“EINE ANERKENNUNG WIE NIE ZUVOR”

 Para leer en español, haga clic aquí.

(Foto: Martin Schäfer)

AUCÁN HUILCAMÁN
ist Jurist und Sprecher (Werkén) der Mapuche-Organisation Consejo de todas las tierras (Rat aller Gebiete). Er beschäftigt sich damit, wie die Mapuche internationale Beziehungen und Rechtsnormen für den Kampf um ihre Rechte nutzen können. Er nimmt am Allgemeinen Periodischen Überprüfungsverfahren des UN-Menschenrechtsrates teil, in dessen Rahmen Chile 2018/2019 turnusgemäß zur Anwendung internationaler Rechtsnormen in Bezug auf die indigenen Völker überprüft wurde.


 

In welcher Rolle und Funktion innerhalb der verschiedenen Mapuche-Organisationen Chiles sind Sie gerade in Europa und was ist Ihre Vision?
Ich wirke schon lange am Allgemeinen Periodischen Überprüfungsverfahren in Genf mit. Außerdem beschäftige ich mich mit der Ausarbeitung von internationalen Rechtsnormen, die die Rechte der indigenen Völker und im Besonderen der Mapuche schützen. Das geht also über die Vertretung von Interessen bestimmter Mapuche-Gemeinschaften hinaus. Erklärungen der Vereinten (UN) und der Organisation amerikanischer Staaten (OAS) besagen, dass die indigenen Völker ein Selbstbestimmungsrecht haben und daher ihre politische Verfassung bestimmen können. Die Mapuche sind aufgefordert, dieses Recht auszugestalten. Wir müssen die internationale Gemeinschaft auf die künftige Bildung einer Mapuche-Regierung in Ausübung dieses Rechts vorbereiten, damit eine solche Regierung international anerkannt wird. Das sehe ich als meine Aufgabe an. Außerdem möchte ich alle Mapuche einladen, an dem Prozess der freien Selbstbestimmung mitzuwirken. Sich daran zu beteiligen oder nicht, ist eine freie Entscheidung, die jeder zunächst für sich selbst treffen muss. Sobald jemand entscheidet, mitzuwirken, ist der nächste Schritt, zu sagen, welche Rolle er spielen möchte, sobald es zur Bildung einer Regierung kommt.

Wie soll die Vorbereitung einer Regierungsbildung unter den Mapuche ablaufen?
Es gibt den Prozess einer verfassunggebenden Versammlung der Mapuche, im November 2016 gab es eine erste Sitzung. Wir haben etwa die Frage diskutiert, ob wir eher eine Regierung im Sinne der Mapuche-Tradition möchten, eine in der Form üblicher zeitgenössischer Regierungen oder eine Mischung aus beidem. Wichtig ist, dass eine solche Regierung auch auf der internationalen Ebene effektiv wäre. Warum eine verfassunggebende Versammlung? Wir wollen, dass unsere künftige Regierung Legitimität genießt. Wenn es soweit ist, werden wir UN und OAS um eine formale Anerkennung bitten. Falls sie dies ablehnen, müssten sie gegen ihre eigenen Prinzipien verstoßen. Die Idee einer verfassunggebenden Versammlung ist, anders als traditionelle Konzepte der Mapuche, universell verständlich und zeigt der Welt, dass es sich bei der neuen Regierung nicht um eine Aktion einzelner Personen handelt, sondern um einen öffentlichen Prozess. Es muss keine Mehrheit der Mapuche mitmachen, aber wichtig ist, dass das Anliegen legitim ist und es keinen Einfluss der chilenischen Regierung und Parteien gibt. Bei der ersten Sitzung haben wir Leitlinien festgelegt, nun bereiten wir ein zweites Treffen vor, bei dem wir über die Inhalte eines Selbstbestimmungs-Statuts sprechen werden. Nachdem es ausgearbeitet ist, muss entschieden werden, wann die Regierung gebildet werden soll.

Wie hoch ist die Beteiligung, kommen die Teilnehmer*innen aus bestimmten Gemeinschaften?
Ich schätze, etwa 300 Gemeinschaften beteiligen sich an dem Prozess. Es müssen Personen mit der nötigen Mentalität und den Fähigkeiten zum Regieren sein. Am Anfang war es nur eine kleinere Gruppe, da nur wenige Mapuche sich mit diesem Thema beschäftigen. Dabei spielt auch eine Rolle, dass wir Mapuche einem langen Prozess des Kolonialismus und der Unterwerfung ausgesetzt waren, der uns Schaden zugefügt hat. Nicht alle Mapuche denken daher aus der kollektiven Perspektive heraus. Und natürlich gibt es Mapuche, die sich mehr mit unserer juristischen Verteidigung befassen oder dem Protest gegen Unrecht, wie anlässlich des Todes von Camilo Catrillanca. Das ist wichtig, aber nicht ausreichend, weil es nur eine Reaktion auf das Verhalten des Staates ist. Die Bewegung muss auch Zukunftsperspektiven entwickeln. Ich habe mich darum gekümmert, diese Thematik, die zuvor etwas isoliert war, in die Gemeinschaft der Mapuche zu tragen.

Gibt es Schwierigkeiten bei diesem Prozess?
Ein Problem ist, dass der individuelle Wille vieler Mapuche häufig eher politischen Parteien, dem Staat, der Kirche oder einer Sekte verpflichtet ist als dem kollektiven Handeln. Oder es wird lediglich gegen die aktuelle Regierung protestiert. Ob es nun die Rechte oder die Linke ist, die auf die Mapuche nicht angemessen eingeht, letztlich waren wir Mapuche bisher kollektiv ineffizient. Um das Selbstbestimmungsrecht zu nutzen, müssen wir selbst aktiv werden.

Wie hat sich der Mord an Camilo Catrillanca auf die Bemühungen ausgewirkt?
Unter den Mapuche hat die Bewegung, die sich um die Rechte des Volkes bemüht, nun eine festere Position. Heute hat die Mapuche-Bewegung gegenüber Staat und Gesellschaft in Chile eine immense Anerkennung erreicht, die es so zuvor nicht gab: Als Präsident Piñera und mehrere Minister nach dem Mord kamen, wollten die Mapuche sich nicht mit ihnen treffen, eine seit der „Befriedung der Araucanía“ (die Unterwerfung der Mapuche durch den chilenischen Staat im 19. Jahrhunderts) einzigartige Brüskierung. Das ist ein wichtiges Kapital. Die Regierung wird weiter auf ihrem „Plan Araucanía“ bestehen, aber die Militarisierung ist für sie ein komplexes Thema. Ich denke nicht, dass die Regierung bedeutende Maßnahmen ergreifen wird, weil der Fall Catrillanca eine Zäsur darstellt. Vor dem Mord hatte ich etwa ein Treffen mit mehreren Ministern organisiert, wir sprachen – erfolglos – über die Umsetzung von Empfehlungen nationaler und internationaler Einrichtungen zum Schutz der Menschenrechte sowie über die politische Beteiligung mittels reservierter Parlamentssitze. Dann kamen die Ereignisse um Camilo Catrillanca und ab da hat es keinen weiteren Kontakt zur Regierung mehr gegeben.

Gibt es dadurch nun eine größere Einheit unter den Mapuche? Die verschiedenen Gruppen haben ja sehr unterschiedliche Strategien.
Angemessener fände ich zu sagen, dass es jetzt es eine größere Übereinstimmung bei bestimmten Themen gibt. Und die Selbstbestimmung ist ein Thema, bei dem wir alle zusammenkommen können, weil es uns verbindet. Die Schattenseite der jetzigen Situation ist, dass wir aufgrund des Fehlens staatlicher Maßnahmen und seitens der Mapuche von Interesse am Dialog mit der Regierung in ein Szenario größerer sozialer Konflikte geraten könnten. Die Regierung von Präsident Piñera könnte uns in der Araucanía in eine ethnische Konfrontation stürzen, wie sie es in Europa auf dem Balkan gab, und diese Art der Konfrontation ist komplexer als jene mit einem Polizisten.

Würden Sie sagen, dass die langjährigen internationalen Bemühungen etwas bewirkt haben?
Sie haben eine Menge bewirkt. Auf der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz war es 1993 noch ein Novum, dass fünf indigene Vertreter wenige Minuten sprechen durften, und die Regierungen lehnten das Selbstbestimmungsrecht ab. Bei der UN-Vollversammlung 2007 wurde es dann beschlossen. Ich war bei beiden Konferenzen dabei und damals selbst überrascht und bewegt. Außerdem haben OAS und UN anerkannt, dass Verträge wie der von Quilín, in dem 1641 den Mapuche von Spanien ein unabhängiges Territorium südlich des Bío-Bío Flusses zugesprochen wurde, gültig sind. Wir haben also erreicht, dass die Verträge, die der chilenische Staat ignoriert hatte, wieder zu einer Norm des Völkerrechts wurden. In der UN-Erklärung heißt es außerdem, dass die Parteien auf die internationale Gerichtsbarkeit zurückgreifen können, wenn es eine unterschiedliche Auslegung der Verträge gibt. In unserem Fall wären das der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte oder der internationale Gerichtshof in Den Haag. Daher könnten wir Mapuche heute, wenn wir die kollektiven Fähigkeiten dazu hätten, unser Land beanspruchen und diese Frage in Den Haag zur Prüfung vorlegen.

Wie realistisch sind diese Pläne? Haben Sie ein Vorbild, bei dem das indigene Selbstbestimmungsrecht erfolgreich umgesetzt wurde?
Den Inuit in Grönland wurde dieses Recht von Dänemark schrittweise gewährt, und anders als bei der Dekolonialisierung afrikanischer Länder, die arm in die Unabhängigkeit entlassen wurden, hatte sich Dänemark verpflichtet, die neue Regierung über einen längeren Zeitraum finanziell zu unterstützen. Das ist im Sinne der UN-Erklärung von 2007, die festlegt, dass indigene Völker Anspruch auf angemessene Entschädigung für ihnen „ohne ihre freiwillige und in Kenntnis der Sachlage erteilte vorherige Zustimmung” abgenommenes Land haben. Die Inuit nehmen inzwischen weitreichende Rechte wahr, von der Verantwortung für die Polizei bis zur Verfügung über die Rohstoffe. Das scheint mir ein gutes Beispiel zu sein.

Wie könnte für Chile bestimmt werden, wie eine angemessene Entschädigung aussieht?
Das könnte entweder einer der beiden internationalen Gerichtshöfe entscheiden oder es könnte durch eine Wahrheitskomission geklärt werden.

Mapuche-Gemeinschaften haben zuletzt vor einigen Monaten eine solche Wahrheitskommission gefordert. Was verbirgt sich dahinter?
Es ist notwendig, über eine von allen Seiten anerkannte Wahrheit über die historischen Geschehnisse in der Araucanía zu verfügen. Bisher hat jeder seine eigene Wahrheit: Ein europäischer Auswanderer, der in Chile Mapuche-Land erhalten hat, glaubt, dass Geschichte und Recht bei seiner Ankunft beginnen. Jemand, der während der Pinochet-Ära Mapuche-Land gekauft hat, glaubt, dass sie bei seinem Kauf beginnen. Die Mapuche sehen das anders, also brauchen wir für eine Verständigung eine gemeinsame Version der Ereignisse. Darauf aufbauend müssen Entschädigungen an die Opfer geleistet werden, seien es Mapuche oder andere. Schließlich müssen wir akzeptable Institutionen für das Zusammenleben von Mapuche und Nicht-Mapuche schaffen, um einen festen und dauerhaften Frieden zu erreichen. Zur Aufarbeitung der Militärdiktatur wurden damals die Rettig-Kommission und die Valech-Komission gebildet. Jetzt muss der Staat eine ähnliche Komission für die Araucanía einrichten, denn er ist verantwortlich für das, was dort passiert ist. Dabei muss klar bestimmt werden, um welche Zeitspanne es geht – die Kolonialzeit, die Zeit nach der Unabhängigkeit oder die Pinochet-Ära? Und es muss definiert werden, welche Geschehnisse genau geklärt werden sollen. Bei einer ersten, von Präsident Lagos im Jahr 2000 zu diesem Thema einberufenen Wahrheitskomission wurde das leider nicht gemacht. Und dort ging es auch um die anderen indigenen Völker Chiles, die deutlich kleiner sind und andere Bedingungen hatten. Es kam also nichts Greifbares heraus, und anstatt die Verantwortung des Staates für das Unrecht anzuerkennen, stand im Abschlussbericht, dass die Gebiete der Mapuche verloren gingen, weil sie kein Spanisch konnten und die Gesetze nicht kannten, d.h. sie wurden beinahe selbst für ihre Enteignung verantwortlich gemacht. Ich war damals als Mitglied der Komission nicht damit einverstanden.

 

“UNA INMENSA LEGITIMIDAD QUE ANTES NO EXISTÍA”

AUCÁN HUILCAMÁN
es vocero (werkén) de la organización Mapuche Consejo de todas las tierras y abogado. Su interés de larga data es la elaboración de normas jurídicas internacionales que protejan los derechos de los pueblos indígenas y, en particular, de los Mapuche. Participa en el Procedimiento de Exámen Periódico universal (EPU) del Consejo de Derechos Humanos de la ONU, bajo el cual Chile rindió cuentas en 2018/2019 con respecto a la aplicación de las normas legales internacionales a los pueblos indígenas.

(Foto: Martin Schäfer)


Für die deutschsprachige Version hier klicken.

¿En qué papel y función dentro de las diversas organizaciones mapuches en Chile se encuentra usted en Europa, y cuál es su visión?

He estado involucrado durante mucho tiempo en el proceso del Exámen Periódico Universal (EPU) -por el cual me encuentro actualmente en Europa- y en la elaboración de normas jurídicas internacionales que protegen los derechos de los pueblos indígenas y, en particular, de los Mapuche. Por lo tanto, esto va más allá de la representación de un grupo particular de comunidades mapuches.

Las declaraciones de la ONU y de la Organización de Estados Americanos (OEA) afirman que los pueblos indígenas tienen derecho a la autodeterminación y, por lo tanto, pueden determinar su constitución política. Los Mapuche están llamados a desarrollar este derecho. Debemos preparar a la comunidad internacional para la futura formación de un gobierno mapuche en el ejercicio del derecho a la autodeterminación, para que dicho gobierno sea reconocido internacionalmente. Yo veo en esto mi tarea. También quiero invitar a todo el pueblo Mapuche a participar en el proceso de libre determinación. Participar o no en este proceso es una decisión libre que cada uno debe tomar primero por sí mismo. El siguiente paso luego de la decisión a participar es pensar qué papel va a desempeñar cuando se forme el gobierno.

¿Cómo deben prepararse los Mapuche para formar un gobierno?

Hay un proceso constituyente Mapuche, en noviembre de 2016 tuvimos una primera reunión. Hemos discutido sobre la cuestión de si queremos un gobierno acorde a la tradición mapuche, uno similar a la forma de los gobiernos contemporáneos o bien una mezcla de ambos. Lo importante es que ese gobierno también sea eficaz a nivel internacional. ¿Por qué una Asamblea Constituyente? Queremos que nuestro futuro gobierno goce de legitimidad. Cuando llegue el momento, pediremos a la ONU y a la OEA un reconocimiento formal. Si se niegan, tendrían que violar sus propios principios. La idea y el concepto de una Asamblea Constituyente – a diferencia de los conceptos tradicionales mapuches – es universalmente comprensible y muestra al mundo que el nuevo gobierno no es una acción individual, sino un proceso público. No tiene que ser la mayoría de los Mapuche, pero lo importante es que la causa sea legítima y que no haya influencia del gobierno y los partidos chilenos. En la primera reunión establecimos directrices y ahora estamos preparando una segunda reunión para debatir el contenido de un estatuto de autodeterminación. Una vez elaborado, se debe decidir cuándo se formará el gobierno.

¿Cuánta gente está involucrada en este proceso, pertenecen a distintas comunidades?

Calculo que alrededor de 300 comunidades están involucradas en el proceso común. Se necesitan personas con la mentalidad y la capacidad de gobernar. Al principio era un grupo pequeño, sólo unos pocos Mapuche se ocupan de este tema. Juega un rol importante que nosotros los Mapuche hemos estado expuestos a un largo proceso de colonialismo y domesticación que nos ha perjudicado, por lo tanto no todos los Mapuche piensan desde una perspectiva colectiva. Pero por supuesto también hay mapuches que se preocupan más por nuestra defensa legal o por la protesta contra la injusticia, como ha sido por ejemplo con motivo de la muerte de Camilo Catrillanca. Esto es importante pero no suficiente, porque es sólo una reacción al comportamiento del Estado. El movimiento también debe desarrollar perspectivas para el futuro. Me he encargado de traer este tema a la comunidad Mapuche, que antes estaba un tanto aislado.

¿Hay alguna dificultad con el avance del proceso?

Un problema es que a menudo la voluntad individual de los Mapuche está más comprometida con los partidos políticos, el estado, la iglesia o una secta que con la acción colectiva. O se genera simplemente una protesta contra el gobierno actual. Ya sea la derecha o la izquierda la que no se dirija adecuadamente a los Mapuche, nosotros hemos sido en última instancia ineficientes colectivamente. Para poder utilizar el derecho a la libre determinación, tenemos que actuar nosotros mismos.

¿Cómo afectó el asesinato de Camilo Catrillanca a estos esfuerzos de independización?

Entre los Mapuche el movimiento que lucha por los derechos del pueblo tiene ahora una posición más fuerte. Hoy en día, el movimiento mapuche ha logrado una inmensa legitimidad en Chile frente al Estado y a la sociedad que antes no existía: Cuando el presidente Piñera y varios ministros se presentaron a dialogar después del asesinato de Camilo Catrillanca, los Mapuche no quisieron reunirse con ellos, un desaire único desde la “pacificación de la Araucanía” (la sumisión de los Mapuche por parte del estado chileno en el Siglo XIX).

