagieren, ist nie klar, ob Stimmungen und Gespräche spontan entstanden oder nicht doch angeleitet, vorherbestimmt sind. Zumindest die Schauplätze des Films, das scheint klar, sind vom Filmteam ausgewählt. Die beiden Jungen werden hauptsächlich an verlassenen Orten gezeigt. Ausgehöhlte Autos und tote Tiere säumen ihren Weg, Interaktion mit anderen Menschen wird fast völlig ausgespart. Das ist schade, denn diese könnte höchst interessant sein: Beide Protagonisten sind nämlich ohne Vater aufgewachsen, das Verhältnis zu ihren Hauptbezugspersonen – zum Beispiel Leonels Oma – bleibt aber unklar. Tanz, Spiel, Fröhlichkeit, Ausgelassenheit mit Erwachsenen oder anderen Kindern sind kaum zu sehen. Erst als Leonel Antuán in La Habana besucht, wird dieses klaustrophobisch und etwas unauthentisch wirkende Setting aufgebrochen. Aufgrund des Genres der Dokufiktion drängt sich deshalb im Laufe des Films der ungute Verdacht auf, dass hier eine Realität gezeigt wird, die nicht ist, sondern sein soll. Das scheinbare Leben der beiden Jungen in ihrer eigenen, von außen abgeschnittenen Welt wirkt nicht echt, als Zuschauer*in fällt es so schwer, dem Filmteam in seinem Zeigen der (Nicht-)Realität Vertrauen zu schenken. Und, auch wenn es bitter klingt: Sollten tatsächlich größere Teile des Films fiktionalisiert sein, dann sind sowohl die Charaktere als auch die Geschichte dafür einfach nicht interessant genug. Weil nie klar wird, ob die Ereignisse nun real oder vom Filmteam beeinflusst sind, wirkt der Film über weite Strecken beliebig, ja sogar langweilig. Selbst das Sympathisieren mit den Hauptcharakteren wird durch die durchgehende Verwendung des homophoben Worts „Maricon“ („Schwuchtel“) in den Dialogen oder ein Spiel, in dem die Rollen von Gefangenen und Aufseher*innen übernommen werden (inklusive Folter) nicht gerade erleichtert.

© C-Side

Erst ganz zum Schluss, als man eigentlich schon ratlos das Kino verlassen möchte, erklärt Leonel aus dem Off plötzlich eine Minute lang, warum er an Gott glaubt und Antuán nicht („Wenn es ihn gibt, warum erschafft er nicht ewiges Leben“?), dass es ihn nicht interessiert, wer sein Vater ist („Wichtig ist, dass jemand auf mich aufpasst“) und warum er sich trotz allem vorstellen kann, sein restliches Leben in Pueblo Textil zu verbringen („Auch wenn es manchmal langweilig ist, genieße ich das Leben doch jeden Tag“). Es fragt sich, wieso diese für einen Neunjährigen so reifen Ansichten nicht schon früher im Film Verwendung finden. Oder weshalb Leonel nicht in den Momenten gezeigt wird, die ihn zu diesem plötzlichen Ausbruch an Erkenntnis kommen lassen. Ein Schelm, wer denkt, dass hier zu guter Letzt die Fiktion doch noch die Oberhand über die Doku gewonnen hat.

WENN DAS WORT SICH DES BILDES BEMÄCHTIGT

Parsi:
Sa 09.02. 17:30 Kino Arsenal 1
So 10.02. 14:00 Werkstattkino@silent green

Vivir en junio con la lengua afuera:
Sa 09.02. 13:00 Kino Arsenal 1
So 10.02. 17:00 Werkstattkino@silent green

Sektion: Forum Expanded

Foto: © Eduardo Williams, Mariano Blatt


Bewegungen der Kamera in Vergangenheit und Zukunft. Das aufrichtige Wort kommt nicht aus der Mode, nutzt sich nicht ab, stirbt nicht. Die Erinnerung an den Dichter Reinaldo Arenas lebt stärker denn je im Gedächtnis der Kubaner*innen. Der Regisseur Coco Fusco in Bewusstsein darüber, integriert sie in seinen Kurzfilm Vivir en junio con la lengua afuera. In einem Kuba zu Zeiten des tiefgreifenden Wandels verfolgt und aufgrund seiner Homosexualität eingesperrt, kehrt Reinaldo Arenas nach Wiedererlangung der ersehnten Freiheit zum Lenin-Park zurück, wo er sich zuvor vor der Repression versteckt hatte. Und auf demselben Platz beginnen die Geschichte von seinem Leben und das Vorlesen seines bekanntesten Gedichtes, das den Titel trägt „Einführung des Glaubenssymbols“.

© Coco Fusco

Auf herzzerreißende und zeitlose Weise rezitieren drei Personen das Gedicht, so als ob sie ihr ganzes Leben auf diesen Moment gewartet hätten. Aufrichtigkeit von der aufrichtigsten Sorte und Schmerz von der schmerzhaftesten Sorte. Kurios und fast paradox erscheint, dass zwei der Vortragenden, ein Paar, kurz davor steht aus ihrem Haus geworfen zu werden – Zwangsvertriebene im heutigen, “modernen” Kuba. Die offensichtliche Aktualität des Gedichts fällt auf. Es scheint beinahe, dass hier anstelle eines Gedichts das Manifest einer politischen Demonstration des laufenden Jahres verlesen wird. Dank einer unprätentiösen Kameraführung identifizieren sich die Zuschauer*innen fast sofort mit jedem einzelnen Wort von Reinaldo Arenas, der so lebendig ist wie nie.

Bewegungen der Kamera in Gegenwart und Vergangenheit. Durch ein Zusammenwirken wilder Bilder erreicht uns Parsi aus der Hand der Regisseure Eduardo Wiliams und Mariano Blatt. Begleitet von einer Kamera, die in einem stetigen Auf und Ab die Straßen durchkämmt, beginnt eine Stimme aus dem Off verschiedene virtuelle Bilder, Empfindungen und Erinnerungen aufzuzählen, die zu sein “scheinen” oder auch nicht. Ein frenetisches Gedicht und Wortspiel, das sich ebenso schnell bewegt wie die Kamera, die uns mit umrundenden Bewegungen das Gefühl gibt, in einem Hamsterrad zu sein. Gefilmt wird tief, etwa auf Schulterhöhe.

© Eduardo Williams, Mariano Blatt

Stadtviertel mit Prostituierten und Transvestiten, die die Kamera sehen und lachen. ”Sieht aus, als ob es hier einen Dreier geben wird”, sagt die Stimme aus dem Off. Frauen und Kinder nähern sich der Kamera und betrachten sie von der Seite, so als ob sie eine weitere Person wäre. Die Kamera fährt wie zum Herumschnüffeln in ein Haus hinein, dann wieder hinaus, ”Das ist ja wie beim Karneval”, sagt die Stimme, während die Kamera anfängt, sich wie ein rundes, betrunkenes Geschoss zu bewegen. Die Wortspielerei nimmt immer mehr an Bedeutung zu während die Minuten vergehen. Die Kamera hüpft von Hand zu Hand, gleitet wie auf Rollschuhen auf der Straße und zwischen den Autos hindurch, so schnell wie die Worte. Die Zuschauer*innen folgen wie gebannt den Bildern und versuchen sie mit den gehörten Worten zu assoziieren. Die Kamera steigt, steigt immer mehr. Der Blickwinkel vergrößert sich. “Es scheint etwas ästhetisch Schönes, aber moralisch Verwerfliches zu sein”, sagt die Stimme.

Man weiß nicht, ob es die Worte oder die Bilder sind, die das Bestechende an Parsi ausmachen; oder die Kombination beider, die Schärfen des Bildes oder die Unschärfen, die Aufrichtigkeit der einzelnen Sätze oder deren Unaufrichtigkeit.

Vivir en junio con la lengua afuera und Parsi laufen 2019 im Forum Expanded der Berlinale.

ZEIT DES AUFBRUCHS

Foto: © Dublin Films


Bananen, die als Opfergabe an die Götter im Wasser treiben, riesige Dampfwolken, die die Denguemücken ausrotten sollen und immer wieder die rennende Jenniffer, die am Schluss des Films einfach aus dem Bild hinaussprintet – der in Kuba gedrehte Film des brasilianischen Regisseurs Aldemar Matias schenkt uns viele schöne Bilder, beglückende und auch lustige Momente und ein großartiges Mutter-Tochter-Gespann. Die beiden Protagonistinnen, die Sportlerin Jenniffer und ihre Mutter Marbelis, lassen die Kamera dabei so nah an sich heran, dass es kaum zu glauben ist, dass La Arrancada ein Dokumentarfilm ist. Nach dem Kurzfilm El enemigo, in dem Matias bereits Marbelis’ Schädlingsbekämpfungscrew porträtierte, verfolgt der Regisseur wieder sein selbst erklärtes Ziel, politische Zusammenhänge durch das Filmen familiärer Intimität zu verstehen und darzustellen.

© Dublin Films

Der Dokumentarfilm begleitet die Protagonistinnen über eine kurze Zeit der Unsicherheiten hinweg: Jenniffers Bruder bricht auf, um in Chile Geld zu verdienen, Jenniffer selbst schlägt sich seit Längerem mit einer Verletzung herum und hadert mit ihrer Sportkarriere. Gleichzeitig bekommen wir einen kleinen Eindruck eines Kubas, das in der Post-Castro-Ära zwischen den Zeiten zu hängen scheint. Der Film bricht dabei mit dem Bild, das europäische Zuschauer*innen wohl immer noch von Kuba im Kopf haben werden. Zwar pafft Marbelis des Öfteren dicke Zigarren und auch ein alter US-Wagen kurvt durch die Straßen, doch abends treffen sich Jenniffer und ihre Freund*innen auf dem „Wi-Fi-Platz“, um stundenlang mit ihren Smartphones herumzusurfen und reden alle darüber, das Land zu verlassen.

© Dublin Films

Der Film lebt vor allem von der besonderen Dynamik zwischen Mutter und Tochter. Marbelis ist eine rigorose Frau, als Chefin einer Schädlingsbekämpfungscrew geht sie hart gegen Menschen vor, in deren Gebäuden die gefährlichen Denguemücken gefunden wurden. Auch an ihre Tochter hat sie hohe Ansprüche, die diese aber geschickt zu tarieren weiß. Gleichzeitig ist ihre Beziehung von sehr viel Liebe und Vertrautheit geprägt. Dem Dokumentarfilmer Matias gelingt es, dieses besondere Verhältnis durch kleine Details, wie etwa das ausgefeilte Begrüßungsritual der beiden, einzufangen.

