Jahrzehnte des Totschweigens

Der Durst nach dem duftenden Gebräu ist unstillbar -– von Washington über Madrid bis zum kaiserlichen Wien. El Salvador, das kleine Land in Mittelamerika, richtet deshalb Ende des 19. Jahrhunderts seine Wirtschaft komplett auf den Export von Kaffee aus. Einige wenige Familienclans reißen dabei 90 Prozent des Landbesitzes an sich. Den Ureinwohner_innen wird damit die Grundlage der Subsistenzwirtschaft geraubt und sie sind gezwungen, auf den Kaffeeplantagen zu schuften. Sie verarmen immer mehr, bis es schließlich zum gemeinsamen Putschversuch von tausenden indigenen Landarbeitern und der kommunistischen Partei kommt. Das Militär schlägt die Revolte nach nur drei Tagen nieder. Doch trotz des klaren Sieges will die Staatsmacht ein Exempel statuieren. So kommt es zu jenem Genozid, der später als La Matanza („die Schlächterei“) in die Historie eingeht. An den Orten des Aufstandes werden alle Männer über 18 Jahren hingerichtet, viele Frauen vergewaltigt. Ebenso werden Kinder ermordet, die das indigene Nahuat sprechen oder traditionelle Kleidung tragen. Es ist nur eines von vielen blutigen Kapiteln in der Geschichte El Salvadors.
Das Land ist etwas größer als Hessen und hat heute zirka sieben Millionen Einwohner_innen. Die Wirtschaft ist eng an die der USA gekoppelt. In die Schlagzeilen kommt El Salvador -– wenn überhaupt -– nur wegen der ausufernden Bandenkriminalität. 200.000 Salvadorianer_innen werden heute noch als Nahuat-Pipil im ethnischen Sinn eingestuft. Einer von ihnen ist Roberto Mendez. Seine Art zu sprechen verrät, dass der 22-Jährige schon einiges durchgemacht haben muss: „Schauen Sie uns an, wir sehen einfach anders aus als der Rest! Klein und dunkel, einfach anders. Nicht nur deshalb werden wir diskriminiert, sondern auch weil wir arm sind!“. Bei der letzten Volkszählung gaben weniger als 100 Personen Nahuat als Muttersprache an. Noch gibt es die Alten in den entlegenen Gemeinden, die sich trotz des jahrzehntelangen Verbotes an die Worte von früher erinnern. Doch nach und nach sterben sie. Ihre Kinder, Enkel_innen und Urenkel_innen beherrschen meist nur ein paar Phrasen auf Nahuat, Roberto ist hier keine Ausnahme. Setzt sich der Trend fort, wäre El Salvador nach Uruguay das zweite Land auf dem amerikanischen Festland, in dem keine indigene Sprache mehr gesprochen wird.
Seit der Jahrtausendwende gibt es deshalb Schul- und Kindergartenprojekte zur Erhaltung der Nahuat-Pipil-Kultur. Jorge Willer Patriz ist der Bürgermeister von Nahuizalco, einem verschlafenen Städtchen mit einem hohen Anteil an indigener Bevölkerung: „Seit einigen Jahren gibt es Festivals, Wochenend-Sprachkurse und ein Nahuat-Pipil-Museum. Wir als Gemeinde unterstützen das so gut es geht“. Man glaubt es dem gelernten Mediziner, er freut sich sichtlich darüber mit einem Reporter aus Österreich über das Thema zu sprechen: „Ich habe an einer privaten Universität studiert. Wenn früher jemand Indio zu mir gesagt hat, hat mich das sehr gestört. Heute bin ich stolz auf meine indigenen Wurzeln. Deshalb ist es mir auch ein Anliegen, dass unsere Jugendlichen lernen, wo wir herkommen. Denn auch heute noch schämen sich viele dafür – besonders wo doch so viele Moden aus den USA zu uns kommen. Sie sollen wissen, dass die Pipiles Praktiken pflegen, die sich vom Rest unterscheiden und dass man genau das respektieren muss.“ Neben Glaube, Sprache, Kleidung und Kunsthandwerk ist auch das traditionelle Essen ein wichtiges Element, das es zu erhalten gilt. Darüber hinaus die Naturheilkunde und rituelle Maskentänze, die -– wie so oft auf dem amerikanischen Kontinent -– aus einer Verschmelzung von katholischen und indigenen Praktiken entstanden sind.
Auch nach den Schrecken des Bürgerkrieges in den 80er und 90er Jahren kommt der geschundene Kleinstaat nicht zur Ruhe.
Wegen der maras, extrem gewalttätigen Jugendbanden, die ganze Landstriche in Geiselhaft halten, ist El Salvador heute eines der gefährlichsten Länder der Welt. Könnte die hohe Gewaltbereitschaft ein Resultat davon sein, dass man einer ganzen Gesellschaft die Wurzeln genommen hat? „Viele Menschen hier bei uns tun sich schwer damit, sich einzugliedern und sich zu orientieren. Die cosmovisión indígena (die indigene Weltsicht, Anm.) spricht ja davon, in Harmonie und Respekt mit allem Leben zu sein -– also genau das Gegenteil von dem, was wir hier jeden Tag erleben müssen“, antwortet Flor Elena López nachdenklich auf diese Hypothese. Die quirlige Frau Mitte 20 engagiert sich für ACISAM, einer Organisation, die einst zur Betreuung von Bürgerkriegsopfern gegründet wurde. Heute ist die Erhaltung der Nahuat-Pipil-Kultur im Fokus. „Die Jahrzehnte des Totschweigens des Massakers von 1932 wurden mit unserem Kulturstammtisch endlich gebrochen. Die Leute interessieren sich wieder mehr für die Geschichte. Und die indigenen Aktivisten und Aktivistinnen vernetzen sich immer mehr!“, freut sich Flor Elena López.
Viele Nahuat-Pipil erzählen unterdessen von der alltäglichen Herabsetzung. So auch Doña Wilma, aus einem Dörfchen im Nordwesten des Landes, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen. Sie spricht langsam, scheint jedes Wort abzuwägen: „Ich finde eigentlich nicht, dass sich das verbessert hat. Wir sind immer noch arm und das ist die schlimmste Form der Diskriminierung. Das was mein Mann verdient, brauchen wir für den täglichen Einkauf. Sonst bleibt nichts übrig. Und das geht nicht nur mir so -– als Armer ist man immer unten durch!“. Die Gesellschaft in Mittelamerika ist nach wie vor tief im Klassendenken verankert, die Indigenen sind in der Regel ganz unten. Die Mitte-Links-Regierung in der Hauptstadt San Salvador hat die Rechte der Nahuat-Pipil inzwischen anerkannt. Auf finanzielle Unterstützung hofft man hingegen vergeblich. Deshalb werden die Nahuat-Initiativen von entwicklungspolitischen Organisationen finanziell gefördert. So sollen die Aufarbeitung der Geschichte und das Bewusstsein für das Thema gestärkt werden.
Die oppositionelle Alianza Republicana Nacionalista gedenkt hingegen auch heute noch des „Retters des Vaterlandes“, Maximiliano Hernández Martínez. Der General war 1932 maßgeblich für La Matanza verantwortlich. So zynisch es klingen mag: Die Großgrundbesitzer haben ganze Arbeit geleistet, alles Indigene in El Salvador zu vernichten. Ganz ist es ihnen zum Glück nicht gelungen. Auch viele Ortsnamen zeugen mit ihren zungenbrecherischen Namen noch heute von den Ursprüngen. Jetzt gilt es zu verhindern, dass die Schilder am Eingang von „Ahuachapán“, „Chalchuapa“ oder „Texistepeque“ zu den letzten Überbleibseln einer uralten Kultur werden. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit.

„Die Straffreiheit war grenzenlos in El Salvador“

El Salvador hatte über viele Jahre hinweg einen schlechten Ruf beim Thema Menschenrechte. Hat sich dieser seit dem Amtsantritt der Regierung von Präsident Mauricio Funes 2009 verbessert?
David Morales: Auf jeden Fall. Die rechten Vorgängerregierungen haben sich wenig um die Erfüllung der staatlichen Pflichten beim Schutz der Menschrechte gekümmert. Erstmals sieht nun eine Regierung in El Salvador ihre Einhaltung als eine Aufgabe des Staates an. Sie hat neue Institutionen geschaffen, um verschiedene Rechte durchzusetzen: Das Sekretariat für soziale Inklusion, den Beirat für Kindheit und Jugend und den Beirat zum Schutz der Migranten. Zum Selbstverständnis des Staates gehört es heute aber auch, die Rechte von Behinderten, Homosexuellen und Transsexuellen zu schützen.Der Staat verhält sich heute ganz anders gegenüber den Opfern von Menschenrechtsverletzungen. Dies gilt vor allem für die vielen Opfer von Menschenrechtsverletzungen aus den Jahren des Bürgerkriegs.

In El Salvador herrschte seit jeher Straffreiheit bei Menschenrechtsverletzungen. Vertreter_innen von staatlichen Institutionen wie Polizei und Armee wurden für ihre Taten nicht zur Rechenschaft gezogen. Hat sich das geändert?
Morales: Die jahrzehntelange Straffreiheit für Menschenrechtsverletzungen wurde nicht mit dem Friedensabkommen von 1992 beendet. Schuld daran ist die Generalstaatsanwaltschaft, die nicht aktiv wird, um Straftaten zu untersuchen und diese vor Gericht zu bringen. Dies gilt sowohl für die Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit als auch für aktuelle Delikte.

Hat sich denn bei der Staatsanwaltschaft in den letzten Jahren nichts verändert?
Morales: Leider nein. Das gilt für das gesamte Justizsystem. Nach dem Ende des Bürgerkriegs gab es weder eine Justizreform noch dringend notwendige Entlassungen von belastetem Personal. Durch eine Strafrechtsreform vor einigen Jahren wurde die Macht der Generalstaatsanwaltschaft sogar noch ausgeweitet. Wenn sie sich weigert, Ermittlungen einzuleiten, werden auch keine Verfahren eröffnet. Aufgrund der personellen Kontinuität kommen Menschenrechtsverletzungen nicht vor Gericht. Der Präsident hat keinerlei Einfluss auf die Justiz und kann da nichts ändern.

Straffreiheit hat auch mit der Fähigkeit des Staates zu tun, Verbrechen angemessen zu untersuchen und vor Gericht zu bringen. Hat sich bei der Polizei unter der neuen Regierung ebenfalls nichts verändert?
Zaira Navas: Wenn Verbrechen nicht oder nicht angemessen untersucht wurden, lag dies nur in manchen Fällen an unzureichenden technischen Fähigkeiten der Polizei, oft fehlte ganz einfach die Bereitschaft, diese Fälle aufzuklären. Und genau dies macht den Kern von Straffreiheit aus. Diese war grenzenlos in El Salvador.
Um die enorme Gewalt zu bekämpfen, aber auch um gegen die Straffreiheit anzugehen, hat die Regierung Funes eine Nationale Politik für Recht, Sicherheit und Zusammenleben erarbeitet, ein absolutes Novum in der 200-jährigen Geschichte des Landes. Die technischen Fähigkeiten der Polizei zur Verbrechensbekämpfung, ihre Ausbildung und finanziellen Mittel wurden deutlich gestärkt.

Hat das gereicht? Um gegen die Gewalt im Land vorzugehen, patroullieren die Streitkräfte in den Straßen. Dabei dürfen sie laut Friedensabkommen nur noch zur Landesverteidigung eingesetzt werden.
Navas: Die öffentliche Sicherheit ist keine Aufgabe der Armee. Aber die Bevölkerung will die Armee auf der Straße haben, die Menschen fühlen sich sicherer, wenn Soldaten patroullieren. Da müssen wir noch einige Überzeugungsarbeit leisten, dass dies eine Aufgabe für zivile Kräfte ist. Wir brauchen aber auch eine bessere Verteilung der Haushaltsmittel. Die gewalttätigen Jugendbanden sind auch eine Folge der jahrzehntelangen einseitigen Mittelverteilung: Repression statt Sozialarbeit.

Und da hat sich unter der neuen Regierung nichts geändert?
Navas: Über den Haushalt entscheidet das Parlament, und das wird von der Rechten kontrolliert. Deswegen hat die Regierung nur einen geringen Spielraum, um mehr Geld für den Sozialbereich auszugeben. Hinzu kommt, dass zwanzig Jahre rechter Regierungen die Bevölkerung darauf gepolt haben, dass man mit Gewalt auf Gewalt antwortet.

Im Frühjahr gab es Verhandlungen mit den Chefs der maras, der berüchtigten Jugendbanden. Darf ein Rechtsstaat mit Kriminellen verhandeln?
Navas: Die Regierung hat zu keiner Zeit bestätigt, dass sie mit diesen Verhandlungen etwas zu tun hatte. Dazu können wir also nichts sagen. Der ursprüngliche Weg der Regierung war jedenfalls richtig: eine Politik der öffentlichen Sicherheit einzuschlagen, bei der die Menschenrechte geschützt werden. Die der Opfer, aber genauso auch die Rechte derjenigen, die Verbrechen begangen haben. Deswegen ist es richtig, dass die Anführer der maras in normale Gefängnisse verlegt wurden, ganz gleich, ob dies nun ein Ergebnis der Verhandlungen war oder nicht. In den Hochsicherheitsgefängnissen waren ihnen alle nur erdenklichen Rechte verwehrt – aus Menschenrechtsperspektive ist dies nicht akzeptabel.
Die Auswirkung der Verhandlungen auf die öffentliche Sicherheit ist, dass sich die beiden größten maras heute nicht mehr so wie früher bekämpfen und dass die Zahl der täglichen Morde um 36 Prozent zurückgegangen ist. Es wird deutlich: Wir dürfen Verbrechensbekämpfung nicht nur unter dem Aspekt der Repression betrachten, sondern müssen auch die sozialen Aspekte beachten.

Infokasten:

David Morales leitet seit 2009 die Menschenrechtsabteilung des salvadorianischen Außenministeriums. Zuvor hat er bei der staatlichen Menschenrechtsprokuratur, beim Rechtshilfebüro der katholischen Kirche Tutela Legal sowie bei der Nichtregierungsorganisation FESPAD gearbeitet.