El gobierno seguirá insistiendo en su “Plan Araucanía”, pero la militarización es un tema complejo para el Estado y no creo que el gobierno tome medidas significativas porque el caso de Catrillanca representa un antes y un después. Antes del asesinato, por ejemplo, yo había organizado una reunión con el gobierno y los ministros. Hablamos (sin éxito) sobre la aplicación de las recomendaciones de las instituciones nacionales e internacionales para la protección de los derechos humanos y sobre la participación política a través de escaños reservados en el parlamento. Luego vinieron los acontecimientos que rodearon a Camilo Catrillanca y desde entonces no hubo más contacto con el gobierno.

¿Eso significa que ahora hay una mayor unidad entre los Mapuche? Los diferentes grupos mapuches tienen estrategias muy diferentes.

Creo que sería más apropiado decir que ahora hay un mayor acuerdo sobre determinados temas. Y la autodeterminación es un tema en el que todos podemos converger porque nos conecta. La desventaja de la situación actual es que, debido a la falta de acción gubernamental y de interés de los Mapuche por dialogar con el gobierno, podríamos encontrarnos en un escenario de gran conflicto social. El gobierno del presidente Piñera podría llevarnos a una confrontación étnica en la Araucanía como la que hubo en los Balcanes en Europa, y este tipo de confrontación es más compleja que enfrentarse con la policía.

¿Diría usted que los esfuerzos internacionales de larga data han marcado la diferencia?

Han conseguido muchas cosas. En primer lugar, en la Conferencia Mundial de Derechos Humanos de Viena en 1993, fue una novedad que se permitiera a cinco representantes indígenas hablar durante unos minutos, y los gobiernos rechazaron el derecho a la libre determinación. Luego se legitimó este derecho en la Asamblea General de las Naciones Unidas en 2007. Estuve presente en ambas conferencias, me sorprendí y conmoví en ese momento.

En segundo lugar, la OEA y la ONU han reconocido la validez de tratados como el de Quilín, en el que España en 1641 otorgó a los Mapuche un territorio independiente al sur del río Bío-Bío y que el Estado de Chile ignoró. Por lo tanto, hemos logrado que los tratados, que el Estado chileno había ignorado, vuelvan a ser una norma de derecho internacional. La Declaración de las Naciones Unidas también establece que las partes pueden recurrir a la jurisdicción internacional si existe una diferencia de interpretación en la aplicación de los Tratados. En nuestro caso, sería la Corte Interamericana de Derechos Humanos o la Corte Internacional de La Haya. Por eso, hoy, si tuviéramos la capacidad colectiva necesaria, los Mapuche podríamos reclamar nuestra tierra y poner a prueba esta petición en La Haya.

¿Qué tan realistas son estos planes? ¿Tiene usted un modelo en el que la libre determinación indígena haya sido implementada con éxito?

Los Inuit de Groenlandia recibieron este derecho gradualmente de Dinamarca. Contrario a muchos países africanos los cuales lograron su independencia pero fundidos en la pobreza, en este caso Dinamarca se comprometió a proporcionar apoyo financiero al nuevo gobierno durante un período largo. Esto está en el espíritu de la Declaración de las Naciones Unidas sobre los Derechos de los Pueblos Indígenas de 2007, que establece que los pueblos indígenas tienen derecho a una compensación adecuada por las tierras que les han sido arrebatadas sin su consentimiento previo, libre e informado. El Gobierno Autónomo Inuit está ejerciendo ahora derechos de gran alcance, desde la responsabilidad de la policía hasta el acceso a las materias primas. Me parece un buen ejemplo.

¿Cómo se podría determinar para Chile una compensación adecuada?

Esto podría ser decidido por uno de los dos tribunales internacionales o por una comisión de la verdad.

Hace unos meses las comunidades mapuches exigieron una comisión de la verdad. ¿Qué hay detrás?

Es necesario tener un estándar de la verdad común sobre los acontecimientos históricos de la Araucanía, una verdad que sea reconocida por todas las partes. Hasta ahora cada uno tiene su propia verdad: un emigrante europeo que ha recibido tierras mapuches en Chile cree que la historia y la justicia comienzan con su llegada. Alguien que compró tierras mapuches en la época de Pinochet cree que comienza con su compra. Los Mapuche tienen una visión diferente de las cosas, así que para entenderlas necesitamos una versión común de los hechos. Sobre esta base, se debe pagar la indemnización adecuada a las víctimas, ya sean Mapuche u otras personas. Por último, debemos crear instituciones aceptables para la coexistencia de mapuches y no mapuches a fin de lograr una paz firme y duradera. Se crearon dos comisiones para hacer frente a la dictadura de Pinochet, la Comisión Rettig y la Comisión Valech. Ahora el Estado debe crear una comisión similar para la Araucanía, porque el Estado es el responsable de lo que ocurrió allí. Otro punto importante es determinar claramente cual es el periodo en el cual estamos trabajando para la reparación: ¿El período colonial, el período posterior a la independencia? ¿La era Pinochet? Y por supuesto hay que definir qué acontecimientos deben aclararse con exactitud. Lamentablemente, esto no se hizo en la primera comisión de la verdad, que fue convocada por el Presidente Lagos en 2000 y 2001. Y allí estaba también el resto de los pueblos indígenas de Chile, que son mucho más pequeños y tienen condiciones diferentes. Así que no salió nada tangible, y en lugar de reconocer la responsabilidad del Estado por la injusticia, el informe final afirmó que las tierras mapuches se habían perdido porque los Mapuche no hablaban español y no conocían las leyes, es decir, casi se les hizo responsable de su expropiación. Como miembro de la Comisión, no estaba de acuerdo con esto en aquel momento.

KEINE RUHE IN DER ARAUCANÍA

“Raus mit dem Dschungelkommando” Protestmarsch am 21. November 2018 (Foto: German Andrés Rojo Arce)

Fünf entlassene Generäle, zahllose gefeuerte Polizisten, Gerichtsverfahren gegen diejenigen, die die Schüsse abgegeben haben: Die chilenische Regierung und Polizei haben so gut wie alle Register gezogen, um Druck aus der Affäre um den von Polizisten ermordeten Camilo Catrillanca zu nehmen. Weil aber immer neue Aspekte des Polizeimordes ans Licht kommen, herrscht sowohl in der Zivilgesellschaft, als auch bei der Regierung Unruhe. Der 24-jährige Mapuche und Aktivist Camilo Catrillanca war am 14. November 2018 auf dem Weg von der Feldarbeit auf seinem Traktor in den Hinterkopf geschossen worden. Die tödlichen Schüsse hatte der Polizist Carlos Alarcón abgegeben, der mittlerweile aus dem Dienst entlassen wurde und in Freiheit auf sein Gerichtsverfahren wartet. Auslöser des Polizeieinsatzes war ein vorangegangener Autodiebstahl gewesen. Als Antwort auf diesen kam eine in Kolumbien ausgebildete Spezialeinheit der chilenischen Polizei, das inzwischen aufgelöste „Dschungelkommando“, zum Einsatz. Inklusive Hubschrauber wurde die paramilitärische Einheit in die Mapuchegemeinde Temucuicui geschickt.

Aussagen entlassener Polizisten belasten auch Innenminister Chadwick

Anfängliche Behauptungen der Polizei, es habe ein Feuergefecht gegeben, bei dem Catrillanca ums Leben gekommen sei, hatten sich schnell als von Polizeioberen, Anwälten und den beteiligten Polizisten ersonnene Fantasiegebilde entpuppt. Dass die offizielle Version als Lüge entlarvt werden konnte, lag unter anderem an zahllosen Videoaufnahmen, die von investigativen Journalist*innen aufgespürt und veröffentlicht wurden. Das Nachrichtenportal ciper schreibt von mehr als 100 Videos. Zuletzt wurde ein Video vom Hubschraubereinsatz veröffentlicht. Dieses zeigt, dass die anfängliche Behauptung der Angehörigen des Kommandos, es sei zu sehen gewesen, dass einer der Autodiebe sich auf dem Traktor befinde, frei erfunden ist. Seit Beginn der Ermittlungen im Fall Catrillanca hatten soziale Bewegungen den Rücktritt von Innenminister Andrés Chadwick gefordert, da dieser die politische Verantwortung für den Mord trage. Chadwick selbst hatte immer behauptet, dass er wie alle anderen auch von den beteiligten Polizisten belogen worden sei. Nun aber sagte einer der gefeuerten Generäle der Carabineros aus, er habe Chadwick noch am Tag des Todes von Camilo Catrillanca darüber informiert, dass es keinen Schusswechsel gegeben habe und dass der Tote unbewaffnet gewesen sei. Chadwick hatte das Gegenteil behauptet. Auf Basis dieser neuen Erkenntnisse fordert nun auch die parlamentarische Opposition den Rücktritt von Innenminister Chadwick. Dieser aber klebt an seinem Stuhl: „Ich denke nicht daran zurückzutreten.“

Derweil hat ein weiterer Fall Chile erschüttert und den von Camilo Catrillanca als letzten in der langen Liste der Mapuche, die unter fragwürdigen Umständen ums Leben gekommen sind, abgelöst. Der Lonko Juan Mendoza, eine traditionelle Autoritätsperson der Gemeinde Raquem Pillán, war am 29. Dezember verschwunden und zwei Tage später tot aufgefunden worden. Erste Ermittlungen der Polizei ergaben, dass er vor seinem Tod verprügelt worden war. Es ist nicht das erste Mal, dass Mitglieder aus Mendozas Familie Gewaltverbrechen zum Opfer fallen. Mendozas Sohn Víctor war 2014 von Unbekannten, sein Neffe Jaime Mendoza Collio 2009 von einem Polizisten erschossen worden. Lonko Mendoza hatte nach einem langen Rechtsstreit Anfang der 2000er-Jahre dem Forstunternehmen Arauco 500 Hektar Land abgetrotzt. Die Gemeinde Raquem Pillán liegt, genau wie die Gemeinde Temucuicu, in der Nähe von Ercilla.

„Die Opfer der Gewalt gegen Mapuche sind willkürlich“

Wie die Fälle Catrillanca und Mendoza zeigen, ist Gewalt in den von Mapuche bewohnten Gebieten in Chile allgegenwärtig. Seit dem Ende der Militärdiktatur gab es 15 Fälle von ermordeten oder unter fragwürdigen Umständen ums Leben gekommenen Mapuche. Einer dieser Fälle ist der von José Huenante, der 2005 in Puerto Montt von der Polizei gewaltsam verschwinden gelassen wurde und bis heute nicht wieder aufgetaucht ist. Der damals jugendliche Huenante ist eines der vielen minderjährigen Opfer von Polizeigewalt. Nach Angaben des Nationalen Instituts für Menschenrechte INDH gab es allein zwischen 2011 und 2017 133 Fälle, in denen minderjährige Mapuche von der Polizei misshandelt worden sind. Die Dunkelziffer dürfte noch deutlich höher sein. Die Schicksale, die sich hinter diesen Zahlen verbergen, sind allerdings viel dramatischer als es jede Statistik ausdrücken kann. Brandon Hernández Huentecol ist ein weiteres der vielen Opfer von Polizeigewalt. Er wurde am 18. Dezember 2016 festgenommen und gefesselt. Als er auf dem Boden lag, feuerte der Polizist Christian Rivera Silva eine volle Ladung Bleischrot in seinen Rücken (s. LN 524). Brandon überlebte knapp, noch heute hat er 87 Bleikugeln im Körper, die auch nicht entfernt werden können. Im Januar 2019 fand schließlich der Prozess gegen den verantwortlichen Polizisten statt. Am Ende wurde er zu einer skandalös niedrigen Strafe verurteilt. Das Strafgericht in Angol verkündete, dass Rivera wegen schwerer Körperverletzung und Erniedrigung 3 Jahre und 541 Tage Gefängnis verurteilt wird. Geht es nach dem Gericht, wird diese Strafe in eine Bewährungsstrafe umgewandelt. Rivera reiht sich damit in eine lange Liste von Polizisten ein, die gemordet und gefoltert haben und nie ein Gefängnis von innen gesehen haben.

“Justicia” Nach dem Mord an Camilo Catrillanca wird Gerechtigkeit gefordert (Foto: German Andrés Rojo Arce)

Nun könnte man sagen, dass die Polizei in Chile generell gewalttätig ist und, dass Straflosigkeit der Verbrechen Polizeiangehöriger ein generelles Problem in allen Staaten ist. Das polizeiliche Handeln und die immer wieder öffentlich werdenden Verfehlungen der Polizei (s.a. LN 526) haben in Chile nun aber zumindest dazu geführt, dass die Carabineros – wichtigste Polizeieinheit des Landes mit militärischer Tradition – in der Bevölkerung rapide an Zustimmung verlieren: Konnten sie vor dem Mord an Camilo Catrillanca noch auf Unterstützungswerte von über 70 Prozent bauen, ist dieser Anteil mittlerweile auf 40 Prozent gesunken. Die Gewalt gegen Mapuche geht dennoch unvermindert weiter. Selbst wenn man die amtlichen Kriminalstatistiken heranzieht, ist die Militarisierung der Mapuchegemeinden durch Polizeieinheiten völlig maßlos. Die am stärksten von Polizeikontrollen betroffene Provinz, die Araucanía, hat dem Nationalen Institut für Statistiken zufolge eine deutlich geringere Kriminalitätsrate als Städten wie beispielsweise Valparaíso oder die chilenische Hauptstadt Santiago. Auch die viel beschworene „ländliche Gewalt“, die in Regierungserklärungen haltloser Weise als Terrorismus bezeichnet wird, ist rein zahlenmäßig mit 270 polizeilich gemeldeten Fällen im Jahr 2018 ein eher marginales Problem. Trotzdem ist die Polizei im Wallmapu allgegenwärtig präsent. Für Fernando Pairican, der auf einer Infoveranstaltung zum Thema in Berlin referierte, stellt sich die Situation folgendermaßen dar: „Die Opfer der Gewalt gegen Mapuche sind willkürlich, unter ihnen sind auch Personen, die gänzlich unpolitisch sind. Hinter der Gewalt, die sie erfahren, steckt aber eine Systematik, die von den politischen Strukturen gewollt ist, die von Großgrundbesitzern und Unternehmen unterstützt und von der Polizei mit Gewalt umgesetzt wird.“

 

 

FEMINISTISCHE IDEENSCHMIEDE

Gemeinsam auf der Straße Das ENM ist eines der größten feministischen Treffen (Yamila Carbajo)

Von wem und wie wird das ENM jeweils organisiert?
Als ich erfahren habe, dass das Treffen in Chubut stattfinden würde, war mir sofort klar, dass ich mithelfen wollte. Am Anfang hatte ich gar keinen Plan, wie die Organisation ablaufen würde. Ich bin dann einfach zu einem der ersten Organisationsplena gegangen. Das war eine unglaublich tolle Erfahrung, es waren hunderte Frauen aus allen möglichen Orten anwesend. Beim ersten Treffen habe ich erfahren, dass alles im Konsens entscheiden wird. Mir hat sehr gut gefallen, dass es keine Hierarchien gibt. An der Planung des Kongresses waren sowohl „unabhängige“ Frauen – das heißt Frauen, die keiner Partei oder Organisation angehören – als auch organisierte Frauen beteiligt. Während des zweiten Treffens haben wir uns in Kommissionen aufgeteilt, die jeweils verschiedene Arbeiten übernahmen.

Welche Kommissionen gab es und wie lief die Arbeit innerhalb deiner Gruppe ab?
Es gab Kommissionen für Unterbringung, Sicherheit, Finanzen, Organisation, Logistik, Workshops, Öffentlichkeitsarbeit, Kultur und für die Kommu-nikation zwischen den Provinzen. Ich bin der Kommission Kultur beigetreten. Mit zwei Kolleginnen haben wir 17 Theateraufführungen, sieben Tanzaufführungen und fünf Performances koordiniert. Wir waren insgesamt echt wenige Menschen für die Organisation eines so großen Events. Angefangen haben wir mit mehr als 100 Leuten, am Ende waren wir nur noch 50-60. Am Ende des Kongresses haben wir vor Erleichterung geweint, dass wir die Organisation doch so gut geschafft haben.

Einige Tage vor dem Ereignis wurde ein Dokument der Mapuche über Social Media geteilt. Sie fühlten sich von der Kongressbezeichnung „nacional“ nicht repräsentiert und wünschten sich eine Änderung in „plurinacional“. Das Plenum habe aber ihre Anliegen ignoriert.
Nein, ignoriert haben wir das nicht. Das wurde sehr viel diskutiert und respektiert. Uns als Organisationsteam steht das gar nicht zu, den Namen zu ändern. Wir sind nur 50 Leute und können gar nicht entscheiden, wie der Kongress in Zukunft heißen soll (siehe Infokasten, Anm. d. Red.).

Wie war die Zusammenarbeit mit der Stadt? Dutzende Schulen öffneten ja zum Beispiel ihre Türen für Übernachtungen und Workshops. Und dann müssen am Wochenende mal 50.000 Feminist*innen mehr aufs Klo…
Chubut hat sich nicht freiwillig für den Kongress gemeldet, sondern jedes Jahr stimmen die Teilnehmenden des ENM über den nächsten Ort ab. 2019 wird das Treffen zum Beispiel in La Plata, im Bundesstaat Buenos Aires, stattfinden. Dort, wo der Kongress dann stattfindet, muss die Stadt die Versorgung gewährleisten, ob sie will oder nicht. Das heißt, die Gesundheitsversorgung muss gewährleistet sein und für die Sicherheit gesorgt werden. Auch das Abwassersystem wird beispielsweise mehr belastet als sonst. Grundsätzliche Dinge, derer du dir erst bewusst wirst, wenn du selber so ein Event mitorganisierst.

