Mehr als überleben

G77-Gipfel in Kuba Lula setzt auch auf die Zusammenarbeit mit dem Globalen Süden (Foto: Palácio do Planalto/Ricardo Stuckert/PR via Flickr (CC BY ND 2.0 Deed))

Von Anfang an war klar, dass Lula sein Amt unter sehr schwierigen Bedingungen antritt. Die Partei Lulas, die Arbeiterpartei (PT), verfügt auch mit ihren Verbündeten über keine Mehrheit, sie muss mit der Unterstützung eines konservativen Blocks regieren, der allgemein als Centrão bezeichnet wird. Und der nur sehr knappe Wahlsieg sowie die Wahlerfolge vieler Unterstützer*innen von Bolsonaro machen die Ausgangslage nicht einfacher. So werden die drei bevölkerungsreichsten Bundesstaaten Brasiliens (São Paulo, Minas Gerais und Rio de Janeiro) von Anhängern Bolsonaros regiert. Angesichts dieser extrem schwierigen Ausgangslage hat die Regierung Lula ihr erstes Jahr zwar nicht ohne Blessuren, aber doch mit beachtlichen Erfolgen überstanden.

Allerdings hängt die Bewertung stark von den Erwartungen ab. International konzentrierten sich diese auf die Frage der Entwaldung und Brasiliens Rolle in der zukünftigen Klimapolitik. Dies korrespondiert aber auch mit den Erwartungen der indigenen Völker, die im Widerstand gegen die Bolsonaro-Regierung eine prominente Rolle eingenommen hatten. Die ersten Signale des gewählten Präsidenten waren sehr vielversprechend. Zum einen wurde zum ersten Mal in der Geschichte Brasiliens ein Ministerium für indigene Fragen eingerichtet und dies mit einer prominenten Vertreterin der indigenen Völker, Sônia Guajajara, besetzt. Zum anderen wurde mit der Ernennung der international hoch angesehenen Marina Silva zur Umweltministerin ein starkes Zeichen dafür gesetzt, dass Umweltpolitik nun eine wichtige Rolle in der Regierungspolitik spielt. Eine erste eindrucksvolle Aktion war ein energisches Vorgehen gegen die illegale Goldschürferei in Amazonien.

Aber bald zeigten sich auch die ersten Konfliktlinien. Auf einem Treffen der Amazonasstaaten unterstützte die brasilianische Regierung nicht die Forderung von Kolumbiens Präsident Petro nach einem Moratorium für neue Ölförderungen in Amazonien. Hintergrund ist die mögliche Erschließung von Ölvorhaben im Gebiet der Amazonasmündung. Die Regierung ist in dieser Frage gespalten. Während das Energieministerium und der halbstaatliche Erdölkonzern Petrobras die Erschließung befürworten, hat das Umweltministerium Einspruch erhoben. Der Konflikt um das Öl am Amazonas zeigt auch, dass die Konfliktlinien quer durch die Regierung gehen. Der von Lula eingesetzte Präsident der Petrobras war bis dahin Senator für die PT und hat das wichtige Amt als Vertrauter Lulas gewonnen. Zurzeit ist völlig offen, wie der Konflikt ausgeht.

Einen Erfolg kann Lula jedenfalls verbuchen: Die Entwaldungszahlen sind im Jahre 2023 deutlich gesunken – zumindest im Amazonasgebiet. So sank die Entwaldung im September von 1.454 Quadratkilometer im Jahre 2022 auf 590 im Jahre 2023. Auch wenn die Zahlen noch vorläufig sind, steht eine deutliche Reduzierung der Entwaldung im Amazonasgebiet außer Frage. Aber im angrenzenden Cerrado (Baumsteppe) ist die Entwaldung währenddessen gestiegen – von 273,41 auf 516,73 Quadratkilometer (alle Angaben beziehen sich auf den Monat September).

Die Entwaldungszahlen im Amazonasgebiet sind deutlich gesunken

Für die meiste Brasilianer*innen ist aber die Entwicklung der Wirtschaft entscheidend für die Bewertung der Regierung. Und hier läuft es ganz gut. Die Inflation geht zurück, sie liegt jetzt bei 5,19 Prozent. Das Wirtschaftswachstum für 2023 wird knapp unter 3 Prozent liegen, nach Jahren der Wirtschaftskrise ein beachtlicher Wert und die Arbeitslosenquote weist mit 7,7 Prozent den niedrigsten Wert seit 2015 auf. Dabei hatten die formalen Beschäftigungsverhältnisse das größte Wachstum. Und auch die Programme zur Bekämpfung der extremen Armut zeigen erste Erfolge. Nach einer Studie, an der unter anderem die Fundação Getúlio Vargas und die Weltbank beteiligt waren, ist die Zahl der in extremer Armut Lebenden bis September um drei Millionen (von 4,5 Millionen) zurückgegangenen. Die Wiederaufnahme der verschiedenen Programme zur Armutsbekämpfung zeigen offensichtlich bereits Wirkung.
Diese Erfolge sind keineswegs selbstverständlich und werden unter widrigen Umständen erzielt. Die Zentralbank wird immer noch von einem Präsidenten geleitet, der von Bolsonaro eingesetzt worden ist. Er weigerte sich zunächst, die Leitzinsen zu senken und tat dies dann auch nur in homöopathischen Dosen. Im November 2023 liegt der Leitzins (Selic) bei 12,25 Prozent und damit deutlich über der Inflationsrate. Die zweite große Schwierigkeit der Regierung ist der eher eingeschränkte Spielraum für Ausgaben durch einen Haushaltsdeckel, der unter der Regierung Temer mit einer Verfassungsänderung eingeführt worden ist. Der Regierung Lula ist es gelungen, diese Restriktionen zumindest zu lockern. Bemerkenswert ist, dass es der Regierung gelang, alle wichtigen Abstimmungen in den ökonomischen Fragen recht deutlich zu gewinnen. Die Frage ist nur zu welchem Preis.

Die Mechanismen der brasilianischen Politik lassen sich gut an dem Beispiel einer Steuerreform erkennen, die vielleicht das wichtigste Reformprojekt der Regierung Lula im Jahre 2023 ist. Kernstück ist die Vereinfachung von verschiedenen Steuern zu einer einheitlichen Mehrwertsteuer. Diese Vereinfachung des Steuersystems wurde sogar von den Bolsonaro-Gouverneuren unterstützt. Schwieriger war es aber, eine Mehrheit für einen anderen zentralen Punkt der Steuerreform zu bekommen, nämlich der Besteuerung von großen Vermögen und im Ausland operierenden Fonds (offshore) brasilianischer Anleger*innen. Das konnte nur durch Kompromisse (niedrigere Steuerquote als ursprünglich geplant) und durch Verhandlungen mit dem Centrão gelingen. Schlüsselfigur ist dabei der Parlamentspräsident Arthur Lira. Er forderte von Lula für seine politische Klientel die Leitung der Caixa Econômica Federal – eine staatliche Bank, die nach Zahl der Kontoinhaber*innen mit 150 Millionen die größte Bank Brasiliens ist und zahlreiche staatliche Sozial- und Kreditprogramme abwickelt. Lula kam dieser Forderung nach, entließ die Amtsinhaberin und ernannte einen Vertrauensmann Liras, Carlos Antônio Vieira Fernandes. Neben der Caixa wurden insgesamt drei Ministerien in diesem Jahr dem Centrão geopfert. Dabei musste die prominente Volleyballspielerin Ana Moser den Posten der Sportministerin räumen und einem Mann des Centrão weichen. Zwei der drei geopferten Ministerien wurden von Frauen geleitet, ihre Nachfolger sind alles Männer des Centrão.

Ein weiteres Mittel, parlamentarische Zustimmungen zu erkaufen, sind die sogenannten emendas parlamentares. Das sind Zusatzanträge von einzelnen Abgeordneten zum Haushalt. Sie haben in diesem Jahr ein Volumen von etwa sieben Milliarden Euro erreicht. Diese emendas müssen von der Regierung in den Haushalt aufgenommen werden, zwingen dann aber auch die Abgeordneten, dem Haushalt zuzustimmen.

Deutlich weniger von Kompromissen abhängig ist Lula in der Außenpolitik. Und hier wird der Bruch mit seinem Vorgänger Bolsonaro besonders deutlich. Als erste Priorität verkündete Lula den Ausbau der Beziehungen zu den Ländern Südamerikas und seine erste Auslandsreise führte ihn nach Argentinien. Im Mai gelang es Brasilien, einen Lateinamerika-Gipfel zu organisieren, der in seiner Abschlusserklärung die Perspektive einer größeren Kooperation wiederbelebte. Im Juni folgte der Gipfel der Amazonasanrainerstaaten in Belém, wohl der Höhepunkt der außenpolitischen Initiativen im Jahre 2023. Lula will offensichtlich Brasilien wegen der Entwaldungen im Amazonasgebiet von der Anklagebank herunterholen und das Land zu einem Vorreiter der globalen Klimapolitik zu machen. Er weiß, dass eine globale Führungsrolle Brasiliens nur erreicht werden kann, wenn das Land ein glaubhafter Player in der Klimapolitik wird. Jedoch zeigten sich auch auf dem Amazonasgipfel Differenzen, die eine substanziellere Einigung verhinderten. So war schnell klar, dass ein konkretes Ziel zur Reduzierung von Entwaldung, wie es Brasilien verkündet hat, nicht konsensfähig ist. Und die Frage der Erdölförderung zeigt die bereits erwähnten Differenzen zu der Position der kolumbianischen Regierung.

In der globalen Politik ist Brasilien von einer Blockbildung mit dem „Westen“ deutlich abgerückt. Nach einigem Zögern wurde der Angriff Russlands auf die Ukraine verurteilt, aber Brasilien beteiligt sich nicht an den Sanktionen. Ein deutliches Signal ist auch die Wiederbelebung der BRICS-Allianz auf dem Gipfeltreffen im vergangenen August in Südafrika. Dass Brasilien mit China und Russland bedenkenlos kooperiert, wurde vom „Westen“ mit Kritik überzogen. Aber Indien verhält sich keinen Deut anders als Brasilien, der Wille eine multilaterale Weltordnung zu fördern, ist offensichtlich sehr groß. Die neue Zusammenkunft ist natürlich nicht in erster Linie ein Bündnis für die Menschenrechte, wie auch die Liste der Beitrittskandidaten für die BRICS Koalition zeigt. Hier finden sich etwa Saudi-Arabien und Iran.

Brasiliens Regierung will dies nicht als anti-westliche Politik verstehen, Leitbild ist vielmehr die Idee „ein Land ohne Feinde“ und Kooperation mit allen, unabhängig von den innenpolitischen Verhältnissen dieser Länder. Und so gehört auch der Abschluss der Freihandelsabkommen zwischen Brasilien und den anderen Mercosur-Staaten zu den Prioritäten der Regierung.

Wie also kaum anders zu erwarten, finden sich in der Einjahresbilanz positive und negative Punkte. Eine Bewertung hängt stark von den Erwartungen ab, die man an die Regierung Lula hat. Eines sollte aber klar sein: die Erwartung kann nicht sein, dass Lula eine Regierung der sozialen Transformation anführt oder eine Regierung gegen das Agrobusiness. Es ist eine Regierung einer sehr heterogenen Allianz mit einer prekären parlamentarischen Mehrheit. Sieht man diesen Ausgangspunkt, dann hat sich die Regierung Lula im ersten Jahr recht gut geschlagen und sogar eine Steuerreform durchbekommen, die die Besteuerung hoher Einkommen verschärft. In den Umfragen bewerten nach neun Monaten Regierungszeit 48 Prozent der Befragten die Regierung positiv, ein Wert, von dem die deutsche Bundesregierung nur träumen kann. Aber stabile 45 Prozent der Bevölkerung lehnen die Regierung ab. Die Spaltung des Landes ist also nicht überwunden und die Gefahr eine Rückkehr des Bolsonarismo nicht gebannt.

Rolle vorwärts

Neues Vertrauen Mit Lula richtet sich die Regierung wieder an die indigene Bevölkerung (Foto: Marcelo Camargo/Agência Brasil)

Mit großer Erleichterung und vorsichtiger Euphorie hatte die brasilianische Zivilgesellschaft die Wahl von Lula da Silva zum Präsidenten begrüßt. Die Einführung in seine dritte Amtszeit am 1. Januar wurde zu einem großen Fest der Demokratie, bei der Vertreter*innen sozialer Bewegungen Lula mit der Präsidentenschärpe symbolisch die Macht übergaben. Die Hoffnung auf einen Politikwechsel war groß. Nur sieben Tage später gab es dann ein jähes Erwachen. Hunderte Anhänger*innen des abgewählten Präsidenten Jair Bolsonaro verwüsteten die Gebäude der wichtigsten Institutionen des Landes. Deutlicher hätten es die politischen Gegner*innen des neuen Präsidenten und seiner Partei nicht machen können: Es ist noch nicht vorbei. Der bolsonarismo besteht über die Amtszeit von Jair Bolsonaro hinaus und ist in Polizei und Militär tief verwurzelt. Inzwischen hat jedoch die Regierung Lula die ersten 100 Tage nicht nur überstanden, sondern auch verschiedene erfolgreiche Programme aus der Zeit der Regierungen der Arbeiterpartei (PT) von 2003 bis 2016 neu aufgelegt und einige Sofortmaßnahmen ergriffen.

„In nur sechs Jahren Regierungszeit erreichte die brasilianische Rechte einen gesellschaftlichen Rückschritt von 30 Jahren in allen Bereichen der öffentlichen Politik“, bilanzierte Graça Xavier von der Bewegung für menschenwürdiges Wohnen (UNMP) im Interview mit LN. Ähnlich lautet die Analyse vieler sozialer Bewegungen in Brasilien, die sich auf die in der Verfassung garantierten Menschenrechte beziehen. Doch wie viel neoliberaler Rollback lässt sich in den nächsten vier Jahren mit dem „konservativsten Kongress aller Zeiten“ rückgängig machen? Wie schnell wirken Sozialprogramme, um extreme Armut und Hunger erneut zu beenden, die besonders in den letzten vier Jahren rasant zugenommen haben? Und woher sollen angesichts eines strikten Ausgabendeckels die finanziellen Mittel dafür kommen?

Die Ausgangslage für die Regierung ist mehr als schwierig. Nach 100 Tagen lässt sich allerdings festhalten, dass überraschend viele Veränderungen bereits in die Wege geleitet wurden. G1, das Nachrichtenportal des Medienkonzerns O Globo, attestierte Lula sogar, dass er ein Drittel seiner Wahlversprechen bereits eingelöst habe. Die G1-Redaktion, die diese Form von Auswertung bereits seit 2014 durchführt, stellte fest, Lula habe 13 der 36 Wahlversprechen vollständig erfüllt und weitere vier teilweise. Alle anderen seien entweder bereits initiiert worden oder könnten noch nicht evaluiert werden.