Zaira Navas hat bis 2005 bei der staatlichen Menschrechtsprokuratur und bis 2009 bei der Asociación Pro-Búsqueda de Niños gearbeitet, einer Organisation, die versucht, die während des Bürgerkriegs von der Armee entführten Kinder ausfindig zu machen. Danach war sie zweieinhalb Jahre lang Generalinspektorin der Zivilen Nationalpolizei (PNC). Sie trat aus Protest gegen die Ernennung eines Generals zum neuen Polizeichef zurück. Seit März 2012 ist sie Direktorin des Nationalen Rats für Kindheit und Jugend.

Zeitschrift der Widerspenstigen

Der Hip-Hop-Laden ToxikA in der dritten Avenida auf der Höhe der 12. Straße offeriert im Vorderraum von Spraycans über Sticker, Poster und original-verzierten T-Shirts und Mützen alles, was das Herz des Graffiti-Fans begehrt. Dahinter wohnt Kunti, die den Laden vor ein paar Jahren eröffnet hat in einem mittelgroßen Zimmer. Eine Matratze, ein Sofa, ein Computer, aus dem Hiphop tönt, und eine Ecke, die als Lager für den Laden fungiert, das ist das Reich der Fünfundzwanzigjährigen, die als eine der Pionierinnen der weiblichen Streetartszene Guatemalas gilt.
„Ich habe angefangen zu taggen, meine Kunst war damals also noch sehr einfach, aber ich war von Anfang an auf der Straße, also im nicht legalen Ambiente, und das hat mir damals schon Respekt verschafft“, sagt Kunti, deren Künstlername Tuti ist. Seither hat der Austausch mit nationalen und internationalen Künstler_innen ihr Leben und ihre Kunst bereichert. Chuck aus Nicaragua war hier, Blu aus Italien, Stingfish aus Kolumbien, die Crew des Illegal Squat aus Mexiko-Stadt, und Grafiteras wie Aisha aus Kanada oder Rank aus Acapulco. Ich habe viel von diesem Austausch gelernt, meinen Tag geändert, zu sprayen begonnen, bin thematisch und stilistisch komplexer geworden.“
Guatemalas Grafiteros und Grafiteras schöpfen aus einer reichen Vielfalt von Themen und Kulturen, die zumindest in Zentralamerika ihresgleichen sucht. Die jüngere Geschichte Guatemalas, die 35-jährige Militärdiktatur werde nach wie vor von politisch Aktiven thematisiert, zum Beispiel durch die „Hijos“, eine Organisation der Kinder von Diktaturopfern, die regelmäßig mittels Parolen und Murales im öffentlichen Raum fordern, die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen und so die Erinnerung an das dunkelste Kapitel der guatemaltekischen Geschichte wachhalten. Da gibt es die christliche „En Diós Confiamos“-Crew, die Tauben, Kreuze und Bibelsprüche an Vorstadtwänden anbringt. Da sind neuerdings auch die Jugendlichen unter dem Regenbogen, die der stetig wachsenden schwulen Bewegung mittels farbenfrohen Stencils Ausdruck verleihen. Und 180 Grad davon weg sind die Maras, die gefürchteten Jugendbanden Zentralamerikas, die mittels Graffitis ihre Territorien abstecken.
Gerade die Maras haben den ersten Grafiteros das Leben am Anfang schwer gemacht. Nicht sie selbst, sondern ihr Ruf und die Polizei, die noch vor wenigen Jahren in jedem sprayenden und taggenden Jugendlichen einen Staatsfeind sah. SOFT hat diese Erfahrung zu Beginn seiner Karriere vor acht Jahren zur Genüge gemacht. Die Zone Sechs, wo SOFT aufwuchs, gilt zwar nicht als Hotspot der Kriminalität, wie die Limonada in der Zone Fünf oder die Barrios weiter draußen. Aber die „Bullen“ hätten überall Jagd auf Jugendliche gemacht, die nicht so aussahen oder sich so benehmen wollten, wie es sich angeblich gehört. Nachts sprayen war nach den ersten heftigen Erfahrungen mit der Polizei, mit gezückten Waffen, derben Sprüchen und körperlichen Übergriffen nicht mehr das Wahre. „Bei Nacht hat man uns für Mara gehalten, am Tag für Anstreicher, das war dann doch entspannter“, grinst SOFT.
SOFT kommt im Gegensatz zu vielen Grafiteros nicht aus der Mittelschicht, sondern aus dem Barrio. Er arbeitet auf einem Parkplatz, in der Zone 1, das Büro ist gleichzeitig Treffpunkt der Crew. Der dunkle Nebenraum ist komplett bemalt und besprayt, eine Mischung aus Lagerraum für Graffitiutensilien, Atelier und Pennplatz. „Ich mag es, in der Nähe zu malen, wo ich wohne, damit ich meine Werke täglich sehen kann! Ich will den Leuten zeigen, dass das Leben vielfältig ist und dass man sich nur umschauen muss, um interessante Sachen zu sehen, zum Beispiel ein Graffiti, zum Beispiel Gesichter.“ Ein Werk, nur einen Steinwurf vom Parkplatz entfernt, drückt das aus: „Menschen haben mehrere Gesichter. Einige haben zwei Gesichter, wie ein großes Monster. Andere ändern ihren Ausdruck nach Stimmungslage und Uhrzeit. Ich zeige die Stadt mit ihren Gesichtern, die sonnendurchfluteten Straßen, die Berge, die die Stadt umgeben. Die Stadt inspiriert mich, sie erzeugt in mir Bilder und diese Bilder versuche ich, auf die Wände zu bringen.“
Eine Strategie, beim Stadtverschönern die Polizei in Schach zu Halten, sei das gezielte Mitnehmen von Frauen, berichtet Kunti, die sich darüber auch ihren Platz in den einstigen Männerclubs gesichert hätten. Vor allem nachts sind die Streifen meist nur mit Männern besetzt und die dürfen Frauen nicht durchsuchen. Kommt die Polizei, schnallen sich die Frauen im Team die Ausrüstung um. Überhaupt müsse man wissen, was die Polizei darf und was nicht. „Festnehmen dürfen sie dich schon mal gar nicht, Sprayen und Taggen ist eine Ordnungswidrigkeit und allenfalls eine Sachbeschädigung“, erklärt Kunti. Dennoch kann es unangenehm sein, von der Polizei zur Aufnahme von Personalien mitgenommen zu werden und war es auch für ARIS, als sie zum ersten Mal mit auf die Wache musste: „Ich wusste damals nicht, wie das abgeht und die Leute hier haben ja traditionell Angst, vom Staat mitgenommen zu werden. Mir war da auch ganz schön mulmig. Aber im Endeffekt passiert nichts, du kriegst nicht mal ne Anzeige, weil das der Polizei viel zu viel Arbeit ist!“
ARIS sprayt und malt, was sie persönlich bewegt. Meistens sind das Köpfe von Personen, die oder deren Tun ihr viel bedeuten. „Nicht alle wissen, wen ich da gerade darstelle, aber diejenigen, die es wissen, erkennen auch, warum“, sagt die 20jährige, die ein bisschen die nächste Generation von Frauen in der Szene repräsentiert. Eine der Persönlichkeiten, die sich dank ARIS oft auf Häuserwänden des Zentrums wiederfinden, ist die uruguayisch-argentinische Sängerin Alika, ursprünglich Teil des Hiphop-Duos Actitud María Marta. Was als recht einseitige Idol-Fan-Beziehung begann, ist heute eine Freundschaft, seit Alika auf Tour in Guatemala auf ihr Konterfei gestoßen ist. Heute hängt handsigniertes Alika-Material in ARIS‘ winzigem Zimmer im hinteren Bereich des Hiphopladens, während ARIS‘ Original-Stencil mittlerweile in Argentinien ist. ARIS ist sichtbar stolz, dass ihr Werk, ihr Ansatz, bekannte und unbekannte starke Frauen in die guatemaltekische Öffentlichkeit zu tragen, im Stande ist, etwas zu bewegen.
Kunti dagegen malt keine Idole. Politisch sei ihr Werk aber dennoch. Wann immer Frauenevents in Guatemala stattfinden, ist Kunti dabei und sprayt mit anderen Frauen zum gegebenen Anlass: „Wir kommen ja aus einer Kultur des Machismus und das wird bis heute auch in unserer Szene reproduziert“, meinen Kunti und ARIS. „Wir müssen uns auch heute noch oft unseren Platz erkämpfen, wenn eine Crew zum Sprayen losziehen will. Wir seien zu langsam, oder zu schwach, wenn die Bullen kommen.“ Die Ideologie, dass Frauen es nicht können, die gebe es immer noch. Als Antwort darauf gründeten Grafiteras ihre eigenen Crews, temporär zumeist auf Festivals, wie beim ersten „hiphop feminino“ 2011 in Guatemala-Stadt, für das die Stadtverwaltung sogar eine lange Mauer am Rande der Zone Eins zur Verfügung stellte. Das überrascht in einer bis heute sehr autoritären Gesellschaft, wo Mann es gewohnt ist „widerspenstige“ oder „auffällige“ Menschen, vor allem Jugendliche und Frauen, zu verfolgen, statt zu fördern.
Wieder fällt der Blick zurück auf die gewalttätige Geschichte Guatemalas. Kunti und SOFT sind noch in der Diktatur geboren, ihre Eltern haben die Schrecknisse hautnah miterlebt. Jährlich über 5.000 Mordopfer und die Antwort des Staates
auf soziale Proteste zeigen, dass die Vergangenheit noch immer ihre Schatten auf die Gegenwart wirft. Die politische Graffiti-Szene nimmt das auf, nutzt Bilder aus der Diktaturzeit für aktuellen Protest. Das Auge, das Ohr und das Schwein zum Beispiel: „Das ‚Auge‘ sah etwas, das ‚Ohr‘ hörte etwas und das wurde dann den Spitzeln der Militärpolizei weitergetragen, den ‚Schweinen‘, wie sie hier hießen. Genau diese drei Elemente finden sich in politischen Graffities wieder, zum Beispiel während brutaler Polizeieinsätze während der Proteste gegen das Freihandelsabkommen im Jahr 2005.
Das Ereignis hat Kunti zusätzlich politisiert und drei Jahre später erlebte die damals 21jährige auf dem Amerikanischen Sozialforum ihre vielleicht schönste Erfahrung. Das Forum, 2008 an der staatlichen Universität San Carlos (USAC) durchgeführt, brachte soziale Bewegungen und Künstler_innen aus ganz Amerika zusammen. Die USAC als intellektuelles Zentrum Guatemalas war dazu während der Diktatur ein Zentrum des Widerstandes: „Hier mit meiner Kunst präsent zu sein, neben Murales von so bedeutenden Künstlern und Diktaturgegnern wie Ramírez Amaya, das ist einfach großartig!“
Die Stadt mag zwar seit kurzem öffentlich Räume zur Verschönerung freigeben, unautorisiertes Sprayen wird aber nach wie vor verteufelt, vor allem von den Medien, die wie auch andernorts von Verschandelung sprechen und die Politik vor sich her treiben. Kuntis Antwort darauf fällt klar aus: „Natürlich ist die illegalisierte Kunst weniger ausgefeilt, als genehmigte Events. Soll die Stadt doch einfach mehr Räume zur Verfügung stellen. Aber die klopfen sich selbst auf die Schultern, wenn wir Grafiteros auf deren Events sprayen und verteufeln dieselben Leute, wenn wir illegal unterwegs sind.“ SOFT sieht das anders, er will keine genehmigten Flächen. Für den Mittzwanziger und mittlerweile alten Hasen der Streetartszene ist die Essenz des Graffitis das Pfeifen auf eine Autorisierung. „Wer autorisiert, bestimmt die Regeln, damit geht das verloren, was mir am Wichtigsten ist. Es ist meine Stadt, sie gehört nicht nur denen, die Besitz oder Macht haben!“
Auch wenn nicht alle Künstler_innen eine politische Botschaft hätten, meint ARIS, so „macht dich die Tatsache, dass dein Werk im öffentlich Raum steht, zu einem Kommunizierer.“ Gerade Kinder und Jugendliche nähmen Graffities mit großem Interesse wahr, wiesen Eltern und Freunde darauf hin, machten Handyfotos von Werken, tauschten diese über das Internet aus und multiplizierten so die Botschaften. Und so sehen ARIS und SOFT Graffitis nicht nur als Ausdruck einer neuen Jugendkultur, sondern in guter guatemaltekischer Tradition: „Die Wände zu bemalen war ja immer schon die Zeitschrift des Volkes, der Ausgeschlossenen und der Widerständigen.“ Und Kunti meint: „Wir haben uns als Grafiteros in den letzten Jahren Räume eröffnet und ich glaube, wir haben einen kleinen Anteil daran, dass unsere Gesellschaft langsam offener wird.“

Bei dem Text handelt es sich um einen gekürzten Vorabdruck aus dem Buch zur Ausstellung:
Goethe-Institut Mexiko // de mi barrio a tu barrio // Gudberg Verlag // Hamburg 2012 // 19,90 Euro, zur Ausstellungseröffnung ermäßigt 15 Euro // 240 Seiten

Kasten:

de mi barrio a tu barrio
Mit der Street-Art-Tournee knüpft das Goethe-Institut Mexiko als Veranstalter an den weltbekannten Muralismo und viele andere Spielarten der Wandgestaltung im öffentlichen Raum an.
Vom 27. Juli bis 18. August wird Jim Avignon das Projekt zusammen mit Holger Beier in der Berliner neurotitan Galerie als multimediale Ausstellung präsentieren. Fotos und Video-Arbeiten sowie Originale beteiligter Künstler_innen werden von den künstlerischen, politischen und zwischenmenschlichen Facetten der Tour, sowie von einer eindrucksvollen Reise erzählen.
Präsentiert wird außerdem das Buch zur Tournee, das die bereisten Orte sowie die beteiligten Künstler_innen und deren Arbeiten vorstellt. Begleitend wird das Central-Kino eine Filmreihe mit Beiträgen aus Zentralamerika und der Karibik zeigen. Und wie es die Tradition will, wird es eine rauschende Eröffnungsparty geben.