Was waren die Reaktionen der Anwohner*innen in Chubut? Also derjenigen, die nicht am Kongress teilgenommen haben? Auf Twitter wurde ja beispielsweise die Angst verbreitet, dass manche Teilnehmer*innen planen würden, frisch geborene männliche Babys in den Krankenhäusern zu töten.
Ich denke, der Kongress hat gezeigt, wer wir sind. Jeder Ort, an dem das ENM stattfindet, macht die Menschen dort sichtbar. Es gibt einige Menschen in Chubut, die begeistert am Kongress teilgenommen haben. Auf der anderen Seite gibt es eben auch Leute, die so einen Scheiß glauben. Das Treffen an sich war auf jeden Fall eine unglaubliche Party. Und was nicht eingetroffen ist, war jene Twittermeldung, die vorab über die Feministinnen in den Medien verbreitet wurden. Was aber geschah, ist, dass die staatlichen Organisationen versagt haben. Alles was die Regierung uns versprochen hat, hat gefehlt. Es gab viel Gewalt gegenüber uns Frauen.

Laut für den Feminismus Trotz Repressionen waren Tausende auf der Abschlussdemonstration (Foto: Yamila Carbajo)

Was ist passiert?
Die Regierung hat uns Sicherheit versprochen, die gab es nicht. Vor allem die gefährlicheren Viertel der Stadt wurden nicht bewacht. Im ohnehin sicheren Teil gab es drei Patrouillen. Dagegen gab es in den drei unsicheren Vierteln zusammen nur eine. Eine Schule, in der Kongressteilnehmerinnen übernachteten, wurde um sieben Uhr morgens mit Steinwürfen attackiert, eine andere Schule ausgeraubt. Alles wurde mitgenommen, Rucksäcke, Klamotten, selbst die Schlafsäcke und Isomatten waren weg.

Wie hat die Polizei sich sonst verhalten?
Die riesige Abschlussdemo am Sonntagabend war spektakulär, wir hatten unsere grünen Tücher dabei. Die Polizei hatte sich nicht mal darum gekümmert, Straßen für die Demo abzusperren. Das einzige, was wir von der Polizei erfahren haben, waren Repressionen. Am Ende der Demo sind sie mit einem Riesenaufgebot angerückt, unter anderem die Bundespolizei und das Militär, wobei es sich um ein sehr hartes Vorgehen handelte und die Repression zudem eine scheußliche symbolische Bedeutung erhält: Bekanntlich war das argentinische Militär für das Verschwinden und Ermorden von Menschen in der letzten Diktatur verantwortlich. Auch heute noch bringen Polizei und Militär Menschen um und lassen Leute verschwinden. Sie haben zehn Frauen mitgenommen. Die Situation war für die Verhafteten sehr beängstigend. Die Beamt*innen haben sich nicht ausgewiesen und die Frauen zunächst in einen vermeintlichen Raum der Feuerwehr gebracht, in dem sie schikaniert wurden. Unser Orgateam hat zum Glück gute Anwält*innen, wodurch die Frauen bald wieder auf freiem Fuß waren. Es gibt in Argentinien viel Gewalt gegen Frauen, rund alle 30 Stunden einen Femizid. Das Encuentro Nacional de Las Mujeres soll dieser Situation etwas entgegensetzen.


Viktoria
Viktoria ist als Künstlerin im Theaterbereich und Kulturproduktion in Chubut tätig, was sie dazu motiviert hat, beim ENM 2018 in der Organisation mitzumachen. Zwar hatte sie sich vorher nie als Feministin labeln lassen wollen, aber nach der Erfahrung des ENM, würde sie sich auch selbst so nennen.

„WIR MACHEN DAS NICHT, WEIL WIR ES WOLLEN”

Natividad Llanquileo (Foto: David Rojas Kienzle)

Die im Luchsinger-Mackay-Fall angeklagten Mapuche wurden wegen Brandstiftung mit Todesfolge in zwei Fällen zu je 18 und im dritten Fall zu fünf Jahren Haft verurteilt. Welche Beweise veranlassten das Gericht zu diesem Urteil?
Der einzige Beweis war die Aussage eines Polizisten, der angab, dass der Verurteilte José Peralino 2016 ein Geständnis abgelegt und darin auch die anderen Verurteilten beschuldigt hatte. In der Folge wurde ein Prozess gegen insgesamt elf Personen eröffnet, von denen jetzt drei verurteilt wurden. Dabei hat José Peralino diese Aussage, die unter Folter erfolgte, widerrufen.

Der einzige Beweis ist also die Erinnerung eines Polizisten an das Verhör eines Angeklagten vor zwei Jahren?
Genau. Das ist nur möglich, weil der Fall zunächst nach dem Antiterrorgesetz behandelt wurde. Demnach ist die Aussage eines einzelnen Polizisten für eine Verurteilung zu langjährigen Haftstrafen ausreichend. Der terroristische Charakter der Straftat wurde vom Obersten Gerichtshof zwar aberkannt, aber alle Ermittlungen wurden entsprechend des Antiterrorgesetzes geführt.

Kann man gegen das Urteil noch vorgehen?
Auf nationaler Ebene haben wir mit dem Urteil des Obersten Gerichtshofs alle juristischen Mittel ausgeschöpft. Es bleibt noch die Anzeige bei der Interamerikanischen Menschenrechtskommission. Die Anwälte von José und Luis Tralcal befassen sich derzeit damit und CIDSUR versucht, sie dabei zu unterstützen. Wir haben außerdem wegen Beschaffung falscher Beweismittel durch Folter Strafantrag gegen die Polizei gestellt, aber der Fall wurde bis heute nie richtig ermittelt.

Hat es während des Prozesses Unregelmäßigkeiten gegeben?
Ja. Eine kritische Richterin hat Beschwerde eingereicht, weil sie von einem anderen Richter durch Mobbing unter Druck gesetzt worden ist. Sie wurde durch einen weniger kritischen Richter ersetzt, der in der Karriereleiter aufsteigen wollte. Der Präsident von Chile entscheidet über die Besetzung hoher öffentlicher Ämter. Während also Piñera im Wahlkampf das Ende des Terrorismus versprach, bewarben sich viele am Prozess beteiligte Richter auf solche Stellen. Piñeras Wahlkampf wurde dabei auch von den Kindern des bei dem Brandanschlag getöteten Ehepaars Luchsinger-Mackay finanziell unterstützt. Doch der Terrorismus ist in Wirklichkeit natürlich nur erfunden. Diverse internationale und nationale Organisationen haben das mehrfach festgestellt. Noch nie wurde ein Mapuche wegen Terrors verurteilt.

Liegt das größte Problem in den bestehenden Gesetzen, mangelnder Rechtsstaatlichkeit oder geht es schlicht um Rassismus?
Ich denke, es ist vor allem Ignoranz bezüglich der internationalen Normen und der Realität der Indigenen in Chile, insbesondere der Mapuche. Dabei ist z.B. die ILO-Konvention 169 (Übereinkommen über indigene Völker der Internationalen Arbeitsorganisation, siehe LN 435/436, Anm. d. Red.) klar – aber sie wird nicht respektiert. Der chilenische Staat wurde auch bereits mehrfach für seine Kriminalisierungspolitik verurteilt, aber der Modus Operandi bleibt gleich. Die Gerichte halten sich an vorangegangene Fälle, um sich nicht mit dem eigentlichen Konflikt um die indigenen Gebiete auseinandersetzen zu müssen und folgen einfach der Politik. Ich möchte glauben, dass das mit Unwissen und Ignoranz zu tun hat, aber natürlich spielen auch die kolonialen Besitzverhältnisse eine Rolle. Viele Juristen oder ihre Familien haben Land, auf das Mapuche Anspruch erheben. Außerdem existiert ein sehr schlechtes Bild der Mapuche. Früher galten sie als faule Trinker, heute als Terroristen.

Lassen sich denn internationale Verurteilungen so leicht ignorieren?
Da geht es immer um sehr spezifische Fälle. Wenn Chile verurteilt wird, weil Mapuche nach dem Antiterrorgesetz verfolgt werden, dann heißt es in dem Urteil, das sei Diskriminierung. Damit einher gehen dann zwar auch konkrete Anweisungen, manchmal gibt es sogar Entschädigungen. Aber die Regierung bezieht das immer nur auf die Opfer dieses einen Falls. Und die Medien berichten nur solange, wie Mapuche unter Anklage stehen. Wenn aber die Anklage fallengelassen oder der Staat sogar international verurteilt wird, berichten sie nicht mehr. Im kollektiven Gedächtnis bleibt das Bild des kriminellen Mapuche. In diesem Zusammenhang spielen die alternativen Medien heute eine wichtige Rolle, denn sie bleiben bis zum Schluss an den Fällen dran.

Denken Sie, dass sich trotz der Kriminalisierung auch radikale Mittel des Protestes lohnen?
Es ist schwer zu sagen, wo der richtige Weg liegt, um diesen Konflikt zu lösen. Die Entscheidung über die Art des Protests liegt letztendlich bei den einzelnen Mapuche-Gemeinden. Wir als Verteidigung entscheiden da nicht mit, auch wenn wir selbst Mapuche sind. Meine Arbeit sehe ich als ein politisches Mittel, das dringend nötig ist. Wir machen das nicht, weil wir das wollen, sondern weil wir es müssen. Gäbe es keine kritische Organisation wie CIDSUR, wären wahrscheinlich schon mehrere Mapuche nach dem Antiterrorgesetz verurteilt worden.

Wie finanziert CIDSUR die juristische Arbeit?
Das ist ein schwieriges Thema. Natürlich hat jeder Angeklagte in Chile das Recht auf eine juristische Verteidigung. Aber die Angeklagten brauchen besonders in unseren Fällen nicht nur irgendeinen Anwalt, sondern jemanden, dem sie vertrauen. Denn die Unterwerfung unter das chilenische Rechtssystem stellt für viele Familien und Gemeinschaften der Mapuche einen ernsthaften Konflikt dar. Aus dieser Not heraus ist CIDSUR überhaupt erst entstanden. Die finanziellen Mittel für die Verteidigung kommen zum größten Teil von den Angeklagten selbst, die so viel zahlen, wie sie können. Das ist meist nur ein Bruchteil von dem, was ein Anwalt für die juristische Arbeit fordern würde, denn die Mapuche gehören zum ärmsten Teil der Bevölkerung in Chile.

Haben Sie als Anwältin von Mapuche-Angeklagten schon selbst Diskriminierung erfahren?
Fast alle Anwälte, die Mapuche vor Gericht verteidigt haben sind schon fälschlich irgendeiner Straftat beschuldigt worden oder waren Schikanen seitens der Polizei ausgesetzt. Im Anwaltsteam von CIDSUR gibt es drei Mapuche, von denen ich am längsten dabei bin, seit 2016. Gegen mich persönlich wird schon seit längerer Zeit immer wieder wegen irgendetwas ermittelt, das ist für mich kein Thema mehr. Allerdings bedeuten solche Ermittlungen für uns, dass wir nicht nur unsere Klienten, sondern auch unsere Kollegen verteidigen müssen.

Unterscheidet sich die jetzige Regierung unter Sebastián Piñera von der vorherigen von Michelle Bachelet hinsichtlich der Verfolgung und Repression der Mapuche?
Leider sehe ich da kaum einen Unterschied. Aber der Diskurs von Piñera ist sehr viel schärfer und das hat auch die Polizei entfesselt. Sie macht, was sie will, da sie um die Rückendeckung der Regierung weiß.

Was denken Sie über den “Plan Impulso Araucanía” der Regierung Piñera, der unter anderem 16 Millionen Dollar privater Investitionen in der Region Araucanía vorsieht?
Ich glaube, er wird die vorhandene Krise noch weiter vertiefen. Es wird viel von wirtschaftlichen Projekten und Investitionen gesprochen, aber diese Projekte werden das Leben in den Gemeinden zerstören. Alles hängt mit wirtschaftlichen Themen zusammen, alles soll gekauft werden. Durch die Einrichtung eines Fonds zur finanziellen Entschädigung von angeblichen Opfern des Terrorismus rechtfertigt der Plan außerdem den verheerenden Terrorismusdiskurs.

Berücksichtigt der Plan die Hauptforderung der Mapuche-Bewegung nach der Rückgabe des ehemaligen Territoriums?
Durch Änderungen des Indigenengesetzes soll zukünftig der Verkauf indigener Gebiete erlaubt sein. Durch die große Armut unter der indigenen Bevölkerung würde das dazu führen, dass viele Mapuche ihr Land verkaufen. In dieser Hinsicht führt der Plan zu einer Verschlechterung.

Lässt sich wenigstens den geplanten Quoten für indigene Parlamentarier*innen etwas Positives abgewinnen? Oder der vorgesehenen konstitutionellen Anerkennung der indigenen Bevölkerung?
Der Plan kündigt eine Anerkennung der indigenen Völker in der Verfassung an, allerdings nicht, wie genau diese aussehen soll. Wahrscheinlich wird dabei nichts Wesentliches herauskommen. Wenn zukünftig nur in der Verfassung steht: “In Chile gibt es verschiedene Kulturen”, ist damit nichts gewonnen, denn das ist eine bekannte Tatsache. Die Nutznießer von Quoten werden nicht die indigenen Völker sein, sondern die Parteien. Es wird am Ende vielleicht mehr indigene Abgeordnete geben, aber sie werden eher die Interessen der Parteien vertreten als die ihres Volkes. So ist es jetzt schon bei mehreren im Parlament vertretenen Mapuche.

Wenn es trotz wechselnder Regierungen keine Veränderungen zum Besseren gibt, sehen Sie dann eine Zukunft für die Mapuche als Teil des chilenischen Staats?
Ich bin Optimistin, für die Mapuche sehe ich trotz der aktuellen schwierigen Situation eine Zukunft. Das Wichtige ist, dass daran gearbeitet wird: Solange es Bewegung gibt, sieht man auch eine Zukunft. Es gibt eine Tendenz unter den Mapuche, sich wieder stärker als solche zu identifizieren. Die neuen Generationen sind jetzt stolz darauf, wer sie sind, das gab es früher nicht. Heute lernen die Jugendlichen die Sprache Mapuzungun und die Geschichte und Medizin der Mapuche. Viele Künstler eignen sich das wieder an, was die Mapuche ausmachte, bevor es den Staat Chile gab. Eine Zukunft gibt es also. Wie genau wir sie erreichen, das wissen wir leider noch nicht.

Beeinflussen solche Entwicklungen auch Ihre Arbeit als Juristin?
Wir Juristen müssen immer erst das Feuer löschen (lacht). Uns bleibt leider wenig Zeit, uns mit solchen Dingen auseinander zu setzen. Dafür braucht es mehr Leute, die sich damit beschäftigen, wie wir Mapuche-Traditionen mit unserer juristischen Arbeit verbinden können. Doch zum Glück fangen einige gerade damit an.

KEIN LAND OHNE SPRACHE

>Fotos: David Rojas-Kienzle

„Wir sind heute hier in Temuco, um den lokalen Autoritäten und der Gesellschaft in der Region zu zeigen, dass Mapuzungun am Leben ist, aber Unterstützung braucht“, so einer der vielen Redner*innen auf der Demonstration für die Anerkennung von Mapuzungun als offizielle Sprache am 16. Februar. Temuco ist die Hauptstadt der südchilenischen Region Araucanía, die am stärksten indigen geprägt ist. Gut 500 Menschen sind dem Aufruf gefolgt und nahmen an dem bunten Lauf durch die Innenstadt teil. Mapuzungun ist die Sprache der Mapuche und wird nach Schätzungen in Argentinien und Chile von mehr als 450.000 Menschen gesprochen. Die Mehrheit der Sprecher*innen ist allerdings älter als 50 Jahre und in der jüngeren Generation der unter 25-Jährigen sind es nach Schätzungen – aktuelle Umfragen gibt es nicht – nur noch fünf Prozent der Bevölkerung, die die indigene Sprache wirklich beherrschen. Ist das Mapuzungun also dabei, verloren zu gehen?

Wenn es nach Alberto Huenchumilla (33) geht, nicht. Er hat zusammen mit anderen Einzelpersonen und Organisationen, die sich der Verbreitung und dem Unterrichten von Mapuzungun widmen, die Demo organisiert, die jährlich stattfindet. „Wir machen Workshops, Kurse und mehrtägige Internate hier in Temuco und der Umgebung. Wir versuchen ein Ambiente zu schaffen, in dem nur Mapuzungun gesprochen wird, aber das ist schwierig, weil es wenige Muttersprachler gibt. Aber wir haben positive Ergebnisse erzielt, es gibt viele, vor allem junge Leute, die Mapuzungun lernen.“ Huenchumilla ist besorgt um seine Muttersprache: „Es ist vor allem die Generation meiner Eltern, die über 60 Jahre alt sind, die Mapuzungun sprechen und viele von ihnen gehen schon von uns. Und Kinder, die heute auf die Welt kommen, lernen selten Mapuzungun.“

Mapuzungun wird von mehr als 450.000 Menschen gesprochen.

Eines der größten Probleme ist, dass Mapu­zun­gun außerhalb von Gemeinden und Mapuche-Zeremonien kaum gesprochen wird. Beim Arzt, in der Schule, in öffentlichen Einrichtungen – fast überall wird ausschließlich Spanisch gesprochen. Zwar werden in öffentlichen Einrichtungen auf Schildern einzelne Begriffe übersetzt, z.B. pewkayal – „Auf Wiedersehen“, allerdings mehr als Folklore denn als Commitment zum Mapuzungun. Das Recht, Mapuzungun zu sprechen und gehört zu werden, gibt es in Chile nicht. „Als Muttersprachler müsste ich die Möglichkeit haben, beispielsweise im Büro oder in Orten der öffentlichen Verwaltung Mapuzungun zu sprechen. Eine Anerkennung als offizielle Sprache würde bedeuten, dass Mapuzungun auch in Schulen gesprochen wird, so wie Spanisch.“

Huenchumilla ist als Muttersprachler seines Alters eine Ausnahme. Die meisten Mapuche, die jünger als 40 sind, sprechen kein Mapuzungun, ihre Eltern haben es ihnen nicht beigebracht. Zu tief sind die Narben, die Diskriminierung und Mobbing hinterlassen haben. Auch Basilio Painemal (73) hat seinen Kindern kein Mapuzungun beigebracht, sondern Spanisch mit ihnen geredet. Er hatte als Kind die Erfahrung machen müssen, diskriminiert zu werden, weil er, als er mit sechs Jahren in die Schule kam, kein Spanisch sprach. Nachdem er ein halbes Leben in Santiago verbracht hatte, wo er kaum jemanden fand, mit dem er in seiner Muttersprache hätte sprechen können, entschloss er sich dazu, seinen Kindern seine Sprache nicht beizubringen, um ihnen diese schmerzhaft Erfahrung zu ersparen. Wie Basilio Painemal ging es den meisten Mapuche seiner Generation.