Prioritär war nach dem Amtsantritt, wie von Lula bereits am Wahlabend angekündigt, die Bekämpfung des Hungers unter dem Arbeitstitel Brasil sem Fome (Brasilien ohne Hunger). Neben anderen Maßnahmen wurde das von 2003 bis 2021 bestehende Sozialprogramm Bolsa Família neu aufgelegt und von 400 auf 600 Reais (rund 110 Euro) plus 150 Reais für jedes Kind unter sechs Jahren aufgestockt. Die Unterstützung erhalten Familien mit einem Monatseinkommen von bis zu 218 Reais pro Person (rund 40 Euro). Möglich wurde dies durch eine „provisorische Maßnahme“ des Präsidenten, die erst nachträglich vom Kongress bestätigt werden muss.

Mit der Wiedereinführung der Bolsa Família sind gleichzeitig auch ökonomische Hoffnungen verbunden. „Studien zeigen, dass sich das Sozialprogramm für den Staat lohnt, weil das Geld für Grundbedürfnisse ausgegeben und so unmittelbar wieder der lokalen Wirtschaft zugeführt wird. Am Ende führt das zu zusätzlichen Steuereinnahmen. Nicht umsonst war das Wirtschaftswachstum im Nordosten Brasiliens während der ersten beiden Amtszeiten Lulas am größten“, erklärt Bruno de Conti, assoziierter Professor am Institut für Wirtschaft der Universität Campinas (UNICAMP) im Interview mit LN.

Als ebenso wichtig wie die Transferleistungen wird von der Zivilgesellschaft die Wiedereinbeziehung partizipativer Mechanismen in die Regierungspolitik bewertet. So sagte Elisabetta Recine vom Nationalen Rat für Lebensmittel- und Ernährungssicherheit (Consea) bei einer öffentlichen Veranstaltung des FDCL: „Partizipation ist der Schlüssel für den Erfolg der sozialen Prozesse und der Demokratie. Sozialprogramme wie Fome Zero (Null Hunger, Anm. der Red.) reichen allein nicht, es muss darum gehen, die Resilienz der Bevölkerung zu stärken. Fome Zero war ein Samenkorn, das Anfang der 2000er Jahre aufgegangen ist. Heute ist die Anzahl der aktuellen Herausforderungen, wie beispielsweise die des Klimakollapses, gestiegen.“

Der seit 1993 bestehende Ernährungsrat Consea wurde von Präsident Bolsonaro an seinem ersten Amtstag im Januar 2019 abgeschafft und jetzt von Präsident Lula Ende Februar wieder eingeführt. Er ist einer von vielen Beispielen für die Wiederauflage von Foren für die Partizipation der Zivilgesellschaft. So nahm Graça Xavier von der UNMP am 8. März in Brasília an einer Versammlung von 40 Organisationen aus Frauen- und Stadtteilbewegungen teil, die 20 konkrete Vorschläge für die zukünftige Regierungspolitik formulierte. Diese, vor allem zu Lohngleichheit, Wohnen und Selbstverwaltung von kollektivem Landbesitz, wurden anschließend dem Präsidenten und den zuständigen Minister*innen übergeben.

Graça Xavier stellt fest: „Wir werden uns sechs Monate Zeit nehmen, um Vorschläge zu erarbeiten. Aber wir werden die Regierung auch in die Pflicht nehmen. Wir haben Lulas Wahl unterstützt, aber falls er seine Versprechen nicht einhält, gehen wir wieder auf die Straße, dann werden wir zum Internationalen Habitat-Tag Anfang Oktober einen großen Marsch auf Brasília organisieren.“

Die Landlosenbewegung MST hat bereits zu Beginn dieses Jahres entschiedenen Druck auf die Regierung Lula ausgeübt. Am 27. Februar besetzte der MST mit 1.700 Familien drei große Landstücke im Bundesstaat Bahia mit Eukalyptusplantagen in Monokultur sowie ein viertes, das seit 15 Jahren nicht mehr landwirtschaftlich genutzt wurde. Der MST forderte gleichzeitig die sofortige Enteignung von Großgrundbesitz, um eine Agrarreform durchzuführen, sowie die sofortige Besetzung der Leitung des INCRA, des Nationalen Instituts für Besiedlung und Landreform. Ende April erklärte João Paulo Rodrigues von der nationalen Direktion des MST im Interview mit der Zeitung Folha de São Paulo: „Das ist unsere Regierung, wir haben dabei geholfen, sie aufzubauen. Aber der MST besitzt Autonomie in Bezug auf die PT und die Regierung.“ Bis zum 3. Mai folgten weitere Landbesetzungen in verschiedenen Bundesstaaten. Die für die Beseitigung der sozialen Ungleichheit so wichtige Landreform kam während der PT-Regierungen von 2003-2016 nur schleppend voran.

Im Bereich der Wirtschaftspolitik ist die Regierung Lula vor allem damit beschäftigt, die Scherben der Vorgängerregierungen zusammenzukehren. Bereits unter Präsident Michel Temer hatte Brasiliens Parlament 2016 beschlossen, die Staatsausgaben für die nächsten 20 Jahre einzufrieren – offiziell, um das hohe Haushaltsdefizit zu reduzieren. Bruno de Conti bewertet diese Maßnahme als problematisch: „Der brasilianische Staat ist weit davon entfernt, die Bedürfnisse der Bevölkerung mit den aktuellen Ausgaben bedienen zu können. Zusätzlich sinken bei einer stetig wachsenden Bevölkerung Jahr für Jahr die Staatsausgaben pro Kopf.“ Der neue Wirtschaftsminister Fernando Haddad (PT) hat dem Kongress im April vorgeschlagen, die Anhebung der Staatsausgaben abhängig von den Einnahmen und nicht nur als Inflationsanpassung zu ermöglichen, aber die Begrenzung der Ausgaben beizubehalten. Gespannt erwartet hatte der Wirtschaftswissenschaftler de Conti in diesem Zusammenhang auch, wie die Regierung mit der Anpassung des Mindestlohns umgeht. „Die auch zukünftig fortgeführte Ausgabenbegrenzung erschwert eine Anpassung an Inflation und BIP, wie das unter früheren PT-Regierungen geregelt wurde“, so de Conti. Am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, kündigte Lula jedoch im Kongress einen Gesetzesentwurf an, der genau diese Maßnahmen enthält.

Beim jährlichen indigenen Protestcamp Terra Livre Ministerin Sônia Guajajara und Präsident Lula (Foto: Marcelo Camargo/Agência Brasil)

Die Unabhängigkeit der Zentralbank ist ein weiteres schwieriges Erbe der Vorgängerregierung, an dem sich die Regierung Lula in den ersten Monaten abgearbeitet hat. Der aktuelle Zentralbankchef Robert Campos de Neto wurde von Bolsonaro vorgeschlagen. Ein 2022 unter dessen Regierung erlassenes Gesetz verhindert die Absetzung des Zentralbankchefs vor Ablauf seiner Amtszeit 2024 durch den Präsidenten, was in den letzten Monaten zu einer öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzung zwischen Regierung und Zentralbank führte. Während die Regierung Lula eine eher progressive Geldpolitik anstrebt, führt die Zentralbank ihren konservativen Kurs fort, unbeirrt von der Tatsache, dass Brasiliens Zinssatz einer der höchsten weltweit ist.

Auch außenpolitisch gibt es Konflikte. Lulas Äußerungen bei einer Pressekonferenz nach dem Antrittsbesuch des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz führten zu Kritik und Unverständnis. Lula verurteilte Russland währenddessen zwar dafür, dass es die territoriale Integrität der Ukraine verletze, äußerte aber die Ansicht, dass weder Russland noch die Ukraine den Krieg beenden wollten und verweigerte Scholz die Unterstützung Brasiliens bei der Lieferung von Munition für die Flugabwehrpanzer Gepard. „Durch Lulas polemische Äußerungen und aufgrund der Tatsache, dass er den russischen Außenminister Lawrow in Brasilien empfangen hat, wird Brasiliens Position im Westen fälschlicherweise als Unterstützung Russlands interpretiert. Vielmehr ist es aber Brasiliens außenpolitische Tradition, sich militärisch nur an Einsätzen, die ein Mandat des Sicherheitsrats der Vereinten Nation haben, zu beteiligen und Sanktionen wegen ihrer Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung nicht mitzutragen“, erklärt die Außenpolitikexpertin Marianna Albuquerque, die am Institut für Internationale Beziehungen und Verteidigung an der Staatlichen Universität Rio de Janeiro (UFRJ) forscht und unterrichtet, im Interview mit LN.

Bereits vor seiner Amtseinführung hatte Lula im November auf der Klimakonferenz COP27 in Ägypten die Rückkehr Brasiliens auf die Weltbühne angekündigt. Fünf der ersten 100 Tage verbrachte er in Argentinien, Uruguay und den USA. Kurz danach reiste Lula nach China, in die Vereinigten Arabischen Emirate sowie nach Spanien und Portugal. Fünf weitere Reisen sind in diesem Jahr geplant, unter anderem zum Treffen der G7-Staaten in Japan, zum G20-Gipfel in Indien und zum BRICS-Treffen in Südafrika. Mit diesen Prioritäten grenzt sich die Regierung Lula stark von der Vorgängerregierung unter Bolsonaro ab. Dieser schätzte – wie sein Vorbild Donald Trump – multilaterale Foren nicht und ignorierte viele internationale Vereinbarungen.

„Die größte außenpolitische Erwartung gegenüber der Regierung Lula ist die Rückkehr zu einer aktiven internationalen Rolle, bei der Brasilien gemäß seinen außenpolitischen Traditionen als Brücke zwischen Industrie- und Entwicklungsländern und vertrauenswürdiger Vermittler für die friedliche Lösung von Konflikten auftritt“, so die Politikwissenschaftlerin Albuquerque. „Lula hat vor allem versprochen, seinen Fokus auf Südamerikas Integration zu legen. Mit Brasiliens Rückkehr in das UNASUR-Bündnis und in die Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten CELAC ist seine Regierung hier auch auf einem guten Weg.“

Brasiliens Wirtschaftsmodell und -wachstum in Einklang mit dem Schutz der natürlichen Ressourcen und der Förderung der familiären Landwirtschaft zu bringen, wird einer der schwie-*rigsten Balanceakte für die Regierung Lula werden. Die Agrarlobby ist weiterhin mächtig – auch im Kongress – und bisher ist unklar, ob sich Lula tatsächlich mit ihr anlegen wird. In Bezug auf die Begrenzung der Erderwärmung bewertet Albuquerque Brasiliens Rolle in den ersten 100 Tagen kritisch: „Mit Blick auf die internationale Klimapolitik, die Lula ebenfalls als Priorität bezeichnet hat, ist bisher wenig passiert“.

Innenpolitisch gibt es jedoch auch hier erste positive Signale. Mit Sônia Guajajara leitet eine international anerkannte indigene Führungs-*persönlichkeit das neu gegründete Ministerium für Indigene Völker. Die Leitung der Indigenenbehörde FUNAI wurde der indigenen Rechtsanwältin und Kongressabgeordneten Joênia Wapixana übertragen. Helena Palmquist von der Beobachtungsstelle für die Menschenrechte indigener Völker (OPI) sagte dazu in einer öffentlichen Veranstaltung mit dem FDCL: „Wir dürfen nie vergessen, dass die indigene Bevölkerung nur fünf Prozent der Weltbevölkerung ausmacht, aber 80 Prozent der Biodiversität beschützt.“ Mit Sônia Guajajara und Joênia Wapixana lägen die Lebensumstände der Indigenen erstmals in ihrer eigenen Hand, das werde einen Unterschied machen. Auch in Bezug auf die alarmierende Abholzung in den letzten Jahren ist sie positiv gestimmt:„Die Abholzung wird zurückgehen, da bin ich wirklich zuversichtlich. Eines der wenigen Dinge, bei denen ich sehr hoffnungsvoll bin.“

DIE HOFFNUNG KEHRT ZURÜCK

Amtseinführung von LulaDie präsidiale Schärpe wurde ihm von der Wertstoffsammlerin Aline Sousa (links) umgelegt (Foto: Marcelo Camargo, Agência Brasil)

Es war für niemanden eine Überraschung, dass der bei den Präsidentschaftswahlen geschlagene ehemalige Präsident Jair Bolsonaro am 30. Dezember Brasilien verließ. Das Schweigen nach seiner Niederlage bildete einen scharfen Kontrast zu den lautstarken anti-demokratischen Protesten seiner Anhänger*innen, die seit Ende Oktober vor Kasernen kampierten und eine Militärintervention forderten. Die Abwesenheit Bolsonaros führte aber zur medial vielfach so bezeichneten „schönsten Amtseinführung in der Geschichte Brasiliens“: Acht Menschen aus der brasilianischen Zivilgesellschaft überreichten Lula da Silva die offizielle Präsidentschaftsschärpe.

Der neugewählte Präsident Lula da Silva machte bereits während seiner Kampagne und in seiner Rede am Wahlabend deutlich, dass er zum Wohl aller Braslianer*innen regieren würde. Lulas Optimismus und sein Anliegen Brasilien wieder aufzubauen, halfen ihm, die Kommunikation mit den sozialen Bewegungen wieder aufzunehmen. Auch die Hoffnung auf die Rückkehr einer Politik zum Wohl von Minderheiten entstand neu.

Frauen, Kinder, Schwarze Menschen, Menschen mit Behinderungen, Indigene und Führungspersönlichkeiten der sozialen Bewegungen standen bei der Amtseinführung an der Seite von Lula. Darunter war Aline Sousa, Sammlerin recycelbarer Materialien (Catadora) und eine der führenden Vertreterinnen der Nationalen Bewegung der Wertstoffsammler*innen (MNCR) sowie Geschäftsführerin des Netzwerkes Centcoop im Regierungsbezirk. Als letzte von acht Vertreter*innen der Zivilgesellschaft überreichte sie Lula in einem hochemotionalen Moment seine Schärpe. Aline Sousa repräsentiert laut Schätzungen der MNCR eine Gruppe von 800.000 Menschen, die in Brasilien recycelbare Materialien sammeln. Bereits während seiner ersten Amtszeit trug Lula zur Organisation der Bewegung bei, die laut dem Institut für angewandte wirtschaftliche Forschung (IPEA) für 90 Prozent der Müllverwertung verantwortlich ist.

Wertstoff-sammler*innen fordern ihre Rechte zurück

Gegründet wurde die MNCR bereits 2001, nach dem ersten Nationalen Kongress der Catadores in Brasilia. 2006 wandte sich die Bewegung mit ihren Forderungen nach mehr öffentlicher Unterstützung an die erste Regierung unter Präsident Lula. 2010 wurde mittels der „Nationalen Strategie für feste Abfälle“ festgelegt, dass Kommunen die jeweiligen Verbände und Kooperativen in entsprechende Maßnahmen miteinbeziehen müssen. Das Pro-Catador-Programm wurde ebenfalls 2010 ins Leben gerufen und sollte die Arbeiter*innen dabei unterstützen sich zu organisieren.

Die Regierung von Bolsonaro machte dagegen die über Jahre etablierten Richtlinien rückgängig, welche die Wertstoffsammler*innen besser in die Arbeitswelt integrieren sollten. Das Programm Recicla+, das unter Bolsonaro eingeführt wurde, vernachlässigte die Abfallsammler*innen vollständig, betont Neli Medeiros, Aktivistin und Catadora des Verbandes COOPESOLI Barreiro.