Es bleibt zu hoffen, dass dem Film, der auf der Berlinale seine Weltpremiere feierte, noch eine längere Karriere auf der Kinoleinwand beschert wird.

 

ELN BOMBT SICH INS ABSEITS

Während die ELN selbst die über den Jahreswechsel vereinbarte bilaterale Waffenruhe eingehalten haben will, sollen die Regierungstruppen während des Stillstandes ihre Soldaten strategisch positioniert und ein ELN-Camp bombardiert haben. In ihrem Schreiben erklärt das Nationale Kommando der ELN den Angriff auf die Polizeiakademie zu einem „legitimen Akt der Selbstverteidigung“.
Mit dem Schreiben wird offiziell, was die Regierung unter Präsident Iván Duque bereits kurz nach dem Anschlag am 17. Januar behauptet hatte. Bei dem Angriff mit einer Autobombe starben 21 Menschen, darunter der Attentäter. 68 weitere Personen wurden verletzt. Duque erklärte kurz darauf die Friedensgespräche mit der ELN für beendet. „Es reicht, ELN – es reicht mit den Toten, es reicht mit Entführungen und mit Attentaten gegen die Umwelt. Kolumbien sagt euch: Es reicht!” sagte Duque in einer Fernsehansprache. Er forderte die Guerillagruppe zu konkreten Taten auf, wozu insbesondere die Freilassung von mehreren Geiseln aus der Gewalt der ELN zähle sowie ein Ende sämtlicher krimineller Handlungen. In den vergangenen 17 Monaten habe die ELN 400 terroristische Aktionen in 13 Bundesstaaten, mit 339 Opfern und mehr als 100 Toten verübt, so Duque. Er brachte die Guerilla auch mit der Welle ermordeter Menschenrechtsaktivist*innen in Verbindung, die Kolumbien seit Monaten erschüttert. Der Attentäter soll demnach ein Sprengstoffexperte der ELN mit engen Verbindungen zu mehreren Personen des Oberkommandos der Guerilla gewesen sein. Unter anderem soll er Verbindungen zu Gustavo Aníbal Giraldo Quinchía, alias „Pablito“, einem der größten internen Kritiker des Friedensprozesses zwischen ELN und Regierung gehabt haben. Ein weiterer Verdächtiger, der ebenfalls Mitglied der ELN sein soll, wurde später in Bogotá festgenommen.

„Es reicht“, sagen alle

Am Sonntag nach dem Attentat demonstrierten rund 35.000 Kolumbianier*innen in Bogotá für ein Ende der Gewalt und forderten: „Es reicht!“. Duque hatte sein Amt am 7. August 2018 mit der Ankündigung angetreten, den Prozess zu beenden, sofern die Guerilla nicht eine Reihe, aus Sicht der ELN unrealistischer Bedingungen, wie etwa einen einseitigen Waffenstillstand erfülle. Die im Zuge der Friedensgespräche ausgesetzten Haftbefehle gegen zehn Kommandanten der Guerilla würden ab sofort wieder in Kraft gesetzt, erklärte Duque. Er bat die internationale Gemeinschaft um die Festnahme der ELN-Führungsriege. Aktuell halten sich die Kommandanten in Kuba auf, wo sie auf die Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen warten. Duque hatte diese seit seinem Amtsantritt ausgesetzt. Die Regierung ignorierte damit gleichzeitig einen Leitfaden, den die ELN gemeinsam mit der Vorgängerregierung von Juan Manuel Santos für einen möglichen Abbruch der Gespräche vereinbart hatte. Diese Protokolle sollten die Rückkehr der ELN-Kommandanten nach Kolumbien regeln.
Kuba erklärte, sich zu den Haftbefehlen gegen die ELN-Kommandeure zunächst beraten zu wollen: „Das kubanische Außenministerium wird sich streng an die Protokolle der Friedensverhandlungen halten, die von der Regierung und der ELN unterzeichnet wurden. Dazu zählt auch das Protokoll für den Fall eines Scheiterns der Verhandlungen. Das Ministerium berät sich mit anderen Garantiemächten. Kuba erklärt Kolumbien sein Beileid“, schrieb der kubanische Kanzler Bruno Rodríguez auf Twitter.
Der Senator Iván Cepeda und der Ex-Minister Álvaro Leyva baten derweil den kolumbianischen Hohen Kommissar für Frieden, Miguel Ceballos, in einer Erklärung darum, die bereits zwischen der Regierung Santos und der ELN vereinbarten Punkte anzuerkennen. Ceballos solle sämtliche Dokumente aus den Verhandlungen an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen übergeben. „Wir glauben, dass diese historischen Vereinbarungen, die mit viel Aufwand erreicht wurden, nicht verschleudert werden sollten“, sagte Cepeda. „Deswegen sollen, im Fallen eines neuen Friedensprozesses, die bereits vereinbarten Punkte und die gesammelten Erfahrungen die Basis für einen baldigen Frieden mit der ELN bilden.“ Dies sei möglich, weil im Gegensatz zu den Friedensverhandlungen mit den Revolutionären Bewaffneten Streitkräften Kolumbiens (FARC) nicht unter der Prämisse „Nichts ist vereinbart, bis alles vereinbart ist“, verhandelt worden sei, so Cepeda. Zu den Vereinbarungen zählen demnach unter anderem die Entminung von Gebieten in der Region Nariño, ein humanitäres Abkommen für die Region Chocó und eine Garantie für die Beteiligung der Zivilgesellschaft am Friedensabkommen.

Es gibt den Versuch, die schon getroffenen Vereinbarungen zu retten

Der UN-Sicherheitsrat verurteilte den Angriff auf die Polizeischule bei einer Sitzung Ende Januar und forderte die Regierung und die Guerilla auf, den Friedensprozess fortzusetzen. Auch die Mitglieder der politischen Partei FARC, die aus der entwaffneten ehemaligen Guerilla hervorgegangen ist, riefen die Verhandlungspartner zu weiteren Gesprächen auf. Der politische Rat der FARC erklärte zudem, er sei von dem Bekennerschreiben der ELN äußert überrascht und enttäuscht gewesen. Bis dahin hätte die Partei die Hoffnung bewahrt, dass hinter dem Attentat andere Täter*innen und Gründe steckten. Gleichzeitig forderte der Rat die Regierung jedoch auch dazu auf, die Protokolle für den Abbruch der Gespräche einzuhalten: „Der traurige Fakt, dass es sich um ein Attentat auf eine Polizeischule handelte, darf nicht dazu instrumentalisiert werden, die Tür vor zukünftigen Anstrengungen der internationalen Gemeinschaft zu verschließen“, so die FARC in einer offiziellen Mitteilung. Die FARC erklärten sich zudem bereit, zwischen Regierung und ELN zu vermitteln.

FARC bieten sich als Vermittler an

Im Gegensatz zu anderen Guerillagruppen ist die ELN basisdemokratisch organisiert. Einzelne Kommandos reagieren autonom und werden nicht durch die Führungsriege der Guerilla gesteuert. Daher kam es in der Vergangenheit immer wieder zu Aktionen einzelner Kommandos, die den Friedensverhandlungen kritisch gegenüberstehen und diese nicht mittragen wollen.
Der Angriff auf die Polizeischule zeigt, wie umstritten der Friedensprozess innerhalb der Guerilla tatsächlich ist. Erschwert wird der Prozess durch die schleppende Umsetzung des Friedensabkommens mit der FARC. Seit der Unterzeichnung des Abkommens zwischen FARC und kolumbianischer Regierung eskalierte die Gewalt gegenüber Aktivist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen in einigen Gebieten Kolumbiens. Mehr als 300 Aktivist*innen wurden seit der Unterzeichnung getötet, darunter auch unzählige bereits entwaffnete Angehörige der FARC. Entsprechend riskant erscheint ein einseitiger Waffenstillstand der ELN-Guerilla. In ihrem Bekennerschreiben forderte die ELN daher erneut eine dauerhafte gegenseitige Waffenruhe. „Präsident Duque, wir wollen betonen, dass der Weg des Krieges nicht die Zukunft Kolumbiens ist“, schreibt das ELN-Kommando. „Es ist der Frieden, deswegen erinnern wir daran, dass das Beste für das Land eine Fortsetzung der Gespräche wäre.“

 

VIELFALT AUF DEN ZWEITEN BLICK

Monos: Eine Gruppe von acht jungen Rebellen bewacht eine Geisel in den kolumbianischen Bergen (Foto: Alejandro Landes)

Auf der letztjährigen Berlinale waren lateinamerikanische Filme in so hoher Zahl und in nahezu allen Sektionen so erfreulich präsent, dass vielleicht die eine oder andere Erwartung an ihre 69. Ausgabe zu hoch ausfallen musste. Womit aber wohl doch niemand gerechnet hatte: Keine einzige zwischen Tijuana und Ushuaia erzählte Geschichte schaffte es dieses Mal in den Wettbewerb. Nur ein Film des Brasilianers Wagner Moura läuft dort – dieser allerdings außer Konkurrenz. Auch Afrika geht leer aus. Insgesamt sind 16 der 23 ausgewählten Filme Produktionen oder Koproduktionen aus Europa (davon allein 11 aus Deutschland oder Frankreich), drei weitere Filme kommen aus Kanada und den USA. So hat das mediale Aushängeschild der Berlinale dieses Mal leider einen eurozentristischen Beigeschmack, der aus Perspek- tive des globalen Südens enttäuschend ist (übrigens im gleichen Jahr, in dem im Herzen Berlins das wegen mangelnder Sensibilität für die koloniale Geschichte seiner ethnologischen Sammlungen kritisierte Humboldtforum eröffnet werden soll). Spielten hier nach den zahlreichen Auszeichnungen für die cineastischen Beiträge des Subkontinents im letzten Jahr politische Gründe eine Rolle? Wie auch immer, für den Abschied Dieter Kosslicks – der langjährige Direktor verantwortet das Festival nun zum letzten Mal – hätten sich lateinamerikaaffine Kinofans sicher etwas anderes gewünscht.

Breve historia del planeta verde: Eine Trans*frau macht eine außerirdische Begegnung (Foto: Santiago Loza)

Die gute Nachricht: Trotz des Ungleichgewichts im Wettbewerb gibt es mit bis Redaktionsschluss 21 neuen Lang- und elf Kurzfilmen insgesamt viele lateinamerikanische Filme zu sehen. Sie konzentrieren sich mit wenigen Ausnahmen auf die Sektionen Panorama, Forum und Generation. Dabei ist Brasilien das mit Abstand am meisten gezeigte Land. Während aus Südamerika sonst nur Argentinien, Kolumbien, Peru und Chile als Schauplätze präsent sind, ist mit Costa Rica und Guatemala erfreulicherweise Mittelamerika wieder besser als zuletzt vertreten. Auch die Karibik ist mit Beiträgen aus der Dominikanischen Republik sowie Kuba (nur in ausländischen Produktionen) dabei. Mexiko komplettiert (wenn auch nur in Kurzfilmen) den Länderreigen.