Sein Enkel, Jonathan Zapata Painemal hat sich genau wie Huenchumilla dem Mapuzungun verschrieben. Er selbst ist kein Muttersprachler, sondern musste sich Mapuzungun spät im Leben beibringen. Heute unterrichtet er selbst, unter anderem auch in einem der vielen Sommer­internate. In Río Amargo, in der Nähe der Kleinstadt Collipulli, fand ein solches selbstorganisiert für eine Woche statt. Die gut 30 chilkatufe – „Schüler*innen“ – waren dabei mit den Problemen, die das Erlernen von Mapuzungun erschweren, konfrontiert. Mapuzungun ist eine sogenannte isolierte Sprache, die keine bekannten Sprachverwandtschaften mit anderen Sprachen hat. Allein die verwendeten Laute sind für Spanisch sprechende Personen fremd, die Struktur ist mit indogermanischen Sprachen, wie Deutsch, Englisch oder Spanisch nicht zu vergleichen. Mapuzungun ist eine agglutinierende Sprache, das bedeutet, dass Aktionen, für die man beispielsweise im Deutschen einen ganzen Satz verwenden würde, mit an ein Substantiv angehängten Suffixen erklärt werden. „Ich werde nicht schwimmen gehen“ heißt so nur willülayan.

Die meisten Mapuche unter vierzig sprechen kein Mapuzungun.

„Man sagt, dass wenn ein Kind eine Sprache lernt, es jedes Wort 70 Mal aussprechen muss, bevor es internalisiert wird. Ihr seid alle wie Kinder, also redet so viel ihr könnt!“, ermutigt Zapata die chilkatufe zu sprechen, auch wenn es schwierig ist. Eine besondere Rolle kommt während des Internats dem chachay (liebevolle Bezeichnung für einen älteren Mann) Basilio Painemal zu. Er ist die Referenz für Aussprache und Grammatik und beantwortet mit unendlicher Geduld die zahllosen Fragen der chilkatufe. Nach einer Woche haben die Schüler*innen einen Grundwortschatz an Mapuzungun gelernt. Aber wird das ausreichen, um die Sprache zu retten?

Die Demonstration in Temuco geht zu Ende, Huenchumilla hat Hoffnung, sieht aber auch die Probleme: „Mapuzungun hat gerade wenig Prestige. Aber ich denke, dass die Sprache immer mehr geschätzt wird, vor allem von jungen Leuten, auch solchen die keine Mapuche sind. Das ist sehr wichtig, damit sich das Mapuzungun erholen kann. Wir sind in einer kritischen Situation. Aber es gibt die Hoffnung, dass wir wieder auf Mapuzungun leben können, so wie es früher war. Ohne Sprache haben wir kein Territorium.“ Denn der Kampf um die eigene Sprache ist eng verbunden mit dem Kampf um die Rückeroberung des eigenen Territoriums der Mapuche, auf dem sie bis zur Invasion des chilenischen Militärs im 19. Jahrhundert, autonom lebten. Dabei geht es jedoch nicht allein um die Wiederaneignung von Land, sondern auch um die Revitalisierung von Kultur und Sprache.

Einer, der diesen Kampf aktiv führt, ist Luanko (31), Rapper. „Ich habe mit 19 Jahren angefangen Mapuzungun zu lernen. Aber ich beherrsche nur etwa 50 Prozent. Je mehr man lernt, desto mehr stellt man fest, was man nicht weiß.“ Luanko rappt auch auf Mapuzungun. „Vor zehn Jahren habe ich meine erste CD auf Mapuzungun veröffentlicht, mittlerweile sind es vier. Das was ich rappe, ist meine alltägliche Sprache. Ich spreche auch mit meiner Tochter Mapuzungun.“ Auch Luanko ist besorgt um seine Sprache. „Wenn die neuen Generationen, wie die meiner Tochter, nicht Mapuzungun lernen, könnte eine Sprache, die mehr als 6000 Jahre alt ist, verloren gehen. Deswegen ist es so wichtig, dass meine Generation die Sprache spricht, nicht nur einzelne Wörter, sondern den ganzen Tag. Es ist traurig das zu sagen, aber nur eine Minderheit meiner Freunde spricht Mapuzungun mit ihren Kindern“.

“Ihr seid alle wie Kinder, redet so viel ihr könnt!”

Trotzdem hat zumindest Basilio Painemal neue Hoffnung geschöpft. Die vielen Initiativen lassen ihn optimistisch in die Zukunft blicken: „Ich habe immer gesagt, dass Mapuzungun dabei ist, verloren zu gehen, mittlerweile denke ich aber, dass es dabei war, verloren zu gehen.“

„…UND DANN HAT ER MIR IN DEN RÜCKEN GESCHOSSEN“

Foto: David Rojas-Kienzle

Wie kam es zu dem Vorfall im Dezember 2016, bei dem Sie durch die Schüsse eines Polizisten lebensgefährlich verletzt wurden?
Brandon Hernández: Das war an einem Sonntag, dem 18. Dezember. Ich war hinter unserem Haus und habe an einigen Motoren geschraubt. Als ich vor’s Haus gegangen bin, habe ich zwei Polizeiwagen und den weißen Jeep von einem Peñi (Mapudungun für „Bruder“) gesehen. Die Polizist*innen haben eine Personenkontrolle gemacht. Dann kam eine dritte Streife angefahren, ziemlich schnell. Die Polizist*innen sind ausgestiegen und haben meinen kleinen Bruder Isaías, der damals 13 war, überwältigt. Ich hab das alles vom Haus aus gesehen und bin sofort rausgegangen, um zu helfen. Mein Bruder war auf Knien und ein Polizist hatte seinen Revolver auf ihn gerichtet. Ich habe einen der Polizist*innen geschubst, damit sie meinen Bruder loslassen, was sie dann auch gemacht haben. Er hat mich dann am Hals gepackt, seine Waffe auf meine Brust gerichtet und gesagt: „Leg dich auf den Boden, sonst erschieß‘ ich dich!“. Ich habe mich auf den Boden gelegt und sie haben mir die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Der Polizist hat dann seinen Fuß auf meinen Rücken gestellt. Im Polizeiwagen war ein Polizist, den ich kannte, Patricio Vergara. Ich habe zu ihm gesagt: „Don Patricio, die halten mich auf dem Boden fest, machen Sie etwas.“ Er hat nichts gemacht, sich nur weggedreht und gelacht. Ich bin einfach liegengeblieben. Ich merkte, wie der Polizist die Gummigeschosse gegen Kugeln austauschte. Ich habe nach oben geschaut und dann hat er mir in den Rücken geschossen.

Was ist danach passiert?
BH: Mein Vater und einige Nachbar*innen kamen dazu, weil sie den Schuss gehört hatten. Auch Patricio Vergara kam dann und sagte zum Polizisten, der geschossen hatte: „Was machst du denn? Wir hatten alles unter Kontrolle!“ Die anderen Polizist*innen haben ihn dann sofort gepackt und versteckt. Es waren zwischen 15 und 20 Pacos (Slang für Polizist*innen, Anm. d. Red.). Ich lag auf dem Boden und war am Verbluten. Die Nachbar*innen haben einen Krankenwagen gerufen, der aber nicht gekommen ist. Sie haben die Pacos dann davon überzeugt, mich in ihrem Wagen ins Krankenhaus nach Collipulli zu bringen. Dort konnten sie nichts für mich tun, weil sie nicht die nötigen Operationsgeräte hatten. Von Collipulli aus haben sie mich ins Krankenhaus nach Angol gefahren, wo ich das erste Mal operiert wurde. Danach wurde ich nach Temuco gefahren. Ein Arzt hat dort zu meiner Mutter gesagt: „Ich glaube nicht, dass wir ihren Sohn retten können.“ Ich habe aber überlebt, in Temuco wurde ich 18 Mal operiert, die längste OP dauerte acht Stunden.

Warst du bei Bewusstsein?
BH: Nein, in Angol wurde ich unter Narkose gesetzt und bin erst drei Tage später in Temuco aufgewacht. Ich wusste nicht wo ich war und um mich herum war alles voll mit Maschinen. Und die ganze Zeit Operationen. Ich hätte auch im Rollstuhl landen können. Von den 160 Schrotkugeln, die in einer Patrone sind, sind noch 40 in meinem Körper (zeigt auf seinen Bauch).

Es war also reines Glück, dass du überlebt hast?
BH: Reines Glück!

Und war es das erste Mal, dass es Konfrontationen mit der Polizei in der Zone gab?
BH: Die Zone wurde früher „Rote Zone“ genannt. Und es gibt viel Gewalt und Repression gegen Mapuche, auch gegen Kinder. Es ist nicht so, dass es „Terrorismus“ von den Mapuche gegen die Polizei gibt. Es sind die Pacos, die die Gemeinden terrorisieren. Selbst die Kinder! Sie selbst säen den Hass gegen sich. Es wird immer so weiter gehen. Was sich ändern müsste, ist das staatliche Handeln. Aber mit diesem Staat wird das nichts. Deswegen wollen wir, dass das international bekannt wird, nur wenn von woanders Druck kommt, können die Probleme gelöst werden.

Was ist nach den Operationen passiert?
BH: Ich habe angefangen mich zu erholen, wieder zu laufen und ich habe mein letztes Schuljahr angefangen. Jetzt sind wir im Gerichts­verfahren gegen den Polizisten. Er ist schon zwei Mal nicht vor Gericht erschienen, das erste Mal unentschuldigt, das zweite Mal, weil er ein anderes Verfahren hat. Er hat gedroht, seine Frau und seine Tochter umzubringen. Und vor zwei Jahren hat er einem anderen Polizisten in den Arm geschossen. Wir erwarten, dass er sich dem Gericht stellt. Wie kann es sein, dass er weiter in Freiheit lebt? Und er ist immer noch im Dienst! Mal sehen, ob Gerechtigkeit walten wird.

Haben Sie Unterstützung von der Regierung bekommen?
BH: Nein, und wir werden auch nichts erhalten. Wenn das Gerichtsverfahren vorbei ist, werden wir sehen.

Gab es seitens der Behörden schon andere Zeichen?
Ada Huentecol: Der Staat musste 100 Millionen Peso (ca. 135.000 Euro, Anm. d. A.) an das Krankenhaus in Temuco zahlen. Sie wollten meinen Sohn schon nach drei Tagen entlassen. Das haben wir aber verhindert. Wir wollten, dass er das Krankenhaus auf eigenen Beinen verlässt, weil er nichts Falsches gemacht hat. Der Polizeichef der Region Los Ríos hat behauptet, dass Brandons 13-jähriger Bruder Isías die Polizisten mit einem Messer angegriffen hätte. Ein Messer, das nie gefunden wurde! Und auch, dass Brandon die Polizei angegriffen hätte. Allein gegen zehn Polizist*innen! Das sind so absurde und dumme Lügen, dass sie ihnen nicht einmal die Justiz glaubt. Sie haben auch behauptet, ich hätte Polizist*innen im Wald angegriffen. Und das wurde alles in der nationalen Presse veröffentlicht. Im Mercurio, im Diario Austral. Der Innenminister hat uns im Krankenhaus besucht und selbst er hat gesagt, dass es sich um reine Behauptungen handelt, da zu dem Zeitpunkt noch gar nicht ermittelt wurde. Er hat uns Unterstützung versprochen, aber nichts unternommen. Keine Reparationen, nichts. Ich zähle auf die jungen Leute hier und auf den Demonstrationen, die uns unterstützen, die sogar riskieren, für die Sache selbst festgenommen zu werden.

Was erwarten Sie für die Zukunft?
AH: Es geht hier auch um die Rechte von Kindern, vor allem von Kindern aus den Mapuche-Gemeinden. Das macht mich wütend! Sie haben nicht einmal mit Kindern Mitgefühl. Was sollen wir von solchen Autoritäten erwarten? Nichts! Sie kommen in die Gemeinden um zu töten! Ständig sind Polizeihubschrauber, Wasserwerfer und Spezialeinheiten mit Gewehren dort. Sie behaupten, wir seien Terrorist*innen, Verbrecher*innen. Das macht wütend und traurig und glücklich. Glücklich, weil mein Sohn am Leben ist und wütend wegen diesem Staat. Aber wir werden weitermachen!

Denken Sie, dass der Polizist, der Brandon niedergeschossen hat, im Gefängnis landen wird?
BH:Wir werden dafür sorgen, dass er im Knast landet.

Auch angesichts der Erfahrung mit den Mörder*innen der Mapuche-Aktivisten Matías Catrileo und Alex Lemún? Die sind ja auch nie zu Freiheitsstrafen verurteilt worden.
BH: Es gab zwei Tatnachstellungen, die klar belegt haben, was passiert ist. Ich habe die Hoffnung, dass er seine Strafe bekommt. Und wenn nicht, werden wir weiter demonstrieren. Der Staat hofft, dass wir nicht weitermachen, dass wir aufgeben. Aber das wird nicht passieren. Wir werden weiter machen, hier in Santiago.
AH: Wir haben in dem Jahr, seitdem sie meinen Sohn niedergeschossen haben, viel gekämpft. Damit sein Fall bekannter wird, damit er nicht straflos bleibt und vergessen wird. Damit dieser Polizist die Höchststrafe bekommt. Deswegen gehen wir auf die Straße, damit kein Kind mehr verfolgt wird, eingesperrt wird, ermordet wird.

KEINE ZEIT ZUM TRAUERN

Am 24. November wurde das abschließende Gutachten der Autopsie des gewaltsam verschwundenen Aktivisten Santiago Maldonado veröffentlicht. Seine Leiche war nach monatelanger Suche am 17. Oktober im Fluss Chubut gefunden worden. Das nun veröffentlichte Gutachten besagt, dass sein Tod durch Ertrinken hervorgerufen wurde, begleitet von Unterkühlung. Mit drei verschiedenen Methoden wurde berechnet, wie lange sich die Leiche vor dem Fund bereits im Wasser befunden hatte. Der Aktivist war am 1. August bei einer Protestaktion um Landrechte der Mapuche in der Provinz Chubut verschwunden und blieb 78 Tage vermisst. Je nach Methode wird davon ausgegangen, dass der tote Körper zwischen 53 und 73 Tagen im Wasser gewesen sein muss. Die Berechnung der Dauer ist wichtig, um herauszufinden, was vor seinem Tod passiert sein könnte. Denn trotz abgeschlossener Autopsie sind die Umstände seines Todes immer noch ungeklärt und es gibt keine Informationen darüber, was in den mindestens fünf Tagen geschehen ist, die zwischen seinem Verschwinden und seinem Tod liegen. Nach Abschluss der rechtsmedizinischen Untersuchung fordern die Familienangehörigen von Santiago Maldonado weiterhin eine unparteiische, unabhängige und umfassende Untersuchung, um ihren Forderungen nach Wahrheit und Gerechtigkeit für Santiago einen Schritt näher zu kommen. Der zuständige Richter Gustavo Lleral hatte zuvor eine unabhängige Untersuchungskommission abgelehnt. In den nächsten Wochen sollen neue Beweise aufgenommen werden.

Während der öffentlichen Trauerfeier für Maldonado in der Kleinstadt 25 de Mayo in der Provinz Buenos Aires verbreitete sich die Nachricht von einem weiteren Todesopfer im Kontext des gleichen Konflikts um die Besetzung von Mapuche-Gebieten im Süden Argentiniens. Der 22-jährige Rafael Nahuel wurde von Sicherheitskräften der Spezialeinheit „Albatros“ der argentinischen Marine während der Räumung einer Besetzung in der Nähe des Mascardi-Sees bei Bariloche von hinten erschossen. Nahuel war kein bekannter Aktivist, aber hatte sich ähnlich wie Maldonado mit den Protesten solidarisiert und war zur Unterstützung seiner Familie in die Gemeinde Lafken Winkul Mapu gereist. Der Mord fand im Rahmen einer mehrtägigen Operation staatlicher Sicherheitskräfte statt, bei der drei Tage zuvor bereits vier Frauen und fünf Kinder festgenommen worden waren. Am 25. November gab es neben dem Mordopfer zwei weitere Festnahmen von Aktivisten, die, nachdem sie vier Stunden an den bereits verstorbenen Nahuel angekettet waren, in Isolationshaft gesteckt wurden. Fausto Jones Huala und Lautaro González wurden am 27. November wieder freigelassen. Sonia Ivanoff, Mapuche-Anwältin und Vizepräsidentin der Vereinigung von Anwält*innen für indigenes Recht in Argentinien, sprach angesichts des erneuten Mordes von einer „Jagd auf Mapuche“, die von der Regierung als „Gefahr“ dargestellt würden. Im ganzen Land von Tucumán bis Bariloche gingen Menschen auf die Straße, um gegen den Mord von Rafael Nahuel und die Kriminalisierung der Mapuche zu demonstrieren.