„Seit 2016, nach der Amtsenthebung von Dilma Rousseff, gab es für uns keine Fortschritte. Im Gegenteil, wir haben unsere Rechte verloren und unsere Arbeit sowie die Produktionsketten haben darunter gelitten. Das Programm Recicla+ hat uns geschadet, weil es große Firmen begünstigt, während wir nichts davon haben. Die Übergabe der Schärpe ist ein Symbol dafür, dass auch wir in der Politik etwas zu sagen haben und die Regeln, die unsere Produktionsketten betreffen, mitbestimmen können. Lulas Rückkehr bedeutet, dass wir unsere Arbeit neu organisieren können, unsere Würde zurückerobern und uns die Leute wieder sehen.“

Bereits am 2. Januar erließ Präsident Lula eine Verordnung, die das unter Bolsonaro gestrichene Programm Pro-Catador wieder aufnehmen und das Programm Recicla + überarbeiten soll. Auch Anderson Viana, Gründer und Präsident des Vereins UNICILA, analysierte es als positive politische Entwicklung, die Catadores wieder direkt in diese Regierungsprogramme mit einzubeziehen: „Lula und seine Regierung haben uns Türen geöffnet. Sie hören unsere Forderungen. Wir haben Lula gesagt, dass wir die Fördermaßnahmen für Catadores wieder zurückhaben wollen. Wir baten ihn darum, das Pro-Catador-Programm zurückzubringen und ein nationales Sekretariat für Abfallverwertung einzurichten, so wie es uns versprochen wurde. Heute fühle ich mich endlich wieder als Teil der Regierung. Wir regieren. Unsere Klasse wird gehört und wir werden für unsere Arbeit, die wir für die Gesellschaft ausüben, Anerkennung erhalten. Die Arbeit der Catadores bedeutet soziale Inklusion – die meisten von uns sind Frauen und Schwarze Personen. Gleichzeitig bilden wir als Catadores auch einen Raum, in dem Menschen aus der queeren Community willkommen sind. Ich sehe, dass die Menschen unsere Arbeit in Zukunft respektieren werden.”

Die Herausforderung, den Fortschritt des Landes und die Überwindung seiner ideologischen Spaltung miteinander in Einklang zu bringen, gilt es zu meistern. Trotzdem gibt es Gründe optimistisch zu sein, besonders für diejenigen, die sich von der brasilianischen Politik lange Zeit ausgeschlossen gefühlt haben. Bei Lulas Amtseinführung kam die Botschaft an: Frauen, Indigene, Schwarze, Kinder und Menschen mit Behinderungen, werden wieder eine Priorität auf der politischen Agenda einnehmen.

LICHT UND SCHATTEN

Hoffnungsschimmer auf der COP27 Lula da Silva stellt die neue Klimapolitik Brasiliens vor (Foto: Oliver Kornblintt/Midia Ninja via Flickr, CC BY-SA 4.0)

Angesichts der düsteren Aussichten mit Blick auf den Klimawandel, an denen auch das Zusammenkommen von 197 Staaten auf der 27. Weltklimakonferenz nichts geändert hat, war der Führungswechsel in Brasilien ein willkommener Lichtblick. Schließlich ist Brasilien die Heimat der „grünen Lunge“ der Welt – des Amazonas. Nach seinem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen Ende Oktober nutzte der neu gewählte Präsident Luiz Inácio Lula da Silva von der Arbeiterpartei (PT) die Gelegenheit, zu bekräftigen, dass sich seine neue Regierung der Klimapolitik verpflichtet. Sein Vorgänger, der rechtsextreme Klimawandelleugner Jair Bolsonaro, hat eine verheerende Klimabilanz hinterlassen. Für Lula war die Reise nach Ägypten kurz vor seinem Amtsantritt ein günstiger Moment. Ab Januar muss er sich auf Kompromisse der breiten Allianz seiner Regierungskoalition einlassen.

Innenpolitisch hat sich Lula auf der Klimakonferenz und in anderen Reden zu Klima- und Umweltmaßnahmen verpflichtet. Eine Wiederauf- nahme des Aktionsplans zur Verhinderung und Kontrolle der Entwaldung in den drei Biomen des sogenannten Amazônia Legal (PPCDAm) ist zu erwarten. Eingeführt 2004 während der ersten Lula-Regierung, waren in den vorangegangenen Amtszeiten Emissionsreduzierungen von historischem Ausmaß erreicht worden. Außerdem kündigte Lula die Gründung eines Ministeriums für indigene und traditionelle Völker an. Gemeinsam mit Deutschland und Norwegen wird Brasilien den Amazonienfonds wieder auflegen, den Lula als Präsident 2008 gegründet hatte und den Bolsonaro 2019 abschaffte. Dieser Fonds war eine Alternative zum Emissionshandel und ein bedeutendes Beispiel für Nord-Süd-Transfer zur Finanzierung des Waldschutzes. Im Gegensatz zu Marktmechanismen liegt die Kontrolle der finanziellen Mittel beim Empfängerland Brasilien, das damit öffentliche strukturelle Maßnahmen sowie lokale Initiativen unterstützt, ohne Emissionskredite an Geber zu gewähren.

Der außenpolitische Schwerpunkt früherer PT-Regierungen lag auf Kooperation zwischen Ländern des Globalen Südens, Frieden, Diplomatie und multilateraler Zusammenarbeit. Lulas neue Regierung hat versprochen, diesen Geist wiederzubeleben.

Auf der COP27 kritisierte der neu gewählte brasilianische Präsident die Geberländer des Globalen Nordens scharf dafür, dass sie sich weigern, die zugesagten Zahlungen in Höhe von 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr an Entwicklungsländer zu leisten. Die Vereinten Nationen sowie die Mechanismen zur Finanzierung der durch den Klimawandel verursachten Verluste und Schäden müssten so reformiert werden, dass die territoriale Integrität der Länder des Globalen Südens respektiert würde. „Wir sind offen für eine internationale Zusammenarbeit zur Erhaltung unserer Biome. Aber immer unter der Führung Brasiliens, ohne jemals auf unsere Souveränität zu verzichten“, so Lula in Ägypten. Ähnlich wie zuvor die Präsidenten von Kolumbien und Venezuela schlug Lula eine Allianz für regionale Entwicklung, Integration und den Schutz des Regenwaldes vor. Er brachte außerdem die Idee ein, die COP30 im Jahr 2025 im brasilianischen Amazonas abzuhalten. Mit diesem Schritt würde die Notwendigkeit einer angemessenen Rolle der Region und seiner Bevölkerung anerkannt, denn die Entscheidungen über die Entwicklung des Amazonasgebiets werden oft aus weiter Ferne getroffen.

Lula verteidigte den Klimaaktivismus in seiner Rede auf der COP27 nicht, sondern dankte der ägyptischen Gastgeberregierung. Dennoch wird die internationale Führungsrolle Brasiliens gemeinsam mit anderen Ländern des Globalen Südens entscheidend sein, um Multilateralismus und Frieden, den Kampf gegen den Hunger, Umweltschutz und Gleichberechtigung zu fördern. Im eigenen Land sieht sich seine Regierung jedoch mit einem starken Block der Agrarwirtschaft und einer schwachen Umweltfraktion im Parlament konfrontiert.

Lula bezeichnete die Agrarwirtschaft als strategischen Verbündeten und reiste mit Helder Barbalho, dem Gouverneur des Amazonasstaates Pará, zum Gipfel. Barbalho ist ein Verfechter eines marktwirtschaftlichen Ansatzes für die Bioökonomie, der der Agrarindustrie keine Beschränkungen auferlegt. Zudem soll im Bundesstaat Pará auf dem Fluss Tocantins eine Wasserstraße für den Transport und Export von Soja und Mineralien entstehen. Der Bau würde den Fischbestand und Boden zerstören, und damit die Lebensgrundlage der indigenen und traditionellen Gemeinden der Fischerinnen und Kleinbäuerinnen. Ebenso ist die Wiederbelebung der Fernstraße BR-319 geplant, die die Bundesstaaten Amazonas und Rondônia verbindet – genau in der Region, in der es starke Entwaldung gibt. Um Lulas Versprechen einer gerechteren und menschlicheren Welt tatsächlich einzulösen, wird es also nationalen und internationalen Druck brauchen.

Die nächste brasilianische Regierung ist eine große Chance für die Integration, Reindustrialisierung und sozialökologische Transformation der Region und der Stärkung des Mercosur-Blocks. Das agrarwirtschaftliche Modell der Region wirkt sich negativ auf alle Biome aus, nicht nur in Amazonien. Es sind Konzerne wie Bayer und BASF, die mit dem Export von Pestiziden und transgenen Arten davon profitieren. Sie sind es auch, die den Abschluss des neoliberalen EU-Mercosur Freihandelsabkommens gemeinsam mit den brasilianischem Agrarkonzernen vorantreiben. Dieses steht der sozialökologischen Entwicklung der Region jedoch entgegen. Die EU-Kommission und wahrscheinlich auch eine unter Druck stehende brasilianische Regierung werden den kolonialistischen Vertrag als grün darstellen, obwohl die Auswirkungen für Brasilien verheerend wären.

Auch wenn die sozialen Bewegungen Brasiliens mit der Wahl Lulas einen Sieg gegen eine faschistische Gegenbewegung errungen haben, ist man sich sicher, dass auch weiterhin Druck ausgeübt werden muss. Dabei erwarten sie die verantwortungsbewusste Solidarität der Zivilbevölkerung besonders in Europa.

Eine längere Fassung dieses Artikels erschien am 23. November 2022 bei Jacobin

SCHLUCHZEN, BETEN, AUTOBAHN BLOCKIEREN

Bolsonarist*innen blockieren Autobahnen Sie fordern ein Eingreifen des Militärs (Foto: Agência Brasil)

Wie der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro auf einen Wahlsieg seines Kontrahenten Lula da Silva reagieren würde, war die bange Frage vieler Brasilianer*innen vor und nach der Präsidentschaftswahl am 30. Oktober. Nicht wenige erwarteten zumindest einen ähnlichen Putschversuch, wie ihn Bolsonaros Vorbild Donald Trump am 6. Januar 2021 mit dem Marsch auf das Kapitol in Washington initiiert hatte. Doch nach dem Sieg von Lula passierte erst einmal: nichts. Keine Gratulation an den politischen Gegner, keine Stellungnahme des amtierenden Präsidenten am Wahlabend, nicht einmal Vorwürfe des Wahlbetrugs. Stattdessen meldete Bolsonaros Sprecher, lange nach Lulas Siegesrede, der Präsident sei nach der amtlichen Bekanntgabe der Ergebnisse „zu Bett gegangen”.

Danach: wieder nichts. Zwei lange Tage und Nächte wartete das Land, bis der Präsident sich erklärte. Seine Stellungnahme dauerte dann insgesamt unter zwei Minuten. In wenigen dürren Worten dankte er seinen 58 Millionen Wählern und erklärte, immer innerhalb der Verfassung gehandelt zu haben. Die „aktuellen Proteste einer sozialen Bewegung“ seien Ausdruck der Empörung darüber, wie der Wahlprozess verlaufen sei. Friedliche Proteste seien immer willkommen. Es sei jedoch wichtig, sich nicht „wie die Linke“ zu verhalten, die Eigentum zerstöre und das Recht einschränke, sich frei zu bewegen.

Von der offiziellen Anerkennung seiner Wahlniederlage kein Wort. Die Zusicherung der Machtübergabe überließ er seinem Kanzleramtsminister Ciro Nogueira, der noch weniger sagte. Voraussichtlich wird Bolsonaro im Januar nicht an der offiziellen Amtseinführung von Lula teilnehmen und auch darauf verzichten, ihm die Präsidentenschärpe umzulegen: ein symbolischer Akt des friedlichen Machttransfers. Auch Vizepräsident Hamilton Mourão, ein ehemaliger General, wird für die Zeremonie vermutlich nicht zur Verfügung stehen. Die Rechte verlegt sich auf Symbolpolitik.

Seit dem 1. November hat Bolsonaro nicht ein einziges Mal öffentlich gesprochen und nur sehr wenige offizielle Termine wahrgenommen. So wird seine Teilnahme an einer Zeremonie für Militärs am 5. Dezember selbst bei CNN Brasil zur Nachricht: „Bolsonaro hat geweint!“ In den sozialen Medien zirkuliert ein Video von einer öffentlichen Veranstaltung, bei der Hamilton Mourão ihn auffordert: „Sprich zu deinen Leuten!“ und Bolsonaro nur den Kopf schüttelt.

Vom „Mythos“ allein gelassen

Den ohnehin reichlich kursierenden Verschwörungstheorien gibt dieses Verhalten täglich neuen Stoff für Spekulationen. Eine der häufigeren: Der echte Präsident sei ersetzt worden durch einen Klon / einen Doppelgänger / einen Außerirdischen. Dass Bolsonaro praktisch von der Bildfläche verschwunden ist, seine Anhänger*innen weder in seinem eigenen Videokanal noch öffentlich anstachelt, tröstet, ermutigt oder zum Putsch aufruft, ist für sie Beweis genug für diese Theorie. Könnte ihr „Mythos“ sie so alleinlassen?

Bereits am Wahlabend wurden Szenen der abgrundtiefen Verzweiflung von Bolsonaros Anhängerschaft überall geteilt. Gruppen in gelben Trikots beteten schluchzend und auf Knien: „Herr erlöse dieses Land, hilf uns!“ Später teilten Einzelpersonen unter Tränen ihre Enttäuschung, oft religiös verbrämt, oft absurd. Wie im vielfach geteilten Video einer Frau, die zunächst den – auch zu dieser Jahreszeit nicht unüblichen – Regen filmte und dann erklärte, dass Gott über das Wahlergebnis weine. Lulas Aufrufen zur nationalen Versöhnung zum Trotz wurden die Verzweiflungsakte von PT-Anhänger*innen und auf Youtube voller Freude hämisch und erleichtert kommentiert.

Bolsonarist*innen blockieren Autobahnen Sie fordern ein Eingreifen des Militärs (Foto: Agência Brasil)

Weniger harmlos als die Betenden in gelben Trikots waren die zeitweise mehr als 190 Straßenblockaden durch Lkws, die in fast allen Bundesstaaten von Bolsonarist*innen nach der Wahl auf den Bundesstraßen errichtet wurden. Die Blockaden wurden von der Autobahnpolizei (PRF) zunächst geduldet, obwohl sie als Protest gegen eine legitime Wahl illegal waren und dort auch offen zum Putsch des Militärs aufgerufen oder der Hitlergruß gezeigt wurde. Die PRF hatte bereits am Wahltag versucht, tausende von Wähler*innen im Nordosten des Landes von den Wahlurnen fernzuhalten, indem sie stundenlang Kontrollen auf den Autobahnen durchführte. Erst eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes (STF), der die PRF dazu verpflichtete, die Lkws innerhalb von 24 Stunden zu räumen, und den Leiter der PRF, Silvinei Vasques, persönlich mit einer Strafe von 100.000 Reais pro Stunde dafür haftbar machte, versetzte die Autobahnpolizei in Aktion.