Je sechs Lang- und Kurzfilme aus Lateinamerika wurden von Frauen gedreht. An diesem Punkt kann man zumindest gewisse Bemühungen um ein Gleichgewicht feststellen, auch wenn immer noch Luft nach oben ist. Thematisch gibt es wieder ein breites Spektrum von sehr politischen Themen bis zu Familiengeschichten, von LGBT*-Protagonist*innen zu Evangelikalen, von Stadt zu Land, von filmischen Biografien bis hin zu Geschichten über Aliens. Nur auf den Glamour-Faktor in Form von großen Stars muss dieses Mal verzichtet werden. Eher ist das Gegenteil Programm: Mehrere interessante Debütfilme bekamen eine Chance, dokumentarische Formen bilden einen Schwerpunkt, dazu kommt die erwähnte große Zahl von Kurzfilmen. Hinsehen lohnt sich – spätestens auf den zweiten Blick dürfte für viele etwas dabei sein.

Marighella: Die Geschichte eines Revolutionärs (Foto: © O2 Filmes)

Fast alle lateinamerikanischen Filme feiern dieses Mal auf der Berlinale ihre Weltpremiere, daher können Besprechungen erst ab dem Zeitpunkt der ersten öffentlichen Aufführung veröffentlicht werden. In dieser Ausgabe gibt es deswegen nur einen Überblick.

Im Wettbewerb hält Marighella (BRA) die Fahne des Subkontinents hoch, eine unter dem Eindruck rechter Drohungen gedrehte Filmbiografie über den gleichnamigen brasilianischen Kommunisten und Revolutionär. Walter Moura erzählt die Geschichte jenes Mannes, der als Verfasser des Minihandbuchs des Stadtguerilleros international Einfluss etwa auf die Black Panther oder die RAF hatte und 1969 zur Zeit der Militärdiktatur von der politischen Polizei ermordet wurde.

Mit zehn Beiträgen finden sich die meisten Langfilme in der an gesellschaftlichen Themen orientierten Sektion Panorama, die sich dieses Jahr nach eigenem Bekunden mit „Zeiten des Ausbruchs“ beschäftigt.

Die kapitalismuskritische Dokumentation Estou me guardando para quando o carnaval chegar (BRA) erzählt vom Leben der von der Jeansindustrie abhängigen Menschen in der Stadt Toritama, für die der Karneval die einzige Entspannung ist.

Greta (BRA) zeigt ein queeres, generationenübergreifendes Brasilien. Ein älterer schwuler Krankenpfleger nimmt einen Patienten bei sich auf, während seine Nachbarin, eine erkrankte Trans*frau, Teil der Parallelgesellschaft ist. Um eine andere Trans*frau geht es in Breve historia del planeta verde (ARG/D/BRA/E): Als Tania erfährt, dass ihre Großmutter die letzten Lebensjahre in der liebevollen Gesellschaft eines Aliens verbracht hat, reist sie mit zwei Freund*innen durch das ländliche Argentinien, um die Kreatur an ihren Ursprungsort zurückzubringen. Mit Temblores (GUA/F/LUX) stellt Jayro Bustamante, der 2015 für Ixcanul einen silbernen Bären gewonnen hatte, seinen zweiten Film vor, der vom Coming-Out eines evangelikalen Familienvaters und den Folgen erzählt. Ebenfalls um das evangelikale Milieu geht es in Divino Amor (BRA/URU/CHI/DK/NOR/SWE): Joana, Mitglied in der Sekte dieses Namens, therapiert trennungswillige Paare durch ritualisierte Sexualakte mit ihr und ihrem Mann, ihre Beziehung und ihr Glaube leiden jedoch unter dem unerfüllten Kinderwunsch.

Monos: Eine Gruppe von acht jungen Rebellen bewacht eine Geisel in den kolumbianischen Bergen (Foto: Alejandro Landes)

La Arrancada (F) ist ein Porträt der Familie der kubanischen Leistungssportlerin Jenniffer und gleichzeitig das ihres Landes im Wandel. In Los miembros de la familia (ARG) kommen Geheimnisse eines Geschwisterpaares ans Licht, die aufgrund äußerer Umstände in einem verlassenen Haus festsitzen.

Monos (KOL/ARG/NL/D/DK/SWE/URU) befasst sich mit dem bewaffneten Konflikt in Kolumbien: Eine Gruppe von acht jungen Rebellen bewacht eine Geisel in den kolumbianischen Bergen, als ein Zwischenfall mit ihrer Kuh eine Überlebensschlacht auslöst.

La fiera y la bestia (DOM/ARG/MEX) erinnert in Form eines traumwandlerischen Spielfilms an den ermordeten dominikanischen Filmemacher Jean-Louis Jorge. Und Joanna Reposi montiert in Lemebel (CHI/KOL) einen hypnotischen Bilderfluss zu ihrem Porträt des 2015 verstorbenen chilenischen Autors, Aktivisten und Performancekünstlers Pedro Lemebel.

Das Forum bleibt gemäß der Maxime „Risiko statt Perfektion“ seiner bekannten Experimentierfreudigkeit treu. In Antonella Sudasassis erstem Spielfilm El despertar de las hormigas (COR/E) geht es um weibliche Sexualität und Selbstbestimmung in einer lateinamerikanischen Gesellschaft. Das Leben der 30-jährigen Isabel orientiert sich an den Erwartungen ihrer Familie, sie beginnt jedoch langsam mehr an sich selbst zu denken. In Camila Freitas Debüt, dem Dokumentarfilm Chão (BRA), kämpfen Landarbeiter*innen mittels politischem Aktivismus für Land und die ökologische Bewirtschaftung der Erde. Lapü (KOL) dreht sich um das Ritual der zweiten Beerdigung bei den Wayuu, das für diese indigene Gruppe aus dem Norden Kolumbiens eine große Bedeutung hat. In Fern von uns (ARG) sehen wir die Geschichte der Wiederannäherung von Ramira an ihre Mutter, ihren dreijährigen Sohn und die Gemeinschaft deutschstämmiger Bauern im argentinischen Regenwald. Auf der anderen Seite der Grenze gibt Marcelo in Querência (BRA/D) in der brasilianischen Pampa nach einem Überfall seinen Job als Cowboy auf und findet als Ansager bei Rodeo-Shows ein neues Leben.

Vom 40-jährigen, HIV-positiven Marcelo aus São Paulo erfahren wir in A rosa azul de Novalis (BRA), dass er ein besonderes Verhältnis zu Büchern hat, insbesondere Novalis’ Romanfragment Heinrich von Ofterdingen, aus dem er nackt und in ungewöhnlicher Leseposition vorträgt.

Als Bonus wird retrospektiv Nuestra voz de tierra, memoria y futuro aus dem Forums-Jahr 1982 gezeigt. Die Dokumentation des Kampfes eines indigenen Dorfes in Kolumbien um sein Land ist ein eindrückliches Werk des politischen Kinos.

Das Forum expanded steuert noch vier Kurzfilme bei: Fordlandia malaise berichtet von einer Fabrikstadt, die Henry Ford in den 1920ern in den Amazonasurwald bauen ließ, Parsi aus Argentinien schafft ein repetitives, virtuelles Gedicht, Vivir en junio con la lengua afuera ist eine Hommage an den kubanischen Autor und Dissidenten Reinaldo Arenas. Der Inhalt des brasilianischen O ensaio war bis Redaktionsschluss noch unbekannt.

By the Name of Tania: Schicksal einer jungen Frau aus dem Amazonasgebiet Perus (Foto: © Clin d’oeil Films)

In der Jugendfilm-Sektion Generation gibt es drei Dokumentationen zu sehen. Bei der hochaktuellen Arbeit Espero tua (re)volta (BRA) von Eliza Capai ist der Name Programm. Ausgehend von der sich zuspitzenden Sozialkrise in Brasilien, während der Schüler*innen im Kampf gegen Schulschließungen mehr als tausend öffentliche Gebäude besetzten, zeichnet sie Protestereignisse zwischen 2013 und der Wahl des rechtsextremen Präsidentschaftskandidaten Jair Bolsonaro 2018 nach. By the name of Tania (BE/NL) konfrontiert uns mit dem Schicksal einer jungen Frau aus dem Amazonasgebiet Perus, die bei dem Versuch, der Enge ihres Heimatdorfs zu entkommen, in die Fänge der Zwangsprostitution gerät und dabei ihrer moralischen und physischen Integrität beraubt wird. Baracoa (CH/KOL/USA) gibt vor dem Hintergrund einer Gesellschaft im Wandel Einblicke in den privaten Kosmos einer kindlichen Freundschaft im ländlichen Kuba.

Los Ausentes: Musik für die Toten (Foto: José Lomas Hervert)

Vier Kurzfilme komplettieren das Generation-Programm: In der kolumbianischen Fabel El tamaño de las cosas steht die Größe von Dingen zu Wünschen in Beziehung, das Musiktrio eines mexikanischen Jungen muss in Los ausentes mit nur drei Songs Repertoire eine Totenwache bestreiten, und Mientras las olas handelt von der Bewältigung einer Identitätskrise. Der Inhalt von Los rugidos que alejan la tormenta war bei Redaktionsschluss noch unbekannt (beide Argentinien).

In der Rubrik Kulinarisches Kino sind im Dokumentarfilm Sembradoras de vida (PER) Bäuerinnen im Hochland von Peru zu sehen, die trotz Bedrohungen durch den Klimawandel an alten Traditionen festhalten. Der Kurzfilm La herencia del viento widmet sich der Verbundenheit eines mexikanischen Bauers mit der Natur.

Die Berlinale Shorts warten schließlich noch mit zwei Beiträgen auf: In Héctor erscheint ein geheimnisvolles androgynes Wesen bei Arbeitern in einer chilenischen Fischerbucht, und in Shakti will sich ein argentinischer Mann von seiner Freundin trennen, die ihm zuvorkommt.