Die Sicherheitskräfte und die argentinische Regierung erklärten wiederholt, dass der Mord an Rafael Nahuel eine Reaktion auf Beschuss durch die Besetzer*innen gewesen sei, konnten aber – genau wie im Fall von Santiago Maldonado – bisher außer selbst gefertigten Berichten keine Belege für diese These vorlegen. Aktivist*innen hingegen bestreiten diese Angaben und in Untersuchungen konnten keine Spuren von Schusswaffengebrauch an den Händen der Festgenommenen festgestellt werden. Auch der erste Autopsiebericht bestätigt, dass Nahuel von hinten erschossen wurde. An der Besetzung beteiligte Aktivist*innen wiederholen immer wieder, dass sie unbewaffnet gewesen seien. „Wir hatten Steine und Stöcke. Was hätten wir damit machen können? Eine Kugel tötet!“, so ein anonymer Sprecher der Gemeinde in der Zeitschrift Cítrica.

Schrei nach Gerechtigkeit für Rafael und Santiago (Foto: Voijf – lavaca.org)

Sicherheitsministerin Patricia Bullrich und Justizminister Germán Garavano reagierten mit einer Pressekonferenz, in der sie zu verstehen gaben, dass es Konsequenzen habe, wenn Personen gegen das Gesetz verstoßen würden. Der offene Zynismus mit dem Bullrich hier argumentiert ist mehr als nur grotesk: Im Landkonflikt wird systematisch und andauernd gegen internationale Konventionen und Gesetze auf Provinz- und Landesebene verstoßen. Die Version der Sicherheitskräfte sei die „Wahrheit“, und Beweise für das, was Sicherheitskräfte in einem Einsatz mit richterlichem Befehl machten, müssten nicht erbracht werden. Die Argentinier müssten lernen, dass Gewalt keine Lösung sei, so Bullrich. Gewalt geht allerdings vor allem von staatlicher Seite aus.

Die zunehmende Militarisierung Patagoniens durch die Gendarmerie zeigt die angespannte Stimmung in einem Konflikt, der unter dem argentinischen Regierungsbündnis Cambiemos noch zusätzlich an Brisanz gewinnt. Präsident Macris Regierung, die nach nur zwei Jahren Amtszeit schon zur autoritärsten Regierung der letzten 30 Jahre in Argentinien geworden ist, hat die Entscheidung getroffen, die Interessen großer Unternehmen bis aufs Äußerste zu verteidigen. Denn es sind seine eigenen.

Unterstützung erhoffen sich die argentinischen Behörden mittlerweile auch von chilenischer Seite. Der argentinische Staatsanwalt José Gerez traf sich am 4. Dezember mit Amtsvertretern aus der chilenischen Provinz Araucanía, wo die Behörden schon jahrelange Erfahrung mit der Militarisierung und Repression gegen Mapuche-Aktivist*innen haben, um Informationen und Strategien auszutauschen. Die argentinische Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Besetzungen und andere Aktionen der Mapuche in Argentinien nur mit logistischer Unterstützung von Gruppen aus Chile haben stattfinden können. Das Treffen der Staatsanwälte verlief vorerst ergebnislos, allerdings erklärten beide Seiten, dass sie in Zukunft zusammenarbeiten würden.

„Bei dem Boden, den die Mapuche unter den Füßen haben, sind Millionen Dollar im Spiel“, erklärt die Mapuche-Aktivistin Moira Millán das starke Interesse in der Region in Anbetracht der Rohstoffe in Patagonien. „Aber es geht auch um eine ideologische Konfrontation. Es sind zwei konzeptuell verschiedene Welten, für die eine Welt ist das Privateigentum heilig, für die andere das Leben.“ Dass diese Logik anderen Teilen der Gesellschaft bewusst werden könnte, die dann die Ideen der Mapuche als Alternative erkennen könnten, um die Geschichte zu ändern, mache der Regierung Angst und daher konstruiere sie die Mapuche als inneren Feind der Demokratie. Millán spricht von einem „Zirkus der Demokratie“. Vielleicht ganz treffend, denn der zuständige Richter, der den Fall Nahuel untersuchen soll, ist Gustavo Villanueva, der auch den Befehl zur Räumung gegeben hat, die zu Nahuels Tod geführt hat. Villanueva zeigt sich auch verantwortlich für die Verhaftung eines anderen Mapuche-Aktivisten.

 

DIE MASCHINE, DIE VERSCHWINDEN LÄSST

78 Tage nachdem Santiago Maldonado zuletzt lebend gesehen worden war, ist seine Leiche am 17. Oktober im Fluss Chubut in der gleichnamigen Provinz im Süden Argentiniens aufgefunden worden. Der 28-jährige Aktivist und Kunsthandwerker war laut Zeug*innenaussagen am 1. August während einer Protestaktion der Mapuche-Gemeinde Cushamen von der Gendarmerie verfolgt und verschleppt worden. Seither fehlte von ihm jede Spur (siehe LN 519/520). Maldonados gewaltsames Verschwinden hatte eine enorme Protestwelle im ganzen Land ausgelöst, die sich zum vorläufigen Höhepunkt des Protests gegen die rechtskonservative Regierung von Präsident Mauricio Macri entwickelte. Das Bild des verschwundenen Aktivisten ging um die Welt und in Argentinien Hunderttausende auf die Straßen.

Nach dem Auffinden und Identifizieren der Leiche wird nun der Ruf nach Gerechtigkeit laut. Menschenrechtsorganisationen werfen der Regierung vor, die Gendarmen, die als Hauptverdächtige für Maldonados Verschwinden gelten, zu protegieren und mit Hilfe von kollabierenden Medienunternehmen wissentlich falsche Theorien über den Fall in Umlauf gebracht zu haben, um so die Ermittlungen zu verschleppen und die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Alles systematische Momente in der Logik eines Verbrechens, das Argentinien während der letzten Militärdiktatur (1976 – 1983) zu trauriger Berühmtheit gebracht hat. Seit 2002 wird das gewaltsame Verschwindenlassen im Völkerrecht als Verbrechen gegen die Menschheit sanktioniert.

Der Wahlkampf wurde eingestellt nachdem Maldonados Körper gefunden wurde

Die Nachricht vom Fund von Santiago Maldonados Körper kam genau fünf Tage vor den argentinischen Parlamentswahlen, woraufhin alle Parteien ihren Wahlkampf einstellten. Entgegen plausibler Erwartungen dieses Ereignis könnte negative Auswirkungen auf das Wahlergebnis für die regierenden Parteien haben, ging das aktuelle Regierungsbündnis Cambiemos gestärkt aus den Parlamentswahlen hervor (zum Wahlergebnis siehe Kurznachrichten S. 56). Die vorschnelle Mitteilung des zuständigen Richters Gustavo Lleral am Vorabend der Wahl, der Körper Maldonados weise keine Verletzungen auf, mag zwar wahlbeeinflussend intendiert gewesen oder rezipiert worden sein, wahrscheinlich wäre das Wahlergebnis aber auch ohne dieses Statement positiv für Cambiemos ausgefallen. Fraglich bleibt, wie die Regierung es schafft, trotz wirtschaftlicher Flaute, extrem gestiegener Energie- und Lebenshaltungskosten, weiterer angekündigter Reformen, Panama Papers, ständigen Repressionen gegen die organisierte Bevölkerung und eines handfesten Menschenrechtsskandals ihr Saubermann-Image aufrechtzuerhalten. Aktuelle negative Entwicklungen werden in der dominierenden öffentlichen Meinung immer noch der Vorgängerregierung angelastet.

Foto: Lina Etchesuri / lavaca.org

Auch drei Wochen nach dem Leichenfund gibt es immer noch keine offiziellen Ergebnisse der Obduktion oder Gewissheit über den Zeitpunkt des Todes von Santiago Maldonado. Dass sich Maldonados Körper die ganze Zeit über an der Stelle befunden hat, wo er gefunden wurde, wird von Expert*innen angezweifelt. Einerseits sei die Stelle bereits mehrfach zuvor erfolglos abgesucht worden, andererseits hätte der Zustand der Leiche durch die Strömung weit stärker angegriffen sein müssen: „In diesem Fall ist der Körper intakt. Er hat sogar Fingerabdrücke. Deswegen muss das Todesdatum später als am 1. August sein“, erklärte der Gerichtsmediziner und Kriminologe Enrique Prueger gegenüber dem lokalen Radiosender La Red. „Es ist unmöglich, dass er an diesem Tag gestorben ist“, so seine Schlussfolgerung. Die Fragen, wie Maldonados Körper in den Fluss gelangt ist und wo er zuvor gewesen ist, sind völlig offen.

Familienangehörige und Vertreter*innen der Mapuche-Gemeinde versuchen nun auf anderen Wegen die Aufklärung des Falles voranzubringen. Am 26. Oktober fand vor der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (CIDH) in Montevideo eine Anhörung statt, in der sie Sanktionen gegen die argentinische Regierung und die Intervention des Komitees für Gewaltsam Verschwundene der UNO in die Ermittlungen forderten. Der zuständige Richter Lleral lehnte jedoch am 9. November die Aufnahme unabhängiger Expert*innen-gruppen in die Ermittlungen ab. Mapuche-Anwalt Chuzo Gonzales Quintana ließ bei der Anhörung vor dem CIDH kein gutes Haar am argentinischen Staat, dem er vorwarf, nicht nur nicht nach dem Verschwundenen gesucht zu haben, sondern auch die Hauptverdächtigen gedeckt zu haben. Desweiteren habe die Regierung mit Hilfe der Medien falsche Fährten gelegt und Zeug*innen aus der Mapuche-Gemeinde als Terrorist*innen verleumdet.

So treten in diesem Fall mehrere systemische Probleme des argentinischen Staates zutage, die mit vergangenem und aktuellem Staatsterrorismus, institutioneller Gewalt, einem korrupten Justizsystem, Straflosigkeit sowie der Verstrickung zwischen Unternehmen, Großgrundbesitz und Staat(sgewalt) in Verbindung stehen.

Auch der jahrelange Kampf der indigenen Gemeinden im Süden Argentiniens rückt ins Blickfeld. Das Gebiet der Gemeinde Cushamen liegt innerhalb eines 900 000 Hektar großen Territoriums, das das italienische Textilunternehmen Benetton im Jahr 1991 vom argentinischen Staat gekauft und dadurch zum größten privaten Landbesitzer in Argentinien gemacht hat. Die Mapuche betrachten dies als unrechtmäßige Aneignung ihrer angestammten Ländereien und widersetzen sich seit 2015 auch durch Besiedelung des Gebiets, das auf dem Papier Benetton gehört. Die Gendarmerie unterhält indes eine inoffizielle Kommandozentrale innerhalb von Benettons Territorium und die Mapuche in der Region sind immer wieder Repressionen ausgesetzt, werden kriminalisiert, verschwunden, verhaftet und zu Opfern extrem rassistischer Staatsgewalt. Jones Huala, lonko (Oberhaupt) in Cushamen, sitzt als politischer Gefangener seit Juni 2017 in Haft. Huala spekuliert, dass Maldonado von der Gendarmerie irrtümlicher Weise für einen Mapuche gehalten wurde und sie daher davon ausgegangen seien, dass sein Verschwindenlassen kein großes Aufsehen erregen würde. Die Zahlen sprechen für diese These: Mehr als 200 gewaltsam Verschwundene seit Ende der Diktatur zählt die Koordinationsstelle gegen staatliche und institutionelle Gewalt CORREPI, die meisten von ihnen blieben unbeachtet. Santiago Maldonado – selbst kein Mapuche, sondern solidarischer Aktivist – ist also lange nicht der erste gewaltsam Verschwundene in demokratischen Zeiten, aber der erste Fall, der so stark in der Öffentlichkeit steht seit dem Amtsantritt von Präsident Macri im Dezember 2015. Dessen Regierung bestreitet weiterhin jede Art von Verantwortung, obwohl im Fall Maldonado mittlerweile offiziell unter dem Tatbestand Gewaltsames Verschwindenlassen ermittelt wird. Ausführer dieses Verbrechens ist per Definition der Staat bzw. quasi-staatliche Organe. Menschenrechtsorganisationen fordern den Rücktritt der Sicherheitsministerin Patricia Bullrich, die für den Einsatz der Gendarmerie verantwortlich war, bei dem Maldonado zuletzt gesehen wurde.

Foto: Carla Perrone / lavaca.org

Obwohl noch viele Fragen ungeklärt sind: Kein Verschwinden geschieht ohne aktive oder passive Mitwirkung des Staates, auf dessen Machtgebiet das Verbrechen geschieht – durch die ausführenden Sicherheitskräfte, die verschachtelten Wege der Justiz, die Behörden und Funktionär*innen, die in einer Mischung aus Fahrlässigkeit und Verantwortungslosigkeit in den entscheidenden Momenten wegschauen, durch die Medien, die systematisch de-informieren oder manipulieren. Alle operieren in dem gleichen System, als „Zahnräder im Getriebe der Maschine, die verschwinden lässt“, so Vanesa Orieta anlässlich des Auffindens von Maldonados Leiche. Orieta hat selbst fünf Jahre lang nach ihrem 16-jährigen Bruder Luciano gesucht, der eines Tages im Jahr 2009 von einer Polizeiwache eines verarmten Vorortes von Buenos Aires nicht wieder zurückkehrte. Luciano war von der Provinzpolizei ermordet worden, seine Überreste konnten erst nach einem langen Kampf mit den Institutionen in einem anonymen Massengrab gefunden werden. So wie Vanesa Orieta sind es vor allem die Familien der Verschwunden, die gegen das System

Vor allem die Familien der Verschwundenen kämpfen gegen das System dahinter

des Verschwindenlassens ankämpfen und dabei immer wieder mit den gleichen systematischen Logiken der Vertuschung, Verschleppung der Aufklärung und der eigenen Kriminalisierung konfrontiert werden. In Argentinien haben sich die Angehörigen der Verschwundenen in ihrer unermüdlichen Suche zu wichtigen politischen Bezugsgrößen des Landes etwickelt: die Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo, die Organisation der Kinder der in der Militärdiktatur gewaltsam Verschwundenen (H.I.J.O.S.) oder die vielen Einzelpersonen wie Vanesa Orieta, die selbst um die Aufklärung der Fälle ihrer Angehörigen kämpfen müssen. Und nun Sergio Maldonado, der Bruder von Santiago Maldonado, der zum wichtigsten Wortführer der jetzigen Proteste geworden ist. Nicht selten, so geschehen auch im Fall von Sergio Maldonado, werden die Familienangehörigen zu Zielscheiben von Aggressionen. Die Mediatisierung von Maldonados Fall hat bereits extreme Ausmaße angenommen. Während die großen Medienkonglomerate Clarín, Indalo und La Nación eine aktiv einmischende Rolle hinsichtlich der Entlastung der Regierung und Diffamierung der Familie eingenommen haben, wurde die zur Aufklärung so notwendige Gegenöffentlichkeit wiederum fast ausschließlich über Soziale Medien aktiviert. Am 1. November demonstrierten wieder 150 000 Menschen in Buenos Aires und forderten Gerechtigkeit für Santiago.

VON WEGEN TERRORISMUS

Wütend spricht die Machi, spirituelle Autorität und Heiler*in der Mapuche, in das Mikrofon. Entschlossenheit ist in ihren dunklen Augen zu erkennen. Ihr von Falten gezeichnetes Gesicht lässt die bewegte Vergangenheit der 60-Jährigen erahnen, doch auch die Erschöpfung ist ihr deutlich anzumerken. Bereits zum zweiten Mal muss sie sich vor Gericht in dieser Angelegenheit verantworten.
Es geht um den Brandanschlag auf das Haus der Großgrundbesitzer*innen Werner Luchsinger und Vivanne Mackay in Vilcún im Süden Chiles, bei dem das Ehepaar 2013 ums Leben kam. Zusammen mit elf anderen Mapuche ist Machi Francisca Linconao in diesem Fall nach dem Anti-Terrorgesetz aus Diktaturzeiten angeklagt. In der letzten Anhörung vor der Urteilssprechung beteuert sie erneut ihre Unschuld: „Ich bin Machi, traditionelle Autorität, ich darf nicht lügen!“

Die Tage vor dem Brand 2013 waren von landesweiten Protestaktionen zur Erinnerung an den vor fünf Jahren ermordeten Mapuche-Studenten Matías Catrileo gekennzeichnet. Ein Polizist hatte ihn auf einem Landstück der Familie Luchsinger erschossen.

Unmittelbar nach dem Brand wurde Francisca Linconaos Grundstück durchsucht, sie wurde gezwungen ihre traditionelle Kleidung abzulegen und festgenommen. Die Anklage lautete damals auf unerlaubten Waffenbesitz, doch Linconao wurde freigesprochen und erwirkte mit einer Klage sogar eine Entschädigungszahlung.

Doch die Hetzjagd sollte noch kein Ende haben. Bei einer nächtlichen Aktion im März 2016 drang die Polizei erneut in die Häuser von Linconao und zehn weiteren Verdächtigen ein und verhaftete sie. Diesmal lautete die Anklage Brandstiftung mit Todesfolge. Ein Zeuge sagte damals aus, das Attentat auf das Ehepaar Luchsinger-Mackay wäre von Linconao und den anderen Angeklagten auf dem Grundstück der Machi geplant worden. Er zog diese Aussage später zurück und erklärte, er sei von Polizei und Staatsanwaltschaft unter Folter und Drohungen zu einer Falschaussage genötigt worden.

Neun Monate saß Linconao in Untersuchungshaft. Vier mal erwirkte sie ihre Freilassung durch eine Umwandlung in Hausarrest, vier mal wurde sie nach wenigen Tagen erneut inhaftiert.
Jetzt, anderthalb Jahre nach ihrer Verhaftung, fallen die Angeklagten ihren Angehörigen in die Arme: Freispruch. Erneut. Die von der Staatsanwaltschaft vorgelegten Beweise waren nicht stichfest – im Gegenteil: Eine von der Verteidigung präsentierte Videoaufnahme der Hausdurchsuchung auf dem Grundstück Linconaos legt sogar nahe, dass die angeblichen Beweise dort von der Polizei platziert wurden. Der einzige Verurteilte in diesem Fall ist der Machi Celestino Córdova, der bereits 2014 seine auf zweifelhaften Beweisen basierende 18-jährige Haftstrafe antrat.