Obwohl die Straßensperren langfristig Versorgungsengpässe hervorgerufen hätten, überwog in der Öffentlichkeit das Gespött. So lachte zumindest das halbe Land über den Bolsonaro-Fan im gelben T-Shirt, der sich an der Front eines Lkws festklammerte, während dieser mit erheblicher Geschwindigkeit aus einer Blockade herausfuhr. Das spektakuläre Handyvideo des Lkw-Fahrers ging bei Twitter viral und die Produktion zahlreicher Memes folgte sofort.

Aktuell hat sich der harte Kern der Bolsonarist*innen auf Mahnwachen vor Kasernen verlegt, bei denen – zeitweise von Tausenden, gerne auch auf Knien und begleitet von Vaterunser und Ave Maria – eine militärische Intervention gefordert wird. Dass das Militär sich bis heute „nicht loyal und patriotisch verhalte“, sondern die Legitimität der Wahl bestätigt hat, wird unter anderem damit erklärt, dass Saddam Hussein es gekauft habe. Auch um den ständigen Regen, der die Proteste unter Wasser setzt, ranken sich Verschwörungstheorien.

Letzter Ausweg: Lichtsignale ins All

Es trendet der Hashtag #BraszilWasStolen. Die ganz Verzweifelten versammelten sich am 20. November in Porto Alegre, um Lichtsignale ins All zu senden: Ein SOS mit Handytaschenlampen sollte die Hilfe von Außerirdischen mobilisieren.

„UM GANHO PARA ALÉM DO BRASIL“

Für die deutschsprachige Version hier klicken.

No Brasil, mulheres negras são, com 28 % da população, o maior grupo demográfico do país. Porém, depois da última eleição de 2018, elas ocupavam menos de 2% de cadeiras no congresso nacional. A questão da representatividade melhorou depois dessa eleição?
Não tivemos grandes mudanças. Passamos de 2,3% para 2,5%. Então ainda estamos no mesmo patamar. Nessas eleições, apesar de muitas mulheres negras terem sido eleitas, não são todas comprometidas com a agenda anti racista. Muitas vezes são asociadas com partidos de direita, são Bolsonaristas. Isso pode ser explicado com o fato que houve uma mudança na legislação eleitoral para impulsionar essas candidaturas de pessoas negras, os partidos se aproveitarem dessas regras e assim conseguirem mais recursos para o financiamento de campanhas.

Nessa eleição, o Mulheres Negras Decidem apoiou 27 mulheres negras com uma agenda políticaprogressista nas suas candidaturas, uma em cada estado brasileiro e também no Distrito Federal. Essas mulheres conseguiram se eleger?
Tivemos bons resultados, muitas delas receberam muitos votos. Mas das 27, infelizmente só duas foram eleitas, a Laura Sito do PT e a Camila Valadão do PSOL. Como mulher jovem negra, a Laura por exemplo conseguiu mais de 30.000 votos na eleição para a Assembleia Estadual no Rio Grande do Sul, um estado que historicamente tem muitas questões com racismo.

Vocês estão satisfeitas com esse resultado?
Em termos de quantidade de candidatas que foram eleitas é bem abaixo do que era esperado, considerando toda mobilização de centenas de grupos que apoiaram candidaturas negras. Mas as candidatas apoiadas pelos movimentos que se elegerem são pessoas que chegarão na próxima legislatura muito fortalecidas e com um apoio da sociedade civil. Elas vão precisar reverter alguns dos atrasos que foram aprovados em termos de legislação no governo Bolsonaro. Elas chegam muito fortes nesse sentido mesmo se não são tantas como nós queríamos. Nunca existiu uma mobilização tão forte quanto nessas eleições.

Como você se explica que a mobilização foi maior esse ano?
A sociedade brasileira se deu conta de que transformações sociais profundas só são possíveis fazendo política. O jeito com que Bolsonaro lidou com a pandemia mostrou a desigualdade no acesso de direitos que existe no Brasil. Isso mostrou a urgência de ter representantes com um perfil mais popular para atender as demandas da maioria da população.

Porque é necessário apoiar candidaturas de mulheres negras? 
São mulheres que têm perfis políticos muito fora do comum, de movimentos sociais de base, de religiões de matriz africana, mulheres quilombolas. Para essas mulheres não é fácil participar de uma disputa, primeiro dentro dos partidos e depois na campanha política em si. Porque os projetos políticos delas se preocupam com o aprofundamento da democracia e questionam o poder como ele está estabelecido. Então elas são muito atacadas. Ao mesmo tempo, votar nelas é uma coisa boa para todo mundo porque uma vez eleitas, elas produzem políticas públicas que são do interesse de todos.

Você pode dar um exemplo?
Um exemplo seria a recém eleita Deputada Estadual Laura Sito que defende agendas consideradas prioritárias pelos eleitores no Brasil, como a educação. Mas a Laura fala de uma educação inclusiva, anti racista e emancipadora. 

Como você está se sentindo depois do suspense que era o segundo turno da eleição?
Estou menos preocupada do que estava antes do segundo turno. As forças armadas não estão tão dispostas contra a democracia e a constituição como nós imaginávamos. As instituições reconheceram o resultado e os protestos golpistas têm sido condenados não só pelo TSE mas também pelo STF, pelo Congresso e também pelamídia. Vencemos a etapa institucional mas me preocupo com o reconhecimento pela população. Temos uma quantidade significativa de pessoas nas ruas defendendo atos golpistas e antidemocráticos. É uma disputa de mais longo prazo que depende das lideranças democráticas fortes nas assembléias regionais e no Congresso, de movimentos de base fortes para a politização das novas gerações e a recuperação do debate público das questões do dia a dia. 

Isso significa que o Bolsonarismo vai permanecer?
A extrema direita cresceu e se organizou durante o governo Bolsonaro. Mas ela vai bem além do Bolsonaro e da família dele, como também dos seus apoiadores políticos. Essas ideias autoritárias são uma questão global que encontrou um terreno muito fertil no Brasil.

Os governadores que foram eleitos em São Paulo, Minas Gerais e Rio de Janeiro estão bem próximos aBolsonaro. Isso dificulta o trabalho de movimentos e grupos sociais como o Mulheres Negras Decidem?
Nesses estados os movimentos já têm muita força, estrutura e recursos. O nosso desafio continua sendo principalmente em regiões nordestinas, norte e principalmente no Centro Oeste onde as estruturas são mais fragilizadas. 

Como os 51% dos brasileiros que foram votar e votaram no Lula deveriam lidar com os 49% das pessoas que votarem no Bolsonaro?
Isso será um grande desafio. O Presidente eleito Lula tem esse perfil de união e reconciliação, mas ele precisará muito da ajuda dos movimentos sociais para recuperar esse tecido social e promover unidade no Brasil. Quem apoia o Bolsonaro entende a importância da política também. Mas seus eleitores acreditam que existe uma luta do bem contra o mal. A questão agora é trabalhar para que essa compreensão seja desfeita. Trazer essas pessoas de volta para o debate sobre a realidade concreta que é uma dificuldade não só para os 49% mas para todo mundo. A realidade do brasileiro em média é de muita precariedade. Quanto mais cedo a gente conseguir voltar a discutir questões práticas do nosso dia a dia, para melhorar a situação de todo mundo, mais facilmente vamos conseguir lidar com essas diferenças.

O Presidente-eleito Lula precisará do apoio dos movimentos sociais. Vários grupos apoiaram a campanha dele, mas falam que vão virar oposição no momento em que ele tomará posse. Como seu governo poderia dar certo então?
No primeiro ano, os movimentos de base que apoiarem o Lula vão estar muito junto do governo. Vai ser um ano de reconhecimento do tamanho dos estragos que aconteceram e de planejar estratégias para reconstrução. Agora tudo vai depender muito de como vai ficar a configuração desse novo governo. Já saíram críticas sobre a configuração do grupo que está fazendo a transição do governo. Há poucas mulheres, não há pessoas negras. Ainda faltam alguns meses até o Lula anunciar os ministros. Será importante incluir mulheres, negros e indígenas. Isso aumentaria as possibilidades da cooperação entre governo e sociedade civil.

Quais são as suas expectativas para o novo governo Lula?
Essa questão da composição ministerial com muitas mulheres. Em cima disso, será importante, principalmente nos orgãos que cuidam da questão do enfrentamento do racismo, que ele coloque pessoas com perfil alinhado a agenda histórica dos movimentos negros. O Lula tem que escutar essas as sugestões que está recebendo para os cargos de confiança, como por exemplo, a Deputada Erica Malunguinho, uma mulher negra trans, para a Secretaria de Promoção da Igualdade Racial ou para a Fundação Palmares.

Qual foi o papel das mulheres nessas eleições?
Elas tinham um papel principalmente no trabalho de base. O número das abstenções diminui no segundo turno e as mulheres tiveram um papel muito importante nessa decisão de outras pessoas da família irem votar. Graças a elas o Lula também mudou o foco na campanha e falou mais sobre o futuro, oportunidades para os jovens. Esse grupo, entre 18 e 35 anos, estava muito em dúvida se era para votar no Lula ou Bolsonaro, mas votaram no Lula no segundo turno.

Também teve quase um quarto da população com direito a voto que não votou, votou nulo ou branco. Isso sinaliza que a democracia brasileira está em crise?
É um reflexo da crise de representatividade e de confiança nas instituições que está acontecendo pelo menos nos últimos dez anos. Uma parcela grande está desacreditada de qualquer possibilidade de mudança e uma outra é impossibilitada de participar do processo político porque está em situação de grande vulnerabilidade. 

Qual será o efeito dessa eleição no âmbito global?
Com a volta do governo Lula conseguimos recuperar questões que são de política global, especialmente em relação a região amazônica, mas também em saúde, direitos humanos e mediação de conflitos que são agendas que o Brasil liderava. Isso é um ganho para além do Brasil.

LULA IST ZURÜCK

Schon immer gewusst Richter erklärt Verurteilung von Lula (PT) für ungültig

Die Entscheidung war ein Paukenschlag und ändert die politische Landschaft in Brasilien fundamental: Richter Edson Fachin vom Obersten Bundesgerichtshof (STF) entschied, dass die bisherigen Prozesse und Verurteilungen des ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva ungültig sind. Wie während der gesamten Ermittlungen und Verfahren gegen Lula vermischen sich auch bei diesem neuen Urteil untrennbar juristische und politische Aspekte. Formal hat Fachin entschieden, dass die Kammer von Curitiba für den Prozess nicht zuständig war. Eine wahrlich späte Erkenntnis, die nur durch den Kontext verständlich wird. Die juristische Verfolgung des ehemaligen Präsidenten ist untrennbar mit dem Richter Sergio Moro verbunden, der ebenfalls in Curitiba wirkte. Er hatte den Prozess gegen Lula im Rahmen der von ihm geleiteten Korruptionsermittlungen – berühmt geworden unter dem Namen „Lava Jato“ (Autowaschanlage) – an sich gerissen und wurde zu seinem unerbittlichen Verfolger. Dies brachte ihm Ruhm und das Amt des Justizministers unter Präsident Jair Bolsonaro ein. Moro wurde zu einer Galionsfigur der Rufmordkampagne gegen Lula und seine Arbeiterpartei PT. Er hatte maßgeblichen Anteil daran, dass der antipetismo, also die Fixierung auf die PT als den großen Feind, zu einer zentralen politischen Kraft wurde. Damit wurde Bolsonaro für einen Teil des bürgerlich-konservativen Lagers wählbar.

Moro galt lange als möglicher Nachfolger Bolsonaros. Inzwischen aber ist sein Stern gesunken und sein Saubermann-Image beschädigt. Zunächst wurde er von Bolsonaro entlassen, weil er verschiedene Personalentscheidungen nicht mittragen wollte, die eine Entmachtung der Lava-Jato-Ermittler*innen bedeuteten. Und nun sind in den vergangenen Monaten weitere Aufzeichnungen von Gesprächen aufgetaucht, die deutlich zeigen, dass es Moro und seinem Team nicht um Rechtsfindung ging, sondern um bedingungslose Verfolgung, die auch vor Rechtsbeugung nicht zurückschreckt. Dies hatten Lula und die PT immer wieder gesagt – nun ist es dokumentiert.

Da im ganzen Kontext von Lava Jato die Wahrheit eine untergeordnete Rolle spielt, dürfte für die überraschende Wendung noch ein anderer Umstand ausschlaggebend sein: Im politischen System Brasiliens hat sich ein weitgehender Konsens entwickelt, dass nun mit Lava Jato und den ganzen Korruptionsentwicklungen einmal Schluss sein muss. Kurioserweise hat dies damit zu tun, dass einige Ermittlungen auch die Familie Bolsonaro erreichen, und Bolsonaro nun dringend darauf angewiesen ist, das Lava-Jato-System, das so wichtig für seine Wahl war, schleunigst zu entsorgen. Mit der Entmachtung Moros und seines juristischen Teams hat sich eine Gemengelage herausgebildet, die die Aufhebung der Prozesse gegen Lula unabweisbar, zumindest aber logisch machte.

Allerdings ist nicht klar, ob damit wirklich das letzte Wort gesprochen worden ist. Es ist noch ein weiterer Prozess gegen Lula anhängig und der Prozess, der zu seiner Verurteilung führte, ist nicht begraben, sondern nur an die Kammer von Brasília überwiesen worden. Die meisten Beobachter*innen gehen aber davon aus, dass die Ermittlungen gegen Lula nun durch die Rechtsbrüche Moros dermaßen kompromittiert sind, dass eine neue Verurteilung Lulas eher unwahrscheinlich ist. Was bleibt, ist eine bestürzende Blamage des brasilianischen Justizsystems und die nicht mehr zu leugnende Erkenntnis, dass die Wahl von 2018, die Bolsonaro in das Präsidentenamt brachte, durch einen Justizskandal erheblich beeinflusst wurde.

Die Annullierung der Verfahren und Urteile gegen Lula kommt zu einem brisanten Zeitpunkt. Die Covid-19-Krise hat Brasilien voll im Griff, die Todeszahlen lagen im April bei unfassbaren 3000 Fällen täglich, die Impfungen kommen nicht recht voran und nun sinkt auch endlich die Popularität Bolsonaros. Zu offensichtlich ist das Regierungsversagen. Die wirtschaftliche Lage ist desolat, die Arbeitslosigkeit hat neue Rekordhöhen erreicht. Die Präsidentenfamilie wird mit immer neuen Enthüllungen über Korruption und Verbindung zu Milizen in den Fokus gerückt. Bolsonaro wird zunehmend nervös und hat durch eine Regierungsumbildung auch Teile ranghoher Militärs gegen sich aufgebracht. All dies bietet einen idealen Kontext, um Lula als Präsidentschaftskandidaten aufzubauen.