 

AUF DEM PRÜFSTAND

Foto: Flickr.com / Pedro Szekely (CC BY-SA 2.0)

Die Debatte über die Reform der kubanischen Verfassung ist in vollem Gang. In diesen Tagen trifft man in der Hauptstadt Havanna immer wieder auf mal größere, mal kleinere Gruppen von Bürger*innen, die zusammenstehen oder zusammensitzen und zum Teil lebhaft diskutieren. Über Onlineforen dürfen sich daran auch 1,4 Millionen im Ausland lebende Kubaner*innen beteiligen – eine beachtliche Tatsache angesichts der konfliktreichen Geschichte zwischen der sozialistischen Revolution und seiner Diaspora.

Kubas derzeitige Verfassung stammt aus dem Jahr 1976. Damals_war die Sowjetunion der Leuchtturm des Weltkommunismus. Kubaner*innen konnten weder Cafés oder Restaurants betreiben, noch ihre Häuser an Ausländer*innen vermieten oder Angestellte für ihr Kleingewerbe einstellen. Homosexuelle mussten sich verstecken. Seither wurde die Verfassung dreimal überarbeitet – zuletzt 2002. Die neue Verfassung soll den Reformprozess der letzten Jahre rechtlich verankern.

Im Theater des Poliklinikums „Nguyen Van Troi“ in Havannas Stadtteil Centro Habana, einem schmucklosen Saal mit der Aura einer Schulturnhalle, haben sich rund 50 Ärzt*innen und Angestellte versammelt, um über den Verfassungs­entwurf zu beraten. Begleitet werden sie von mindestens ebenso vielen Pressevertreter*innen. Was auffällt: Kaum jemand der Anwesenden ist jünger als 40, 50 Jahre.

Geleitet wird die Veranstaltung von Susel Lameré García, einer resoluten Mittfünfzigerin, ihres Zeichens Funktionärin der Kommunistischen Partei Kubas (PCC) in Centro Habana. Sie und die neben ihr sitzende Schriftführerin Miriam Mena vom Kommunistischen Jugendverband UJC (Unión de Jovenes Comunistas) sind in den vergangenen Wochen zusammen mit rund 15.000 Kadern geschult worden, um jeweils als Doppelgespann die Verfassungsdebatten zu leiten, wie Lameré im Gespräch mit Lateinamerika Nachrichten berichtet.

Nach dem gemeinsamen Singen der Nationalhymne beginnt sie, den im Juli von der Nationalversammlung verabschiedeten Verfassungs­entwurf Zeile für Zeile vorzulesen. Insgesamt umfasst er 224 Artikel – 87 mehr als die alte Verfassung. Die Teilnehmer*innen der Sitzung sind aufgerufen, Meinungen, Zweifel zu äußern, Änderungswünsche und Ergänzungen einzubringen oder Streichungen vorzuschlagen.

„Wir bewerten die Meinungen nicht, sondern nehmen sie nur auf. Es gibt keine Abstimmungen; jede Wortmeldung ist wertvoll“, so Lameré. Alle Wortbeiträge würden protokolliert und an eine Expert*innenkommision auf Kommunalebene weitergegeben, die diese innerhalb von 48 Stunden redaktiert und an Teams aus Jurist*innen und anderen Expert*innen auf Provinz- und Landesebene weiterleitet, erläutert Lameré das Prozedere. Bis Mitte November werden alle Änderungs­vorschläge gesammelt und eingearbeitet. An­schlie­ßend wird das Parlament über den überarbeiteten Entwurf erneut abstimmen, ehe am 24. Februar 2019 die Bevölkerung in einem Referendum das letzte Wort hat.

Der vorläufige Text bekräftigt den sozialistischen Charakter des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systems Kubas sowie die Führungsrolle der PCC in Staat und Gesellschaft. Die Lesung des ersten Teils des Verfassungsentwurfes im Klinikum erfolgt weitgehend kommentarlos.

Planwirtschaft und Staatseigentum bleiben zwar fundamental für das kubanische Wirtschaftssystem, gleichzeitig wird aber die Rolle des Marktes und neuer privater Eigentumsformen anerkannt. Der Arbeit auf eigene Rechnung wird ergänzender Charakter bescheinigt. Zentral für die Volkswirtschaft bleiben Staatsunternehmen, die aber mehr Autonomie erhalten sollen.

Erstmals wird die Bedeutung ausländischer Investitionen für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes in der Verfassung verankert. Was das Privateigentum an Grund und Boden anbelangt, so wird ein Sonderregime beibehalten, mit Beschränkungen bei der Übertragung von Land und mit einem Vorkaufsrecht des Staates.

Lameré scheint die geringe Beteiligung mit zunehmender Dauer zu stören. „Es hilft nicht, danach im Laden oder an der Bushaltestelle zu diskutieren oder zu kritisieren – hier und jetzt ist der Ort“, sagt sie.

Beim Thema Gesundheitsversorgung wird es kurz lebhaft. Die Ärztin Diana Isel Ribiana mahnt die individuelle und familiäre Verantwortung angesichts des Rechts auf kostenlose Gesundheitsversorgung an. Eine Kollegin ergreift als Mutter das Wort und schlägt vor, den Militärdienst erst nach Beendigung des Studiums verpflichtend zu machen. Lameré erinnert daran, dass die Verfassung eher allgemein gehalten ist; viele Kriterien, wie die Adoption von Kindern durch gleichgeschlechtliche Paare, werden in den nachgeordneten Gesetzen, wie dem Familienrecht, spezifiziert.

Apropos gleichgeschlechtliche Ehe: Um deren mögliche Anerkennung hatte es vor der Parlamentssitzung, in der der Verfassungsentwurf diskutiert wurde, die meiste Polemik gegeben. Fünf protestantische Kirchen hatten sich Ende Juni in einem offenen Brief vehement dagegen ausgesprochen. Die Ehe sei „ausschließlich die Vereinigung von Mann und Frau“ und die „Genderideologie“ nicht Teil der kubanischen Kultur und Revolutionsgeschichte, schrieben sie.

In den sozialen Netzwerken entbrannten daraufhin heftige Diskussionen. Die evangelikalen Kirchen ersuchten zudem die Genehmigung der PCC für eine Demonstration „zur Verteidigung der traditionellen Familie“ – vergeblich.
Nach lebhafter Diskussion beschloss die kubanische Nationalversammlung schließlich, die Ehe nicht mehr als „freiwilligen Bund zwischen einem Mann und einer Frau“ zu definieren, sondern als „freiwillige Verbindung zwischen zwei Personen“. Das eröffnet die Möglichkeit zur Homo-Ehe.

„Mit diesem Vorschlag zur Verfassungsänderung platziert sich Kuba zwischen Vorreiterländern bei der Anerkennung und Garantie von Menschenrechten“, so die Parlamentarierin Mariela Castro Espín, Tochter des früheren Präsidenten Raúl Castro und als Direktorin des Nationalen Zentrums für Sexuelle Bildung (Cenesex) seit Jahren prominenteste Aktivistin für die Rechte von Schwulen und Lesben in Kuba. Die Abgeordnete Yolanda Ferrer verteidigte sexuelle Vielfalt als „ein Recht und kein Stigma“ und rief dazu auf, „Jahrhunderte der Rückständigkeit“ hinter sich zu lassen. Auch verteidigte sie das Recht schwul-les­bischer Paare auf Familie.

Die Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe wurde in Kubas LGBT-Gemeinschaft mit Genugtuung aufgenommen. Sie hätte gedacht, dass die konservativen Kräfte in der Regierung dies verhindern würden, so die Genderaktivistin Isbel Torres. „Zum Glück ist das nicht der Fall gewesen.“ Zugleich warnte sie vor der vielen Arbeit, die noch zu tun sei. „Kuba bleibt weiterhin ein stark homophobes Land, mehr in den Provinzen als in der Hauptstadt“. Homo- und Transphobie seien weiterhin weit verbreitet – bis hinein in die Institutionen.

Der Abgeordnete Miguel Barnet, Präsident des kubanischen Schriftstellerverbandes UNEAC, drückte „immensen Stolz“ über den neuen Verfassungsartikel aus: „Wir eröffnen eine neue Ära. Das ist eine dialektische und moderne Verfassung. Und wenn Tradition gebrochen werden muss, wird sie gebrochen. Im Sozialismus hat keine Art von Diskriminierung zwischen Menschen Platz. Ich bin für Artikel 68 (zur gleichgeschlechtlichen Ehe, Anm. d. Red.) der neuen Verfassung. Meine Damen und Herren, Liebe kennt kein Geschlecht.“

Um einiges diskussionsfreudiger als in Centro Habana verläuft die Verfassungsdebatte in Kohly im Stadtteil Playa. Dort sind in den Abendstunden auf der Straße rund 100 Nachbar*innen zusammengekommen; auch hier überwiegend ältere Semester. Da bereits die Abenddämmerung eingesetzt hat, beleuchten einige ihre Notizen mit Mobiltelefonen oder lesen von Tablets ab.

In Kohly sorgen vor allem die Neuerungen in der politischen Struktur für Diskussionsstoff. Die Macht soll auf mehrere Schultern verteilt werden. Neben dem Staatsratsvorsitzenden werden der Posten des Staatspräsidenten sowie eines Minister­präsidenten neu geschaffen. Dieser soll dem Ministerrat, also der Regierung vorstehen. Die Amtszeiten sollen auf maximal zweimal fünf Jahre begrenzt werden. Kandidat*innen dürfen bei der Wahl nicht älter als 60 Jahre sein.

Auf lokaler Ebene sollen die Bezirke (municipios) mehr Autonomie erhalten, mit dem Ziel, schneller und effizienter auf Probleme und Beschwerden vor Ort reagieren zu können. Petitionsrechte und die lokale Beteiligung sollen ausgeweitet werden. Dafür sollen die Provinzparlamente abgeschafft und durch Provinzregierungen, bestehend aus Gouverneur und einem aus den Präsi­denten der Bezirksversammlungen gebildeten Rat, ersetzt werden. „Das hat seine positiven Seiten (…), unabhängig davon glaube ich, dass die Gouverneure wählbar sein sollten“, gibt die Rentnerin Dania Rodríguez zu bedenken. Andere stören sich an der Altersbegrenzung und schlagen vor, diese aufzuheben oder zumindest zu dehnen.

Im Poliklinikum Van Troi dünnt sich die Zahl der Anwesenden nach und nach aus. Am Ende eines langen Arbeitstages sind die meisten Ärzte nicht mehr so recht in Diskussionslaune. Demokratie ist eben eine langatmige, manchmal etwas ermüdende Angelegenheit. „Eine Nation kann nicht wie ein vierköpfiger Haushalt geführt werden“, sagt Lameré. „Elf Millionen Kubaner müssen sich in dieser Verfassung wiederfinden.“

INSEL DER STAGNATION

Kuba hat eine Verfassungsnovelle vorgelegt, die derzeit diskutiert wird und die auch dem ökonomischen Wandel auf der Insel Rechnung trägt. Ein Fortschritt?