Ort : neurotitan shop & gallery im Haus Schwarzenberg, Rosenthalerstraße 39, 10178 Berlin
Weitere Infos : http://www.neurotitan.de/Galerie/Archiv/2012/120727_demibairro.html

Wenig zu verlieren

José Santos ist Jugendpromotor in der Gemeinde Nueva Granada im östlichen Departement Usulután. Usulután ist eine der ärmsten Regionen des Landes, die besonders stark vom zwölfjährigen Bürgerkrieg betroffen war und heute insbesondere der jugendlichen Bevölkerung kaum Perspektiven bietet. Die Jugendorganisation Quetzalcoatl, für welche Santos arbeitet, ist vor allem im Bereich der Prävention tätig. Mit Tanzunterricht, Sportveranstaltungen oder gemeinnütziger Arbeit versucht die Organisation, beschäftigungslose Jugendliche von der Straße wegzuholen und in einen strukturierten Tagesablauf einzubinden. José Santos betont, dass das Jugendzentrum bisher wenig Unterstützung von der regierenden Partei Nationale Befreiungsfront Farabundo Martí (FMLN) erhalten hat. Noch weniger hält er allerdings von der oppositionellen rechten Nationalrepublikanischen Allianz (ARENA), in deren Händen sich die Stadtverwaltung befindet: „Von denen können wir gleich gar nichts erwarten“, so Santos, der früher in der Guerilla aktiv war. Gleichzeitig hebt Santos auch Fortschritte hervor, welche sich seit dem Amtsantritt von Präsident Mauricio Funes im Jahr 2009 erkennen lassen. Hierzu gehören Subventionszahlungen an Familien mit sehr niedrigen Einkommen, die Vergabe von verbessertem Saatgut an Bäuerinnen und Bauern in der Region und die Abgabe von Gratismaterialien an Schulkinder. „Insbesondere Letzteres bedeutet für viele Familien eine große Erleichterung“, so Santos. Kritischer äußert sich Roselia Herrera. „Die sozialen Fortschritte seit den letzten Wahlen sind minimal“, so die Aktivistin der Organisation Salvadorianische Frauenbewegung. In Bezug auf die Frauenrechte erkennt Herrera ebenfalls kaum Verbesserungen: „Die FMLN zeigt sich offener gegenüber unseren Anliegen als die Vorgängerregierungen, aber wir Frauen sind weiterhin mehrheitlich von jeglicher politischer Teilhabe ausgeschlossen.“ Alexander Aguilar schließlich hebt vor allem die Errungenschaften von drei Jahren FMLN-Regierung hervor. Aguilar ist Projektverantwortlicher bei der Stadtverwaltung von Jucuarán im Departement Usulután und engagiert sich gleichzeitig in der Jugendarbeit des FMLN. „Die FMLN hat sich entschlossen den Problemen der ärmsten Bevölkerungsschichten angenommen, die von den Vorgängerregierungen konsequent vernachlässigt worden waren“, so Aguilar. Der ausgebildete Sozialarbeiter verweist insbesondere auf die Fortschritte für die landwirtschaftlichen Produzent_innen sowie die Verbesserungen im Gesundheits- und Erziehungsbereich. „Die Einrichtung von Basisgesundheitseinrichtungen und die Abgabe von kostenlosem Schulmaterial hat vor allem die Bevölkerung auf dem Land begünstigt, wo die Armut traditionell am größten ist“, so Aguilar.
Die sozialen Verbesserungen im Laufe der ersten drei Jahren FMLN-Vorherrschaft werden nicht nur durch direkt Betroffene hervorgehoben, sondern auch durch konkrete Zahlen belegt. Die Abgabe von verbessertem Saatgut und Pestiziden an über 300.000 Bäuerinnen und Bauern im ganzen Land, die Zahlung einer Rente von 50 US-Dollar pro Monat an 42.000 Rentner_innen ohne Alterspension, die Abgabe von Gratismaterial an Hunderttausende von Schulkindern oder die Abschaffung der Eigenbeiträge im öffentlichen Gesundheitssystem zeugen von den konkreten Erfolgen der FMLN. Hinzu kommen Millionenzahlungen an Bäuerinnen und Bauern zur Versicherung von Ernteausfällen und die Abgabe von zwei Glas Milch pro Woche an 250.000 Schulkinder allein im vergangenen Jahr. Gemäß der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) konnte dank dieser Maßnahmen die Armut im Land im Jahre 2010 um rund 1,5 Prozent gesenkt werden. „Die Bereitschaft der FMLN-Regierung, vor allem das Los der ärmsten Bevölkerungskreise zu verbessern, ist eindeutig erkennbar“, betont auch Ramón Villalta, Direktor der Sozialinitiative für Demokratie, einer auf Demokratiefragen spezialisierten Nicht-Regierungsorganisation in der Haupstadt San Salvador. „Die Abgabe der kostenlosen Schulmaterialien hat nicht nur die angespannte finanzielle Situation von vielen Familien verbessert, sondern Tausenden von Kindern überhaupt erst den Schulbesuch ermöglicht“, hebt Villalta vor allem den Nutzen der sogenannten paquetes escolares hervor. Dessen ungeachtet betonen auch viele FMLN-Anhänger_innen, dass die sozialen Verbesserungen ausgebaut und die entsprechenden Programme effizienter umgesetzt werden müssten. Sie beklagen sich vor allem über die ausgeprägte Klüngelwirtschaft, welche wie bereits die Vorgängerregierungen auch die Politik der FMLN charakterisiert. Dies führt dazu, dass Entscheidungsträger_innen nicht wegen ihrer Fähigkeiten, sondern aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit bestimmt werden. „Diese Situation hat sich unter der aktuellen Regierung sogar noch verschärft“, betont die Gewerkschaftsführerin eines großen öffentlichen Amtes, welche anonym bleiben will.
Die Kritik an der FMLN und insbesondere an der Regierung hat aber vor allem mit deren Sicherheitspolitik zu tun. Die Sicherheitslage hat sich seit dem Amtsantritt von Mauricio Funes kaum verbessert; mit jährlich 65 Tötungsdelikten pro 100.000 Einwohner_innen gehört El Salvador immer noch zu den gefährlichsten Ländern der Welt. Von den Jugendbanden auferzwungene Streiks legen den öffentlichen Verkehr alle paar Wochen lahm und zwingen die salvadorianischen Transportunternehmer_innen jährlich zur Bezahlung von Schutzgeldern in Millionenhöhe. Funes hat auf diese Entwicklung mit einer Ausweitung der „Politik der harten Hand“ seines Vorgängers Antonio Saca von der rechten ARENA-Partei reagiert. Neben der Polizei wurden auch Tausende von Soldaten auf die Straßen und in die Problemzonen der großen Städte beordert, um das staatliche Machtmonopol wieder herzustellen. Die zunehmende Militarisierung des Landes verdeutlicht auch die Ernennung von ehemaligen Militärs an die Spitze des Sicherheitsministeriums und der Polizei. Insbesondere die Ernennung von David Munguía Payés zum neuen Sicherheitsminister im vergangenen November hat massive Kritik hervorgerufen, gerade auch von Parteigänger_innen des Präsidenten. Diese betrachten die Einsetzung eines ehemaligen Militärs an die Spitze eines zivilen Ministeriums als Verletzung der Friedensverträge, welche 1992 den zwölfjährigen Bürgerkrieg beendet hatten (siehe LN 451).
Den Konflikt zwischen dem Präsidenten und dessen Partei verdeutlichen auch die Diskussionen über die Annäherung El Salvadors an die USA. Nach dem Besuch des US-Präsidenten Barack Obama im letzten Jahr hatten die beiden Staaten ein gemeinsames Kooperationsabkommen unterzeichnet, welches viele öffentliche Institutionen des Landes für privates Kapital öffnen soll. Mit Verweis auf die angebliche Exportschwäche El Salvadors sieht dieses unter anderem den Bau und Betrieb von öffentlichen Infrastrukturprojekten durch Private vor. Zu den Objekten, welche im Kooperationsvertrag erwähnt werden, gehören der internationale Flughafen von El Salvador und der Hafen von La Unión im Osten des Landes. Parteiinterne Kritiker_innen sehen dadurch das Land zunehmend am Gängelband der USA. Dieser Kritik schlossen sich nach der Unterzeichnung des Kooperationsabkommens auch zahlreiche soziale Organisationen an. Die anerkannte Menschenrechtsorganisation FESPAD verwies auf die arbeitsrechtlichen Gefahren im Zusammenhang mit der Unterzeichnung des Kooperationsvertrags. Viele Expert_innen befürchten, dass die zunehmende Privatisierung von öffentlichen Dienstleistungen zu einer vermehrten Prekarisierung der Beschäftigungsbedingungen führen werde.
Die Spannungen zwischen Funes und dessen Partei scheinen dabei insbesondere letzterer zu schaden. So schneidet die Regierungspartei bei allen Umfragen schlechter ab als der Präsident. Die rechte Opposition bedient sich derweil der Streitigkeiten innerhalb der FMLN, um in der Öffentlichkeit die angebliche Regierungsunfähigkeit der ehemaligen Guerilla anzuprangern. Während diese Konflikte zwischen Funes und dessen Partei letztlich für viele Salvadorianer_innen nebensächlich sind, sind die fehlenden Beschäftigungsperspektiven eines der Hauptthemen im aktuellen Wahlkampf. Die ARENA geht mit dem Thema auf Stimmenfang und spricht damit vor allem jüngere Wähler_innen an. In den Wahlumfragen hatte die FMLN noch vor einem Jahr wie die sichere Siegerin ausgesehen, ist aber seither in der Wählergunst laufend zurückgefallen und in einigen Unfragen von ARENA überholt worden. Allerdings sind Wahlumfragen in El Salvador mit Vorsicht zu genießen, da diese zumeist von den ARENA nahestehenden rechtskonservativen Medien des Landes finanziert werden.
Große Hoffnungen auf einen erneuten Wahlsieg kann sich ARENA bei den Bürgermeisterwahlen in der Hauptstadt San Salvador machen. Dies ist vor allem der Popularität des Amtsinhabers Norman Quijano geschuldet. Der frühere Zahnmediziner liegt in den Umfragen weit vor seinem Herausforderer Jorge Handal, Sohn des historischen FMLN-Führers Schafik Handal. Quijano wird von breiten Kreisen attestiert, für mehr Sicherheit und Ordnung in der Hauptstadt gesorgt und das drängende Abfallproblem wirksam angegangen zu haben. Selbst Linke und Gewerkschafter_innen lassen hinter vorgehaltener Hand verlauten, Quijano habe seinen Job eigentlich ganz gut gemacht.
Allzu viel zu verlieren hat die FMLN bei den Wahlen am 11. März nicht, selbst wenn sie knapp hinter der ARENA landen sollte. Bereits jetzt sieht sie sich im Parlament einer Mehrheit der vier rechten Parteien ausgesetzt, wodurch wichtige Gesetzesvorhaben in der Vergangenheit scheiterten. Andererseits bietet das Präsidialsystem El Salvadors die Möglichkeit, auch ohne parlamentarische Mehrheit einige Vorhaben durchzusetzen. Davon macht die Regierung derzeit Gebrauch und wird dies unabhängig vom Wahlausgang auch künftig tun können. Ein deutlicher Wahlsieg böte der FMLN hingegen die Chance, das Land weit stärker in ihrem Sinne zu verändern. Doch darauf deutet wenig hin.

Im Netz des Verbrechens

Sandra López ist ein Teenager, als sie zum ersten Mal mit einigen Mitgliedern der Mara Salvatrucha in Kontakt gerät. Sie lebt mit ihrer Familie in Palencia, einem Vorort von Guatemala Stadt, besucht die Schule, verbringt die Nachmittage mit Freund_innen. Alles scheint ziemlich normal. Auch als sie gegen ihre Mutter rebelliert, sich mit Jungs trifft und anfängt Alkohol zu trinken, zeigt sich den Leser_innen zunächst das Bild einer jungen Frau, wie sie überall auf der Welt zu finden ist. Doch dann lernt Sandra ein Mitglied der Jugendbande Mara Salvatrucha kennen. Fortan wird ihr Leben immer mehr von den Machenschaften der Maras bestimmt. Gewalt und Angst bestimmen ihren Alltag, während sie in ihrer Familie mit aller Kraft ein Stück Normalität aufrecht zu erhalten versucht. Die Lage eskaliert, als Sandras Mutter Bernarda der Bande zum Opfer fällt – Auslöser für Sandra nun selbst den Kampf gegen die Mara aufzunehmen. Die Beschreibung von Sandras Leben liest sich ergreifend und die Insidersicht auf das Leben in der Mara Salvatrucha ist durch Sandras enge Verstrickungen und sehr persönlichen Kontakte zu den Mitgliedern der Gang außergewöhnlich. Aufatmen lassen nur die Passagen über Alltägliches, die sie immer wieder in ihre Beschreibungen einbaut. Nicht zuletzt hierdurch wird dem Leser bewusst, wie sehr Sandra und ihre Familie auch ohne die Mara schon zu kämpfen hatten – um Geld, um Arbeit und um Harmonie. Dennoch wird deutlich, dass die Familie trotz der Bedrohung ihr Leben so gut es geht in normalen Zügen fortzuführen versucht.
Andreas Böhm, der selbst seit vielen Jahren in Guatemala lebt, zeichnet nach, was in Guatemala und anderen zentralamerikanischen Ländern längst zum Alltag gehört: Eine Realität der Angst und des Schreckens, in der viele Jugendliche die Zugehörigkeit zu einer Gang als einzigen Ausweg aus ihrer prekären Lebenssituation ansehen. Die Mara Salvatrucha, die als eine der gefährlichsten Banden der Welt gilt, treibt vor allem in El Salvador, Guatemala und den USA ihr Unwesen. Unzählige Überfälle, Schutzgelderpressungen und Morde gehen auf ihr Konto. In Guatemala profitieren ihre Mitglieder von einem korrupten Staat, der nach wie vor von einem jahrzehntelangen und erst 1996 beendeten Bürgerkrieg gezeichnet ist. Diese Situation macht es fast unmöglich, sich gegen die Mara Salvatrucha zur Wehr zu setzen und nur wenige wagen es, offen über die Verhältnisse in ihrem Land zu berichten. Umso wichtiger ist es, dass Menschen wie Andreas Böhm und Sandra López den Mut haben, diese Ereignisse zu veröffentlichen.
Bisher ist die biografische Erzählung nur auf Deutsch erschienen. Doch, wie Andreas Boueke in seinem Vorwort zu Teuflische Schatten anmerkt, bleibt zu hoffen, dass Sandras Biografie irgendwann den Weg nach Guatemala finden und die Menschen in ihrer Hoffnung bestärken wird, dass sich der gefährliche Kampf gegen die Mara Salvatrucha lohnt.