Mögliche Zweifel, ob Lula tatsächlich bei den Wahlen antreten will, sind inzwischen wohl ausgeräumt. Er selbst hat erklärt, dass er sich mit seinen 75 Jahren topfit fühle und der US-Präsident Joe Biden bei seiner Wahl älter war als Lula 2022 sein werde. PT-nahe Publikationen veröffentlichen erste Umfragen, die zeigen sollen, dass nur Lula Bolsonaro schlagen könne. „Lula ist der stärkste Kandidat, um Bolsonaro zu schlagen und den Faschismus aus Brasilien zu verscheuchen“, titelte Brasil 247, ein der PT nahestehendes Portal. Aber auch die konservative, wirtschaftsnahe Folha de São Paulo fasst eine Umfrage vom März mit den Worten zusammen: „Nur der Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva scheint mehr politisches Kapital zu haben als der aktuelle Amtsinhaber, Jair Bolsonaro.“

Diese Überzeugung wird zunehmend zu einem realen, politischen Faktor. Die erste Konsequenz wird sein, dass Perspektiven, andere Kandidat*innen aus dem linken Lager aufzubauen, unwahrscheinlich werden. Alle Überlegungen, ob es nun an der Zeit ist, die Hegemonie der PT in der Linken zu überwinden, werden obsolet. Mit einem Kandidaten Lula und der Aussage, dass nur er Bolsonaro schlagen könne, wird die PT nicht daran rütteln lassen, Lula auch wirklich aufzustellen. Denn damit gibt es keinen Grund mehr für eine „argentinische Lösung“, also für den Verzicht zugunsten eines anderen Kandidaten oder einer Kandidat*in, die weniger Ablehnung provozieren. Aus der Sicht des PT-Lagers verliert der antipetismo zusehends an Kraft – und gerade Lula ist die politische Figur, die am besten dazu geeignet scheint, ihn zu überwinden. Schließlich beendete er seine zweite Amtszeit mit sehr hohen Zustimmungsraten. Dies begünstigt das Narrativ, das ganze politische Dilemma des Landes habe erst nach Lula begonnen. Von allen Kandidat*innen der PT hat kurioserweise Lula das größte Potential, sich von der PT abzulösen. Schon seit vielen Jahren geht daher in Brasilien das Schlagwort des „Lulismo“ um. Dieser ist seit der Freilassung von Lula Ende 2019 so lebendig wie nie.

Und noch ein anderer Umstand spricht für die Kandidatur von Lula als Präsidentschaftskandidat der PT: Es kann fast als politisches Naturgesetz in Brasilien gelten, dass der amtierende Präsident bei Präsidentschaftswahlen in die Stichwahl kommt. Und das zweite Gesetz lautet, dass die Kandidat*innen der PT immer in die Stichwahl gelangen. Seit den ersten Wahlen nach dem Ende der Militärdiktatur im Jahre 1989 war dies jedenfalls so.

Die damit sich abzeichnende erneute Polarisierung zwischen der PT und Lula auf der einen sowie Bolsonaro auf der anderen Seite ist eine große Herausforderung für das Mitte-Rechts-Lager, das in dem Niedergang Bolsonaros seine Chance sieht. Doch dieses Lager ist extrem zersplittert und besitzt eine Vielzahl von potentiellen Kandidat*innen, ohne dass jemand bisher herausragt. Bemerkenswert ist allerdings, dass sechs mögliche Kandidaten einen gemeinsamen Brief zum Jahrestag des Militärputsches am 1. April veröffentlichten. Dieser offene Brief ruft zur Verteidigung der Demokratie in Brasilien auf. Zu den Unterzeichnern gehören drei Personen, die als aussichtsreichste Anwärter auf eine Kandidatur gelten: João Doria (Gouverneur von São Paulo), Ciro Gomes (dritthöchste Stimmenzahl bei den letzten Präsidentschaftswahlen) und Luciano Huck, ein populärer Fernsehmoderator, der vor allem von dem mächtigen Medienkonzern Globo als unabhängiger Kandidat aufgebaut wird. Es fehlt der Name von Sergio Moro, der trotz seiner Demontage bei den jüngsten Umfragen auf relativ gute Zustimmungswerte kam.

Gerade für dieses Mitte-Rechts Lager ist die mögliche und jetzt sogar wahrscheinliche Kandidatur Lulas ein großes Problem. Denn ihr entscheidendes Argument ist, dass nun die Dichotomie PT – Bolsonaro überwunden werden muss, und zwar durch einen Kandidaten des demokratischen Lagers, der nicht den antipetismo hervorruft, der so wichtig für den Sieg Bolsonaros war. Wenn die Umfragen nun aber zeigen, dass Lula der aussichtsreichste Kandidat nicht nur der Linken, sondern des gesamten politischen Spektrums ist, um Bolsonaro zu schlagen, dann verliert dieses Argument an Kraft.
Hinzu kommt, dass der angeschlagene Bolsonaro durchaus leichter zu besiegen ist als 2018. Die Bekämpfung der Korruption wird kein wichtiges Wahlkampfthema sein, zu sehr ist der Bolsonaro-Clan in Skandale verwickelt. Das Corona-Desaster ist offensichtlich und Bolsonaro kann nicht mehr als Mythos und unbeschriebenes Blatt antreten, auf das sich alle Wünsche und Erwartungen projizieren lassen. Er hat nun eine Geschichte. Überraschend und bestürzend ist, dass trotz seiner desaströsen Bilanz Bolsonaros Popularität zwar sinkt, aber keineswegs ins Bodenlose. Die jüngste Umfrage von Anfang April zeigen Lula (29 Prozent) und Bolsonaro (28 Prozent) praktisch gleichauf. Andere Kandidaten wie Ciro Gomes oder Sergio Moro bleiben unter 10 Prozent. In einer Stichwahl würde Lula mit 42 Prozent vor Bolsonaro mit 38 Prozent liegen.

Die ersten Äußerungen Lulas nach der Annullierung seiner Verurteilungen zeigen, dass er sich als Kandidat einer nationalen Versöhnung nach Bolsonaro profilieren will. In einem großen Interview mit dem Spiegel Anfang April verweist er explizit auf die Erfahrung seiner ersten Wahl zum Präsidenten im Jahre 2002. Damals sei es ihm gelungen, mit einem Unternehmer als Vizepräsidenten einen Pakt zwischen Kapital und Arbeit zu schmieden. Dies gelte es nun zu wiederholen. Lula will sich so als Mitte-Links-Kandidat profilieren, und Stimmen aus dem bürgerlichen Lager anziehen. Von links droht ihm ohnehin keine Gefahr. Er will vielmehr die alte Parole „Lula – Paz e Amor“ (Frieden und Liebe) wiederbeleben. Die Perspektive ist die Wiederherstellung einer kapitalistischen Normalität mit aktiven Sozialprogrammen – aber keine umfassende gesell­schaftliche Transformation. Dennoch – die erste Reaktion „der Märkte“ war bemerkenswert. Der brasilianische Börsenindex sank nach der Entscheidung über die Annullierung der Urteile gegen Lula um 3,8 Prozent. Die Corona-Toten und die Gefährdung der Demokratie scheinen „die Märkte“ weniger zu beunruhigen als die mögliche Rückkehr Lulas in das Präsidentenamt.

FREIHEIT FÜR LULA

Am Ende ging alles sehr schnell: Am 7. November hatte der Oberste Brasilianische Gerichtshof (STF) mit sechs zu fünf Stimmen überraschend dafür votiert, eine Entscheidung von 2016 wieder aufzuheben. Diese erlaubte eine Haftanordnung nach der Verurteilung in zweiter Instanz, obwohl damit nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft sind. Damit änderte sie die vorherige – und auch von Linken scharf kritisierte – Rechtspraxis, die es verurteilten Täter*innen oft ermöglichte, jahrelang in Freiheit zu leben. Und sie erlaubte die Verhaftung von Lula da Silva im April 2018 (siehe LN 526) nach seiner umstrittenen Verurteilung in zweiter Instanz.
Seither hatten Lulas Anwälte alle juristischen Hebel in Bewegung gesetzt, um seine Entlassung durchzusetzen. Weite Teile der linken Opposition in Brasilien, allen voran die Arbeiterpartei PT, erhob die Forderung „Lula Livre!“ (Freiheit für Lula) zur obersten Priorität ihrer politischen Agenda. Erst nach 580 Tagen Haft, aber weniger als 24 Stunden nach der Entscheidung des STF, konnte eine begeisterte Menge Lula da Silva in Freiheit in Curitiba feiern. Seine Anhänger*innen hatten während der gesamten Inhaftierung eine Mahnwache in seiner Hörweite organisiert.
In seiner ersten Rede würdigte Lula alle Unterstützer*innen: „Jeden einzelnen Tag habt ihr die Demokratie genährt, die ich gebraucht habe, um dem verdorbenen Teil des brasilianischen Staates Widerstand zu leisten.“ Er versprach, sein restliches Leben der Aufgabe zu widmen, diese Solidarität zurückzugeben, und den politischen Kampf sofort mit aller Entschlossenheit wieder aufzunehmen.
Die Entlassung von Lula da Silva ist nur vorläufig und bedeutet keine Aufhebung des umstrittenen Urteils zur angeblichen Korruption durch eine Luxuswohnung, dem Tríplex in Guarujá. Er wurde in diesem Fall in zweiter Instanz zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Gegen ihn sind außerdem weitere Anklagen anhängig.
Präsident Jair Bolsonaro hüllte sich zunächst in Schweigen, was die Presse kritisierte. Erst am folgenden Tag rief er dazu auf „diesem Dreckskerl keine Munition zu liefern“. Die rechte Regierungskoaliton sieht durch die Entscheidung „die Demokratie gefährdet“ und kündigte an, diese durch neue Gesetze rückgängig zu machen. Auch der Sozialdemokrat Ciro Gomes (PDT) kritisierte den STF.
Bei der PT sind die Hoffnungen hingegen grenzenlos, besonders für die Kommunalwahlen im Oktober 2020. Mit Lulas Unterstützung hofft die Partei, interne Rivalitäten zu überwinden und die Wahlen zu gewinnen. Zum Redaktionsschluss versammelt sich vor der Zentrale der Metallgewerkschaft in São Bernardo do Campo eine völlig euphorische Menge, die den direkten Kontakt mit Lula sucht. Aus ganz Brasilien kommen weitere Menschen, um an diesem „historischen Moment“ teilzuhaben.

 

KORRUPT SIND IMMER DIE ANDEREN

Waschechter Skandal Sergio Moro ist sein Saubermann-Image erst mal los // Foto: PT via flickr.com CC BY 2.0

Sergio Moro bekommt seine eigene Medizin zu kosten. Im März 2016 hatte der ehemalige Bundesrichter und jetzige Justizminister Audio-Mitschnitte von Telefongesprächen zwischen dem ehemaligen Präsidenten Lula da Silva und dessen Amtsnachfolgerin Dilma Rousseff an die Presse weitergegeben. Es ging mutmaßlich um die Möglichkeit, Lula da Silva einen Ministerposten als Kabinettschef und damit Immunität zu verschaffen. Die Veröffentlichung trug wesentlich dazu bei, dass sich die öffentliche Meinung gegen die Regierung der Arbeiterpartei PT richtete und diese als Hauptschuldige im Korruptionsskandal Lava Jato angesehen wurde.
Nun ist Moro derjenige, dessen politische Laufbahn durch geleakte Kommunikation kompromittiert wird. Die Nachrichtenplattform The Intercept von Glenn Greenwald – mehrfach ausgezeichneter Investigativjournalist und international bekannt durch seine Zusammenarbeit mit dem Whistleblower Edward Snowden – publizierte seit dem 9. Juni zweimal Textnachrichten und einmal Audio-Mitschnitte, die Moro als Bundesrichter mit Staatsanwälten über den Messaging-Dienst Telegram ausgetauscht hatte. Das Material war The Intercept bereits Wochen zuvor von einer anonymen Quelle zugespielt worden. Laut Greenwald ist es äußerst umfangreich und beinhaltet außer privaten und beruflichen Nachrichten sowie Audioaufnahmen auch Videos, Fotos und juristische Dokumente. The Intercept habe alle veröffentlichten Dokumente unter Heranziehung von digitalen Spezialist*innen vor der Veröffentlichung auf das Genaueste auf ihre Authentizität und Stichhaltigkeit geprüft, betonte Greenwald am 11. Juli vor der parlamentarischen Kommission für Verfassung und Justiz in Brasilien.

Moro unterrichtete die Staatsanwälte vorab von seinen Entscheidungen und beriet sie strategisch