Nun, die Novelle bewegt sich in dem Bereich, der erwartet worden war. Insofern sind die großen Überraschungen ausgeblieben. Im Großen und Ganzen werden die Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur der letzten zwanzig bis dreißig Jahre nun auch in der Verfassung fixiert, das Privateigentum und die Aktivitäten des Privatsektors vor allem. Das ist ein Bekenntnis zum Privat­sektor, ein Signal, welches für Rechtssicherheit sorgt, aber nicht viel mehr. In der Novelle sind die Reformen der letzten zwölf Jahre unter Raúl Castro quasi abgesegnet worden, darunter auch die Auslandsinvestitionen. Das ist alles in etwa so erwartet worden, aber es ist auch sehr limitiert, denn man hält am derzeitigen Wirtschaftsmodell mit dem planwirtschaftlichen Element und dem Bekenntnis zu den staatlichen Betrieben fest. Zwar hat man das Wort Kommu­nismus gestrichen, aber das politische System basiert auf der Vorherrschaft der kommunistischen Partei (PCC).

Die Novelle wird derzeit debattiert – erwarten Sie noch Änderungen?

Die Erfahrung bei derartigen Befragungen der Bevölkerung zeigt, dass das Endergebnis in aller Regel konservativer ausfällt als die Vorlage. Das kann auch hier passieren. Ich habe wenig Hoffnung, dass es da noch zu signifikanten Änderungen kommt. Die Verfassungsreform geht nicht über das Limit hinaus, welches Raúl Castro mit dem Reformprozess definiert hat und es setzt dem neuen Präsidenten Miguel Díaz-Canel dieses Limit. Diese Verfassungsnovelle erlaubt keine Öffnung, keinen strukturellen Wandel – weder der Ökonomie noch des politischen Systems.

Was wäre dafür denn nötig?

Das ökonomische System basiert nach wie vor auf den staatlichen Unternehmen und der zentralisierten Planwirtschaft. Der Privatwirtschaft wird zwar eine Rolle eingeräumt, aber in einem System, das von der Planwirtschaft dominiert wird. Die kubanische Ökonomie benötigt aber deutlich mehr Markt, mehr Flexibilität, weniger staatliche Dominanz, denn was gescheitert ist, ist das Staatsmonopol, die Planwirtschaft. Sie hat in Osteuropa nicht funktioniert, sie funktioniert in Kuba nicht und Länder wie China oder Vietnam haben sie reformiert – in Kuba sind die Reformen aber sehr begrenzt. Der private Markt ist deutlich kleiner als die Bedürfnisse der Ökonomie, die Dynamik, mehr Produktivität, höhere Löhne, Effizienz braucht. Das ist eine Verfassung, die der Realität hinterherhinkt.

In den letzten Monaten haben mehrere Delegationen aus Vietnam Kuba besucht, wodurch die Diskussion über das vietnamesische Modell auf Kuba angekurbelt wurde. Eine reale Alternative?

Es hat durchaus den Anschein als habe das Modell Vietnams Modellcharakter, aber die Reformschritte unter Raúl Castro begannen vor zehn Jahren und heute sind sie weit entfernt von dem, was in Vietnam passiert ist. Der Reformprozess unter Raúl Castro ähnelte am Anfang dem Prozess in Vietnam: mit dem Abbau vom Arbeitsplätzen im öffentlichen, staatlichen Sektor, der Ankündigung der Währungsreform, der Legalisierung von privaten Kleinunternehmen usf – aber alles ging nur sehr langsam, quasi in Zeitlupe vonstatten.

Im Juli erfolgte auch die Ankündigung, ab Dezember neue Lizenzen für selbständige Tätigkeit auszugeben. Eine positive Nachricht, nachdem die Ausgabe dieser Lizenzen in einigen Schlüsselbereichen seit August 2007 eingefroren war?

Mit der Ankündigung der Ausgabe neuer Lizenzen gehen rigide Vorgaben einher, welche die privatwirtschaftlichen Optionen einschränken. Das sorgt dafür, dass sie über den Status von Kleinstbetrieben nicht hinaus kommen, dass sie nicht zu kleinen oder mittleren Betrieben wachsen können. Ein Beispiel: jede Person darf nur eine Lizenz beantragen und innehaben und das bremst die Expansion. Ein weiteres Element ist die höhere Besteuerung, wenn mehr Arbeitnehmer angestellt werden. Das sind Vorgaben, die die Dynamik bremsen und zu einem Artikel in der Verfassung passen, der festschreibt, dass die Konzentration von Reichtum verhindert werden soll. Ein Indiz dafür, dass die konservativen Kräfte an Einfluss gewonnen haben.

Allerdings gibt es auch Vorgaben, die einen innovativen, nachholenden Charakter haben, wie die Einführung digitaler Zahlungssysteme – ein ehrgeiziges Projekt in einem Land, wo Geld­automaten oft nicht funktionieren und Karten­zahlung selten möglich ist.

Richtig. Und kaum zu realisieren. Das Banksystem hat in den 1990er Jahren einen Aufschwung gehabt, da wurden die ersten Geldautomaten eingeführt. Aber danach haben die Banken kaum Investitionen vornehmen können und die Infrastruktur ist heute schlicht nicht ausreichend, auch wenn es in den letzten drei Jahren Ansätze zur Modernisierung gab. Die sind aber bei weitem nicht ausreichend, die Schlangen vor den Banken sind in aller Regel lang und die digitalen Systeme brechen oft zusammen. Positiv ist, dass die privaten Unternehmen gehalten sind ein Bankkonto anzugeben und ihre Geschäfte über die Banken abzuwickeln. Das soll dafür sorgen, dass der Staat seine Steuereinnahmen besser kalkulieren kann – das halte ich für sinnvoll. Schließlich hat auch der private Sektor seinen Beitrag für die Infrastruktur in Bildung, Gesundheit usw. zu leisten. Doch dafür muss das Banksystem modernisiert werden.Bisher trägt der private Sektor zu etwa zehn Prozent der Wirtschaftsleistung bei, die staatlichen Unternehmen zu rund 90 Prozent.

Seit 2010 warten die kubanischen Privatunternehmer*innen auf die Eröffnung von Großmärkten. Mittlerweile haben einige eröffnet, aber die Preise für die Konsumenten*innen haben sich kaum geändert. Ist das ein Hindernis?

Ja, das erschwert den privaten Unternehmern den Zugang zu Gütern, aber die haben längst Alternativen gefunden und besorgen sich Güter im Ausland über mulas, Maultiere, wie die bezahlten Boten, die Ware nach Kuba schleusen, genannt werden. Da kommen Waren aus Miami, aus Panama, aus Guayana und so fort. Das Gros der Produkte, der Rohstoffe für den privaten Sektor kommt auf informellen Wegen. Die privaten Unternehmen suchen nach Alternativen – das erhöht die Preise für die Produkte, erhöht die Unsicherheit, aber es funktioniert.

Der private Sektor ist limitiert und erstreckt sich bisher auf einige wenige Bereiche: vor allem die Gastronomie, die Vermietung von Privatunterkünften, etwas Handwerk und ein paar Dienstleistungen wie den Transport. Fehlt es an Optionen?

Definitiv. Es wäre sinnvoll gewesen mit der Vergabe neuer Lizenzen auch neue Optionen für die „Arbeit auf eigene Rechnung“ bekanntzugeben. Doch diese Chance hat man verpasst – ein Indiz dafür, dass die konservativen Kreise in Kuba den Ton angeben. Das ist allerdings nicht sonderlich logisch, denn schließlich hat man in die Ausbildung der Besserqualifizierten in Kuba investiert und durch die Beschränkungen profitiert die Wirtschaft zu wenig von ihren Möglichkeiten und ihrer Kreativität. Viele gehen wie ich ins Ausland, weil die Optionen dort besser sind. Andere arbeiten unterhalb ihrer Qualifikation, wie der berühmte Arzt als Kofferträger.

Im Kabinett von Präsident Miguel Díaz-Canel sitzt mit Wirtschaftsminister Alejandro Gil ein neues Gesicht – eine gute Wahl?

Alejandro Gil hat keine wissenschaftliche Vita. Er ist im Apparat des Finanzministeriums großgeworden, was ein Vorteil sein könnte, weil er sich auskennt und die Mechanismen kennt, nach denen in Kuba Entscheidungen getroffen werden. Ander­erseits denke ich nicht, dass er mit vielen neuen Ideen kommen wird, aber er ist derzeit in Kuba das Gesicht hinter den Planungen, die doppelte Währung endlich durch eine zu ersetzen. Auf die Währungsreform warten wir schon seit Jahren und immer wieder wurde sie angekündigt, aber gekommen ist sie bis heute nicht. Das wäre ein wichtiger Schritt, sollte Alejandro Gil Kuba wirklich zurück zu einer einzigen Währung führen.

Warum tut sich die Regierung so schwer, die Währungsreform durchzuführen?

Gute Frage, die ich leider nicht beantworten kann. Ich habe mehrfach Prognosen abgegeben, wann die Regierung die doppelte Währung letztlich abschaffen wird, aber immer falsch gelegen. Deshalb halte ich mich nun zurück. Sicher ist, dass die Währungsreform extrem wichtig ist und dass Kuba nicht über das Instrumentarium verfügt, um sie umzusetzen. Das ist ein Dilemma und letztlich eine politische Entscheidung.

Was fehlt denn, um die Reform durchzuführen. Geld, um die Umstellung abzusichern?

Das hängt von der Art der Umstellung ab. Eine Variante benötigt finanzielle Fonds und hat eher strukturellen Charakter. Dazu muss man in die Geschichte der doppelten Währung zurückblicken, denn die doppelte Währung wurde legalisiert als der peso nacional stark an Wert verlor. 1993 war der peso nacional im Verhältnis zum US-Dollar, der am 26. Juli 1993 in Kuba legalisiert wurde, kaum etwas wert. Damals lag der Kurs bei 1:140 peso nacional. Mit den Reformen, der ersten Legalisierung des Privatsektors und anderer Maßnahmen, hat sich der peso nacional wieder zu einem Kurs von 1:24 erholt. Dieser Wechselkurs wurde festgeschrieben und gilt bis heute. Allerdings nicht für die staatlichen Großunternehmen, die nach wie vor mit einem Wechselkurs von einem US-Dollar zu einem peso nacional kalkulieren und agieren. Das ist der Wechselkurs aus den 1980er Jahren, der auch 2018 noch für die Staatsbetriebe gilt. Das hat Folgen, denn de facto ist die Wechselkursanpassung nur für die Bevölkerung real geworden, nicht aber für die großen Staatsunternehmen. Das ist ein Problem, denn somit existieren viele staatliche Unternehmen auf der Basis eines Wechselkurses, der irreal ist. Der Staat verkauft die Produktionsmaterialien, die Grundprodukte zu einem Kurs von 1:1 an die Unternehmen, obwohl am Markt ein Kurs von 1:24 gilt. Das ist eine gigantische Subventionierung.