Andreas Böhm // Teuflische Schatten // Horlemann Verlag // Berlin 2011 // 298 Seiten // 19,90 Euro //
www.horlemann.info

Schlingerkurs bei Frauenrechten

Es war schon ein Novum in El Salvador, als das neu strukturierte Staatliche Frauenentwicklungsinstitut ISDEMU überhaupt Studien zur Lage der Frauen durchführen und veröffentlichen konnte. Das hatte es in der Geschichte des Landes bisher nicht gegeben. Seit dem Amtsantritt von Präsident Mauricio Funes 2009, der für die Partei der ehemaligen Guerilla Frente Farabundo Martí (FMLN) angetreten war, unternimmt die Regierung endlich Schritte gegen die strukturelle Gewalt gegen Frauen, die Frauenrechtsorganisationen in El Salvador schon lange fordern.

Denn das kleine zentralamerikanische Land hat eine der höchsten Frauenmordraten weltweit. Allein zwischen Januar und Oktober 2010 hat die Polizei 477 Morde an Frauen erfasst – und das bei circa 6,5 Millionen EinwohnerInnen. PolitikerInnen und besonders die Massenmedien des Landes schieben das Problem meistens auf die allgemeine Gewaltproblematik und die Kriminalität der Jugendbanden (maras) in El Salvador. Die Studien des ISDEMU brachten dann das ganze Ausmaß des Femizids an die Öffentlichkeit. Die Ergebnisse belegen, dass Gewalt gegen Frauen in den allermeisten Fällen innerhalb der Familie und des näheren Umfelds stattfindet. Es sind Väter, (Ex-)Freunde, Ehemänner, Onkel oder andere Bekannte, die Frauen physisch und psychisch misshandeln und im Extremfall sogar umbringen. Dadurch wird deutlich, dass Femizide nicht einfach als Teil der allgemeinen Gewaltproblematik betrachtet werden können. Vielmehr liegen die Wurzeln im noch immer extremen Machismo und einer frauenfeindlichen Kultur, die Gewalt gegen Frauen toleriert und fördert.

So sieht es auch das ISDEMU, dessen Studien noch einen weiteren Teil der traurigen Realität von Frauen in El Salvador mit Zahlen belegen: Bei der Strafverfolgung im Zusammenhang mit Frauenmorden und Gewalt gegen Frauen gehen rund 80 Prozent der Täter straffrei aus. Aus Misstrauen und Angst vor den Behörden erstatten viele Angehörige von Opfern nicht einmal Anzeige.

Auf diese Ergebnisse reagierte die FMLN-Regierung im Dezember 2010 mit der Verabschiedung des Sondergesetzes über das Recht von Frauen zu einem Leben frei von Gewalt, das der Situation der Straflosigkeit entgegen wirken soll. Die linke Abgeordnete Margarita Rodríguez sieht darin einen klaren Erfolg der Frauenbewegung: „Das Gesetz ist in eineinhalb Jahren harter Arbeit und in enger Zusammenarbeit mit staatlichen und nicht-staatlichen Frauenorganisationen entstanden. Dank des neuen Gesetzes können wir uns gegen sogenannte kulturelle Praktiken wehren, bei denen Frauen nicht respektiert werden und endlich Verstöße gegen die Frauenrechte bestrafen.“

Tatsächlich ist mit dem neuen Gesetz eine effektive Grundlage geschaffen worden, jede Art von Gewalt gegen Frauen zu erfassen und die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Das Verbrechen des Femizids wird von nun an juristisch deutlicher strenger geahndet als ein anderer Mord: Während auf Mord zehn bis 20 Jahre Gefängnis stehen, drohen im Fall eines Femizids 20 bis 35 Jahre Haft. Handelt es sich bei dem Täter um einen Beamten oder wird das Verbrechen von mehr als einem Täter ausgeführt, kann die Haftstrafe sogar bis zu 50 Jahre betragen. Dasselbe gilt, wenn das Opfer geistig oder körperlich behindert, minderjährig oder im Senioren-Alter ist.

Doch das Gesetz belässt es nicht bei der strengeren Ahndung der Verbrechen, sondern bezieht sogar deren Ursachen mit in die Gesetzgebung ein. So stellt es beispielsweise auch die sexistische Darstellung von Frauen in den Medien als Form von Gewalt unter Strafe. Das führte prompt zu heftigem Widerstand, insbesondere auf Seiten der Werbebranche. „Wer soll hier das Opfer sein? Die Frau an sich oder jede x-beliebige Frau, die sich dadurch angegriffen fühlt?“, so die öffentliche Reaktion von Charlie Renderos, Präsident der Assoziation der salvadorianischen Werbemedien (AMPS).

An Reaktionen wie dieser zeigt sich, dass in der salvadorianischen Gesellschaft noch immer ein großes Unverständnis darüber herrscht, dass die Herabsetzung von Frauen in der Öffentlichkeit und die hohe Frauenmordrate Teil desselben Problems sind. Der UN-Menschenrechtsrat formulierte das im Oktober 2010 in seiner Empfehlung an die salvadorianische Regierung so: „Die Tatsache, dass die Zahl der Anzeigen auf Grund von häuslicher Gewalt in El Salvador nach wie vor extrem hoch ist, obwohl bereits Bemühungen unternommen wurden, die Situation zu verbessern, zeigt das Besorgnis erregende Fortbestehen von patriarchalen und stereotypisierenden Gender-Vorstellungen, nicht nur innerhalb der Familie, sondern generell innerhalb der Gesellschaft.“

Und tatsächlich ist es noch ein langer Weg zur Erlangung von universellen Frauenrechten sowie der Gleichberechtigung von Frauen und Männern in El Salvador. Noch immer dominieren hier Rollen- und Geschlechterbilder, die Frauen geringer schätzen als Männer; ob im täglichen Familienalltag, in Schule oder Beruf. In Medien und Musik sind sexistische Texte und Bilder allgegenwärtig, die Frauen als Objekte darstellen, sie auf ihren Körper reduzieren und so die Gewaltbereitschaft gegen Frauen erhöhen. Laut María Evelyn Martínez, kann dieses Umfeld dazu führen, dass Gewalt gegen Frauen sogar zunimmt, wenn diese beginnen, sich für ihre Rechte einzusetzen: „Manche Männer fühlen sich gerade durch die verstärkte Mobilisierung für das Thema Frauenrechte in ihrer Hegemonie und ihrer Männlichkeit angegriffen und ‚schlagen zurück‘”, so die Feministin und ehemalige Direktorin des ISDEMU.

Um wirkliche Fortschritte zu erzielen, bedarf es also eines grundlegenden Wandels der Gesellschaft. Davon ist El Salvador jedoch trotz zaghafter politischer Fortschritte seit Funes‘ Amtsantritt noch weit entfernt. Nichts zeigt das besser als die konservative bis reaktionäre Abtreibungsdebatte und -gesetzgebung des Landes. Denn Abtreibung steht hier nach wie vor unter Strafe und die Situation hat sich im letzten Jahrzehnt sogar noch verschärft. Während bis zum Jahr 2000 die Abtreibung zwar illegal war, aber nicht sanktioniert und im Falle einer therapeutischen Abtreibung sogar geduldet wurde, wird inzwischen jede Form der Abtreibung mit acht bis dreißig Jahren Gefängnis bestraft.

Besonders tragisch daran ist, dass gleichzeitig die Anzahl der unter 14-jährigen gestiegen ist, die Opfer von Inzest und innerfamiliärer Vergewaltigung wurden. Sie trifft das totale Abtreibungsverbot mit am schlimmsten. Daneben sind vor allem arme Salvadorianerinnen die Leidtragenden dieser res-triktiven Gesetzgebung. Denn wohlhabende Frauen können eine Abtreibung oftmals im Ausland oder in einer Privatklinik vornehmen. Unter der Armutsgrenze lebende Frauen hingegen riskieren bei einer Abtreibung nicht selten ihr Leben.

María Evelyn Martínez meint dazu: „Es sind besonders junge, arme Frauen aus ländlichen Gebieten und indigene Frauen, die Opfer von Gewalt werden. Wenn Frauen keinen Zugang zu Bildung haben, etwa weil sie früh schwanger wurden, dann werden sie leicht von einem Mann abhängig und können in eine Spirale der Gewalt geraten, der sie nicht entkommen. Gerade auch beim Thema Abtreibung wird dieser Zusammenhang deutlich.“ Statistiken zufolge, die von der „Regionalen Kampagne für eine freie und gewollte Mutterschaft“ in Mexiko, Nicaragua, Honduras, Guatemala und El Salvador erhoben wurden, ist die Sterblichkeit von Frauen nach unprofessionell ausgeführten Abtreibungen in El Salvador die höchste in der ganzen Region.

Doch damit nicht genug. Vor allem in den ländlichen Gebieten trifft unverheiratete, junge Frauen nach wie vor die gesellschaftliche Stigmatisierung im Falle einer (nicht-ehelichen) Schwangerschaft. „Die Reaktion meiner Familie war furchtbar,“ berichtet beispielsweise eine junge Salvadorianerin aus Mejicanos im Norden der Hauptstadt San Salvador von ihren Erfahrungen. „Als ich 2009 plötzlich schwanger wurde, hat sich meine Mutter von einem Tag auf den anderen geweigert, mich zu sehen. Mein Vater hatte zu der Zeit Drogen- und Alkoholprobleme, mein Freund hat Schluss gemacht. Ich war also völlig alleine.“ Und tatsächlich stehen die jungen Frauen meist ohne jegliche Hilfe vor ihren Problemen. Staatliche Frauenhäuser oder Beratungsstellen, medizinische oder psychologische Betreuung – dafür gibt es in El Salvador kaum Geld und Mittel. Das bestätigt auch die junge Frau aus Mejicanos: „Ich war wütend auf mich selbst und hab mich gefühlt, wie eins der typischen Mädchen, das nicht aufgepasst hat. Obwohl ich schon 18 war. Die meisten Mädchen hier werden mit 14 oder 15 schwanger. Und leiden dann ihr ganzes Leben, genau wie ihre Kinder. Im Fernsehen gibt es manchmal Beiträge zu dem Thema, aber in denen wird nur allgemein vor Aids gewarnt. Wie du dich konkret schützen kannst, erklärt dir keiner. Kurz gesagt: in diesem Land bekommst du keinerlei Hilfe. Und keiner interessiert sich dafür.“

Auch Präsident Mauricio Funes scheint vergessen zu haben, dass er einst etwas ändern wollte an dieser Situation. 2007 noch hatte der ehemalige Journalist öffentlich Mexiko-Stadt beglückwünscht, als dort die Straffreiheit von Abtreibungen in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen eingeführt wurde. Vor den Wahlen 2009 versprach er den feministischen Gruppen in El Salvador, die Themen Abtreibung und reproduktive Rechte aktiv anzugehen. Weil er befürchtete, dass die Abtreibungsdebatte von rechten Parteien, der Katholischen Kirche und den Massenmedien im Wahlkampf polemisiert werden könnte, sollte das Thema auf die Zeit nach dem Wahlsieg verschoben werden. Nach dem Amtsantritt folgten seinen Versprechungen jedoch keine Taten.

Der radikale Haltungswechsel, den Funes nach außen hin gezeigt hat, stößt besonders die Frauenorganisationen vor den Kopf, die auf die Einlösung des Wahlversprechens und eine Reformation der Abtreibungsgesetze gehofft hatten. Auch die neuen Privilegien des Fraueninstituts ISDEMU hielten nicht lange an. Julia Evelyn Martínez, die Mitte 2009 von Mauricio Funes als neue Direktorin von ISDEMU eingesetzt worden war, wurde bereits im Dezember 2010 wieder entlassen – offiziell wegen Vertrauensverlusts in ihre Person. KritikerInnen vermuten jedoch, dass das Präsidentenehepaar Funes hinter der Entscheidung stand, weil ihnen Martínez‘ Forderungen zu radikal wurden (siehe auch LN 440 und Interview mit Martínez in LN 438). Martínez‘ Forderung, die Abtreibungsproblematik als öffentliche Gesundheitsfrage zu diskutieren, verweigert die Regierung unter Mauricio Funes bislang hartnäckig.

Ändert sich jedoch nicht gesamtgesellschaftlich etwas daran, dass Frauen als gleichberechtigte Personen anerkannt werden, wird auch ein fortschrittliches Gesetz der Gewalt gegen Frauen kein Ende bereiten.

 

 

(Download des gesamten Dossiers)

 

// DOSSIER: FRAUENMORDE IN ZENTRALAMERIKA UND MEXIKO

(Download des gesamten Dossiers)

Foto: Anabel Zaragoza

Sie werden diskriminiert, geschlagen, vergewaltigt und oft sogar getötet. Für einen Großteil der Frauen in Zentralamerika und Mexiko gehört psychische und/oder physische Gewalt zum Alltag – und das oftmals von klein auf. Viele Mädchen und Frauen kennen es nicht anders; widerfährt doch ihren Müttern, Schwestern und Freundinnen oftmals das Gleiche. In den noch immer patriarchal und machistisch geprägten Gesellschaften Lateinamerikas gehört Gewalt gegen Frauen zum Alltag.

Weltweit werden jedes Jahr zwei bis drei Millionen Frauen ermordet, weil sie Frauen sind. Laut den Vereinten Nationen gehört Zentralamerika dabei zu den Regionen, in denen es am häufigsten zu Femizid und Gewalt gegen Frauen kommt. Der so genannte Femizid ist nicht „einfach nur“ ein anderes Wort für den Mord an einer Frau. Von Femizid (auf spanisch Feminicidio oder Femicidio; siehe zur Definition den Kasten in dieser Einleitung) wird gesprochen, wenn Männer Frauen aufgrund ihres Geschlechts töten. Oft werden die Opfer zuvor brutal misshandelt und vergewaltigt. Mit inbegriffen in der Definition ist die staatliche Duldung und Förderung dieser Verbrechen.