Die Chats aus der ersten Publikation stammen aus einer Gruppe von verschiedenen Bundesanwälten und der direkten Kommunikation zwischen dem Bundesstaatsanwalt Deltan Dallagnol und Sergio Moro aus den Jahren 2015 bis 2018. Darin gibt Richter Moro direkte Anweisungen und Ratschläge an die Staatsanwaltschaft, um Lula da Silva möglichst noch vor der Wahl im Oktober 2018 in Haft zu bringen. Dies ist ein äußerst brisantes Politikum, weil Sergio Moro als Bundesrichter den ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva wegen Korruption zu einer Haftstrafe von neuneinhalb Jahren verurteilte. Dadurch wurde der Kandidat der Arbeiterpartei PT, der zum Haftantritt im April die Umfragen zur Präsidentschaftswahl im Oktober 2018 mit großem Vorsprung anführte, ausgeschaltet.
Die brasilianische Linke und internationale Beobachter*innen verurteilten das Vorgehen der Justiz im Korruptionsfall Lava Jato als politisch motiviert. Diese Vorwürfe bestritten Moro und die beteiligten Staatsanwälte stets. „Man hört viel Gerede über die ‚Untersuchungsstrategie von Moro‘. Ich habe keine Untersuchungsstrategie“, beteuerte Moro in einer Rede im März 2016. „Die Leute, die die Untersuchungen leiten und die Entscheidungen treffen sind die Staatsanwaltschaft und die Bundespolizei. Der Richter reagiert nur.“ Der zuständige Bundesstaatsanwalt Deltan Dallagnol schrieb in einem Tweet vom 25. April 2019: „Noch einmal, die Arbeit der Bundesstaatsanwaltschaft im Fall Lava Jato ist technisch und unparteiisch, und verfolgt egal wen, der Verbrechen im Zusammenhang mit dem Mega-Korruptionsfall bei Petrobras begangen hat.“
Die geleakten Dokumente auf The Intercept zeichnen ein anderes Bild. „Die Chats zeigen dass die Staatsanwälte nicht unpolitisch und unparteiisch sind, sondern anscheinend ideologisch motiviert handelten und versuchten, die Rückkehr der Arbeiterpartei PT an die Regierung zu verhindern“, kommentierten Glenn Greenwald und Victor Pougy. Richter und Staatsanwaltschaft kommunizierten, als gehörten sie zum selben Team. Demnach unterrichtete Moro die Staatsanwälte vorab von seinen Entscheidungen, beriet sie strategisch, wen sie zuerst verfolgen sollten, gab Informationen weiter und half bei der Erstellung von Strafverfolgungsakten. Einmal kritisierte er sogar Dallagnol wegen eines Patzers, so als sei er dessen Vorgesetzter. Auch die Weitergabe des Telefongesprächs zwischen Lula da Silva und Rousseff vom März 2016 sprachen Richter und Staatsanwaltschaft miteinander ab, wobei sie im Chat zugaben, dass dies eigentlich illegal sei. Zur Anklage gegen Lula da Silva äußerten die Staatsanwälte in den Chats schwere Zweifel, ob die Beweislast ausreiche. Öffentlich versicherten sie aber stets die Stichhaltigkeit ihrer Anklage gegen den ehemaligen Präsidenten. Auch nach der Inhaftierung Lula da Silvas nahmen die Staatsanwälte mutmaßlich Einfluss auf die Wahlen. Durch Klagen versuchten sie zu verhindern, dass er aus der Haft heraus ein Interview gab – angeblich um laufende Ermittlungen zu schützen. Nach der Wahl berief der neu gewählte Präsident Jair Bolsonaro dann Sergio Moro zu seinem Justizminister.
Sergio Moro reagierte auf die Leaks mit Ausflüchten: Sein Telegram-Account sei gehackt worden, die Kommunikation gefakt. Er könne sich an die Gespräche nicht mehr genau erinnern, da sie schon vor Monaten geführt worden seien. Gespräche zwischen Richtern und Staatsanwalt seien normal, er habe sich nichts zuschulden kommen lassen. Er habe die Chats gelöscht, daher könne er sein Telefon nicht der Polizei vorlegen, um zu beweisen, dass es sich um Fakes handle.
Präsident Bolsonaro traf sich mit Moro am Tag nach den Leaks zu einem 40-minütigen Vieraugengespräch, um ihn danach zur Verleihung des höchsten Ordens der Marine zu begleiten. Bisher hat er ihm vorbehaltlos den Rücken gestärkt.
Am 19. Juni musste der Justizminister vor dem Senat und am 2. Juli vor dem Kongress zur Task-Force des Lava Jato Rede und Antwort stehen. In den Anhörungen wiederholte er im Wesentlichen die These, dass sein Telegram-Konto gehackt worden sei. Das Material, belege aber, falls es authentisch sei, auf jeden Fall keine kriminellen Handlungen seinerseits.
Ob Sergio Moro eine fortgesetzte scheibchenweise Enthüllung seines Verhaltens während seiner Untersuchungen des Lava Jato-Skandals als Justizminister überleben wird, ist trotz seiner Reputation als „Held im Kampf gegen die Korruption“ fraglich. Zum Redaktionsschluss hatte er jedenfalls „aus privaten Gründen“ Urlaub genommen, der ihm aber auch keine lange Atempause verschaffen wird. Denn Intercept legte am 13. Juli nach: Auch im Tribunal Regional 4, der juristischen Instanz, die die meisten von Moros Richtersprüche in der Causa Lava Jato bestätigt hat, sollen geleakte Chats Absprachen zwischen Richter und Staatsanwalt bestätigen. Für Moro wäre auch diese Enthüllung mehr als pikant: Denn die Bestätigung seiner Urteile durch eben dieses Gericht hatte er bis jetzt als Hauptargument für die Unabhängigkeit seiner Urteilssprüche angeführt. Entspannung für den Justizminister ist also nicht in Sicht, im Gegenteil: Es sieht so aus, als hätte Vaza Jato gerade erst begonnen.

 

DIE 120 TAGE VON SODOM IN BRASÍLIA

Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl

Seit dem Amtsantritt des Präsidenten Jair Bolsonaro verging kaum ein Tag, an dem nicht eine der zu einem demokratischen Gemeinwesen gehörenden Selbstverständlichkeiten von ihm oder seinen Regierungsmitgliedern erst unter Beschuss geriet, dann in schwerem Gewässer ohne Seenotrettung ausgesetzt und damit dem Untergang überlassen wurde. Schon in den ersten Tagen seiner Regierung setzte Bolsonaro mit der Erleichterung des Zugangs zu Feuerwaffen eines seiner Wahlversprechen um. Seit Januar dieses Jahres haben „Bewohner von städtischen Gebieten mit hoher Kriminalität“ sowie „Eigentümer von kommerziellen oder industriellen Geschäften“ die Erlaubnis, sich legal mit bis zu vier Feuerwaffen hochzurüsten. Flankiert wird diese Liberalisierung des Waffengesetzes von einer Lizenz zum Töten.

Die dahinter waltende Exzellenz ist Justizminister Moro, jener Richter, dessen Hauptmission es war, den ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva zu verhaften und ihn damit an der erneuten Kandidatur zum Präsidenten zu hindern, und der dafür mit einem Ministeramt beschenkt wurde. Moro hat rasch eine Justizreform ins Parlament gebracht. Zum Kern dieser „Reform“ gehört die Entkriminalisierung von Tötungsdelikten der Polizei in Fällen von „entschuldbarer Angst, Überraschung und heftigen Emotionen“, falls diese der Erschießung von Banditen (fast immer junge, schwarze Männer) vorausgegangen seien. Dazu soll es dem Gesetzentwurf zufolge ausreichen, wenn die Polizist*innen dies anschließend glaubhaft deutlich machen. Wahre Leidenschaft aus dem ersten der Höllenkreise.

Zeitgleich lässt der neugewählte faschistische Gouverneur von Rio de Janeiro, Wilson Witzel, mit Scharfschützen auf Favela-Bewohner*innen schießen, denen aus hunderten Metern Entfernung beim Blick durch das Zielfernrohr unterstellt wird, sie seien bewaffnet. Mehrere Fälle von Regenschirmen und Bohrmaschinen bezeugen deren Unschuld. Witzel beglückwünschte die Todesschützen. Fehlt nur noch der Orden aus dem Höllenkreis des Blutes.

Demokratisch verfasste Gemeinwesen brauchen eine lebendige Zivilgesellschaft, die Partizipation erkämpft und verteidigt, was der brasilianischen Zivilgesellschaft nach 1988 durchaus gelungen ist. Dem wurde nun de facto ein Ende gesetzt: Sämtliche der bestehenden Beiräte und Partizipationsorgane aller Ministerien wurden mit einem Federstrich abgeschafft, einschließlich staatlicher Organe, die in der Verfassung verankert sind oder durch völkerrechtlich verbindliche internationale Abkommen Rechtssicherheit genießen. Der Klageweg dagegen ist lang und steinig.

Wo die Bolsonaro-Truppe Widerstand mutmaßt, wird die Axt angesetzt. Der Kulturförderung wurde der Garaus gemacht, der Indigenenbehörde der Großteil ihres Etats genommen, und Philosophie und Soziologie sollten an Bundesuniversitäten gar nicht mehr gefördert werden. Bolsonaro will Fächer, die einen konkreten Nutzen haben. Ingenieur*innen haben sich schon immer angepasster an faschistische Systeme gezeigt als Geisteswissenschaftler*innen. Grundsätzlich sollen die Kids der Wohlhabenden die Universität wieder für sich alleine haben. „Die Universitäten sollen für eine intellektuelle Elite reserviert werden“, so der wegen interner Streitigkeiten inzwischen zurückgetretene Bildungsminister Ricardo Vélez Rodríguez. Der Minister ist gegangen, aber das Ziel bleibt: Arme sollen sich der Berufsausbildung widmen oder besser gleich malochen, sie haben an einer Hochschule im Brasilien des Haupt­manns Bolsonaro nichts zu suchen.

Bolsonaro liefert auch die Umsetzung weiterer Wahlkampfversprechen. Seine Hauptunterstützer – die Agrarlobby und die Industrie – rieben sich schon vor seiner Wahl die Hände, denn Bolsonaro will indigenes Land für das Agrobusiness und Bergbaukonzerne öffnen. Der tausendfache Protest der Indigenen, die Ende April das Acampamento Terra Livre, die größte indigene Versammlung zur Verteidigung des Amazonas­gebietes, in Brasília organisiert haben, wird von den militarisierten Bundestruppen der Força Nacional de Segurança Pública in Schach gehalten.

Die Aussortierung der Armen aus der Rentenversicherung, das ist der Plan der lange erwarteten Rentenreform seiner Durchlaucht, dem ultraneoliberalen Wirtschaftsminister Paulo Guedes. Alte Menschen aus dem ländlichen Raum gehören zu den großen Verlierern, die Privilegien bei der Rente der Militärs sind aber aus der Reform herausgenommen. Überhaupt soll die Rentenkasse de facto den Banken übertragen werden: Kapitalgedeckte Altervorsorge heißt der Renner, der schon in Chile die Massen unter das Existenzminimum brachte und den Banken explodierende Börsenwerte verschaffte.

Sollen die Arbeiter*innen im dritten Höllenkreis doch Scheiße fressen.

Brasiliens Arbeiter*innen müssten sich entscheiden, tönte Bolsonaro im Wahlkampf: „Arbeit oder Rechte?“ Die logische Konsequenz aus diesem scheinbaren Gegensatz ist die Schleifung der Gewerkschaften über geschickt angesetzte Rahmenänderungen bei der Gewerkschaftsfinanzierung. Hinzu kommt, dass die Firmen nun – über die Tarifverträge hinweg – individuell mit den Arbeiter*innen verhandeln. Nicht nur wegen dieser Maßnahme freut sich die Wirtschaft über die neue Regierung und deutsche Firmen fühlen sich in Brasiliens Sodom pudelwohl. So sagt zum Beispiel André Clark, CEO von Siemens in Brasilien: „Die Zusammenarbeit zwischen der Regierung und den Unternehmern läuft sehr gut und effizient“. Sollen die Arbeiter*innen im dritten Höllenkreis doch Scheiße fressen. Da schon unter der Temer-Regierung die Arbeitsjustiz dereguliert wurde, fehlte nur noch die logische Fortsetzung der Brutalo-Politik im Lohnbeutel: Der Stopp des Zuwachses des Mindestlohns. Die regelmäßige Erhöhung des Minimalbetrages über die Inflationsrate hinaus gehörte zu den wichtigsten Instrumenten der PT-Regierung zur Armutsbekämpfung und zum sozialen Ausgleich. Ab jetzt wird bei der Erhöhung höchstens die Inflation berücksichtigt und die bindende Kraft des gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohns erheblich eingeschränkt werden – anders ausgedrückt, er gilt nicht mehr in allen Bereichen und Regionen.

Bolsonaro erklärt, „Demokratie und Freiheit gibt es nur, wenn die Armee es so will“. Und erlaubte, dass der Militärputsch von 1964 auf „angemessene Weise“ in den Armeebaracken gefeiert wird – Demokratie als Gnade der Militärs, so versteht die Bolsonaro-Truppe das politische System.Die Ermittlungen um die vielfältigen Verstrickungen des Bolsonaro-Clans in die tiefen Staatsstrukturen der Mafiamilizen kommen nicht voran, wenn sie denn je ernsthaft von den zuständigen Ermittlungsbehörden aufgenommen wurden. „Wer hat Marielle Franco erschossen, und wer gab den Mordauftrag?“, fragen Brasilianer*innen auch ein Jahr nach dem Mord millionenfach. Obwohl die mehr als anrüchigen, direkten Verbindungen der ersten festgenommenen, mutmaßlichen Täter mit dem Bolsonaro-Clan zwar höchste mediale Klickzahlen erreichen, enden sie im juristischen Niemandsland.

Die brasilianische Demokratie und die ohnehin schwache, politische und staatliche Institutionenlandschaft sind täglich in Auflösung begriffen und das ist das eigentliche Programm: „Brasilien ist nicht das Feld, wo wir viele gute Sachen für unser Volk aufbauen wollen. Wir müssen eher viel dekonstruieren“, so Bolsonaro bei seinem Besuch in den USA. Bolsonaros Brasilien ist ein Land mit immer weniger „checks and balances“. Anders sieht das allerdings die Deutsche Bundesregierung: „Wir vertrauen in die Festigkeit der brasilianischen Institutionen“, erklärte jüngst ein über die Einschätzung des Deutschen Außenministeriums informierter Mitarbeiter. Und Außenminister Heiko Maas sieht „gemeinsame Werte“ am walten.

Als Dekonstrukteur stellt sich Bolsonaro auch als Anti-Präsident dar: Er demontiert seine Minister*innen und lässt seinen Guru, den selbst ernannten Philosophen Olavo de Carvalho aus den USA, gegen die Militärs wettern (zuletzt beschimpfte er diese als „Hosenscheißer”). Mal interveniert Bolsonaro im halbstaatlichen Mineralölunternehmen Petrobras, um eine Dieselerhöhung zu verhindern. Mal beugt er sich dem Rat seines Wirtschaftsministers und verspricht, dies nie wieder zu tun. „Ich verstehe ja nichts von diesen wirtschaftlichen Prozessen“, erklärte er. Dann wieder hetzt er seinen jüngeren Sohn Carlos, den Monsignore, gegen seinen Vize-Präsidenten, einen General.

„Ich verstehe ja nichts von diesen wirtschaftlichen Prozessen“

Bolsonaros Partei PSL, aufgefüllt mit politischen Parvenüs und Abenteurern, agiert im Parlament völlig orientierungslos. Bolsonaro lässt sie nicht an die Fleischtöpfe der Macht. Und so vergeht kaum ein Tag ohne ein Verwirrspiel, das keines ist, weil es mit dem klaren Ziel geschieht, die Institutionen allmählich zu zersetzen und in diesem Chaos eine Atmosphäre der Angst zu erzeugen. Parlament und Justiz geben völlig widersprüchliche Signale und die obersten Richter*innen begehen elementare Fehler. Die etablierten Medien distanzieren sich von Bolsonaro aus Furcht, dass dieser Mann am Ende für die Herrschaft der Elite doch zu dysfunktional sein könnte. Bolsonaro schimpft über den größten Fernsehsender des Landes: „Rede Globo ist der Feind“. Und die Opposition schweigt: Die rechte Opposition der PSDB ist im Nichts verschwunden und die Linke verbleibt in der Schockstarre. Noch einmal die Journalistin Eliane Brum: „Bolsonaro ist Regierung und Opposition zugleich.”

Flankiert wird das ganze Schmierentheater durch den Auftritt der Signora in Brasiliens Sodom, der Ministerin für Frauen, Familie und Menschenrechte, Damares Alves, der wir die Erkenntnis verdanken, dass in den Niederlanden Eltern ihre Babys sexuell stimulieren, und dass Touristen nach Brasilien reisen, um dort in den Motels Sodomie zu begehen. Woraufhin der Präsident selbst diese Einsichten durch die Aufforderung ergänzte, die Ausländer sollten ruhig nach Brasilien reisen, um dort mit den schönen Frauen zu schlafen, aber die Schwulen sollten das nicht tun, in Brasilien gälten schließlich familiäre Werte. Werte aus den Höllenkreisen der Leidenschaft, des Blutes und der Scheiße.

 

// LANGE SCHATTEN

Sie sei „vom Drogenhandel finanziert“ worden, eine „Verteidigerin von Banditen und Verbrechern“. Nichts davon stimmt, aber auf diese Weise beschimpfte ein rechter Mob auf sozialen Medien die Stadträtin Marielle Franco, die am 14. März in ihrem Auto erschossen wurde.