Wie viele staatliche Unternehmen existieren nur aufgrund dieser Subventionierung?

Ich schätze etwa die Hälfte. Die große Herausforderung ist, wie man diese Unternehmen an den realen Wechselkurs heranführt und hunderttausende von Arbeitsplätzen erhält. Das ist die Essenz der Währungsreform und da gibt es zwei Optionen: die harte und die weiche Variante. Die harte Variante ist die Umstellung mit einem vorher festgelegten Wechselkurs, der viele staatliche Unternehmen zum Kollabieren bringen könnte. Die weiche ist eine fiktive Währungsreform, die zwar einen Wechselkurs von 1:1 vorsieht, aber den Unternehmen mit offenen Subventionen zur Seite steht und sie bei einer Umstellung des Wechselkurses begleitet. Sie subventioniert, aber mit rückläufigen Zuwendungen.

Für diese weiche Variante benötigt die Regierung Fonds für die Subventionen – oder?

Die Idee ist, dass die Subventionen aus den zusätzlichen staatlichen Einnahmen generiert werden, denn es gibt Unternehmen, die von der Um­stel­­lung des Wechselkurses profitieren und andere nicht. Normal wäre es, wenn nicht funktionierende Unternehmen nicht lange durch­ge­schleppt werden, sondern schließen, und wenn die Unternehmen, die effizient arbeiten, dann Arbeitskräfte aufnehmen, die Löhne anheben und dyna­mischer werden. Was wegfallen würde, wäre der Extra-Gewinn für die Unternehmen, die vom derzeitigen Wechselkurs profitieren. Er könnte zur Subventionierung der Unternehmen verwendet werden, die nach einer Umstellung Unterstützung bei der Anpassung brauchen. Letztlich würde es zu einer Umverteilung der Mittel kommen – der Kuchen wird neu verteilt und ein Schock wie bei der harten Umstellung vermieden.

Klingt plausibel, aber angesichts der Existenz von unterschiedlichen Wechselkursen in der Realität schwer umzusetzen?

Natürlich ist das komplex, denn es gilt zu verhindern, dass die Inflation steigt und da gilt es Sicherungen einzubauen.

Wer soll das umsetzen, die Unternehmen kontrollieren und sie auf Kurs halten? – In Kuba, wo die Korruption zunimmt und die Inspekteur*innen auch an sich denken?

Gute Frage. Das ist ein Problem, aber es gibt letztlich keine Alternative, denn seit vier, fünf Jahren ist die Währungsreform angekündigt und immer wieder wird sie aufgeschoben. Die ersten Schritte wurden in dem offiziellen Mitteilungsblatt der Regierung vor Jahren angekündigt, dann entschloss man sich erst einmal die Leitungsebenen der Unternehmen zu qualifizieren. Dann versandete der Ansatz.

Was sind die größten Hürden für die Reform – fehlt es am politischen Willen?

Ich denke am politischen Konsens.

Bolsa Negra?

Der Schwarzmarkt wird immer wichtiger, da die venezolanische Krise Kuba direkt betrifft und Erdöl auf dem internationalen Markt zugekauft werden muss. Das sorgt für eine Reduktion des staatlichen Angebots und für die Zunahme des informellen Sektors, der informellen Importe und die Suche nach Alternativen.

Wird Kubas Wirtschaft im verbleibenden Jahr 2018 stagnieren, wachsen oder schrumpfen?

Ich gehe von Stagnation oder einem leichten Minuswachstum aus. Die Zuckerrohrernte ist dieses Jahr um 40 Prozent zurückgegangen. Auch der Tourismus entwickelt sich nicht wie erhofft. Das sind zwei negative Indikatoren in den wichtigsten Sektoren der kubanischen Ökonomie. Der dritte Sektor ist der Privatsektor und der könnte durch die neuen Vorgaben an Dynamik einbüßen.

KUBAS STAATSFEIND NR. 1

6. Oktober 1976. Cubana-Flug 455 macht sich auf den Weg über Jamaika nach Havanna. Kurz nach dem Start auf Barbados explodiert die Maschine – alle 73 Menschen an Bord sterben. Ein Anschlag, organisiert und befehligt vom exilkubanischen CIA-Agenten Luis Posada Carriles. Bis zum 11. September 2001 war der Anschlag auf den Cubana Flug der verheerendste Terroranschlag in der Luftfahrt der westlichen Hemisphäre. Allerdings blieb es bei weitem nicht das einzige Verbrechen, das dem militanten Gegner der kubanischen Revolution Posada Carriles zugeschrieben wird.

Posada Carriles kam am 15. Februar 1928 in Cienfuegos auf Kuba zur Welt, die meiste Zeit sei-nes Lebens verbrachte er im Exil. Von der CIA ausgebildet, widmete er sich als Söldner und Glücksritter dem bewaffneten Kampf gegen den Kommunismus in Zentralamerika. Im Juni 1976 begann eine Gruppe von Castro-Gegner*inen mit der Planung von Entführungen und Anschlägen auf Reiseagenturen, die mit Kuba Geschäfte machten. Diplomatische Vertretungen, Botschaftspersonal und Konsulate von Ländern, die ihre Beziehungen zu Kuba verbessert hatten, gerieten ins Visier der Terrorist*innen. Kolumbien und Mexiko im Juli, Argentinien und Panama im August, Trinidad und Washington D.C. im September des Jahres 1976.

„Er wäre vielleicht nie aus dem Gefängnis gekommen, wäre er nicht geflohen.“

Im Oktober folgte der Anschlag auf den Cubana-Flug. Unter den Toten der Flugzeugexplosion war auch das olympische Fechtteam Kubas. Laut Geheimdienstberichten von CIA und FBI gelten Orlando Bosch, Chef der im gleichen Jahr gegründeten Kampftruppe gewaltbereiter exilkubanischer Gruppen „Koordination der Verein­igten Revolutionären Organisationen” und Posada Carriles als Drahtzieher des Anschlags. Wegen der Vorbereitung des Attentats kam Posada Carriles in ein venezolanisches Gefängnis, aus dem er 1985 floh. Kuba habe Venezuela in diesem Fall unter Druck gesetzt, sagte sein Rechtsanwalt Arturo Hernández im Januar 2018 gegenüber LN: „Er wäre vielleicht nie aus dem Gefängnis gekommen, wäre er nicht geflohen.“ Eine Flucht, vermeintlich finanziert und organisiert von dem Geschäftsmann Jorge Mas Canosa, einer weiteren schillernden Figur im exilkubanischen Widerstand mit großem Einfluss auf die Kubapolitik der USA.

Unter dem Decknamen Ramón Medina unterstützte Posada Carriles im Auftrag der Reagan-Administration die Contras in Nicaragua. In den 80ern arbeitete er für die guatemaltekische Regierung und erarbeitete neue Anschlagspläne. Während er in Kuba als Staatsfeind Nummer eins galt – als „Osama bin Laden Lateinamerikas“, so die staatliche Presse – wurde er von den USA nie wegen terroristischer Verbrechen verurteilt oder gar ausgeliefert. 1997 konterkarierte Posada Carriles die seit der Kubanischen Revolution 1959 stets schwierige, diplomatische Arbeit zur Verbesserung der Beziehungen zwischen Kuba und den USA. Zwischen April und September explodierten mitten in Havanna Bomben in Diskos und Hotels. Ein Italiener kam ums Leben. Wieder galten Posada Carriles und seine Mitstreiter als die Urheber. Sie erreichten ihr Ziel: Die für Kuba wichtigen Tourismuszahlen gingen zurück.

Zeit ihres Lebens bekämpften Luis Posada Carriles und Fidel Castro einander, ohne sich persönlich allzu nahe zu kommen. Kurz nach Castros Ableben im November 2016 sprach Posada Carriles von einem „ungerechten“ Tod. „Im besten Krankenhaus Kubas, mit den besten Ärzten und den besten Medikamenten. Das war nicht das, was ihm widerfahren sollte.“ Posada Carriles überlebte seinen Erzfeind um eineinhalb Jahre. Am 23. Mai starb Posada Carriles im Alter von 90 Jahren in Florida an den Folgen eines Schlaganfalls und Wasserablagerungen in der Lunge.

PRAGMATIKER DER KONTINUITÄT

Übergang nach Plan in Kuba. Der 58-jährige Miguel Díaz-Canel löst als Staatschef Raúl Castro ab. Díaz-Canel hat alle Parteiebenen durchlaufen, war Erster Parteisekretär in Villa Clara und Holguín, später Bildungsminister. „Er wurde in eine der großen Provinzen im Osten geschickt, nach Holguín, wie wir es mit mehr als einem Dutzend jungen Leuten getan haben; von denen die meisten bis ins Politbüro gelangt sind, es aber nicht geschafft haben, ihre Vorbereitung zu materialisieren. Er war der einzige Überlebende, sage ich mal, etwas übertrieben“, so Raúl Castro nach der Wahl im Parlament über seinen Amtsnachfolger.

Beobachter beschreiben Díaz-Canel als Pragmatiker, guten Zuhörer und zugänglich. Während seiner Zeit in Villa Clara setze er sich für Schwulenrechte ein. Er gilt als Verfechter einer Modernisierung der staatlichen Medien und des Ausbaus des Internetzugangs auf der Insel._
„Er ist kein Emporkömmling oder Improvisierter. Seine berufliche Karriere umfasst fast 30 Jahre, begonnen an der Basis“, so hatte Raúl Castro Díaz-Canel präsentiert, als dieser im Jahr 2013 zum Ersten Vizepräsidenten von Staats- und Ministerrat ernannt wurde. Spätestens ab da an galt er als potenzieller Nachfolger Raúl Castros.