Auch die während der Großrazzia „Operation Hurrikan“ im September festgenommenen acht Mapuche (siehe LN 521) wurden mittlerweile freigelassen. Die höchst fragwürdige Beweislage hatte zu zahlreichen Protesten der Mapuche und der chilenischen Bevölkerung in den letzten Wochen geführt. Rodrigo Huenchullan, einer der Freigelassenen, sieht in der Aktion einen Versuch der Regierung, die widerständigen Mapuche-Gemeinden ruhig zu stellen. Der Staat würde die öffentliche Meinung beeinflussen und ein trügerisches Bild der Mapuche propagieren. „Wir waren wie Köder, wir wurden von der Regierung benutzt – kostenlos“, so Huenchullan nach seiner Freilassung am 19. Oktober.

“Freiheit für die Machi Francisca Linconao” Foto: telly gacitua (CC BY-NC 2.0)

Auch Hugo Melinao Licán wurde kürzlich aus der achtmonatigen Untersuchungshaft entlassen. Er war beschuldigt worden, in „Guerilla-Schulen“ Terrorist*innen auszubilden. Schon zum wiederholten Male wurde er aus verschiedenen Gründen angeklagt und wieder entlassen. Jetzt will auch er, wie Francisca Linconao, gegen den chilenischen Staat klagen. Jede Freilassung ist ein kleiner Lichtblick. Problematisch ist aber das System dahinter. Das Anti-Terrorgesetz aus Zeiten der Diktatur ist ein Sinnbild für den institutionell verankerten Rassismus gegenüber den Mapuche. Trotz des mestizischen Hintergrunds vieler Chilen*innen reicht diese Diskriminierung bis in die Mitte der Gesellschaft. Martín Curiche, einer der Inhaftierten der Operation Hurrikan, verurteilt nach seiner Freilassung das herrschende „klassistische und faschistische Bild“ über die Mapuche: „Die Presse deklariert uns als Terroristen, die Leute behandeln uns wie politische Agitatoren. Wir denken, es gibt eine Kollusion von Seiten der ökonomischen Kräfte.“

Werken.cl zufolge befinden sich aktuell 35 Mapuche in Argentinien und Chile aus politischen Gründen in Gefangenschaft (Stand: 25.10.17). Der Fall des argentinischen Aktivisten Santiago Maldonado sorgte tragischer Weise zumindest für internationale Aufmerksamkeit für das Problem. Die aktuelle Situation in Araukanien beschreibt die Sprecherin von Machi Linconao, Ingrid Conejeros im Interview mit Radio Universidad de Chile, als „Krieg geringer Intensität“ zwischen dem chilenischen Staat und den Mapuche. „Der Staat versucht ein Volk zu kriminalisieren, indem er es mit Waffen bekämpft, es gibt Polizei- und Militäraufgebot in unseren Gemeinden, manche Kinder haben schon direkte Schüsse von Polizisten abbekommen.“

Im Fall der Angeklagten im Fall Iglesias (siehe LN 521), die einen Brandanschlag auf eine Kirche verübt haben sollen, liegt eine mögliche Freilassung noch im Ungewissen. Nach dem Zugeständnis der Regierung, sie nicht nach dem Anti-Terrorgesetz zu behandeln, hatten drei der vier Mapuche im Oktober ihren monatelangen Hungerstreik beendet, setzten die drastische Maßnahme jedoch vorläufig fort, nachdem die Einstufung des Falls als Terrorismus nicht wie versprochen zurückgezogen wurde und die Hauptverhandlung erneut verschoben wurde. Nun ist sie für den 13. November angesetzt.

Präsidentschaftskandidat Alejandro Guillier kündigte einen Plan für Araukanien an, der dem Konflikt entgegenwirken und die Wirtschaft in der Region stärken soll. Unter anderem soll Chile in der Verfassung als plurinationaler und multikultureller Staat anerkannt sowie eine Indigenenquote im Parlament eingeführt werden. Neue Versprechen – werden sie diesmal gehalten? Sollte Guillier in die Fußstapfen seiner Bündniskollegin Präsidentin Michelle Bachelet treten, die ähnliches ankündigte, dann wohl kaum. Wenn die aktuellen Umfragen sich als richtig erweisen, wird jedoch ohnehin Mitte-rechts-Kandidat Piñera als Sieger aus den Wahlen am 19. November hervorgehen. Und dieser hält sich mit Versprechungen an die Mapuche zurück. Seiner Meinung nach sei der Freispruch im Fall Luchsinger-Mackay „ein Scheitern des Staates und der Justiz“. Auf Twitter bekundete er „von ganzem Herzen“ seine Solidarität mit der Familie des getöteten Paares, die „nach vier Jahren immer noch keine Gerechtigkeit für den feigen und grausamen Mord an ihren Eltern erfahren haben“. Für Opfer auf Seiten der Mapuche setzte er sich derweil weniger leidenschaftlich ein.

 

HURRIKAN GEGEN MAPUCHE

Foto: Carpintero Libre (CC BY-SA 2.0) (https://www.flickr.com/photos/sinjefes/29252210044/)

117 Tage verweigerten vier Mapuche-Gefangene die Nahrungsaufnahme, um ihrer Forderung nach einem baldigen und fairen Prozess Nachdruck zu verleihen. Die Brüder Benito, Pablo und Ariel Trangol sowie der Lonko (politische Autorität der Mapuche) Alfredo Tralcal sind wegen Brandstiftung angeklagt und sitzen bereits seit 16 Monaten in Untersuchungshaft. Nach fast vier Monaten Hungerstreik kündigte die Regierung nun einen Kurswechsel im Umgang mit den Inhaftierten an und kommt damit zumindest einer ihrer Forderungen nach: Statt der Anwendung des Anti-Terror-Gesetzes, einem Relikt aus der Militärdiktatur unter Pinochet, sollen die Häftlinge nach allgemeinem Recht behandelt werden. Benito und Pablo Trangol sowie Alfredo Tralcal entschieden sich daraufhin für die Beendigung ihres „Fastens“. Nur Ariel Trangol verharrte drei weitere Tage streikend, da er, laut seinem Sprecher Cristian Tralcal, den Versprechungen der Regierung vorerst nicht traute.

Mittlerweile befinden sich die vier Häftlinge in einem Krankenhaus in der Nähe Temucos in medizinischer Behandlung durch Ärzte und machis (spirituelle Autorität und Heiler*in). Der Forderung im Kontext des Hungerstreiks, die Untersuchungshaft in Hausarrest umzuwandeln, wurde nicht nachgegangen. Sonia Trangol, Schwester der drei inhaftierten Brüder erklärt, ihr gesundheitlicher Zustand sei immer noch gefährdet. Sie sähe das Einlenken der Regierung nicht als Sieg, denn es habe einen hohen Einsatz gefordert und schwere Schäden bei den Inhaftierten und ihren Familien hinterlassen. Um unparteiisch behandelt zu werden, müssten sie all das über sich ergehen lassen, „nur weil sie Mapuche sind“.

Im Interview mit Radio Universidad de Chile berichten die Inhaftierten über gesundheitliche Probleme während des Hungerstreiks und äußern Kritik an der Regierung. Pablo Trangol betont darin die unzureichende medizinische Behandlung und geht davon aus, dass Informationen über den schlechten Zustand der Häftlinge nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollten: „Nachdem ich gewogen wurde, sagten sie öffentlich, ich hätte 16 Kilo abgenommen, obwohl es in Wirklichkeit 20 waren.“

Die Hintergründe der Anklage im „Caso Iglesias“ weisen Ungereimtheiten auf.

Die Hintergründe der Anklage im „Caso Iglesias“ weisen Ungereimtheiten auf. Die Inhaftierten sollen im Juni vergangenen Jahres eine evangelische Kirche in Padre Las Casas nahe der südchilenischen Stadt Temuco angezündet haben. Sprecher Tralcal glaubt jedoch an ihre Unschuld: „Sie wurden 100 Kilometer vom Tatort entfernt festgenommen. Ein Polizist nahm sie nach einer allgemeinen Verkehrskontrolle mit auf die Polizeiwache. Und es gibt Ungereimtheiten bei den Zeugenaussagen. Diesen zufolge hätten die Täter Spanisch gesprochen, dabei ist die Muttersprache der vier Angeklagten Mapudungun. Außerdem sagen die Zeugen, die Täter hätten Waffen bei sich getragen, aber im Auto wurden keine Waffen gefunden. Weil die Zeugen anonym sind, ändern sie ständig die Version.“

Gerade aktuell, etwa einen Monat vor den Präsidentschaftswahlen, ist der Umgang mit den Mapuche ein Thema von höchster Brisanz und spaltet die politischen Lager. Der ehemalige Präsident und Mitte-rechts-Kandidat Piñera hält das Einlenken der Regierung für ein Zeichen der Schwäche und warnt vor der Verharmlosung des „Terrorismus“. Noch extremer äußerte sich der rechts-unabhängige Kandidat Kast, der in einer TV-Debatte die Mapuche als „Nomadenvolk“ und damit ohne Anspruch auf Land betitelte. Aus den Reihen des Regierungsbündnisses Nueva Mayoría sprechen sich kritische Stimmen indessen gegen den ungerechten Umgang mit den Mapuche und das Anti-Terror-Gesetz aus. Entwicklungsminister Barraza hatte die Präsidentin bereits mehrfach aufgerufen, die Inhaftierten nicht wie Verurteilte zu behandeln. Der derzeit entstehende, rassistische und diskriminierende Diskurs gegen die Mapuche bereite ihm Sorgen. Gegensätzlich zu rechten politischen Kräften erklärte er, im Süden Chiles gebe es zwar durchaus politisch motivierte Gewalttaten und Demonstrationen, aber keinen Terrorismus.

Trotz Kritik aus den eigenen Reihen, startete die Regierung an Tag 109 des Hungerstreiks eine Großrazzia gegen weitere Mapuche-Aktivist*innen. Scheinbar inspiriert von den Naturkatastrophen, die in den vergangenen Wochen in vielen lateinamerikanischen Ländern eine Spur der Verwüstung hinterlassen haben, stürmte die Polizei im Rahmen einer sogenannten „Operation Hurrikan“ mit gepanzerten Fahrzeugen und Maschinengewehren zeitgleich verschiedene indigene Gemeinden, durchsuchte Wohnhäuser und nahm acht Personen fest.
Die Festgenommen sind Aktivist*innen der Mapuche-Organisationen Coordinadora Arauco Malleko (CAM) und Weichan Aukan Mapu sowie Mitglieder der Autonomen Gemeinde Temucuicui, die sich für die Wiederaneignung von Land und Autonomie im Mapuche-Gebiet einsetzen. Ihnen werden die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Brandanschläge auf Lastwagen vorgeworfen. Als einzigen Beweis präsentierte die Staatsanwaltschaft Telefongespräche und Whatsapp-Unterhaltungen, in denen die Beschuldigten angeblich über Attentate, Geld und Waffen sprachen.

Entwicklungsminister Barraza meint, insbesondere die Verhaftung des CAM-Sprechers Héctor Llaitul hätte ohne die mediale „Effekthascherei“ stattfinden können, die seiner Meinung nach Radikalisierung begünstige. Auch Präsidentschaftskandidat Alejandro Guillier von der aktuell regierenden Nueva Mayoría erachtet die unterschiedliche Behandlung gleicher Delikte durch das Anti-Terror-Gesetz als absurd. Er verstehe nicht, „wieso das Anzünden eines Lastwagens in Santiago ein gewöhnliches Verbrechen, in Araukanien aber Terrorismus“ sei.
Seit einigen Jahren erregt die Anwendung des Anti-Terror-Gesetzes gegen Mapuche auch international Aufsehen. 2013 kam eine unabhängige Untersuchung der Vereinten Nationen zu dem Ergebnis, dass das Gesetz „willkürlich und unklar“ eingesetzt werde. Aktuell appellierten erneut UN-Vertreter*innen sowie die Internationale Liga für Menschenrechte an die chilenische Regierung, das Gesetz nicht gegen weitere Mapuche einzusetzen. Auch Ana Llao, ehemalige Beraterin für Angelegenheiten der Mapuche bei der Indigenenbehörde CONADI, tadelt: „Für die Mapuche-Bevölkerung hat sich die Verfolgung und die Angst aus Zeiten der Diktatur in keinster Weise verändert“.

Viele Aktivist*innen glauben nicht an unabhängige Ermittlungen.

Viele Aktivist*innen glauben nicht an unabhängige Ermittlungen. Pamela Pezoa, Ehefrau des inhaftierten CAM-Sprechers, befürchtet, dass durch die Verhaftung die Ausreise ihres Mannes zu einem Kongress der Vereinten Nationen unterbunden werden solle. Für die Beschuldigten handelt es sich bei der „Operation Hurrikan“ um eine Montage, mit der die Mapuche-Bewegung und ihre Forderungen delegitimiert werden sollen, und um politische Rache an den Anführer*innen der Mapuche-Bewegung für die vielfältigen Aktionen und Proteste in den vergangenen Monaten. Mit Märschen und zahlreichen Besetzungen politischer Institutionen in Santiago und im Süden des Landes zeigten nicht nur Mapuche in den letzten Wochen Solidarität mit den Gefangenen und erhöhten den Druck auf die Regierung.

Neben der Debatte um kostenlose Bildung, um das Rentensystem und eine neue Verfassung ist der Umgang mit den Mapuche zentrales Wahlkampfthema. Die Wahl am 19. November wird den politischen Kurs der nächsten Jahre in dieser Angelegenheit maßgeblich beeinflussen. Nach der Enthüllung der Wahlkampffinanzierung Piñeras durch den Chemiekonzern SQM war nochmal Spannung in den Wahlkampf gekommen. Seine stärksten Konkurrent*innen Guillier und Sánchez hatten in Umfragen zugelegt. Zeitweise lag die Kandidatin des erst im vergangenen Jahr gegründeten Linksbündnisses Frente Amplio sogar auf Platz zwei nach Piñera. Sánchez kündigte an, das Anti-Terror-Gesetz im Falle ihrer Wahl nicht anzuwenden. Aktuelle Umfragen sehen sie jedoch weit abgeschlagen hinter Guillier und Favorit Piñera, der mit 45 Prozent der Stimmen momentan die besten Chancen auf das Amt hat.

Das radikal- und basisdemokratische Bündnis Frente Amplio hat seine Wurzeln in den Studierendenbewegungen und neuen politischen und sozialen Strömungen der letzten Jahre. Es tritt nicht nur als Kraft gegen rechts an, sondern gegen das seit der Diktatur bestehende neoliberale System insgesamt, das vom gesamten politischen Establishment unterstützt wird. Für die chilenische Bevölkerung und die Mapuche wäre eine innovative Politik mit echten politischen Alternativen, die sich von der Vergangenheit distanziert, ein lang benötigter Umbruch.

WO IST SANTIAGO MALDONADO?

In der argentinischen Verfassung sind indigene Rechte verankert. Anspruch und Wirklichkeit klaffen jedoch weit auseinander: Das Recht der indigenen Bevölkerungen auf Schutz ihrer Territorien wird häufig mit Füßen getreten. Im Süden des Landes schwelt seit Jahren ein Konflikt mit den Mapuche, zu denen sich etwa 100.000 Menschen in Argentinien zugehörig fühlen. Bereits seit ihrer Vertreibung und Dezimierung in der Kolonialzeit fordern die Mapuche ihre Gebiete zurück. Doch erst als in den neunziger Jahren große Ländereien in Patagonien an private Investor*innen verkauft wurden und mit Öl- und Gasbohrungen unter den Regierungen der Kirchners (2003-2015) fortgeschritten wurde, brachen die Konflikte zwischen Mapuche und argentinischem Staat offen aus. Die derzeitige Regierung von Mauricio Macri versucht, die Mapuche als Terrorist*innen und Gefahr für die innere Sicherheit darzustellen. Sie hat sogar nachweislich den argentinischen Geheimdienst mit der Aufgabe betraut, Delikte zu erfinden, die die Indigenen hinter Gitter bringen.

Auch das lof (“Gemeinde” auf Mapudungún) Cushamen gehört zum Konfliktgebiet, da es auf dem 900.000 Hektar umfassenden Grundstück des italienischen Kleiderherstellers und Multimillionärs Luciano Benetton liegt. Nach dem Staat und den Provinzen besitzt Benetton am meisten Land in Argentinien. Mehrmals versuchte die Polizei bereits gewaltsam das lof zu räumen. Ihr lonko (“Anführer”), Facundo Jones Huala, sitzt seit Ende Juni im Gefängnis.

Am 1. August griff die Polizei bei einer Straßenblockade für die Freilassung Hualas erneut hart durch. Laut der Aussage von Zeug*innen ging die Polizei mit Schusswaffen gegen die Mapuche vor und brannte deren Zelte nieder. Auch Santiago Maldonado war vor Ort. Maldonado ist selbst kein Mapuche, solidarisiert sich aber mit ihren Forderungen und war zu diesem Zweck in die Gemeinde gereist. Nach dem Angriff der Polizei floh er mit den anderen Aktivist*innen in Richtung eines Flusses. Da er jedoch nicht schwimmen kann, kehrte er auf halbem Weg wieder um. Maldonado versteckte sich in einem Busch, wo die Polizei ihn aufspürte. Die Polizeibeamt*innen verprügelten den jungen Mann, zerrten ihn in ihr Polizeiauto und verschwanden. Laut der Mapuche leitete Pablo Noceti, die rechte Hand von Innenministerin Patricia Bullrich und Vorsitzender des Kabinetts des Ministeriums für innere Sicherheit, die Operation. Dies konnte später durch Fotos und Filmaufnahmen belegt werden.