In El Salvador wurden beispielsweise laut einer Statistik der Nationalen Polizei, die Amnesty International in ihrem Menschenrechtsbericht 2011 dokumentiert, im Jahr 2010 477 Frauenmorde registriert, in Guatemala waren es laut AI-Bericht 565. Die Dunkelziffer dürfte indes in fast allen Ländern weitaus höher liegen, werden doch immer wieder Frauenmorde als Suizid oder andere Gewaltverbrechen vertuscht oder gar nicht erst angezeigt. Amnesty kritisiert darüber hinaus, dass gesetzliche Maßnahmen zum Schutz der Frauen in der Praxis häufig nicht angewendet wurden oder nicht dazu geeignet waren „Frauen zu schützen oder sicherzustellen, dass die Täter zur Verantwortung gezogen wurden.“

Besondere internationale Aufmerksamkeit erfahren seit den 1990er Jahren die Frauenmorde im nordmexikanischen Ciudad Juárez. Allein hier wurden 2010 knapp 300 Frauen getötet. In der von Maquilaindustrie, Drogenhandel und Migration geprägten Stadt an der Grenze zur USA werden viele der zumeist jungen Frauen vergewaltigt, misshandelt und verstümmelt an abgelegenen Orten in der Wüste gefunden. Ein Geflecht aus Drogenkartellen, Polizei und Politik scheint systematisch junge Frauen zu entführen und zu töten. Die Täter werden fast nie gefunden – zumeist aber auch nicht ernsthaft gesucht. Dank einer engagierten und gut vernetzten Frauenbewegung ist es gelungen, internationale Aufmerksamkeit auf die Frauenmorde in Ciudad Juárez zu lenken – auch wenn das noch lange kein Ende der Gewalt bedeutet.

Doch Ciudad Juárez ist trotz seiner traurigen Bekanntheit kein Einzelfall. In zentralamerikanischen Ländern wie Guatemala und El Salvador gehen die skandalös hohen Zahlen von Gewaltverbrechen an Frauen in der Regel auch nicht auf „mörderische Gewaltverbrecher der Drogenkartelle“ auf der „Jagd nach Frauen“, zurück, wie es in den Medien oft reißerisch dargestellt wird. Gewalt gegen Frauen findet – in Zentralamerika wie auch in Mexiko – vor allem innerhalb des direkten Umfelds der Betroffenen statt. Die meisten Frauenmorde werden von Angehörigen, wie dem Vater, einem (Ex-)Freund, Partner oder anderen Mann des familiären Umfelds der Frau begangen. Viele der Opfer sind junge Frauen aus ärmeren und bildungsfernen Schichten. Besonders in ländlichen Regionen stehen Frauen, die häusliche Gewalt erfahren, meist ohne jegliche Unterstützung da.
Im vorliegenden Dossier widmen sich die Lateinamerika Nachrichten dem Femizid und der strukturellen, häuslichen Gewalt gegen Frauen in der gesamten Region Zentralamerika und Mexiko. Mit Beiträgen zu den verschiedenen Ländern sollen Besonderheiten der jeweiligen lokalen Kontexte und die verschiedenen Ursachen für die Frauenmorde, aber gleichzeitig auch Parallelen der strukturellen Gewalt gegen Frauen in den Gesellschaften der Region aufgezeigt werden.

Eine Gemeinsamkeit ist, dass staatliche Behörden wie Polizei oder Justiz oft untätig bleiben. Obwohl die Zahl der Frauenmorde in allen Ländern der Region jährlich zunimmt, werden diese nicht in angemessener Form aktiv – Polizei und Richter schützen oftmals sogar die Täter anstatt die Opfer. Behörden dokumentieren Frauenmorde nicht oder lückenhaft, Beweise „gehen verloren“, Anzeigen werden unzureichend aufgenommen und Zeugenaussagen in Frage gestellt. Hinzu kommt, dass die Berichterstattung in den Massenmedien oftmals den getöteten Frauen selbst die Schuld für ihren gewaltsamen Tod zuweist.

So kommt es, dass noch immer ein Großteil der Täter nicht bestraft, oft nicht einmal strafrechtlich verfolgt wird. Straflosigkeit jedoch senkt die Hemmschwelle zur Gewaltanwendung nachweislich und so machen sich alle Staaten der Region zu Mittätern – sowohl an den grausamen Verbrechen als auch an den strukturellen Ungleichheiten, unter denen Frauen tagtäglich leiden. Keine Regierung der Region geht angemessen gegen Frauenmorde vor, auch wenn in El Salvador und Mexiko der Tatbestand des Femizids mittlerweile immerhin in die Strafgesetzgebung aufgenommen worden ist. Doch von einem juristisch durchdachten Gesetz ist es noch immer ein weiter Weg hin zu einer praktisch funktionierenden Strafverfolgung – und besonders zu (präventivem) Schutz der Frauen. Statt den Frauen Schutz zu bieten, werden Opfer von Gewalt oftmals stigmatisiert und ausgegrenzt. Staatliche Frauenhäuser gibt es kaum, schon gar nicht in den häufig besonders betroffenen ländlichen Regionen der Länder.

Wie kann es sein, dass Männer so weitgehend ungestraft Gewalt ausüben können? Dass Frauen ermordet werden und statt Hilfe Schuld zugewiesen bekommen? Dass Justiz und Polizei oft Täter statt Opfer schützen? Die Ursachen für diese Situation sind vielschichtig. Besonders staatliche Stellen innerhalb der Länder schieben die Gründe für die erschreckenden Zahlen der Frauenmorde meist auf die generell hohe Gewaltbereitschaft und Kriminalitätsrate in Zentralamerika und Mexiko. Ursachen dafür sehen sie in der durch Bürgerkriege gekennzeichneten Vergangenheit sowie den aktuell bestehenden Drogenkonflikten und der Kriminalität von Jugendbanden.

Darüber hinaus wird die Gewalt gegen Frauen von weiten Teilen der Gesellschaften in der Region oftmals heruntergespielt, ja als etwas normales betrachtet. Eben darin liegt aber der Unterschied zwischen generell hoher Gewaltbereitschaft und den Ursachen für die so weit verbreitete Gewalt gegen Frauen: Entscheidende Ursache des Femizids ist das noch immer von Macho-Denken und patriarchalen Strukturen geprägte Rollenverständnis in den Gesellschaften der Region. Das Bild der Frau ist geprägt von Unterordnung und Minderwertigkeit. Wird die patriarchalische Geschlechterrolle des Mannes und die daraus resultierende Machtverteilung zwischen den Geschlechtern infrage gestellt – sei es durch emanzipatorisches Verhalten oder eine Betätigung der Frauen, die ihnen wirtschaftliche Autonomie ermöglicht – ist die Gefahr groß, dass es zu Konflikten (innerhalb der Familien) und Gewaltanwendung kommt.

Wie stark diese Macho-Kultur noch immer in den Gesellschaften verwurzelt ist, lässt sich daran ablesen, welche Rollenbilder durch Musik, Internet, Radio, Zeitungen oder Fernsehen vermittelt werden. In der populären Musik beispielsweise wird – teilweise auch von Frauen selbst – in unglaublich diskriminierender, sexistischer Form von der Unterordnung der Frau unter den Mann gesungen. Diese werden auf ein Objekt, das „dem Mann zu dienen hat“ reduziert. Auch Fernsehen, Internet und Werbung vermitteln ununterbrochen Rollenbilder, die den Mann als das starke Geschlecht darstellen, der zur Durchsetzung seines Willens Gewalt anwenden darf.

Die Berichterstattung in Zeitungen und Radiosendungen, die ohnehin nur spärlich zum Thema Gewalt gegen Frauen stattfindet, stößt ebenfalls weitestgehend in dasselbe Horn: Weiblichen Opfern von Gewalt wird die Schuld an den Verbrechen zugewiesen. Die Medien präsentieren ihre Geschichten eher als blutige Horrorgeschichten, anstatt dass sie über die gesellschaftlichen Hintergründe berichten und die Menschen für die noch immer bestehende Ungleichheit sensibilisieren würden.

Es sind die Frauen selbst, die sich nicht abfinden mit dieser Situation der Ungleichheit und Demütigung. Daher legt das Dossier sein Augenmerk vor allem auf die Aktivistinnen und ihre Strategien, gegen Gewalt und Diskriminierung im Alltag vorzugehen. Engagierte Feministinnen und Frauenrechtsorganisationen machen seit Jahren lautstark auf die steigenden Frauenmordraten in ihren Ländern aufmerksam. Oftmals begleitet von Anfeindungen und Morddrohungen arbeiten unzählige Frauen in Zentralamerika und Mexiko daran, den Opfern von Gewalt eine Stimme zu geben. Sie führen Frauenmorde in unabhängigen Registern auf, begleiten die Angehörigen im Kampf mit den Behörden und versuchen, durch Proteste und Kampagnen die Gesellschaft zu sensibilisieren.

So wollen wir vor allem Menschen und Organisationen vorstellen, deren tägliches Engagement sich gegen diese systematische Gewalt an Frauen richtet. Dabei lassen wir Anwältinnen, Aktivistinnen, Journalistinnen und Künstlerinnen zu Wort kommen und versuchen damit einen Einblick in die wichtige Arbeit zu geben, die Frauenorganisationen in Zentralamerika und Mexiko leisten. Ihre Stimme soll auch hier in Europa gehört werden – denn Frauenmorde und Gewalt gegen Frauen sind kein regionales Phänomen, das „vor Ort zu lösen“ ist.

Deshalb ist dieses Dossier auch als Anstoß gedacht, um Unterstützung zu mobilisieren und Informationen weiter zu verbreiten. Wir möchten einen kleinen Beitrag dazu leisten, dem Ziel der unermüdlichen und nicht selten lebensgefährlichen Arbeit der Frauenbewegungen in der Region ein Stück näher zu kommen: Das Schweigen brechen! Denn ohne ein gesamtgesellschaftliches Umdenken wird es kein Ende der Gewalt geben.

 

Eine Aufgabe für die ganze Gesellschaft

Mindi Rodas hatte ihre Stimme erhoben – gegen die Gewalt an Frauen in Guatemala. Öffentlich hatte die 23-Jährige Frauen und Mädchen dazu ermutigt, sich gegen die Misshandlungen zu wehren und die Täter anzuzeigen. Dabei konnte sie ihre eigenen Narben kaum verbergen: Ihr Ex-Mann hatte Mindi Rodas derart misshandelt, dass in den letzten anderthalb Jahren ihres Lebens eine Art Mundschutz die Entstellungen ihres Gesichts verdeckte. Ihren Entschluss, sich aus der Enge ihres Hauses, den Beschimpfungen, Schlägen und dem sexuellen Missbrauch zu befreien, hatte ihr Ehemann eines Tages mit einer Machete gerächt. Nach dieser schrecklichen Gewalttat war Rodas‘ Leben geprägt von Schmerzen, Schlafstörungen, Depressionen und Suizidgedanken. Einzig ihr Sohn konnte ihrem Leben noch einen Sinn geben.

Der Fall von Mindi Rodas ging durch die internationale Presse. Nationale und internationale Organisationen unterstützen ihren Kampf für Gerechtigkeit. Sie unterzog sich Behandlungen, die nach und nach ihr Gesicht wiederherstellten und zog als eine der wenigen misshandelten Frauen Guatemalas vor Gericht. So konnte sie erreichen, dass ihr Ehemann ins Gefängnis kam. Doch kurz darauf wurde er wieder freigelassen, mithilfe eines Klageverzichts, auf dem er Rodas‘ Unterschrift gefälscht hatte. Erneut setzte sie sich zur Wehr und erreichte mithilfe der Überlebenden-Organisation Fundación Sobrevivientes, dass die Misshandlungen durch ihren Ex-Mann nicht mehr als „schwere Verletzungen“, sondern als „versuchter Femizid“ eingestuft wurden. Daraufhin wurde ihr Ex-Mann erneut inhaftiert. Im Juni dieses Jahres wird der Prozess gegen ihn beginnen.

Das alles sollte Mindi Rodas nicht schützen. Und rückblickend scheint es, als habe sie es geahnt. Denn trotz ihrer juristischen Erfolge wurde sie von Angst geplagt: „Ich habe so viele Interviews gegeben und letztlich macht doch niemand etwas. Er hat mich nicht getötet, aber er hat mich lebendig begraben. Ich habe Angst, dass er noch vor der Gerichtsverhandlung einen Mörder beauftragt.“

Und ihre Vorahnung wurde traurige Wahrheit: Ende 2010 verschwand Rodas, im Januar 2011 fand man ihren leblosen Körper 200 Kilometer von ihrem Wohnort entfernt. Die Täter hatten sie gefoltert und anschließend erdrosselt. Ihre Leiche wurde als „Unbekannte“ beigesetzt. Erst auf Betreiben von ihrer Familie und einer Frauenorganisation, wurde die Leiche exhumiert und nach der Identifizierung in ihrem Heimatort beigesetzt.
Mindi Rodas ist eine von 695 Guatemaltekinnen, die im Jahr 2010 aufgrund ihres Geschlechts ermordet wurden.

Nur 86 Femizide wurden juristisch verfolgt, bei einem Drittel davon wurde bisher ein richterliches Urteil gesprochen. Denn Straflosigkeit hat System in Guatemala: Jahrelang wurden Femizide von den guatemaltekischen Behörden nicht verfolgt. Ermordete Frauen wurden zu Prostituierten, Angehörigen der Jugendbanden maras oder Freundinnen von Drogenschmugglern erklärt und damit nicht für würdig befunden, ihren gewaltsamen Tod aufzuklären. Marcela Lagarde kritisierte dieses Verhalten scharf: „Bei Femiziden kommen in krimineller Weise das Schweigen durch Unterlassung oder Fahrlässigkeit sowie das Einverständnis der Behörden zusammen“, so die mexikanische Anthropologin und Anwältin.