In seiner Heimatprovinz Villa Clara machen heute noch diverse Anekdoten die Runde, die Díaz-Canel als bodenständigen Charakter beschreiben. So erinnern sich die Leute daran, wie er in den Krisenjahren der 90er, damals schon erster Parteisekretär, als Benzin knapp war, im Gegensatz zu anderen Funktionär*innen jeden Morgen mit dem Fahrrad zur Arbeit fuhr. Bei den Parlamentswahlen Mitte März dieses Jahres schlenderte Díaz-Canel Hand in Hand mit seiner Ehefrau Lis Cuesta zum Wahllokal in Santa Clara. Wie die anderen Wähler*innen stellte er sich in die Schlange und wartete 20 Minuten. Die Zeit nutzte er, um zu plaudern._

Es bestehen wenig Zweifel, dass Díaz-Canel die unter Raúl Castro begonnenen Reformen fortführt. Zumindest kündigte er das in seiner Antrittsrede vor dem Parlament an. Eine der meistgebrauchten Worte war „Kontinuität“. Es werde keinen Raum für eine politische Transition geben; einer „Restauration des Kapitalismus“ erteilte er eine Absage. Auch werde Raúl Castro „die wichtigsten Entscheidungen für die Gegenwart und Zukunft der Nation anführen“.

Erstmals seit der Revolution steht mit Díaz-­­Canel jemand an der Spitze des kubanischen Staates, der nach 1959 geboren wurde, nicht den Namen Castro trägt, nicht den Streitkräften angehört und (noch) nicht Erster Parteisekretär ist, damit aber auch weniger Macht hat als seine Vorgänger. Unter Raúl Castro wurde die Machtbalance von Staat, Partei und Militär gestärkt. Die personalistische Struktur der Macht, verkörpert durch die „charismatische Führerschaft“ des Ende November 2016 verstorbenen Fidel Castro ist abgelöst worden von einem „institutionenbasierten bürokratischen Sozialismus“, wie es der Politologe Bert Hoffmann nennt. Die von Raúl Castro betriebene Amtszeitbegrenzung auf zweimal fünf Jahre ist Ausdruck dessen.

Castro wird zwar als Präsident aufhören,_aber weiter Parteichef bleiben – für dieses Amt ist er bis 2021 gewählt – und damit ein Garant für Stabilität. Am Ein-Parteien-System und der Führungsrolle der Kommunistischen Partei wird auch unter Díaz-Canel nicht gerüttelt.

SANFTER ÜBERGANG

Raúl Castro ist nach zehn Jahren Präsidentschaft abgetreten. Was hat er bewegt?
Als Raúl an die Macht kam, ersetzte er Fidel Castro, den unumstrittenen historischen Führer der Revolution, jemanden, der das Land ein halbes Jahrhundert lang geführt hat. Durch die schwere Erkrankung Fidels kam er 2008 zufällig an die Macht. Trotzdem musste die Machtübergabe so normal wie möglich geschehen, ohne die Regierungsfähigkeit einzuschränken. Einen ruhigen Übergang hinbekommen zu haben, ist Raúls Leistung. Nun leitet er einen neuerlichen Übergang hin zu einer neuen Führung, auf eine Art und Weise, dass sie von der Bevölkerung als normal angesehen wird, ohne Brüche. Das ist die erste Leistung.

Und sonst?
Die zweite Leistung: Während der Interimspräsidentschaft, noch im Jahr 2007, befragte Raúl die Bevölkerung: Kritik und Vorschläge dienten ihm als Basis für das, was er von da an beförderte: vor allem ökonomische Reformen sowie ein Paket von Deregulierungen, wie die Migrationsreform zur Reisefreiheit. Vor allem von 2008 bis 2010 war der Diskurs Raúls ein reformistischer: Es müsse Reformen geben. Er übte Kritik an den Problemen und nannte die Dinge beim Namen. 2010 wurden die ersten Ideen formuliert, es fand eine breite öffentliche Debatte über die Vorschläge statt. Im April 2011 dann tagte der VI. Parteikongress, der über die Vorschläge abstimmen ließ und Leitlinien aufstellte, die anschließend von der Nationalversammlung verabschiedet wurden und sich damit in ein Programm des Staates verwandelten. Die Leitlinien bilden seitdem den Rahmen für die Wirtschaftspolitik.

Mit welchen realen Auswirkungen?
Dieser Prozess zog zunächst Nutzen aus der Verbesserung der Beziehungen zwischen Kuba und den USA, die Raúl Castro durch seine (Annäherungs-)Politik erreichte. Die US-Blockade besteht zwar weiter fort, aber unter Obama wurden einige Aspekte aufgeweicht.
Zuletzt aber haben sich die globalen Rahmenbedingungen wieder verschlechtert: Trump löste Obama ab und die USA kehrten zu einer Rhetorik zurück, die an die 1960er erinnert. Das vorteilhafte Panorama verschwindet und könnte sich noch weiter verschlechtern. Hinzu kommen die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Venezuelas und der Siegeszug der Rechten in Ländern wie Brasilien oder Argentinien.

Wie wirkt sich das auf Kubas Reformkurs aus?
Das führt dazu, dass die internen Programme unter Druck geraten und die Reformen verlangsamen. Raúls Nachfolger erben also eine schwierige Situation. Raúl aber hat eine “sanfte” Transition erreicht; und ein Ambiente von Reformprogrammen hinterlassen, die die nachfolgende Regierung nicht erst anstoßen muss, sondern auf die sie aufbauen kann. Die politische Führung ist daran interessiert, den Übergang ohne Spannungen durchzuführen. Ich für meinen Teil glaube, dass alles mit beträchtlicher Ruhe über die Bühne gehen wird. Wenn Raúl Parteichef bleiben wird, besitzt er Kraft seines Amtes zudem das Instrument, um mögliche Differenzen zu schlichten.

Welche Differenzen meinen Sie?
Wenn in einer Führungsposition ein 86-Jähriger durch einen Endfünfziger ersetzt wird, hast Du bildlich gesprochen zwei Generationen dazwischen aus dem Spiel genommen. Jemand, der vielleicht Minister ist und 70 Jahre alt, denkt, dass er jetzt aufsteigen müsste und plötzlich wird ihm gesagt: Deine Karriere ist vorbei. Man kann sich ein gewisses Nichteinverstandensein bis hin zu Widerstand ausmalen.

Den Titel Ihres Buches La evolución del poder en la Revolución Cubana (Die Evolution der Macht in der Kubanischen Revolution) aufgreifend: Wie hat sich die Macht in Kuba seit dem Amtsantritt von Raúl Castro im Jahr 2008 entwickelt?
Die Idee, dass die Macht evolutioniert, definiert sich nicht nur über die Persönlichkeiten, die bestimmte Führungspositionen besetzen. Es ist die Idee, dass die Macht als Fähigkeit das Verhalten der Gesellschaft zu bestimmen, sich durch Institutionen ausdrückt, die auftauchen und sich verändern, durch soziale Akteure, die die Machtpositionen besetzen. Gleichzeitig gibt es eine ökonomische Macht. Sie hat die Fähigkeit, Macht auszuüben über und ausgehend von der Wirtschaft. Es gibt ferner die Macht, die von und über die Zivilgesellschaft ausgeübt wird, und letztlich auch eine sogenannte ideologisch-kulturelle Macht. Macht hat also verschiedene Dimen­sionen: institutionell, politisch, wirtschaftlich, zivil, ideologisch-kulturell.
Im Fall Raúl Castros, abgesehen von seinen Machtpositionen als Staatschef, Chef der Kommunistischen Partei, Chef des Ministerrates, und über die historischen Meriten als Kämpfer der Revolution hinaus, besitzt er ebenso wie Fidel – und das erscheint mir sehr wichtig – die Fähigkeit, die Differenzen im Schoß der politischen Klasse zu schlichten._

Ihre Hypothese ist: Die Konsolidierung und Reproduktion der Revolution über die Zeit war möglich wegen des außergewöhnlichen Charakters der politischen Macht und der Hegemonie der sozialen Macht. Nun wird vor allem die soziale Macht herausgefordert durch Forderungen nach wirtschaftlichem Aufschwung und auf dem kulturellen Feld durch die globale Unterhaltungsindustrie, die auch in Kuba an Boden gewinnt, oder?
Ja. Aber die Ressourcen der Macht der Revolution sind weiterhin in Takt. Es existiert immer noch kein interner Herausforderer für diese Macht. Die Hauptherausforderung, der sich diese Macht gegenübersieht, ist es zu erreichen, den mehrheitlichen Konsens in der Bevölkerung beizubehalten. Im Verlauf des vergangenen halben Jahrhunderts hat dieser Konsens, der einmal bei 97 Prozent lag, augenscheinlich abge­nommen, einige Studien gaben ihm zuletzt aber noch 70 Prozent. Es ist weiterhin ein enormer mehrheitlicher Konsens. Ich glaube, dieser mehrheitliche Konsens wird fortbestehen, hat aber zwei fundamentale Bedrohungen: die ökonomische Krise seit 25 Jahren. Auch wenn wir sie überlebt haben, wurde der Lebensstandard nicht wieder hergestellt. Die Wirtschaft muss wachsen, um die Situation der Bevölkerung zu verbessern: Basiskonsum, Gesundheit, Bildung sind gesichert, aber es gibt andere Forderungen und Erwartungen der Bevölkerung, die nicht erfüllt werden können, ohne dass sich die Wirtschaft erholt. Deshalb ist das Thema Wirtschaft politisch entscheidend.

Auch weil der Wohlstand nicht mehr von Generation zu Generation wächst, oder?
Ja. Man kann sagen, die Revolution befindet sich in der siebten Generation. Die ersten drei lebten jeweils besser als ihre Eltern, die vierte gleich wie ihre Eltern und die fünfte und sechste schlechter als ihre Eltern, und die siebte läuft Gefahr, nicht viel besser als ihre Eltern zu leben. Diese Generationen sehen ihre Erwartungen frustriert. Die Tatsache, dass ein Dritte-Welt-Land jedes Kind in die Schule schickt, erscheint ihnen als etwas Natürliches; der Aufwand dafür aber ist enorm. Kuba gibt fast 70 Prozent seines Staatshaushalts für Sozialleistungen aus. Die jüngsten drei Generationen sind mit den sozialen Errungenschaften wie Bildung und Gesundheit als Selbstverständlichkeit aufgewachsen. Sie wollen mehr Konsum, Internet, Reisen – legitime Forderungen. Das Problem liegt bei der Revolution, diese Forderungen zu erfüllen.

Die Anspruchshaltung der Bevölkerung wird zum Problem für die Revolution?
Die Bevölkerung hat ihre Fähigkeit, Opfer zu bringen, wiederholt bewiesen. Die neuen Generationen stehen also vor diesem ökonomischen Problem, das gleichzeitig ein politisches Problem ist. Sie fühlen sich nicht ausreichend repräsentiert. Die politische Führung ist überaltert; die Mittzwanziger bis Mittdreißiger schauen nach oben und wer da an der Macht ist, sind ihre Großeltern. Sie fragen sich also: Was habe ich mit diesem Haus zu tun? Und was ist die Antwort? Entweder steige ich im Haus auf oder ich verlasse das Haus. Wir erleben beide Reaktionen. Es erscheint jedes Mal schwieriger, alle Generationen in das Projekt der Revolution zu integrieren. Man kann sagen, dieser mehrheitliche Konsens im Land nimmt mit jeder Generation ab.