Marielle Franco war schwarz und lesbisch, sie hatte Untersuchungsausschüsse über Polizeigewalt in die Wege geleitet und sich gegen den Rassismus und Sexismus in der brasilianischen Gesellschaft engagiert. Deshalb wurde sie ermordet, viele ihrer Freund*innen vermuten die Mörder*innen in den Reihen der Polizei. Die Reaktionen der Rechten auf dieses Verbrechen machen auf erschreckende Weise klar, wie weit antidemokratisches und autoritäres Gedankengut in Teilen der brasilianischen Bevölkerung verbreitet ist.

Die Gesellschaft ist gespalten. Das zeigt sich auch an der Bewertung des Ex-Präsidenten Luiz Inácio „Lula“ da Silva. Lula will bei den Wahlen im Oktober erneut als Präsidentschaftskandidat antreten und liegt auch in allen Umfragen vorne. Die Rechte wollte ihn schnellstmöglich hinter Gittern sehen – Lula wurde in zweiter Instanz zu über zwölf Jahren Haft wegen passiver Korruption und Geldwäsche verurteilt. Die Höhe der Strafe ist völlig überzogen, rechte Politiker*innen, die ebenfalls knietief im Korruptionssumpf stecken, mussten nie eine solche juristische Verfolgung befürchten – ein Sieg des Rechtsstaats bedeutet das Urteil nicht, doch als den feiern es die bürgerlichen Medien Brasiliens. Nun wurde der Wunschkandidat eines großen Teils der Bevölkerung in einem zweifelhaften Verfahren einfach beseitigt.

Doch diese Rechtsbeugung ist nicht das Schlimmste: Einen Tag vor dem Gerichtsentscheid über Lulas Antrag auf Haftverschonung hatte der Oberbefehlshaber der brasilianischen Armee, General Villas Boas, via Twitter durch die Blume mit einem Putsch gedroht, sollte das Gericht Lulas Antrag stattgeben. Politik und Justiz schwiegen größtenteils zum angedrohten Verfassungsbruch, auf Twitter klatschten tausende Brasilianer*innen noch Beifall und forderten sogar eine politische Intervention der Militärs.

Und auch im Rennen der potenziellen Präsidentschaftskandidat*innen manifestiert sich der Aufschwung der Rechten in der Person von Jair Bolsonaro, der in allen Umfragen auf den zweiten Platz kommt. Dass Bolsonaro eine autoritäre Regierung befürwortet, hatte er bereits mehrfach deutlich gemacht. Im Juli 2016 erklärte er: „Der Fehler der Diktatur [von 1964 bis 1985] war, dass sie gefoltert und nicht getötet haben.“ Bolsonaro legitimiert seine autoritären Phantasien damit, dass er ja auf der Seite der „gesetzestreuen Bürger“ stehe und gegen die korrupten Eliten sei. Doch schließt er auch explizit alle Favelabewohner*innen, Schwarzen, Indigenen, Lesben, Schwule, Trans*personen aus, die nicht in sein Bild des „guten“ Bürgers passen; sie würde er wohl am liebsten alle verschwinden lassen, nimmt man ihn beim Wort.

So rückt der Kampf um die Vergangenheit wieder in den Mittelpunkt der politischen Debatte. Der hässliche Schatten der Militärdiktatur, nie wirklich verschwunden, wird momentan wieder bedrohlich lang. Das Amnestiegesetz, das den Folterern von damals noch immer Straffreiheit garantiert; die Polizeigewalt in den Favelas und die ungestraften kriminellen Machenschaften der Großgrundbesitzer*innen auf dem Land; die überkommenen, seit Kolonialismus und Sklaverei unangetasteten Eigentumsverhältnisse: Sie alle sind Symptome eines Gemeinwesens, das sich seiner Vergangenheit nicht gestellt hat. Marielle Franco hat diese Strukturen benannt und bekämpft – und hat dafür mit dem Leben bezahlt.

URTEIL IN OLIVGRÜN

Seine politische Karriere fand ihren vorläufigen Tiefpunkt, wo sie begonnen hatte. Als Bundesrichter Sérgio Moro am 6. April einen Haftbefehl gegen Expräsident Luiz Inácio Lula da Silva erlassen hatte, befand sich dieser im Hauptquartier der Metallarbeitergewerkschaft der ABC-Region (dem Industriegürtel von São Paulo) in São Bernardo do Campo. In den 1980er Jahren hatte der spätere Präsident dort seine politische Arbeit begonnen und maßgeblich zum Sturz der Militärdiktatur beigetragen.

Vor dem Gebäude standen einige tausend Menschen, um gegen die drohende Inhaftierung Lulas zu protestieren. Bis zum Nachmittag des nächsten Tages blieb Lula da Silva mit Verbündeten im Gebäude und beriet, ob er sich freiwillig stellen sollte. Der zuständige Richter Sérgio Moro hatte dazu eine Frist bis 17 Uhr Ortszeit gesetzt. Lula ließ die Frist verstreichen. Seine Verteidigung argumentiert, dass beim zuständigen Bundesgericht nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft seien und der Haftbefehl keine Gültigkeit habe. Seine Verbündeten bewerteten es auch als besonders perfide, dass Richter Sérgio Moro verlangte, dass Lula ausgerechnet am ersten Geburtstag seiner Frau nach ihrem Tod, den 7. April, ins Gefängnis gehen musste. Nach einer Gedenkmesse für seine Frau, die in dem Gebäude gefeiert wurde, stellte er sich der Bundespolizei. Dass Lula so lange in der Schwebe ließ, ob er sich stellen würde, war ein meisterlicher medialer Schachzug, denn auf diese Weise bekam seine umstrittene Verhaftung die größtmögliche Aufmerksamkeit.

Zwei Tage zuvor, am 4. April, hatte der Oberste Gerichtshof Brasiliens mit sechs gegen fünf Stimmen entschieden, dem Gesuch auf Habeas Corpus – also eine Haftprüfung – der Verteidigung des Ex-Präsidenten nicht stattzugeben. Der ehemalige Staatschef wurde in einem umstrittenen Verfahren in zweiter Instanz zu 12 Jahren und einem Monat Haft wegen passiver Korruption und Geldwäsche verurteilt.

Die brasilianische Linke sieht in dem Urteil eine politische Verfolgung Lulas. Denn der ist fest entschlossen, bei den Wahlen im Oktober erneut auf das Präsidentenamt zu kandidieren. Gute Chancen hätte er: Seit Monaten führt er alle Umfragen mit über 30 Prozent Zustimmung an. Mit dem Urteil, so die einhellige Einschätzung der brasilianischen Linken, wolle die Rechte sich eines Kandidaten entledigen, den sie bei den Wahlen nicht besiegen könne.

Völlig unklar bleiben die Konsequenzen einer möglichen Inhaftierung Lula da Silvas. Das Gesetz der „Ficha Limpa“, der „weißen Weste“, verbietet allen Brasilianer*innen, die in zweiter Instanz verurteilt wurden, auf das Präsidentenamt zu kandidieren. Doch der Wahlausschluss erfolgt keinesfalls automatisch mit einer Inhaftierung Lulas: Darüber müsste erst das Oberste Wahlgericht entscheiden, das dafür bis September Zeit hat. Es ist ein vorstellbares Szenario, dass Lula aus der Haft heraus kandidiert und womöglich sogar gewählt wird. Sollte dann das Wahlgericht feststellen, dass er nicht hätte kandidieren dürfen, gäbe es Neuwahlen. Auf Gouverneursebene hat es solche Fälle bereits gegeben.

Beunruhigend ist, dass angesichts der politischen Krise auch die Militärs wieder ihre Muskeln zeigen. Am Vorabend des Urteils über den Habeas Corpus verlautbarte per Twitter der Oberbefehlshaber der brasilianischen Armee, General Eduardo Villas Boas, das „Militär stünde bereit, seiner institutionellen Verantwortung gerecht zu werden“, sollte die Straflosigkeit weiter anhalten; eine kaum verhohlene Putschdrohung gegen die Judikative. Noch deutlicher wurde der Reservegeneral Schroeder Lessa: Sollte Lula straffrei bleiben und gar zum Präsidenten gewählt werden, sei es die „die Pflicht der Armee, die Ordnung wieder herzustellen“. Weder die Regierung, noch der Oberste Gerichtshof verurteilte die Putschdrohungen, dafür applaudierten tausende Brasilianer*innen via Twitter General Villas Boas und forderten eine militärische Intervention. So scheint in Brasilien einen politischen Rückschritt um 30 Jahre zu machen: Während Lula aufgrund eines fragwürdigen Gerichtsurteil Haft in gehen muss, bleiben mit Putsch drohende Generäle unbehelligt.

URTEIL MIT POLITISCHER SPRENGKRAFT

Keine Guten NachrichtenLula in São Paulo am Tag des Urteils (Foto: Ana Perugini, CC BY-NC-SA 2.0)

Das Urteil des Gerichts in Porto Alegre war einstimmig. Alle drei Richter befanden am 24. Januar Ex-Präsident Luiz Inácio “Lula” da Silva der Vermögens­verschleierung und Korruption für schuldig und bestätigten damit das Urteil der ersten Instanz, erhöhten die Strafe, die in der ersten Instanz auf neun Jahre festgelegt wurde, nun auf zwölf Jahre Gefängnis. Damit ist die politische und persönliche Zukunft Lulas ungewiss. Das Urteil bringt ihn ohne Zweifel einen Schritt näher ins Gefängnis und macht eine Kandidatur Lulas bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober dieses Jahres unwahrscheinlicher. Denn in Brasilien gilt das Gesetz der sogenannten ficha limpa, der „reinen Weste“, nach welcher in zweiter Instanz Verurteilte nicht mehr zu Wahlen antreten dürfen.

Und genau darin liegt die politische Sprengkraft dieser Entscheidung. Denn Lula führt alle Umfragen zu den Wahlen deutlich an. Das Urteil von Porto Alegre verhindert die Kandidatur Lulas und würde damit den populärsten Politiker Brasiliens von der Wahl ausschließen. Aber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Lula kann beim Obersten Gerichtshof Widerspruch gegen seine Verurteilung zur Gefängnishaft einlegen. Und beim Obersten Wahlgericht könnte er gegen den nun drohenden Bescheid des Ausschlusses von den Wahlen infolge des „ficha limpa“-Gesetzes vorgehen. Allerdings ist eine völlige Aufhebung des Urteils eher unwahrscheinlich. Die Ungewissheit hält an.

Beim Prozess ging es um ein sogenanntes Triplex, ein dreistöckiges Luxusappartement im Badeort Guarujá, das Lula von der Baufirma OAS bekommen haben soll. Lula war  zwar nie offiziell Besitzer dieses Appartements, aber Reform und Umbau der Wohnung, wie zum Beispiel den Einbau eines Privatfahrstuhls, sollen nach Wünschen von Lula und seiner im Februar 2017 verstorbenen Ehefrau Marisa erfolgt sein. Die Justiz folgerte weiterhin, dass das Appartement die Gegenleistung für Dienste zugunsten von OAS war. Lula soll als Präsident bei der halbstaatlichen Erdölfirma Petrobras zugunsten von OAS interveniert haben.

Die Verteidigung von Lula führte an, dass Lula für den Erhalt eines Appartements bestraft werden soll, das er nie besessen oder genutzt hat. Und ein direkter Zusammenhang zwischen den angeblichen Gaben der OAS an Lula und dem Wirken Lulas bei Petrobras ist nicht wirklich zu beweisen. So lässt sich der Verdacht nicht von der Hand weisen, dass Lula mit einer doch recht konstruiert klingenden Argumentation verurteilt wird, weil er verurteilt werden sollte.
Aber wie auch immer die juristische Bewertung des Urteils gegen Lula ausfallen mag, für die politische Debatte ist dies eigentlich irrelevant. In der Linken Brasiliens herrscht bei aller Meinungsverschiedenheit Einigkeit darüber, dass der Prozess politisch motiviert und das Urteil ein Angriff auf die Demokratie ist. Es handle sich dabei um einen Anschlag auf ein politisches Projekt, das von Teilen der Eliten immer mit Skepsis und Hass verfolgt wurde.

“Was wir hier gesehen haben, war kein Urteil, sondern eine Maßnahme des Ausnahmezustands.”

„Die Verurteilung Lulas ist ein weiteres Kapitel der Angriffe auf die Demokratie Brasiliens“, erklärte Juliano Medeiros, Präsident der PSOL, einer linken Abspaltung der PT „Trotz fehlender Beweise erhöhten die Richter die Strafe noch auf zwölf Jahre – während Figuren wie Präsident Temer oder Aécio Neves weiter frei herumlaufen“, so Medeiros. Auch von Seiten von Jurist*innen wird heftige Kritik am Urteil laut: „Im Falle Lula will man das Bild eines Politikers zerstören und zur selben Zeit verhindern, dass er kandidieren kann“, meint Pedro Serrano, Professor für Verfassungsrecht an der renommierten Universität von Sao Paulo (USP). Es gehe um die Verfolgung eines politischen Anführers. „Was wir hier gesehen haben, war nicht ein Urteil, sondern eine Maßnahme des Ausnahmezustands … Lula ist wie ein Feind behandelt worden, und nicht wie jemand, der irrt – wenn er denn geirrt hat“, so Serrano.

Während für die einen Lula das Opfer einer politischen Verfolgung ist und bleibt, gilt für die anderen die Verurteilung Lulas als Abrechnung nicht nur mit Lula selbst, sondern auch mit dem politischen System, das er präsentiert. In der aktuell zugespitzten Debatte vermischen sich die nachvollziehbare Ablehnung von Korruption mit einem Hass auf das, wofür das Projekt der PT und die Person Lulas auch steht: eine Sozialpolitik für die Armen und Quoten für Schwarze an den Unis.

Wie es nun konkret weitergeht, ist unklar. Die PT hält jedenfalls an der Kandidatur Lulas fest und will alle juristischen Möglichkeiten ausnutzen, um diese zu garantieren. Nichts spricht dafür, dass das Urteil der Popularität Lulas schaden wird. Am Vorabend des Urteilsspruchs kam es in Porto Alegre mit 70.000 Teilnehmer*innen zu einer der größten Demonstrationen in der Geschichte der Landeshauptstadt des südlichen Bundesstaats Rio Grande do Sul. Die Aussicht aber, dass Lula wirklich bei den Präsidentschaftswahlen antreten kann, sind durch das Urteil von Porto Alegre deutlich gesunken. Klar ist auch, dass bei einer endgültigen Kassierung der Kandidatur Lulas der Governeur von Bahia, Jaques Wagner, der ebenfalls Mitglied der PT ist, einspringen wird. Er ist ein alter Weggefährte Lulas und im armen Nordosten beliebt, wo die PT bei den vergangenen nationalen Wahlen die besten Ergebnisse erzielt hat.

Das Urteil hat jedenfalls nicht dazu beigetragen, die Spaltung in der Gesellschaft zu überwinden. Das Rechtssystem wird allgemein nicht mehr als eine unabhängige Macht im System der Gewaltenteilung angesehen, sondern als Teil des politischen Kampfes.