Nach dem Verschwinden von Santiago Maldonado machten zahlreiche Gerüchte die Runde. Zuerst äußerte die Regierung Zweifel daran, dass er zum Tatzeitpunkt überhaupt am Ort des Geschehens war. Bald fanden Ermittler*innen jedoch in dem Gebüsch, wo sich der Aktivist laut Zeugenaussagen versteckt gehalten hatte, seine Mütze und Blutspuren. Die Auswertung der DNA ist noch nicht abgeschlossen. Regierungsnahe Medien verbreiteten die Aussagen von Personen, die Maldonado gesehen oder sogar im Auto mitgenommen haben wollten. Tatsächlich handelte es sich jedoch nicht um den Verschwundenen. Innenministerin Bullrich ließ verlauten, dass die Familie Maldonado nicht ausreichend mit der Justiz kooperiere, weshalb die Ermittlungen nur schleppend vorankämen.

Die Regierung kommt zunehmend in Erklärungsnöte.

Die Regierung kommt zunehmend in Erklärungsnöte. Dafür sorgt auch eine Liste der unterlassenen oder verspätet eingeleiteten Maßnahmen durch die Verantwortlichen. Denn inzwischen gibt es Informationen darüber, dass auf dem Grundstück Benettons, nahe Cushamen, ein Posten der Militärpolizei stationiert ist. Von dort aus koordiniert die Polizei Aktionen gegen die Mapuche. Doch trotz der Aussagen einiger Zeug*innen, Maldonado sei dorthin verschleppt worden, ordnete der verantwortliche Richter bislang keine Durchsuchung an. Ebenso wenig wurden die Telefonate von Pablo Noceti mit der Polizei ausgewertet. Die Begründung: Es läge kein Verdacht gegen Noceti vor. Menschenrechtsorganisationen sind überzeugt, dass die Ministerin selbst ein Vorankommen bei der Suche nach Maldonado verhindere. Sie fordern ebenso wie viele andere Argentinier*innen ihren Rücktritt.

Währenddessen haben die Familie Maldonado und eine Reihe sozialer und politischer Organisationen eine Öffentlichkeitskampagne gestartet. “Lebend haben sie ihn mitgenommen, lebend wollen wir ihn zurück – JETZT” lautet das Motto, das jede Aktion begleitet. Das Gesicht des 28-Jährigen und die Frage nach seinem Verbleib haben inzwischen die Grenzen des Landes überschritten. Fotos machen die Runde, auf denen Persönlichkeiten wie Noam Chomsky oder die Fraktion von Podemos im spanischen Parlament Poster mit Maldonados Konterfei hochhalten. Hinzu kommen Solidaritätsaktionen vor der argentinischen Botschaft in unterschiedlichen Ländern – so auch in Berlin am 1. September. Auch Lieder, Gottesdienste und Nachtwachen sind Teil der Kampagne. “Es ist entscheidend, soviel Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen, um Druck auf die Verantwortlichen auszuüben. Nur so können wir hoffen, dass die Untersuchungen weitergehen, Santiago lebendig auftaucht und niemand ungestraft davonkommt, so wie es leider schon in anderen Fällen geschehen ist”, sagt Roberto Cipriano, Anwalt und Vorsitzender des Exekutivstabs der Gedächtniskommission der Provinz von Buenos Aires, der als Nebenkläger an dem Fall beteiligt ist.

Am 1. September, einen Monat nach dem Verschwinden Maldonados, fand in Buenos Aires eine Demonstration statt. Mehr als 250.000 Menschen versammelten sich auf der zentralen Plaza de Mayo. Am Ende der Demonstration lieferten sich Polizei und Demonstrant*innen Auseinandersetzungen. Mehr als 30 Personen wurden festgenommen. Zahlreiche Hinweise darauf, dass Polizeibeamte den Protestzug infiltriert und Gewalt provoziert hätten, sorgten für Empörung in der Bevölkerung. Die Festgenommenen mussten jedoch nach 48 Stunden freigelassen werden, da es keine Beweise gab und soziale Bewegungen starken Druck ausübten. Ein kleiner Erfolg für die Protestbewegung. Doch von Maldonado fehlt nach wie vor jede Spur…

“KULTURELLES GEDÄCHTNIS MIT DEFIZITEN”

Warum haben Sie Chile 1986 verlassen und sich für Berlin entschieden?
Ich hatte ein persönliches Angebot bekommen, nach Berlin zu kommen, das ich sofort annahm. Die siebziger und achtziger Jahre in Chile waren schrecklich, ich wollte nichts wie weg. Dass man in einer Diktatur aufgewachsen ist, kann man aus der Biographie nicht mehr wegradieren. Und den Übergangsprozess hin zur Demokratie habe ich nicht mitgemacht, so dass meine Erinnerungen an Chile noch aus Diktaturzeiten stammen. Bis 2015 war ich dort immer wieder zu Besuch, doch nie länger als zwei Wochen. Erst seit 2016 bin ich für längere Zeit dort gewesen. Die Literatur bringt mich ein bisschen nach Chile zurück.

Wie sind Sie vor Ihrer Emigration mit der politischen Situation umgegangen? Haben Sie diese schon literarisch verarbeitet?
Um in der Diktatur Widerstand zu leisten, musste man bereit sein, alles zu riskieren. Ich hatte damals keine radikalen Gedanken und habe Abstand zu allen Ideologien gehalten. Für Leute wie mich gab es im Chile der achtziger Jahre keinen Platz. Meine eigenen Erfahrungen verarbeite ich in meinem neuesten Roman, Luz en Berlín, der die Ereignisse um das Jahr 1989 thematisiert, in denen sich Deutschland und Chile parallel im Umbruch befanden.

Ihr erster Roman, Mestiza, spielt im 17. Jahrhundert, als Chile spanische Kolonie war. Inzwischen erscheint das Buch in der vierten Auflage und wird auch als Fernsehserie verfilmt. Wie erklären Sie sich den großen Erfolg?
Momentan gibt es einen Trend in Chile, in die Geschichte zurückzublicken. Viele historische Romane in anderen lateinamerikanischen Ländern haben sich schon auf die Suche nach Erklärungen für die Gegenwart gemacht, während Chile da ein klares Defizit hat, das wir jetzt versuchen aufzuarbeiten. Dann hat mich ein Produzent gefragt, ob ich Interesse hätte, den Roman als Serie zu verfilmen. Sofort hat sich ein Team gebildet, jetzt sind wir in der Antragsphase. Ich habe schon mit dem Drehbuch angefangen.

In verschiedenen Interviews für chilenische Medien haben Sie betont, dass der Umgang mit der Araucanía – der Region in Südchile, wo traditionell die Mapuche leben – entscheidend für das historische Identitätsproblem der Chilenen sei: Statt die mestizische Herkunft anzuerkennen, hat man sich immer mehr nach Europa orientiert. Wie sehen Sie die heutige Beziehung der Chilen*innen zum Erbe der Mapuche?
Das ist eine Problematik, die von Generation zu Generation verschleppt wurde. Einer der Gründe dafür ist, dass man zu wenig über den historischen Prozess weiß und auch nicht mehr wissen will. Die Bevölkerung, insbesondere die Bourgeoisie, gibt sich mit angeblichen Allgemeinwahrheiten zufrieden und verbreitet diese immer weiter. Es gibt keinen differenzierten Blick in die Vergangenheit, der versucht das Anliegen der Mapuche zu verstehen und dieses mit unserer eigenen Identität zu verknüpfen. Die Protagonistin von Mestiza ist hingegen eine sehr starke Frau, die ihre Identität akzeptiert. Ich hoffe, dass sich die Leserschaft durch diese Figur mit der eigenen Geschichte besser identifizieren kann.

Ihr zweiter Roman, Rugendas, ist nach dem Augsburger Maler Johann Moritz Rugendas benannt, der im 19. Jahrhundert Mittel- und Südamerika bereiste und Landschaft und Menschen porträtierte. Was fasziniert Sie an dieser Person?
Da ich zwischen zwei Welten lebe, interessieren mich die Leute, die Brücken zwischen diesen Welten schlagen. Mich hat Rugendas’ Blick fasziniert. In Chile traf er auf eine Bourgeoisie, die sich sehr wenig um das Wohl des Landes kümmerte. Wenn er Indigene porträtierte, wurde seine Kunst nicht akzeptiert. Niemand wollte in seinem Haus das Porträt eines Indigenen oder Bauern hängen haben, sondern lieber eins des Hausherrn. Das hat Rugendas nicht geboten. Sein Versuch, die Romantik nach Lateinamerika zu transportieren, ist gescheitert. So ist er abgereist und zehn Jahre später als armer Mann in Bayern gestorben. Heute ist er jedoch in vielen Museen an den Orten der lateinamerikanischen Länder, in denen er gearbeitet hat, wie Chile, Argentinien, Uruguay, Brasilien, Mexiko, prominent vertreten.

In welchem Verhältnis stehen für Sie Geschichte und Literatur?
Die Geschichte ist natürlich sehr nützlich dafür, die Gegenwart zu verstehen. Diese Perspektive ist für Lateinamerika als postkolonialer Kontinent sehr wichtig. Unsere Gegenwart ist gänzlich kolonial geprägt, und der Wille der Eliten, etwas daran zu ändern, ist sehr begrenzt. Durch fiktive Figuren, die Geschichte selbst erleben, kann diese noch viel besser erzählt werden. Es geht darum, der Geschichte zusätzlich zur Dimension von Raum und Zeit die Dimension der Emotionen zu geben. Dahinter steht die Frage, wie Menschen eine bestimmte Epoche erleben. Die Protagonistin von Mestiza beispielweise erzählt mit 70 Jahren ihr Leben, ihren persönlichen Eindruck vom kolonialen Königreich Chile.

Im Prolog zu Mestiza sprechen Sie von einem ungeöffneten Originalmanuskript im Archivo de Indias in Sevilla. Existiert diese Quelle?
Nein. Die Technik, ein fiktives historisches Dokument zu erfinden und dieses als realhistorisch zu verkaufen, um eine Geschichte darum zu spinnen, ist in der Literatur sehr beliebt. Ich fand es passend, um die Leserschaft wissen zu lassen, dass die Erzählerin vertrauenswürdig ist. Die Person ist fiktiv, aber es kann sie trotzdem gegeben haben. Die im Roman erwähnten Rahmenkonstellationen des 17. Jahrhunderts sind natürlich real.

Der Roman Rugendas beruht auf dem Briefwechsel zwischen dem Reisemaler aus Deutschland und der Chilenin Carmen Arriagada. Deren Briefe an Rugendas wurden zufällig in Deutschland entdeckt. Sie selbst hat dagegen Rugendas’ Briefe verbrannt, um ihre – rein platonische – Liebesbeziehung vor ihrem Ehemann geheim zu halten. Wie haben Sie in diesem Fall eine reale Geschichte zu Fiktion gemacht?
Bei Rugendas war es ein anderer kreativer Prozess als bei Mestiza. Ich hatte die 235 Briefe der platonischen Geliebten im Iberoamerikanischen Institut in Berlin gefunden, dort gelesen und als realhistorische Quellen verwendet: Basierend auf den Briefen habe ich versucht, die ganze Geschichte von Rugendas in Chile zu rekonstruieren. Somit ist es auch meine Version von Rugendas in Chile.

Könnte man in Bezug auf Ihre Literatur vielleicht von einer Art Geschichtspädagogik sprechen?
Auf jeden Fall. Das kulturelle Gedächtnis in Chile ist sehr defizitär. Miserabel geradezu. Ich habe vom deutschen Umgang mit der Geschichte etwas gelernt, da ich den Eindruck habe, dass zumindest an einigen Stellen das Interesse besteht, ohne Heuchelei in die Vergangenheit zu schauen. Ich stelle jedoch auch in Chile Verbesserungen fest, Mestiza wird heute zum Beispiel auch teilweise in Schulen gelesen.

In der Zeitschrift Crítica schreiben Sie in einem Artikel, dass Ihnen die „bescheidenen“ Autor*innen gefallen und Sie die „eitlen“ ablehnen. Wie definieren Sie „bescheidene“ und „eitle Literatur“?
Das kommt auf die Motivation an, mit der man schreibt. Etwas geben, das ist bescheidene Literatur; und sich zu zeigen, wie man wirklich ist. Ohne Heuchelei eine Thematik anzugehen. Wenn ich anfange, ein Buch zu lesen, kommt mir diese Dichotomie sofort in den Sinn. Wenn sich der Autor zu sehr in den Vordergrund drängt, habe ich keine Lust mehr weiterzulesen.

Haben Sie Beispiele dafür?
Eitel wäre: Schau mal hier, wie toll ich schreiben kann. Bescheiden ist: Schau mal, was ich zu sagen habe. Das kann sich natürlich auch vermischen, diese Unterscheidung ist eine Vereinfachung, die ich für mich gemacht habe, um meinen eigenen kreativen Prozess zu verstehen. Gar nicht eitel ist für mich zum Beispiel Thomas Bernhard. Er entflieht der Eitelkeit in jeder Form. Auch Bukowski. Wahrscheinlich auch deswegen, weil ich im Chile der achtziger Jahre groß geworden bin, wo alles Heuchelei und Eitelkeit war, gefallen mir die Schriftsteller besonders gut, die zum Beispiel über Einsamkeit schreiben. Denn wer einsam ist, ist meist nicht eitel, Eitelkeit entsteht ja erst im gesellschaftlichen Umgang.

Zu Ihren größten Einflüssen zählt der Philosoph Schopenhauer, den Sie mi maestro adoptado, Ihren „Adoptivlehrer“, nennen. Was haben Sie von Schopenhauer gelernt?
Ich glaube, das hat mit seinem klaren Blick auf das menschliche Dasein zu tun. Wie er unsere Ängste erklärt, unsere Aggressivität und unseren Egoismus. Wenn man wie ich das Chile der achtziger Jahre erlebt hat, die ganze Grausamkeit, die Arroganz, die fehlende Empathie, das Absurde und Irrationale, dann ist Schopenhauer ein möglicher Rückzugsort: ihn zu lesen und zu versuchen, diese Motive als menschliche Defizite zu verstehen und sich selbst vor ihnen zu schützen.

Sie leben in Berlin, veröffentlichen aber auf Spanisch und in Chile. Wie schätzen Sie – aus der Ferne – den aktuellen Literaturbetrieb in Chile ein?
Mir gefällt dieser Blick von außen. Der Literaturbetrieb in Lateinamerika ist für mich zum Teil sehr unangenehm, vielleicht ist es auch hier so, aber ich mag den Abstand zu diesem Literaturbetrieb. Ich bin gerne dort, um Kontakte zu knüpfen und zu vertiefen und zu sehen wie die Rezeption meiner Bücher abläuft, aber die Details des Betriebs, die Konkurrenz und all das, vermeide ich lieber. Viele Schriftsteller sind zerstritten und führen teilweise absurde Debatten, die mich nicht interessieren.

Wann werden Ihre Bücher auch auf Deutsch zu lesen sein?
Hoffentlich bald, obwohl ich teilweise sehr spezifisch lateinamerikanische Themen behandle. Aber vor allem Luz en Berlín soll natürlich ins Deutsche übersetzt werden. Ich bin jedoch bisher meine eigene Agentin, und die Literatur ist ein langsamer, akkumulativer Prozess. Bisher weiß ich noch nicht, was mit meinen Büchern passieren wird.

DIE BANK DES GUTEN LEBENS

Wie entstand die Idee, eine Mapuche Bank zu gründen?
Unser Ziel ist es, der armen Bevölkerung des wallmapu, dem Land der Mapuche, bei ihren ökonomischen Problemen zu helfen. Gleichzeitig wollen wir den Konzepten unserer Vorfahren wieder eine Bedeutung geben. Viele solcher indigenen Konzepte sind in Vergessenheit geraten. Stattdessen haben wir die Logik des Neoliberalismus verinnerlicht: Wir wollen immer besser sein als andere, helfen uns nicht mehr gegenseitig, arbeiten alleine und auf uns selbst konzentriert, um möglichst viel Reichtum anzuhäufen. Daran wollen wir ganz praktisch etwas ändern.

Was sind das für Konzepte?
Es geht dabei zum Beispiel um das keyuwün, die Zusammenarbeit, Solidarität und gegenseitige Hilfe. Oder das mingako und das trafkintu, die gemeinschaftliche Landwirtschaft und den Austausch von Saatgut und Ernte. Außerdem das misegun, das Teilen von Wissen und notwendigen Dingen, wie Lebensmitteln. Wir wollen andere Menschen unterstützen und gleichzeitig diese alten indigenen Konzepte des Kooperativismus weiterentwickeln.

Die Kooperative bietet Sparkonten und Kredite an. Wie passt das mit indigenen Konzepten zusammen, bei denen Geld überhaupt keine Rolle spielt?
Wir sind keine normale Bank, uns geht es in erster Linie um das Soziale. Wir versuchen einen Weg zu finden, uns gegen die Politik und das herrschende Wirtschaftssystem zusammenzutun und einen Moment der Solidarität zu schaffen. Die Kooperative soll eine Alternative zu den staatlichen und kirchlichen Strukturen schaffen, die nicht mehr in die heutige Zeit passen und keine Lösungen für die Probleme der Menschen bieten. Das ist kein einfaches Vorhaben, deswegen arbeitet die Kooperative in Kommissionen: Die Bildungskommission kümmert sich zum Beispiel darum, Schülern die kostenpflichtigen Vorbereitungs- und Aufnahmekurse für die Universität zu ermöglichen oder um die Verteidigung unserer Sprache Mapudungun. Es braucht Momente, in denen unsere Sprache gelehrt und weiterentwickelt wird, denn wenn die Sprache stirbt, stirbt auch die Kultur.
In der Projektkommission geht es darum, kleinen Gruppen dabei zu helfen, ihre Vorhaben zu realisieren, dabei geht es oft um die Gründung neuer kleiner Kooperativen. Wir helfen entweder selbst bei der Finanzierung oder zeigen auf, wie staatliche Mittel akquiriert werden können. Im letzten Jahr haben wir etwa zehn Kooperativen unterstützt, die verschiedene Dinge produzieren, zum Beispiel Honig, Pflanzen, Käse, Quinoa oder Kartoffeln. Wir organisieren auch Märkte, auf denen nicht unbedingt mit Geld bezahlt wird, sondern die Waren getauscht werden. Der eine hat Pflanzen, ein anderer Bücher und der nächste Käse oder Eier. Wir wollen solche Ideen ausprobieren und entwickeln und nicht in die Falle des Kapitalismus tappen.