2008 wurde nach langem Kampf von Frauenorganisationen und mittels eines interparlamentarischen Dialogs zwischen Guatemala, Mexiko und der Europäischen Union das Gesetz gegen Femizide und andere Formen der Gewalt an Frauen erlassen. Schutz, Freiheit und Leben der Guatemaltekinnen sollten durch das Gesetz garantiert, eine strafrechtliche Verfolgung erleichtert und die Straflosigkeit der Täter abgeschafft werden. „In dem Gesetz werden Femizid, Frauenfeindlichkeit, diskriminierende Machtverhältnisse, ökonomische, physische, psychische oder emotionale und sexuelle Gewalt als Gewalt gegen Frauen definiert”, erklärt Norma Cruz, Gründerin der Fundación Sobrevivientes. „Der Tatbestand eines Femizids wird nun mit 25 bis 50 Jahren Haft bestraft. Weder Bräuche noch Traditionen können dem Gesetz nach als Rechtfertigung oder Entschuldigung für das Verüben, Akzeptieren, Fördern, Anregen oder Tolerieren von Gewalt gegenüber Frauen geltend gemacht werden. Jedwede Gewalttat gegenüber Frauen, sei es häusliche Gewalt oder Übergriffe von Bekannten und Fremden, müsste demnach in Zukunft als Straftat behandelt werden“, so Norma Cruz weiter.

Bislang wird dem Gesetz, das in der zentralamerikanischen Region als Vorreiter gilt, von FrauenrechtlerInnen jedoch wenig Erfolg zugeschrieben. Norma Rera von der Nationalen Frauenunion (UNAMG) meint, es gebe „zwar Anstrengungen der Zivilgesellschaft und der staatlichen Institutionen und dadurch eben auch einige Fortschritte, zum Beispiel spezielle Prozesse wegen Frauenmorden“. Dies jedoch führe nicht zu einem Rückgang der Femizide und auch die Straflosigkeit sei trotz des Gesetzes nicht rückläufig.

Und in der Tat: noch immer werden 97 Prozent derjenigen, die Frauen Gewalt antun, nicht bestraft. KritikerInnen wie Norma Rera werfen der Justiz vor, unfähig oder unwillig zu sein, das neue Gesetz angemessen anzuwenden: „Es kann nicht von einem Rückgang der Straflosigkeit gesprochen werden, denn es gibt noch immer Probleme bei der Umsetzung des Gesetzes. Es kommt zum Beispiel immer wieder vor, dass Staatsanwälte oder Richter bei Fällen von Frauenmorden das Strafgesetzbuch anwenden und nicht das Gesetz gegen Femizide. Nach diesem drohen jedoch bei einer Verurteilung bis zu zehn Jahre längere Haftstrafen. Dadurch werden dann keine gerechten Urteile gefällt.“

María Luisa de León Satizo ist Anwältin der Frauenorganisation Grupo Guatemalteco de las Mujeres. Sie teilt die Kritik bei der Anwendung des Gesetzes und bemängelt zudem eine unzureichende Koordination in der öffentlichen Verwaltung: „Das Gesetz scheint wie auf einer Insel zu sein und alles andere funktioniert so wie vorher. Es gibt zwar schon einige Urteile, sogar mit der maximalen Strafe von 50 Jahren Gefängnis, aber die Zahl der Verurteilungen ist im Vergleich zur Masse an Anzeigen verschwindend gering.“

In Guatemala hat Gewalt gegen Frauen eine lange Geschichte. Während des bewaffneten Bürgerkriegs von 1960 bis 1996 wurden Frauen aus rein „strategischen Gründen“ misshandelt. Regierungstruppen wandten systematisch sexuelle Gewalt gegen Frauen an, um mögliche Aufstände zu unterdrücken sowie um die Moral einzelner und ganzer Gemeinden zu brechen. 2006 veröffentlichte die Gruppe Akteurinnen des Wandels (Consorcio Actoras de Cambio) die Studie Mit dem Schweigen brechen, deren Ergebnisse erschreckend deutlich beschreiben, was in Guatemala während des Bürgerkriegs geschah: Oft wurden Frauen von den Soldaten vergewaltigt, nachdem ihre Männer ermordet wurden oder aber öffentlich vor Familienangehörigen und Gemeindemitgliedern missbraucht, gefoltert und anschließend getötet. Teilweise wurden Frauen sogar jahrelang als Sexsklavinnen von Generälen und paramilitärischen Truppen gehalten.

Insbesondere indigene Frauen wurden Opfer dieser systematischen sexuellen Gewalt. Während des Bürgerkriegs wurden ganze Gemeinden als Basis der Guerilla stigmatisiert und in Massakern ausgelöscht, um die Kontinuität des Lebens in den indigenen Gemeinden zu zerstören. Opfer dieser „Politik der verbrannten Erde” von 1982 bis 1983 waren laut der Kommission für Historische Aufklärung (CEH) zu 99 Prozent Frauen – 88,7 Prozent von ihnen Maya. Eine Aufklärung oder gar Aufarbeitung dieser Verbrechen hat kaum stattgefunden. Jahrelang wurden die Gewalttaten als Vergehen einiger Funktionäre abgetan, die Befriedigung suchten. Dabei waren Beamte, Angestellte, staatliche Behörden und Militärangehörige direkt an den Gewaltverbrechen beteiligt.
Und auch heute noch sind Frauenkörper in Guatemala Objekte, an denen Macht, Mut und Rache demonstriert werden. Kriminelle Banden wenden noch immer Praktiken aus Bürgerkriegszeiten an, die massakrierte Frauen zur Schau zu stellen, um „den Gegner zu entmutigen und zu entehren“. Ebenso werden auch heute noch Frauen geopfert, um den Dialog und den Zusammenhalt krimineller Bruderschaften über Blutpakte aufrecht zu erhalten.
Wie tief Frauenfeindlichkeit und Gewalt in der guatemaltekischen Gesellschaft eingebrannt sind, erläutert die guatemaltekische Anwältin de León Satizo: „Wir glauben, dass Frauenmorde und Gewalt an Frauen Resultat der historisch ungleichen Machtverhältnisse von Männern und Frauen sind. Sie sind Teil einer patriarchalen Kultur, in der die Frauen besessen und benutzt werden.” Die Kultur des Landes müsse sich verändern, um diese strukturelle Benachteiligung der Frauen zu beenden, so de León Satizo: „Wir müssen die Gesellschaft verändern, den Kindern und der Jugend andere Werte vermitteln. Selbst in den Medien werden Gewalttaten verherrlicht. Das muss aufhören. Vielmehr müssen Presseorgane dazu beitragen, dass Gewalt verurteilt wird und Körper von Frauen eben nicht mehr als reine Objekte angesehen werden. Und das ist eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft.“

 

(Download des gesamten Dossiers)

 

Hilfe gesucht und dann ermordet

El Salvador hat eine extrem hohe Mordrate, allerdings sind die meisten Opfer und Täter von Gewalt Männer, so dass das Thema Frauenmorde kaum Erwähnung findet. Wie ist die aktuelle Situation bezüglich der Gewalt gegen Frauen?

El Salvador hat – relativ zur Bevölkerungszahl – die höchste Rate von feminicidios weltweit, höher als in Mexiko und sogar höher als in Ciudad Juárez. Allein von 2008 zu 2009 ist die Zahl von Frauenmorden um fast 84 Prozent gestiegen, während bei Männern die Zahl der gewaltsamen Todesopfer um knapp 36 Prozent stieg. Viele argumentieren, dass trotzdem absolut gesehen Männer immer noch viel häufiger ermordet werden als Frauen. Aber wenn die Entwicklung so weitergeht, dann könnten in vier Jahren Frauen die Mordstatistik in El Salvador anführen. Es geht hier nicht um einen Wettbewerb, wer mehr stirbt, aber es ist eine schreckenerregende Ziffer. Viele der ermordeten Frauen haben zuvor Hilfe gesucht, aber es wurde nichts unternommen, um sie vor Gewalt, die oft durch Angehörige und bekannte Personen verübt wird, zu schützen. In El Salvador gibt es lediglich ein Frauenhaus, das 30 Frauen aufnehmen kann.

Wenn Frauenleichen gefunden werden, so wird die Tat schnell mit Mitgliedern der Maras in Verbindung gebracht. Was sind die Ursachen der feminicidios?

Es ist die Straflosigkeit in einem Kontext extremen Machismos, die für die hohe Zahl von Frauenmorden verantwortlich ist. Die frauenfeindliche Kultur toleriert und fördert Gewalt gegen Frauen. Im Falle der feminicidios werden noch viel weniger Fälle angezeigt, geschweige denn aufgeklärt als sonst. Das fördert die Bereitschaft, eine Frau zu töten. Der Großteil der Frauenmorde wird nicht, wie oft behauptet, von mareros verübt. In 80 Prozent der Fälle ist die Ursache schlicht unbekannt, da die Untersuchung nicht abgeschlossen wurde. Doch wenn eine Person, die umgebracht wurde, wie es dann heißt „mit den Maras in Verbindung stand“, ist es, als ob dieser Mord nicht so schlimm wöge, als hätte die Person es dadurch verdient. Das soll nicht verbergen, dass es Fälle gibt, in denen Frauenkörper in den Kämpfen rivalisierender Jugendbanden als Waffe eingesetzt werden und Frauen auf brutalste Weise misshandelt und ermordet werden.

Wieso ist die Zahl der Frauenmorde in El Salvador ausgerechnet in den letzten zwei bis drei Jahren so stark angestiegen?

Ich denke, dass die Gewalt gegen Frauen jüngst zugenommen hat, weil manche Männer sich gerade durch die verstärkte Mobilisierung für das Thema Frauenrechte in ihrer Hegemonie und ihrer Männlichkeit angegriffen fühlen und „zurückschlagen“. Und teilweise kann man den Anstieg der Fälle dadurch erklären, dass mehr Gewalttaten angezeigt werden.

Müsste sich die Situation unter einer linken Regierung nicht verbessern?

Die FMLN ist erst seit eineinhalb Jahren im Amt. Und dass sie an der Regierung ist, heißt noch lange nicht, dass sie auch an der Macht ist. Man sollte auch unterscheiden zwischen der Partei, der Regierung und der Person des Präsidenten Mauricio Funes. In einer Rede anlässlich der Veröffentlichung des ersten nationalen Berichts über die Situation der Gewalt gegen Frauen in El Salvador, den das ISDEMU erstellt hat, äußerte sich Funes mit den Worten: „Unsere Position als Regierung angesichts der Gewalt gegen Frauen, lässt sich in zwei Worten zusammenfassen: Null Toleranz.“ Die Regierung hat zwar Fortschritte in Bezug auf die Frauenrechte erreicht, es gibt aber einige Versprechen des Wahlprogramms, die nicht erfüllt wurden – zum Beispiel die Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen und die Achtung der sexuellen und reproduktiven Rechte von Frauen.

Wie hängt die Gewalt gegen Frauen mit sozialer Exklusion und Armut zusammen?

Es sind besonders junge Frauen, arme Frauen, Frauen aus ländlichen Gebieten und indigene Frauen, die Opfer von Gewalt werden. Wenn Frauen keinen Zugang zu Bildung haben, etwa weil sie früh schwanger wurden, dann werden sie leicht von einem Mann abhängig und können in eine Spirale der Gewalt geraten, der sie nicht entkommen. Gerade auch beim Thema Abtreibung wird der Zusammenhang deutlich. El Salvador hat eines der repressivsten Gesetze Lateinamerikas, das jede Art von Abtreibung, selbst aus medizinischen Gründen, verbietet. Während viele sozial benachteiligte Frauen an den Folgen unsicherer Abtreibungen sterben, können sich Frauen der Mittel- und Oberschicht nach einer Abtreibung in einer Privatklinik behandeln lassen oder ins Ausland gehen. In den öffentlichen Krankenhäusern ist das Personal verpflichtet, jeden versuchten Schwangerschaftsabbruch anzuzeigen, wodurch den Frauen Haftstrafen von acht bis 30 Jahren drohen. Auf Grund dieser Situation begehen viele Mädchen und jungen Frauen Selbstmord, wenn sie ungewollt oder durch eine Vergewaltigung schwanger werden. 40 Prozent der Müttersterblichkeitsrate geht auf Suizide zurück.

Wie wird das Thema Abtreibung innerhalb der FMLN diskutiert? Wie ist die Position des Präsidenten Mauricio Funes dazu?

Das Thema Abtreibung wird innerhalb der Partei nicht wirklich diskutiert und wenn, dann nicht als Frage der Menschenrechte von Frauen, sondern geleitet von politischen Erwägungen wie Wahlstimmen, Umfrageergebnissen oder der Möglichkeit von Allianzen mit der katholischen Kirche und der Privatwirtschaft. Ich hatte diesbezüglich eine Meinungsverschiedenheit mit Mauricio Funes, der mich öffentlich disqualifizierte, nachdem ich bei einer UN-Konferenz in Brasília im Juli dieses Jahres ein Papier mit unterzeichnet habe, das für Lateinamerika eine weniger restriktive Abtreibungsgesetzgebung einfordert. Funes ist zu keinerlei Revision der Gesetze bereit, doch zum Glück hat das ISDEMU relative Autonomie. Jetzt haben sogar die Vereinten Nationen ihre Empfehlung an den salvadorianischen Staat wiederholt, die Abtreibungsgesetze zu überarbeiten.

Auch wenn jede Frau das Recht auf Abtreibung und entsprechende medizinische Versorgung haben sollte, wäre es nicht wichtig, gerade beim Thema sexuelle und reproduktive Rechte verstärkt auf Prävention zu setzen?

Selbstverständlich ist Prävention die bessere Alternative. Aber die katholische Kirche und konservative Gruppen, die am Abtreibungsverbot festhalten, verhindern auch, dass es Aufklärungsunterricht an Schulen gibt, und sind gegen den Zugang zu Verhütungsmitteln. Doch mit Keuschheitsringen, die sich Kinder und Jugendlichen an die Finger stecken, verbunden mit dem Versprechen, bis zur Ehe enthaltsam zu bleiben, werden wir das Problem nicht lösen.