GEGENWIND FÜR LULA

„Wer denkt, mich mit diesem Urteil aus dem Rennen zu werfen, muss wissen, dass ich noch immer im Rennen bin.“ Kämpferisch gab sich Brasiliens Ex-Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva, auf einer Medienkonferenz in São Paulo. Er wertet die Ermittlungen gegen ihn als Versuch, seine Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr zu verhindern. Die Ermittlungen hätten in Brasilien quasi einen „Ausnahmezustand“ ausgelöst, in dem „Grundrechte in den Mülleimer geworfen“ würden. Tags zuvor war Lula am 12. Juli wegen Korruption zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt worden.

Lula wird passive Bestechung und Geldwäsche vorgeworfen.

Lula wird passive Bestechung und Geldwäsche vorgeworfen. Laut Staatsanwaltschaft soll der Baukonzern OAS den einst sehr populären Staatschef mit umgerechnet rund einer Million Euro geschmiert haben, um als Gegenleistung lukrative Aufträge des halbstaatlichen Ölkonzerns Petrobras zu ergattern. OAS soll Lula und seiner Familie ein Strandapartment auf der Insel Guarujá im Bundesstaat São Paulo überlassen und eine aufwendige Renovierung finanziert haben. Den Anklagepunkt, dass OAS auch die Aufbewahrung von Präsidentengeschenken aus Lulas Amtszeit (2003–2010) finanziert habe, ließ Richter Sérgio Moro mangels Beweisen fallen.
Zwei Mitangeklagte OAS-Manager wurden am 12. Juli ebenfalls zu Haftstrafen verurteilt, vier weitere freigesprochen. Lula, der sich in drei weiteren Korruptionsprozessen verantworten muss, bestreitet, jemals Eigentümer der Immobilie gewesen zu sein.

Lulas Arbeiterpartei PT sprach von einem „Angriff auf die Demokratie und die Verfassung“. Richter Moro sei voreingenommen und stehe im Dienst der Massenmedien, die seit Langem gegen Lula hetzen würden. „Das Urteil basiert ausschließlich auf abgekarteten Kronzeugenaussagen geständiger Krimineller, die nur die Version der Staatsanwälte bestätigten“, erklärte die PT.

Die Beweislage ist dürftig. Dokumente über Lulas Eigentümerschaft wurden nicht vorgelegt. Die Verteidigung moniert zudem das Zustandekommen der Aussage der mitverurteilten früheren OAS-Managers Léo Pinheiro. Dieser änderte offenbar seine Aussage und kam erst dann in den Genuss der Kronzeugenregelung, als er nach einer ersten Verurteilung Lula beschuldigte. Die Verteidigung kündigte Berufung an. Lula führt in Umfragen mit großem Abstand vor all seinen potenziellen Mitstreiter*innen um die Präsidentschaft 2018.

Die riesige Korruptionsaffäre um Petrobras und inzwischen auch andere Großunternehmen hat Brasilien in eine tiefe politische Krise gestürzt. Viele ranghohe Politiker*innen der abtrünnigen Koalitionspartner, die Mitte 2016 Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff in einem höchst umstrittenen Amtsenthebungsverfahren aus dem Amt jagten, und dann mit Übergangspräsident Michel Temer die Macht übernahmen, sind inzwischen selbst schwerer Korruptionsverbrechen beschuldigt. Einige sitzen bereits hinter Gittern. Temer selbst wird vom Obersten Gerichtshof der Prozess gemacht. Allerdings hat sich der Justizausschuss des brasilianischen Parlaments am 14. Juli mit einer Mehrheit von 40 zu 25 Stimmen gegen eine Anklage ausgesprochen. Die endgültige Entscheidung über eine mögliche Anklage wird nun vom Kongress am 2. August getroffen. Die dafür erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit ist eher nicht in Sicht. Und ein wichtiges Ziel hat die neue konservative Regierungskoalition ohnehin erreicht: Am Vortag des Urteils gegen Lula segnete der Kongress eine Arbeitsrechtsreform ab, die viele Errungenschaften der vergangenen 30 Jahre zurücknimmt.

INTRIGENSPIEL GEGEN LULA

Mitte Oktober war es soweit. Eduardo Cunha, einst erbittertster Gegenspieler der mittlerweile abgesetzten Präsidentin Dilma Rousseff, wurde in Handschellen abgeführt. Seitdem sitzt der ehemalige Präsident der Abgeordnetenkammer in der südbrasilianischen Stadt Curitiba im Gefängnis, von der aus die Ermittlungen im Mega-Korruptionsskandal rund um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras geleitet werden. Der erzkonservative, evangelikale Cunha initiierte Ende vergangenen Jahres das Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff und nutzte sein Amt als Unterhauspräsident, um eine große Zahl treuer Abgeordneter hinter sich zu scharen.
Aufgrund von Korruptionsvorwürfen – Cunha soll Bestechungsgeld in Millionenhöhe auf Schweizer Konten gebunkert haben – musste er bereits vor Monaten seinen Posten räumen und später auch das Abgeordnetenmandat abgeben. Mehrfach drohte er, bei einer Festnahme zahlreiche andere Politgrößen Brasiliens mit in den Abgrund zu reißen. Cunhas Mitte-rechts Partei PMDB, der auch der umstrittene neue De-facto-Präsident Michel Temer und wichtige Minister angehören, gilt als eine der korruptesten und sein Wissen über Einzelheiten dürfte viele Politiker*innen in Schwierigkeiten bringen.

Doch bisher schweigt Cunha. Es sieht so aus, als hätte er beim großen Projekt Machtwechsel seinen Dienst getan und werde nun nicht mehr benötigt. Die These ist naheliegend, dass die längst überfällige Festnahme zeigen sollte, dass sich die Korruptionsermittlungen nicht nur gegen Rousseffs Arbeiterpartei PT richten. Dies hatten diverse linke Kommentator*innen und Politiker*innen seit langem kritisiert. Ununterbrochen kommentierten die großen Medien am Tag der Festnahme, dass diese Kritik nun nicht mehr haltbar sei.
Die Episode zeigt, dass der Politkrimi in Brasilien verworren bleibt. Neben allen Gerüchten gibt es in linken Kreisen wohl nur eine Gewissheit: Den neuen Machthabern und den Petrobras-Ermittler*innen ging es nicht nur darum, Rousseff abzusetzen und eine rechtsliberale Regierung ans Ruder zu bringen. Genauso wichtig ist es, ihren Vorgänger Luiz Inácio „Lula“ da Silva ins Gefängnis zu bringen – oder zumindest zweimal verurteilen zu lassen, damit er 2018 nicht erneut kandidieren kann. Mehrfach deutete Lula diese Möglichkeit an.
In der zweiten Oktoberwoche wurde der bislang dritte Prozess gegen die Symbolfigur der PT von einem Gericht in der Hauptstadt Brasília eröffnet. Laut Staatsanwalt soll Lula während und nach seiner Amtszeit Einfluss auf die staatliche Entwicklungsbank BNDES genommen haben, um Bauvorhaben des Unternehmens Odebrecht in Angola großzügig zu finanzieren. Als Gegenleistung soll der Bauriese ihm und zehn Mitangeklagten umgerechnet rund neun Millionen Euro Bestechungsgeld gezahlt haben. Auch die beiden anderen Prozesse gegen Lula stehen im Zusammenhang mit dem Petrobras-Skandal. Ohne irgendeinen Beweis vorzulegen, nannte ein ermittelnder Staatsanwalt Lula bereits den „Obersten Chef“ des Korruptionsnetzwerks.
Obwohl die Verdachtsmomente gegen zahlreiche Vertraute von Temer und Politiker*innen anderer konservativer Parteien weit schwerwiegender sind, konzentrieren sich die Aktionen der Ermittler*innen ebenso wie die Medien-Schlagzeilen auf die PT.
Ende September wurde Guido Mantega vorübergehend festgenommen, der unter Rousseff und auch schon unter Lula Finanzminister war. Beamte der Bundespolizei führten Mantega aus einem Krankenhaus in São Paulo ab, in dem er seiner Frau Stunden vor einer komplizierten Krebsoperation beistand. Nur wenige Tage später wurde sein Vorgänger Antonio Palocci, ebenfalls langjähriges Führungsmitglied der PT, verhaftet. Auch ihm werden illegale Geschäfte im Rahmen des Petrobras-Korruptionsskandals vorgeworfen.
Vorerst letztes Kapitel der Ermittlungen ist die geplante Kronzeugenaussage der gesamten Chefetage des größten Bauunternehmens des Landes Odebrecht. Da der Baumulti die meisten Aufträge von Petrobras und anderen staatlichen Trägern einheimste, könnten die Aussagen viel Sprengstoff bergen. Zudem existiert eine Liste mit Decknamen, die zahlreiche Bestechungsgeld-Empfänger*innen und konkrete Summen benennt. Richtig publik wurde diesbezüglich bisher nur ein Name: „amigo“, was laut Presse für Lula stehen soll.
Die PT spricht von politischer Verfolgung durch Justiz und Polizei, namentlich des Bundesrichters Sérgio Moro aus Curitiba. Die spektakulären Festnahmen, über die die Medien genüsslich berichteten, sollten die PT weiter diskreditieren, nachträgliche Rechtfertigungen für die Absetzung von Rousseff im August liefern und Lulas Ansehen beschädigen.
Sprachlich erinnern die Vorwürfe der jetzigen Opposition, von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen an die Auseinandersetzung mit einem diktatorischen Regime. Auch die Machtübernahme durch Rousseffs Vizepräsidenten Temer wird als Staatsstreich oder „parlamentarischer Putsch“ bezeichnet. Fraglos ist das, was derzeit im größten Land Lateinamerikas vor sich geht, nicht mit rechtsstaatlichen Zuständen vereinbar. Es ist ein undurchsichtiges Intrigenspiel um Macht, ökonomische Interessen und die politische Ausrichtung des Landes.
Die Demontage der Demokratie Brasiliens, der seit drei Legislaturperioden regierenden Arbeiterpartei und des von ihr erstmals in der Geschichte zaghaft versuchten Sozialstaats, begann spätestens mit der Wiederwahl Rousseffs im Oktober 2014. Die Elite war offenbar nicht bereit, weitere vier Jahre auf ihre Machtpfründe im Staat zu verzichten. Die Wahl wurde auf allen möglichen Ebenen angefochten, mit massiver Unterstützung der großen Medien wurden das Land und die Wirtschaft schlecht geredet und Massendemonstrationen inszeniert. Die Umsturzstimmung begünstigte aber auch noch andere Faktoren. International machten fallende Rohstoffpreise der Ökonomie zu schaffen, und die Abnutzung anderer Linksregierungen auf dem Kontinent trug ebenfalls zu einem Imageverlust bei. Wichtiger noch waren Fehler von Rousseffs Regierung, die ihre Sozialpolitik nicht auf nachhaltige Füße gestellt hatte und sich bei ersten Finanzschwierigkeiten an den liberalen Vorstellungen ihrer undankbaren Gegner*innen orientierte und damit die eigene Basis gegen sich aufbrachte.
Zum wichtigsten Trumpf im Kampf gegen die PT-Regierung aber wurden die Korruptionsermittlungen. Pech für Rousseff, dass das auf Bestechung und illegalen Kassen beruhende Politsystem just dann in Frage gestellt wurde, als sie an der Macht war. Allerdings hat sich die PT selbst zuzuschreiben, dass sie sich nahtlos in dieses System integrierte, nachdem sie 2003 mit dem Versprechen einer neuen Politikmoral antrat.
Obwohl Rousseffs Beliebtheit im März nur noch im einstelligen Bereich lag, gelang es nicht, sie von der Macht zu verdrängen. Das lag auch daran, dass die brasilianische Verfassung die Absetzung des direkt gewählten Staatsoberhaupts nur unter extremen Bedingungen erlaubt. Deswegen setzten die führende rechte Oppositionspartei PSDB, deren Kandidat 2014 gegen Rousseff unterlag, Unternehmerverbände und das Medienmonopol auf den offenbar einzig gangbaren Weg – das Amtsenthebungsverfahren. Der Haken dabei war, dass nach einer Absetzung der Präsidentin ihr Vizepräsident die Macht übernimmt, also Temer vom wichtigsten Koalitionspartner PMDB, die seit Jahren die PT-Politik mittrug und sich gerne der sozialen Errungenschaften und Erfolge bei der Armutsbekämpfung rühmte.
Allerdings legt die PMDB kaum Wert auf ein politisches Profil und war schon an den konservativen Regierungen vor Lula an der Macht beteiligt. Ausschlaggebend für den Ausstieg aus der Koalition und damit das erfolgreiche Amtsenthebungsverfahren war aber wohl wieder der Korruptionsskandal: Die große Mehrheit der PMDB-Spitzenpolitiker*innen ist in die Affäre verstrickt. In einem im Mai veröffentlichten Gesprächsmitschnitt sagt Temers enger Vertrauter und kurzzeitige Planungsminister, Romero Jucá, das „Ausbluten“ der politischen Klasse durch die Ermittlungen müsste gestoppt werden. Gesagt, getan. Jetzt stellt die PMDB den Präsidenten, und es ist zu vermuten, dass er alles daran setzen wird, Ermittlungen in den eigenen Reihen zu behindern.
Für die PMDB ist die Machtübernahme also in erster Linie eine Schutzmaßnahme. Hinter ihr stehen diejenigen, die 14 Jahre lang nicht an der Macht waren und jetzt in einer breiten Koalition einen rasanten neoliberalen Rückschritt gestartet haben. Temer hat kein Problem, die Vorgaben als seine Politik zu verkaufen: Rentenrefom, Kürzungen und stärkere Kontrollen bei Sozialleistungen, Einfrieren der Staatsausgaben für Gesundheit und Bildung, Privatisierung von Staatsbetrieben und Öffnung aller Wirtschaftsbereiche für ausländische Investoren (siehe Artikel auf Seite 25-26). Um die Geschichte wirklich zurückzudrehen, ist sogar eine Bildungsreform geplant, die fortschrittliches Gedankengut aus den Schulbüchern verbannt.
Widerstand gegen den Trip in die Vergangenheit gibt es bislang wenig, obwohl immer wieder demonstriert und inzwischen auch gestreikt wird. Das liegt wohl auch daran, dass die PT kaum Selbstkritik übt und alle Schuld an ihrem Debakel dem politischen Gegner in die Schuhe schiebt.
Allerdings knirscht es bereits im neuen Machtgefüge. Gewohnheitsgemäß bedient die PMDB ihre große Klientel mit Gefälligkeiten, was der von der PSBD verordneten Sparpolitik zuwider läuft. Das Zweckbündnis ist alles andere als stabil. Einigkeit besteht nur darin, dass die Macht gesichert werden muss, und zwar gegen den Mann, der zu ihrem Leidwesen in Wahlumfragen für 2018 mit Abstand an der Spitze liegt: Der Ex-Gewerkschafter Lula. Trotz aller Demontage der PT ist sein Ruf noch so gut, dass er einen Sieg der Rechten an den Urnen verhindern könnte.

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