Liegt darin nicht der Keim für die Formierung einer Oppositionsbewegung?
Theoretisch vielleicht, das Kuriose aber ist: Diese Abnahme des Konsens verwandelt sich nicht in politische Opposition, sondern in politische Anomie oder anders gesagt: Was geht mich das Ganze an? Es gibt also weiterhin den mehrheitlichen Konsens, aber der passive Teil dieses Konsens wird proportional immer größer. Zur Lösung der Probleme brauchst du aber nicht nur einen Mehrheitskonsens, sondern einen aktiven Mehrheitskonsens, neue Formen der Beteiligung. Die zu schaffen, ist neben dem Thema Wirtschaft entscheidend.

 

HISTORISCHE ZÄSUR

Der Übergang in Kuba nimmt seinen sozialistischen Lauf. Ende Februar dekorierte Kubas Präsident Raúl Castro in einem Festakt drei zentrale Figuren der Generation der „historischen Führer“ der kubanischen Revolution mit der Medaille der Helden der Arbeit:_José Ramón Machado Ventura, Ramiro Valdés Menéndez und Guillermo García Frías. Machado, 87 Jahre alt, ist derzeit Vizepräsident und Zweiter Sekretär der Kommunistischen Partei Kubas (PCC). Wie Machado ist der 85-jährige Valdés Vizepräsident und Mitglied des Politbüros der PCC. Lange Zeit war er für die Geheimdienste und die Leitung des Innenministeriums verantwortlich. García Frías, 90, ist ebenfalls Mitglied des Zentralkomitees und des Staatsrates.

Foto: Flickr.com, Thiery Ehrmann (CC BY 2.0)

Nach kubanischen Gepflogenheiten ist diese Art von Auszeichnung gemeinhin mit dem Ruhestand und Abtritt aus dem öffentlichen Leben des Geehrten verbunden. Sofort schossen Spekulationen ins Kraut, die drei historischen Führer könnten zusammen mit Raúl Castro abdanken. Dieser wird nach zwei Amtszeiten als Präsident am 19. April sein Amt abgeben.

Nicht zuletzt deshalb rief die kubanische Parlamentswahl vom 11. März dieses Jahres besonderes Interesse hervor. Denn die neue National­versammlung bestimmt am 19. April in seiner konstituierenden Sitzung den neuen Staatsrat und damit auch Raúl Castros Nachfolger im Präsidentenamt.

Die 605 aufgestellten Kandidat*innen für die Asamblea Nacional del Poder Popular, wie das Parlament auf Kuba heißt, erhielten allesamt mehr als 50 Prozent der Stimmen und wurden damit gewählt, wie die kubanische Wahlkommission (CEN) mitteilte. Die Wahlbeteiligung war mit knapp 85 Prozent gewohnt hoch, aber niedriger als in vorangegangenen Jahren. Bei den Wahlen zwischen 1976 und 2013 hatte die Beteiligung bei jeweils mehr als 95 Prozent gelegen. Dieses Mal waren 5,6 Prozent der abgegebenen Stimmen ungültig oder leere Stimmzettel. Zusammen mit den Nichtwähler*innen machen diese mehr als 17 Prozent aus – was die These von der „einhelligen Unterstützung“ widerlegt.

Die Präsidentin der Wahlkommission, Alina Balseiro, sprach gegenüber der Presse von dem Wahlergebnis als „Erfolg des Volkes“ und „Bestätigung des kubanischen Wahlsystems“. Weitergehende Interpretationen, vor allem zu Nichtwähler*innen, wollte sie nicht anstellen.
In Kuba finden Parlamentswahlen alle fünf Jahre statt, außerdem alle zweieinhalb Jahre Wahlen auf Kommunalebene. Das Wahlsystem zeichnet sich dadurch aus, dass es weder Wahlkampf noch Wahlfinanzierung zulässt. Auch können die Kandidat*innen kein eigenes Programm vorlegen. Genauso werden im Wahlprozess keine Regierungsprogramme thematisiert, weder auf lokaler, Provinz- oder nationaler Ebene.

Das neue Parlament konstituiert sich nicht zufällig am 19. April, an dem Tag jährt sich zum 57. Mal der Sieg gegen die US-Invasion in der Schweinebucht, „die erste Niederlage des US-Imperialismus in Lateinamerika“. Die 605 Abgeordneten wählen dann aus ihren Reihen den 31-köpfigen Staatsrat, das höchste Staatsorgan, das heißt auch einen neuen Präsidenten. Jeder Abgeordnete darf der Nationalen Kandidatenkommission Mitglieder für den Staatsrat vorschlagen, dieser wiederum stellt daraufhin die Kandidat*innen für die Präsidentschaft zur Abstimmung.

Nach zehn Jahren Raúl Castro fällt die Bilanz gemischt aus.

Wer genau das Präsidentenamt übernehmen wird, ist noch unklar. Alles deutet auf den derzeitigen Vizepräsidenten Miguel Díaz-Canel hin. Der 57-Jährige gilt als Parteisoldat und Vertrauter Raúl Castros. Beobachter beschreiben ihn als Pragmatiker und Verfechter einer Modernisierung der staatlichen Medien und des Ausbaus des Internetzugangs auf der Insel. Auf jeden Fall wird erstmals seit 1976 der kubanische Staatschef jemand sein, der nach der Revolution geboren wurde und nicht den Namen Castro trägt. Er wird aber auch weniger Macht haben als seine Vorgänger.

Denn unter Raúl Castro wurde die Machtbalance von Staat, Partei und Militär gestärkt. Die personalistische Struktur der Macht, verkörpert durch die „charismatische Führerschaft“ des Ende November 2016 verstorbenen Comandante en Jefe, Fidel Castro, ist abgelöst worden von einem „institutionenbasierten bürokratischen Sozialismus“, wie es der Politologe Bert Hoffmann nennt. Die von Raúl Castro betriebene Amtszeitbegrenzung auf zweimal fünf Jahre und die Einführung einer Altersgrenze von 70 Jahren für Führungskader sind Ausdruck dessen.

Castro wird Ende April zwar als Präsident aufhören, aller Voraussicht aber weiter Parteichef bleiben. Für dieses Amt ist er bis 2021 gewählt. Am Ein-Parteien-System und der Führungsrolle der Kommunistischen Partei wird nicht gerüttelt. Trotzdem: Erstmals seit dem Triumph der Revolution werden sich Parteivorsitz und Präsidentenamt nicht mehr in einer Hand befinden. Ob diese Gewaltenteilung von Dauer ist, wird sich zeigen.

Die historische Generation der Revolution hinterlässt den Nachgeborenen ein Land, das vor gewaltigen Herausforderungen steht. Nach zehn Jahren Raúl Castro an der Spitze fällt die Bilanz gemischt aus. Zwar hat der Annäherungsprozess mit den USA zusammen mit den angestoßenen Veränderungen, wie mehr Autonomie für Staatsunternehmen, der Ausweitung der „Arbeit auf eigene Rechnung“, dem Gesetz für ausländische Investitionen und einigem mehr, für eine neue wirtschaftliche Dynamik gesorgt. Von den vor sieben Jahren beschlossenen Reformvorhaben wurde aber bisher nur ein Bruchteil umgesetzt. Und die globalen Rahmenbedingungen sind angesichts der wirtschaftlichen Schwierigkeiten von Kubas engstem Verbündeten Venezuela und der Kalte-Krieg-Rhetorik von US-Präsident Donald Trump nicht günstiger geworden.Auch die Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade der USA ist weiterhin intakt und bleibt ein großes Hindernis.

Junge, gut ausgebildete Leute verlassen das Land oder träumen von Auswanderung

Dies hat bei Kubas Regierung zu einer „Fasten-your-seat-belts“-Reaktion geführt. Weitere Schritte von Öffnung und Reform wurden zunächst hinten angestellt. So wurde die Dezentralisierung staatlicher Betriebe verlangsamt,_der Genehmigungsprozess von Auslandsinvestitionen verläuft nur schleppend; ebenso ist die Öffnung des Privatsektors ins Stocken geraten. Die lange angekündigte Währungsunion der zwei kubanischen Pesos lässt weiter auf sich warten, genauso wie die angekündigte Verfassungsreform und ein Rechtsrahmen für kleine und mittlere private Unternehmen.

Weite Teile der Bevölkerung bemerken auch mehr als sieben Jahre nach Beginn der „Aktualisierung des sozialistischen Modells“ kaum etwas von einer Verbesserung ihrer Lebens­umstände. Sie kämpfen weiter mit geringen staatlichen Einkommen und hohen Lebensmittel- und Konsumgüterpreisen. Vor allem junge, gut ausgebildete Leute verlassen das Land oder träumen von Auswanderung. Das verstärkt noch den demographischen Druck. Denn ein Effekt des guten kubanischen Gesundheits- und Sozialsystems ist, dass die Gesellschaft altert und die Kosten für den Erhalt des Sozialsystems steigen.

Gleichzeitig steht die künftige kubanische Regierung vor der Aufgabe, die gesellschaftlichen Fliehkräfte im Zaum zu halten und die Schere zwischen Arm und Reich nicht zu weit aufgehen zu lassen. Die sozialen Errungenschaften der Revolution, wie allgemeine kostenlose Bildung und Gesundheit, müssen dafür erhalten und verbessert werden. Bei einer Korrosion oder gar Wegbrechen des Sozialsystems würde wohl auch irgendwann der Herrschaftsanspruch der Kom­mu­nistischen Partei in Frage gestellt.

Nicht mit derselben historisch gewachsenen Legitimation ausgestattet wie die „alte Garde“, wird die Stabilität des zukünftigen Präsidenten und des Landes von der wirtschaftlichen Entwicklung abhängen. Wichtigste Aufgabe wird sein, die durchschnittlichen Einkommen und damit den materiellen Wohlstand der Bevölkerung zu steigern. Auch mit staatlichen Gehältern muss es möglich sein, zumindest die Grundbedürfnisse zu decken. Das ist heute vielfach nicht der Fall. Die meisten Kubaner*innen interessieren heute eher die schlechte Transportlage oder der Preis für Tomaten. Pressefreiheit oder Mehrparteiensystem können warten, bessere wirtschaftliche Möglichkeiten und Anzeichen wachsenden Wohlstands dagegen nicht.

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