Mit der Bibel gegen Gewalt

Es wird dunkel in Peronia, einem der vielen Armenviertel in der Umgebung von Guatemala-Stadt. Der 17-jährige Sergio ist hier aufgewachsen. „Meine Eltern haben mich oft geschlagen“, erinnert er sich. Mit vierzehn ist er von zuhause weggelaufen und hat sich einer Jugendbande angeschlossen. „Die Jungs haben mir die Unterstützung gegeben, die mir daheim fehlte. Bei ihnen wird gelacht, gespielt, wir besaufen uns, es gibt Drogen, all das.“
Für Sergio und seine Kumpels hat das Armenviertel wenig zu bieten. Es gibt keine öffentliche Oberschule, kein Krankenhaus, keine Sportplätze, keine Arbeit. Aber es gibt die Mara 18, eine der berüchtigten Jugendbanden, deren Mitglieder in ganz Mittelamerika operieren. Sergio erzählt aus seinem Alltag: „Die Leute trauen sich nicht mehr auf die Straße. Wenn wir nachts jemand rumlaufen sehen, halten wir ihn an und nehmen ihm sein Geld ab. Der Typ geht weg, völlig eingeschüchtert. Aber er schaut sich noch mal um. Du sagst zu ihm ‚Was glotzt du mich an?‘ Er guckt auf den Boden. ‚Du kannst mich mal‘ und peng, gleich draufhalten. Drei Schüsse und die Sache ist erledigt.“
In den Armenvierteln von Guatemala-Stadt ist die Angst vor der zunehmenden Gewalt allgegenwärtig. Der 15-jährige Michael weiß, dass die TäterInnen immer jünger werden: „Einmal sind wir nachts mit meinen Freunden hinter einem Verkäufer hergegangen. Einer hat eine Pistole rausgeholt. Die andern haben mir gesagt: ‚Wenn du wirklich bei uns mitmachen willst, dann töte ihn.‘ Ich hätte es fast getan. Aber dann fingen meine Hände an zu zittern. Ich hatte Angst. Ein anderer wurde wütend. Er hat mich weggeschubst und hat ihn erschossen. Einfach so, kaltblütig.”
Michael ist schon früh tief in die Spirale aus Armut und Gewalt hineingerutscht. Als er versuchte, auszusteigen, wollten ihn die Mitglieder der Bande nicht so einfach gehen lassen. „Einige haben es als Beleidigung aufgefasst. Einer hat mir sogar eine Pistole an den Kopf gehalten und gesagt, ich könne nicht aussteigen”, erzählt er. Den Ausweg hat ihm schließlich eine Pfingstgemeinde geebnet. „Der Chef der Gruppe meinte, ich sei noch klein und dürfe deshalb entscheiden, was ich machen will. Für die Großen gelten andere Regeln. Da haben sie mir erlaubt, auszusteigen, aber nur, wenn ich Christ werde. Das bin ich dann auch“, berichtet Michael.
Er ist froh, rechtzeitig den Ausstieg aus seiner Bande geschafft zu haben. Sein Fall ist einer der Erfolge, den die Pfingstbewegung im Kampf gegen Jugendkriminalität, Alkoholismus und Drogenmissbrauch für sich verbuchen kann: „Wenn ich früher deprimiert war, habe ich Drogen genommen. Heute finde ich Unterstützung im Gebet. Oder ich kann zu jemandem gehen und ihn um Rat fragen.”
Und er ist nicht der einzige. Viele junge Männer wie er, die Jugendbanden angehören, haben ein sehr negatives Selbstbild. Sie wissen, dass ihr von Gewalt und Verbrechen geprägtes Leben keine Zukunft hat. Da fällt die Botschaft der evangelikalen Kirchen auf fruchtbaren Boden, meint der Koordinator der unabhängigen Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften (FLACSO) Virgílio Álvarez: „Wenn du etwas hast, woran du glauben kannst, kommt die Hoffnung zurück. Viele Jugendliche in den Armenvierteln haben die Hoffnung auf ein besseres Leben verloren. Sie glauben, dass sie immer am Rand der Gesellschaft stehen werden. Doch das Evangelium öffnet ihnen eine Hoffnung auf sozialen Erfolg.“
Álvarez versteht, dass die Jugendlichen in den Pfingstkirchen eine Option für sich sehen: „Es gibt ja sonst nichts. Angesichts der Situation des Verlassenseins und des Fehlens einer öffentlichen Politik zur Unterstützung der Jugend könnte man sagen, es ist positiv, dass sie zumindest die Möglichkeit der Flucht in die Religion haben. In der Sprache der Marxisten gesprochen ist es wohl besser, wenn sie anstatt wirkliches Opium zu rauchen, das Opium der Religion konsumieren.“
Im einst erzkatholischen Guatemala, das stark von indigenen Traditionen der verschiedenen Maya-Ethnien beeinflusst ist, bezeichnen sich heute nahezu 40 Prozent der Bevölkerung als Evangelikale. Bis in die 1980er Jahre war das Land eine Hochburg der katholischen Befreiungstheologie, die sich auf die Seite der Armen stellte. Doch die Gewalt des 30 Jahre währenden Bürgerkriegs hat das Ende ihrer Ausbreitung eingeläutet. Der Religionssoziologe Heinrich Schäfer erklärt das so: „In Guatemala ist die Befreiungstheologie buchstäblich ausgerottet worden. Während des Bürgerkriegs wurden zahlreiche Menschen gezielt und brutal massakriert, darunter auch viele katholische Katecheten. Auf die Bevölkerung hatte das genau den Effekt, der in den militärischen Handbüchern dafür vorgesehen war: einen Terroreffekt. Die Menschen haben sich zurückgezogen und andere Wege gesucht.”
Seitdem haben sich in den ärmlichen Wohnvierteln und auf dem Land vor allem Pfingstkirchen und fundamentalistische Sekten angesiedelt. 400 evangelikale Gruppierungen mit über zehntausend Gotteshäusern und hunderten Radiostationen verbreiten in ganz Guatemala ein Weltbild, in dem soziale Unterschiede genauso nebensächlich sind wie Menschenrechtsverletzungen und wirtschaftliche Ausbeutung. Ihrer Lehre nach werden ChristInnen, die ihre Gebote befolgen, dafür reich beschenkt. Diesem Heilsversprechen folgend, wenden sich immer mehr Menschen dem evangelikalen Glauben zu.
In einem vor wenigen Jahren eröffneten Mega-Gotteshaus in Guatemala-Stadt, das Platz für 6.000 Menschen bietet, bekommen die Gläubigen eine ausgetüftelte Show geboten. Hier gibt es keine harten Holzbänke, sondern weiche Sessel. Es ist Kindergottesdienst in der Fraternidad Cristiana („Christliche Brüderlichkeit”), einer der größten evangelikalen Kirchen in Guatemala. Während die Erwachsenen in einer riesigen Halle applaudieren und schmissige Lieder singen, lauschen die Kleinen einem Rockkonzert. Professionelle AnimateurInnen bringen das Publikum in Fahrt. Gott wird hier in Begleitung von elektrischer Gitarre und Schlagzeug gepriesen. Wenn die Stimmung auf dem Höhepunkt ist, geht der Klingelbeutel im Kreise der versammelten Gemeinde herum. Gleichzeitig wird das Spektakel aufgezeichnet. Am Ende kann man sich die DVD als Souvenir für Zuhause kaufen.
Jaime Ramírez, ein junger Mann mit viel Gel in den Haaren, ist sich sicher, dass der ohrenbetäubende Lärm den Kindern hilft, ihren Weg zu Gott zu finden. „Hier kannst du tanzen, dich befreien. In der katholischen Kirche geht das nicht. Da hörst du nur die Predigt des Priesters. Hier aber kannst du Gott huldigen mit deinen Füßen, deinen Händen, deinem Mund. Das gefällt gerade den jungen Leuten.”
Der Missionserfolg der Evangelikalen ist zu einem großen Teil auf ein politisch motiviertes Engagement der USA zurückzuführen. Der im Jahr 1969 erschienene Rockefeller-Bericht der Regierung unter Nixon stellte fest: „Die katholische Kirche ist kein glaubwürdiger Verbündeter der USA mehr. Sie trägt nicht zur Stabilität auf diesem Kontinent bei.” Konsequenterweise zog der Bericht die Schlussfolgerung, die evangelikale Missionsbewegung müsse gefördert werden. Ein Ratschlag, an den sich alle darauf folgenden US-Präsidenten gehalten haben.
Im Zuge des rasanten Anstiegs der Mitgliederzahlen in den evangelikalen Sekten und Pfingstkirchen, kommt es heute zu einer deutlichen inhaltlichen Ausdifferenzierung innerhalb der Pfingstbewegung. Noch vor wenigen Jahren galten Pfingstler per se als konservativ, untheologisch und anti-ökumenisch. Jetzt gibt es in Lateinamerika große Pfingstkirchen, die sich politisch eindeutig links positionieren; Bibelinstitute, die Schrifttexte neu interpretieren wollen, um ihre aktuelle Relevanz zu verdeutlichen, PastorInnen, die sich in breiten Allianzen mit anderen ProtestantInnen und selbst mit der katholische Kirche zusammenschließen.
Zwar geben sich die meisten Pfingstler noch immer unpolitisch, trotzdem agieren viele Evangelikale entsprechend der Interessen der konservativen Oligarchie. Statt sich politisch einzumischen, sollten die Menschen nur auf Gott vertrauen, meint beispielsweise die Kindergottesdienstleiterin Claudia: „Wir dürfen den Präsidenten des Landes nicht dazu zwingen, das zu tun, was wir wollen. Vielmehr ist es die Aufgabe der Gläubigen, dafür zu beten, dass Gott ihm Weisheit schenkt, um die Lage im Land zu verbessern.”
Auch Samuel Regalado lehnt politisches Engagement der Gläubigen ab. Er sitzt in seinem spartanisch eingerichteten Büro in der Zone 3 von Guatemala-Stadt. Keine besonders exklusive Adresse, an manchen Tagen weht der Wind den Gestank der nah gelegenen Müllkippe herüber. Regalado arbeitet in der Missionsverwaltung von Asambleas de Diós („Gottes Versammlung”), die mit 60 Millionen Mitgliedern weltweit größte Pfingstkirche. Er bezeichnet sich selbst als konservativ, in dem Sinne, dass er christliche Werte bewahren will. Seine Aufgabe sieht er darin, der Jugend klare moralische und ethische Werte zu vermitteln. Er betont: „Unsere Lehre besagt, dass die Kirche unpolitisch sein soll. Aber wir motivieren die Leute dazu, ihr Wahlrecht auszuüben, auch wenn wir nie eine spezifische Partei unterstützen würden.”
Ebenso wenig würde er sich wohl einer Gruppe radikaler Revolutionäre anschließen. Aber wenn er mit den Menschen in den Gemeinden spricht, vermittelt er eine Botschaft, die den gesellschaftlichen Status Quo in Frage stellt: „Wir müssen den Jugendlichen und den Kindern beibringen, dass sie aufwachen müssen, dass sie nicht dieselbe Mentalität ihrer Großeltern und ihrer Eltern haben sollen, die apathisch geblieben sind. Die Jugend soll aufstreben und eine Front bilden, um der Welt Veränderung zu bringen.”
Aus den ehemals kleinen, vorwiegend jenseitsbezogenen Pfingstgemeinden ist eine pluralistische, in allen sozialen Schichten verankerte, teilweise progressive, theologisch ausdifferenzierte Bewegung geworden, die das Gesicht der globalen Christenheit deutlich verändert hat.
So wächst die Zahl der Gemeinden, in denen die schwache und ausgegrenzte Mehrheit der Gesellschaft neue, emanzipatorische Lebensperspektiven kennen lernt. Diese stehen im Gegensatz zu den reaktionären und erzkonservativen Evangelikalen, die bisher das Bild bestimmten. Für einen Teil der Pfingstler wirkt die Gemeinschaftserfahrung in ihren kleinen, autonomen Gemeinden nicht nur motivierend, sondern auch demokratisierend. Manche arbeiten innerhalb der Kirche Finanzpläne aus, andere setzen Projekte um. Die Menschen lernen, ihre Meinung zu äußern, Konsens zu finden, in der Öffentlichkeit zu sprechen. Solche Erfahrungen können auch ein emanzipatorisches Potenzial entfalten.
Oftmals ist eine evangelikale Gemeinde aber auch schlicht die einzige Alternative. Wie bei Michael aus Peronia. Hier gibt es neben den evangelikalen Kirchen nahezu keine weiteren Angebote für Jugendliche. Eine Ausnahme ist das Projekt Peronia Adolescente, das von Jugendlichen selbst ins Leben gerufen wurde. Anfangs haben sich die Jungen und Mädchen aus armen Familien gegenseitig bei den Hausaufgaben geholfen. Heute organisiert Peronia Adolescente ein jährliches Kulturfestival, sucht nach Ausbildungsplätzen und hilft bei familiären Problemen. Im Vergleich mit der Heilsbotschaft der Pfingstler sieht der Sozialwissenschaftler Virgílio Alvarez bei Projekten wie Peronia Adolescente mehr Möglichkeiten, das Problem der Jugendgewalt in Guatemala einzudämmen: „Man muss die Eigeninitiative der Jugendlichen unterstützen, um sie in die Gesellschaft zu integrieren.“ Denn nur wenn die Jugendlichen lernen, an sich selbst zu glauben, können sie aus der Spirale aus Armut und Gewalt ausbrechen. Dazu ist die biblische Lehre nicht zwingend notwendig. Doch wo es von staatlicher Seite keinerlei Unterstützung für die Jugendlichen gibt und Projekte wie Peronia Adolescente die Ausnahme sind, bleiben die Pfingstkirchen oft der einzige Ausweg.