Besteht denn die Gefahr, dass das passiert?
Uns wurde schon vorgeworfen, dass wir einfach eine neue Art des Kapitalismus fördern würden. Aber wir denken, dass auf jeden Fall irgendetwas getan werden muss und wenn wir die Zeit damit verbringen, zu zweifeln, uns zu bemitleiden und auf den nächsten Zusammenbruch der Wirtschaft warten, wird sich nichts ändern. Unsere Idee ist, Dinge in Gang zu setzen. Vieles liegt noch im Dunkeln, aber es gibt immer Menschen, die etwas Licht in diese Dunkelheit bringen. Deswegen ist es sehr wichtig für uns, hier in Europa zu sein und uns vorzustellen. Wir sind offen für jede Art von Unterstützung und denken, dass wir viel voneinander lernen können.

Die Bank ist eine Non-Profit-Organisation und genossenschaftlich strukturiert. Wie funktioniert das in der Praxis?
Unsere momentan 500 Mitglieder zahlen einen monatlichen Mindestbeitrag von 5.000 Pesos, das entspricht sechs oder sieben Euro. Davon wird ein kleiner Teil für die laufenden Kosten der Kooperative abgezogen, zum Beispiel für Miete und Telefon. Der Großteil, etwa vier Euro, wird auf ein Sparkonto eingezahlt. Nach einem Jahr kann das Mitglied das Dreifache des eingezahlten Betrags als Kredit erfragen.
Und dann gibt es noch den Solidaritätsfond, in den ein kleiner Teil eingezahlt wird und mit dem Menschen in schwierigen Lebenssituationen unterstützt werden. Zum Beispiel Familien, die nicht genug Geld für Lebensmittel haben, oder wenn politische Gefangene oder Kranke unterstützt werden müssen. In Chile wird immer noch das Antiterrorgesetz aus der Pinochet-Diktatur angewandt und Mapuche, die ihr Land und die Umwelt verteidigen, werden kriminalisiert. Viele Menschen befinden sich in Haft, einige wurden bereits verurteilt, andere warten noch auf das Urteil, so wie die machi (Heilerin und religiös-spirituelle Autorität, Anm. d. Redaktion) Francisca Linconao. Die Angehörigen brauchen dann oft finanzielle Unterstützung, zum Beispiel für Anwaltskosten und Besuche. Als der junge Mapuche Brandon durch Schüsse eines Polizisten schwer verletzt wurde (LN 512), haben wir die Familie unterstützt, die zwei Wochen lang im Krankenhaus ausharren musste und dort ständiger Diskriminierung und Druck ausgesetzt war. Wir haben der Familie einen geschützten Raum geboten, um sich auszuruhen. Wohl auch deswegen hat sich der Junge angefangen zu erholen. Wir glauben nicht, dass Krankheiten nur eine Person betreffen – manchmal befallen sie die ganze Gemeinschaft und sie müssen auch von der ganzen Gemeinschaft bekämpft werden.

Normale Banken verlangen für Kredite Garantien und feste Einkommen. Die Kooperative richtet sich explizit an Menschen, die diese Kriterien nicht erfüllen. Klappt es trotzdem mit den Rückzahlungen?
Bis jetzt läuft es eigentlich sehr gut. Was die Rückzahlungen betrifft, gibt es nur einige wenige, die Probleme hatten, aber bisher wurden fast einhundert Prozent der Kredite zurückgezahlt. Wir halten ständigen und engen Kontakt mit den Mitgliedern, außerdem sind die Beträge eher klein und die Konditionen individuell angepasst, sodass es den meisten möglich ist, alles wie vereinbart zurückzuzahlen. Der maximale Zins, den wir fordern, sind zwei Prozent. Normale Banken fordern mindestens drei oder vier Prozent. Bei uns sollen sich die Menschen nicht zu Sklaven machen, die nur noch für die Rückzahlung ihres Kredites arbeiten.
Außerdem ist allen bewusst, dass, wenn sie ihren Kredit nicht zurückzahlen, das Geschäft oder Projekt eines anderen nicht realisiert werden kann, obwohl es für die Person oder oft für die ganze Familie oder Gemeinschaft sehr wichtig wäre. Bei uns basiert sehr viel auf Vertrauen, wir wollen auch ein anderes Sich-Kennen erreichen. Die technischen und formalen Aspekte müssen wir noch verbessern und klare Konditionen schaffen, aber uns interessiert in erster Linie, dass Menschen außerhalb des Systems Zugang bekommen. Und davon gibt es viele. In Chile werden immer tolle Wachstumszahlen präsentiert, aber der Mindestlohn liegt gerade einmal bei 250.000 Pesos (340 Euro), ganz zu schweigen von den Renten – viele Menschen bekommen eine Rente von 80.000 Pesos (110 Euro), das reicht nicht einmal für die Medikamente. Es gibt Rentenbescheide über null Pesos, weil die AFPs (privatwirtschaftliche Pensionsfonds, gegen die in Chile seit vergangenem Jahr heftig protestiert wird, siehe LN 507/508, Anm. d. Redaktion) alles geschluckt haben.

Chile ist stark von Neoliberalismus geprägt. Seit der Diktatur ab 1973 haben alle Regierungen ein solches Modell propagiert. Wie schwer ist es heute, Menschen wieder für die alten Ideen zu begeistern?
Es ist schwer. Küme mogen heißt nicht nur gutes Leben, es bedeutet auch Leben in Frieden. Man bezeichnet uns als Terroristen und als kriegerisches Volk, aber ursprünglich haben sich Mapuche nicht für Kriege zusammengetan. Das geschah erst zur Verteidigung gegen Angriffe verschiedener Imperien. Es gab einen sehr starken sozialen Zusammenhalt ohne einen großen Anführer. Solche Ideen heute wieder aufleben zu lassen ist sehr schwer. Deswegen arbeitet die Kooperative in Kommissionen. Die Bildungskommission ist da besonders wichtig. Viele von uns sind Lehrer*innen und arbeiten in Schulprojekten. Bei der Arbeit mit den Kindern merken wir, dass es funktioniert. Bei den Eltern ist es vielleicht schwieriger, denn sie haben kein Vertrauen in das Schulsystem. Vielleicht konnten sie keinen Abschluss machen und hatten nie die Möglichkeit zu studieren. Aber auch mit ihnen muss man reden, und wenn sich ihre Kinder entwickeln, merken sie, dass die Schulen zu einem Wandel beitragen können. Wir versuchen sie in die gemeinschaftliche Arbeit einzubinden. Der Neoliberalismus hat uns zu Individualist*innen werden lassen, wir leben isoliert und voneinander abgekapselt und es ist sehr schwer, dagegen anzukämpfen, aber es ist notwendig. Es gibt auch Mapuche, die sich abkapseln und ihr Wissen mit niemandem teilen – und auch das ist in Ordnung. Das ist auch eine Art von kulturellem Widerstand. Viel zu oft wurde die Offenheit missbraucht, wenn mit dem Wissen einer machi zum Beispiel Heilpflanzen patentiert werden. Es gibt viele, die aus guten Gründen kein Vertrauen mehr haben. Aber es ist wichtig, dass wir nicht in negativen Gefühlen untergehen. Deswegen hat unsere Kooperative auch eine stark spirituelle Basis. Wir denken es ist gut, sich auf alte Konzepte unseres Volkes zu besinnen.

ROTE ERDE

Mitte Dezember fuhr der 13-jährige Isaías mit seinem Fahrrad die Straße von Collipulli in der südchilenischen Region La Araucanía entlang. Mit ihm unterwegs war sein Bruder, der 17-jährige Brandon. Collipulli ist Mapudungún, die Sprache der Mapuche, und bedeutet so viel wie rote Erde – wenig später wurde der Name bittere Realität. Ein Stück weiter die Straße runter trafen sie auf eine Gruppe Polizist*innen, die gerade dabei war, die Insassen eines Fahrzeugs zu kontrollieren. Einer der Polizisten hielt Isaías fest, der erschreckt zu schreien begann. Sein Bruder Brandon kam dazu, aber der Polizist hielt auch ihn fest, warf ihn zu Boden und schoss ihm aus einem halben Meter Entfernung mit einer Schrotflinte Kaliber 12 in den Rücken. Normalerweise ist ein Schuss aus dieser Entfernung tödlich, wochenlang musste Brandon im Krankenhaus behandelt werden.

Der Polizist Cristian Rivera, der auf Brandon geschossen hat, ist nach wie vor im Dienst. Von seinen Kolleg*innen wird er gedeckt, bei der Polizei spricht man von einem Unfall. Brandons Mutter, Ada Huentecol, glaubt das nicht. „Ich habe eine Erklärung verlangt und sie sagten mir, es sei ein Unfall gewesen. Aber wieso haben sie denn auf ihn geschossen, wenn er schon am Boden lag? Meine Söhne sind keine Verbrecher. Ich bin wirklich wütend!“ Das Institut für Menschenrechte in Chile (INDH) erstattete im Januar Anzeige wegen versuchten Mordes gegen die Polizei.

Die Liste der gewaltsamen „Zwischenfälle“ in jüngster Zeit ist lang. Die Territorien der indigenen Mapuche, die ihre Autonomie südlich des Bío-Bío-Flusses über die gesamte Kolonialzeit bewahren konnten, wurden erst in der sogenannten „Pacificación de La Araucanía“ 1861 von Chile besetzt. Damals verteilte der Staat das Land an weiße Siedler*innen. Viele Mapuche verlangen, dass der chilenische Staat ihrem Volk gegenüber seine historische Schuld begleicht. Von den verschiedenen Regierungen Chiles fühlten sie sich immer wieder hintergangen. Bei den vielen lokalen Konflikten geht es meist um die Rückgabe oder Schutz von indigenem Territorium, das sich heute in Privatbesitz befindet und für die Energie-, Forst- und Agrarwirtschaft genutzt wird oder genutzt werden soll. Neben Demonstrationen und Protesten versuchen die Mapuche ihren Forderungen auch mit Landbesetzungen und Brandanschlägen auf Fahrzeuge und Maschinen der Unternehmen Nachdruck zu verleihen. Die Regierungen reagierten darauf mit Repression, sodass sich der Konflikt zusehends verschärfte.

Das Institut für Menschenrechte erstattete Anzeige wegen versuchten Mordes gegen die Polizei.

In jüngster Zeit häufen sich wieder die Zwischenfälle: In Ercilla stürmten Ende Januar über hundert Polizist*innen mit gepanzerten Fahrzeugen, die Tränengas versprühten, eine Mapuche-Gemeinde während einer kulturellen Feier. Für die Aktion gab es keinen richterlichen Beschluss. Die Polizist*innen schossen auf die Anwesenden und nahmen elf Personen fest, darunter fünf Minderjährige und zwei Neugeborene, wie ein anwesender Reporter von werken.cl berichtete.

In Freire, südlich der Stadt Temuco, nahmen Sicherheitskräfte Mitte Januar bei einer weiteren Personenkontrolle drei Mapuche-Frauen wegen Störung der öffentlichen Ordnung fest, eine von ihnen war minderjährig. Die Anwältin der Frauen, Manuela Royo, erklärte gegenüber Radio Villa Francia, Polizist*innen hätten die drei geschlagen, beleidigt und ihre Waffen auf sie gerichtet, auch nach der Festnahme, im Inneren des Polizeiautos: „Die Situation dort war extrem gewalttätig, die Polizisten wollten insbesondere der Jüngsten Angst einjagen. Auch die Informationen über ihren Aufenthaltsort wurden über mehrere Stunden zurückgehalten. Die Frauen wurden mittags festgenommen und tauchten erst wieder gegen 18 Uhr auf der Polizeistelle in Temuco auf. Die Polizei hat sie geschlagen und einer der Frauen den Arm umgedreht, das verstehen wir ganz klar als Folter.“

In Tirúa, etwa 150 Kilometer westlich von Collipulli in der Region Bío Bío schossen Polizisten Ende Dezember auf ein Fahrzeug mit einer Gruppe unbewaffneter Mapuche. Zwei der Insassen wurden von den Kugeln getroffen und schwer verletzt. Nach Angaben von Radio Villa Francia behauptet die Polizei, das Auto hätte trotz Aufforderung der Beamt*innen nicht gehalten, woraufhin diese das Feuer eröffnet hätten. Isaac Neculqueo, Präsident der indigenen Gemeinschaft, versicherte jedoch das Gegenteil: „So eine Polizeikontrolle hat niemals stattgefunden, die Polizisten haben aus dem fahrenden Auto geschossen und sind dann abgehauen.”

Die Liste ließe sich beliebig fortführen. Durch die hohe Polizeipräsenz und die zunehmende Militarisierung der Region wird der Konflikt immer schärfer. Laut einem Polizeibericht des vergangenen Jahres sind allein in der Region La Araucanía knapp 1400 Polizist*innen stationiert und 50 gepanzerte sowie über 90 halbgepanzerte Fahrzeuge im Einsatz. Neben den ständigen Personenkontrollen werden auch geheimdienstliche Aktionen durchgeführt und raumbezogene Datenverarbeitungssysteme wie Radaranlagen, Drohnen, Flugzeuge und Helikopter eingesetzt. Mit dem Schutz der Bevölkerung hat das erhöhte Polizeiaufgebot jedoch nichts zu tun. Es dient in erster Linie dem Schutz von Unternehmen. Im Süden Chile existieren 77 große Forstindustrieanlagen in drei Regionen: 47 in Los Ríos, sieben in La Araucanía und 23 in Bío Bío. 15 stehen unter dauerhaftem Polizeischutz. Neun davon gehören zu Forestal Mininco. Das Unternehmen ist Teil der Matte-Gruppe. Matte ist eine der einflussreichsten Familien Chiles. Der Konzern steht unter  dem Verdacht der Korruption und Preisabsprache und gilt als wichtiger Akteur, der maßgeblich den Konflikt mit den Mapuche polarisiert.

Durch die zunehmende Militarisierung der Region wird der Konflikt immer schärfer.

Auch juristisch geht der chilenische Staat gegen die Indigenen des Landes vor. Ein emblematischer Fall ist der der Machi (Heilerin und religiös-spirituelle Autorität) Francisca Linconao, die sich neun Monate in Untersuchungshaft befand. Ihr wird vorgeworfen, an einem Brandanschlag auf das Anwesen der Familie Luchsinger im Januar 2013 beteiligt gewesen zu sein, bei dem die Großgrundbesitzer*innen Werner Luchsinger-Mackay und seine Frau Vivianne Mackay ums Leben kamen. Das Ehepaar befand sich seit Jahren in direkter Konfrontation mit den indigenen Gemeinden der Zone, Francisca Linconao war daran jedoch nicht beteiligt. Sie streitet ab, etwas mit den Geschehnissen zu tun zu haben und die Beweislage gibt ihr recht. Die Beweise, die die Staatsanwaltschaft vorbrachte, waren nicht nur nicht ausreichend, sondern stützten sich auch auf falsche und unter Folter erbrachte Zeugenaussagen. Im Umfeld der Machi glaubt man, dass man sie mit dem Fall in Verbindung bringen will, um Rache dafür zu nehmen, dass sie sich seit Jahren unermüdlich für die Rückgabe ehemalig indigenen Territoriums an die Mapuche-Gemeinden einsetzt. Und sie ist kein Einzelfall: 2014 wurde bereits der Machi Celestino Córdova im Fall Luchsinger-Mackay nach einseitigen Ermittlungen und einer zweifelhaften Beweislage wegen Brandstiftung mit Todesfolge zu 18 Jahren Haft verurteilt.

Dass auch die Machi Francisca Linconao trotz mangelnder Beweise einem so langen Freiheitsentzug ausgesetzt wurde, liegt am chilenischen Anti-Terror-Gesetz aus Diktaturzeiten. Es räumt der Staatsanwaltschaft umfangreiche Möglichkeiten bezüglich Ermittlung und Anklage ein, wenn es sich um des Terrorismus Verdächtige handelt. „In der Region Araucanía herrscht ein anderes Recht. Eines, das auf Mapuche und ihre Anführer*innen angewendet wird und demzufolge die Staatsanwaltschaft keine Beweise für begangene Verbrechen vorlegen muss, um Angeklagte einsperren zu lassen. Es reicht, sie anzuklagen. Der Angeklagte und seine Verteidigung müssen dann die Unschuld des Angeklagten beweisen. “Verkehrte Welt“, schrieb der unabhängige Abgeordnete und Mitglied der Menschenrechtskommission Gabriel Boric in einem offenen Brief.

Bereits vor drei Jahren verurteilte der Interamerikanische Gerichtshof (CIDH) den chilenischen Staat für begangene Menschenrechtsverletzungen am Volk der Mapuche. Die chilenischen Gerichte hätten das Legalitätsprinzip und das Recht auf Unschuldsvermutung in mindestens acht Fällen verletzt, so der Gerichtshof in San José, Costa Rica. Dennoch erlebt die Machi Francisca Linconao heute wieder genau das. Zwar konnte sie mit einem 14-tägigen Hungerstreik kürzlich bewirken, dass die vorbeugende Haft in einen Hausarrest umgewandelt wurde, aber der eigentliche Prozess steht noch aus. Das Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofes scheint keinerlei Effekt gehabt zu haben.

Newsletter abonnieren