Alle gegen die Maras

Politik und Presse zögerten nicht, umgehend von einem Massaker zu sprechen. Die Botschaft ist eindeutig: Auch in offiziellen Friedenszeiten, fast zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Bürgerkrieges, finden in El Salvador nur schwer zu begreifende Gewaltexzesse statt. 14 Menschen wurden am 20. Juni getötet, als Unbekannte einen Bus anzündeten. Weitere 18 Personen wurden zum Teil schwer verletzt, drei davon starben später im Krankenhaus. Das Verbrechen geschah in Mejicanos, einem 140.000-Einwohner-Vorort der Hauptstadt San Salvador.
Bereits einen Tag später nahm die Polizei acht Tatverdächtige fest, von denen vier noch nicht die Volljährigkeit erreicht haben. Die Verdächtigen werden den so genannten Maras zugerechnet. Diese untereinander verfeindeten Jugendbanden mit Namen wie „Mara Salvatrucha“ oder „Mara 18“ wurden ursprünglich von zentralamerikanischen Migranten in den USA gegründet und fassten durch die Abschiebung zahlreicher Bandenmitglieder in den 1990er Jahren Fuß in Zentralamerika. Heute haben sie vor allem in El Salvador, Honduras und Guatemala zehntausende Mitglieder, kontrollieren ganze Stadtviertel und erpressen unter anderem Schutzgeld. Fast 80 MitarbeiterInnen von Busunternehmen wurden dieses Jahr bereits gezielt getötet, viele davon mutmaßlich im Auftrag der Maras. Ein Massenmord wie am 20. Juni passt allerdings nicht so recht in das bisherige Schema der Banden, das Motiv ist unklar.
Präsident Mauricio Funes, der als ehemaliger Fernsehjournalist gemeinsam mit der linken FMLN (Nationale Befreiungsfront Farabundo Martí) vor gut einem Jahr die Regierung übernommen hatte, zeigte sich schockiert. Er sprach von einem „terroristischen Akt“ und kündigte am 23. Juni an, die bestehende Gesetzgebung gegen Jugendbanden zu verschärfen: „Ich habe dem Sicherheitsministerium die Anweisung erteilt, dem Parlament innerhalb kürzester Zeit einen Gesetzesentwurf zur Kriminalisierung der Maras vorzulegen“, sagte er der versammelten Presse. Nähere Details nannte der Präsident zunächst nicht. Konkreter äußerte sich der Vizeminister für Justiz und Sicherheit, Henry Campos: „Die Idee besteht darin, die reine Mitgliedschaft in einer Bande unter Strafe zu stellen, ohne ein anderes Delikt beweisen zu müssen.“ Funes kündigte zudem an, die Gefängnisse des Landes schärfer überwachen lassen und dazu auch das Militär einsetzen zu wollen. Viele Straftaten werden von inhaftierten Bandenmitgliedern aus den Gefängnissen heraus telefonisch angeordnet. Bereits seit Ende letzten Jahres setzt die Regierung das Militär zur Verbrechensbekämpfung im Inneren ein – erstmals seit Verabschiedung der Friedensverträge 1992 zur Beendigung des Bürgerkriegs.
Die Gewalt ist auch ein gutes Jahr nach dem Amtsantritt des ersten Präsidenten der FMLN eines der größten Probleme in der Wahrnehmung der Bevölkerung. Mit mehr als 70 Tötungsdelikten je 100.000 EinwohnerInnen ist die Mordrate des Landes laut offiziellen Statistiken eine der höchsten der Welt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert bereits mehr als zehn Morde je 100.000 EinwohnerInnen als „epidemisch“. Für einen Großteil der Gewalt macht die Politik seit Jahren die Maras verantwortlich, obwohl Studien dies keineswegs belegen können.
Unmittelbar nach dem Verbrechen zeichnete sich im Parlament eine breite Zustimmung für Funes‘ Vorstoß ab. Am 28. Juni traf sich der Präsident mit RepräsentantInnen aller im Parlament vertretenen Parteien. Diese stellten sich prinzipiell hinter das Vorhaben. Auch Unternehmensverbände wie die einflussreiche Nationale Vereinigung der Privatunternehmen (UNEP) signalisierten Unterstützung. Die rechte Tageszeitung El Diario de Hoy veröffentlichte eine Meinungsumfrage, wonach sich 80 Prozent der Befragten dafür aussprachen, Mara-Mitglieder als Teil des organisierten Verbrechens zu definieren. Dieselbe Umfrage offenbart auch, wie sehr die persönliche Wahrnehmung von Gewalt durch Nachrichten und Kriminalitätsdiskurse beeinflusst wird. Die Frage „Glauben Sie, dass die Kriminalität in den letzten Tagen zugenommen hat?“, bejahten 97 Prozent.
Funes‘ Ankündigungen erinnern an die gescheiterte Politik der „harten“ und „superharten Hand“, die seine Amtsvorgänger Francisco Flores und Antonio Saca von der ultrarechten ARENA (Republikanisch-Nationalistische Allianz) propagiert hatten. 2003 wurde unter Flores ein Anti-Mara-Gesetz verabschiedet, das die Mitgliedschaft in einer Jugendbande unter Strafe stellte. Die FMLN war damals strikt dagegen. Das Oberste Gericht entschied 2004, dass das Gesetz verfassungswidrig sei. Zur Begründung hieß es unter anderem, dass es explizit gegen eine bestimmte Gruppe von Personen gerichtet sei und daher den Grundsatz der Gleichheit verletze. Funes ist sich dessen bewusst und äußerte, das neue Gesetz werde sich „im Rahmen der Verfassung“ befinden. Die damalige Ablehnung seiner jetzigen Partei bezeichnete er rückblickend als Fehler.
In Folge der „Politik der harten Hand“ hatte die Polizei alle Freiheiten bekommen, Personen alleine aufgrund äußerer Merkmale wie Kleidung, Gestik oder den für die Maras typischen Tätowierungen festzunehmen. Dies führte zwar zu deutlich mehr Verhaftungen, tatsächlich begangene Straftaten konnten jedoch meist nicht nachgewiesen werden. Laut der salvadorianischen Menschenrechtsorganisation FESPAD wurden von insgesamt fast 20.000 festgenommenen Personen über 90 Prozent mangels Beweisen zeitnah wieder frei gelassen.
Diese Beweispflicht soll nun stark eingeschränkt werden. Schon Anfang Juli präsentierte die Exekutive einen ersten Gesetzesentwurf. Demnach sollen sämtliche Maras und Todesschwadronen zukünftig zu den verbotenen Vereinigungen zählen und würden damit rechtlich in den Bereich des organisierten Verbrechens fallen. Die Beweispflicht würde sich zunächst auf die Mitgliedschaft beschränken, unabhängig von den Delikten, die im Rahmen dieser Mitgliedschaft möglicherweise begangen wurden. Verboten wäre demnach auch jegliche Unterstützung oder Finanzierung von Maras. Eine gleichzeitig vorgeschlagene Reform des Strafgesetzbuches sieht die Ausweitung der Haftstrafen für die Mitgliedschaft in verbotenen Vereinigungen auf sechs bis 15 Jahre vor. Derzeit sind es zwischen drei und neun Jahren.
Die geplanten rechtlichen Bestimmungen gegen die Maras beziehen sich somit auf sämtliche unerlaubte Organisationen. Damit dürfte der juristische Fehler des Anti-Mara-Gesetzes von 2003, das sich explizit nur gegen die Jugendbanden richtete, behoben sein. Einer der Hauptunterschiede zwischen neuem und altem Anti-Mara-Gesetz ist zudem, dass das neue Gesetz nicht auf Minderjährige anwendbar sein soll, da dies internationalen Abkommen widerspricht. Dieser Punkt wird teilweise jedoch selbst in der FMLN kritisiert, da viele Mara-Mitglieder noch nicht volljährig sind. Die Kritik von JuristInnen kreist vorwiegend um die Frage, wie die Mitgliedschaft in einer Mara nachgewiesen werden soll. Rein äußere Merkmale reichen dafür laut verbreiteter Meinung kaum aus. Genaue Angaben über die nötigen Beweise blieb die Regierung bei der Präsentation des Gesetzesentwurfs schuldig. Vizesicherheitsminister Henry Campos erklärte gegenüber dem linken Internetportal Contrapunto: „Der Präsident wird das Projekt analysieren und kann darum bitten, dass Dinge gestrichen oder hinzugefügt werden, bevor es an das Parlament geht.“ Schon jetzt ist absehbar, dass der Entwurf noch verändert werden wird. Vor allem rechte PolitikerInnen und UnternehmerInnen kritisieren die Vorschläge als nicht ausreichend.
Tatsächlich stellen die jüngsten Entwicklungen in der Sicherheitspolitik aber einen handfesten Erfolg der rechten Opposition dar. Die FMLN übernimmt nicht nur deren propagierte Politik, sondern gibt offen zu, sich in der Vergangenheit geirrt zu haben. Einen „linken Ansatz“ in der Verbrechensbekämpfung wird es somit vorerst nicht geben. Im Gegenteil: Mit weiter gehenden, rein repressiven Forderungen treiben ARENA und andere rechte Parteien die FMLN bei dem Thema vor sich her. Die sozialen Ursachen der Gewalt werden in der Debatte zunehmend an den Rand gedrängt, wohl auch, weil deren Behebung selbst bei bestehendem politischen Willen viel Zeit benötigen würde und die gefühlte Sicherheit der Bevölkerung kurzfristig nicht erhöhen könnte.
Die erst Anfang dieses Jahres gegründete ARENA-Abspaltung GANA (Große Allianz für die Nationale Einheit), die dreizehn Abgeordnete im Parlament stellt, forderte gar eine Verfassungsreform, um die Todesstrafe wieder einzuführen.
Das geht zwar selbst der auf 18 Abgeordnete geschrumpften ARENA zu weit. Die ehemalige Regierungspartei forderte jedoch umgehend eine weitere Militarisierung des Kampfes gegen die Maras. So soll nach ihren Vorstellungen eine Anti-Mara-Spezialeinheit des Militärs gebildet werden, um in Vierteln, die von Jugendbanden kontrolliert werden, Präsenz zu zeigen. Militär- und Zivilpolizei sollen aufgestockt werden. Für einfache Bandenmitglieder schlägt ARENA zur Rehabilitierung einen obligatorischen zweijährigen Militärdienst vor, um sie mit militärischer Disziplin, aber ohne Waffen, auf ein Leben nach der Mara vorzubereiten. Die Chefs der Banden sollen hingegen in einem Hochsicherheitsgefängnis auf der Insel Martín Pérez im Golf von Fonseca weggesperrt werden, das vom Militär kontrolliert wird und wo es kein Mobilfunknetz gibt. Alles in allem will ARENA die Maras so innerhalb weniger Jahre besiegen. Vizesicherheitsminister Campos ließ verlauten, die Vorschläge prüfen zu wollen.
Anfang Juli sorgten die rechten Parteien mit ihrer gemeinsamen Mehrheit und göttlichem Beistand dann doch noch für einen präventiven Ansatz im Parlament: Auf Antrag der kleinen Partei der Nationalen Versöhnung (PDC) beschlossen sie gegen die Stimmen der FMLN eine verpflichtende tägliche Bibellektüre von sieben Minuten vor Beginn des Schulunterrichts. Zur Begründung der BefürworterInnen hieß es unter anderem, dass dadurch der Gewalt vorgebeugt werden könne.

„Der Schmerz vergeht, was bleibt ist die Mara“

Gleich zu Beginn des Spielfilmes Sin Nombre führt der Regisseur Cary Joji Fukunaga die ZuschauerInnen in die grausamen Rituale der Mara Salvatrucha, auch bekannt als MS 13, ein. Erst muss sich der zwölfjährige Neueinsteiger El Smiley (Kristyan Ferrer) von seinen zukünftigen Kameraden für 13 Sekunden verprügeln lassen. Als nächstes wird von ihm verlangt, einen Menschen zu töten, ein verfeindetes Gangmitglied der Mara 18. Smiley ist zwar stolz nun endlich dazu zugehören, fühlt sich aber trotzdem nach seinem ersten Mord miserabel. Lil‘Mago (Tenoch Huerta Mejía), der Anführer der MS 13, tröstet ihn daraufhin mit den irritierenden Worten: „Der Schmerz vergeht, was bleibt ist die Mara!“.
Fukunaga hat für seinen Film mehrere Monate im mexikanischen Chiapas, insbesondere in Tapachula nahe der guatemaltekischen Grenze, recherchiert: Er sprach mit Gangmitgliedern, besuchte Gefängnisse und fuhr sogar mit zentralamerikanischen Wirtschaftsflüchtlingen für einen Tag auf dem Dach eines Zuges in Richtung US-amerikanischer Grenze mit.
Denn der Film beschäftigt sich nicht nur mit den Maras, sondern soll auch auf die zahlreichen Menschen hinweisen, die sich täglich auf den Weg in die Vereinigten Staaten machen, in der Hoffnung dort ein besseres Leben anfangen zu können. Laut Fukunaga gibt es an der Grenze zu den USA viele Kartons, auf denen sin nombre (ohne Namen) steht. Damit soll den zahlreichen unbekannten Menschen gedacht werden, die bei dem Versuch, die Grenze zu überqueren, ums Leben gekommen sind.
Der Film erzählt von der schicksalhaften Begegnung zwischen Casper (Edgar Flores), einem Mitglied der brutalen Gang MS 13 in Tapachula
(Mexiko) und Sayra (Paulina Gaitan), einer jungen Frau aus Honduras. Caspar ist auf der Flucht, da er beschlossen hat, seiner Gang den Rücken zuzukehren. Die beiden treffen sich auf dem Dach eines Zuges, auf dem Sayra mit zahlreichen anderen MittelamerikanerInnen in Richtung USA fährt.
Zweifellos hat Fukunaga mit Sin Nombre einen imponierenden Kinofilm geschaffen. Das Drehbuch, die wunderschönen Landschaftsaufnahmen und insbesondere die mittelamerikanischen DarstellerInnen beeindrucken. Der Regisseur hatte sich extra vertraglich zusichern lassen, dass er ausschließlich mit zentralamerikanischen DarstellerInnen arbeiten darf. Somit wirkt die US-amerikanische Produktion authentisch.
Der Spielfilm erfüllt zwar alle Erwartungen an ein gutes Unterhaltungskino, über die sozialen Hintergründe der Maras erfährt das Publikum jedoch kaum etwas. Die Gangmitglieder in Fukunagas Erzählung bleiben die gleichen mordenden Bestien, die auch aus den mittelamerikanischen Medien bekannt sind. Nur anhand der Charaktere Casper und Smiley erscheint in ihnen auch etwas Menschliches. Dramaturgisch gesehen lebt der Film natürlich von diesem Schwarz-Weiß-Denken, als Grundlage für ein Verständnis der Hintergründe der Maras ist er jedoch ungeeignet. Denn neben den Gangritualen, gehört für alle Mareros die ständige Konfrontation mit dem Tod, eine
Perspektivlosigkeit und eine vollkommene Isola-tion von der Gesellschaft zum Alltag. Anstatt den Jugendlichen Unterstützung zu bieten, gehen die PolitikerInnen Zentralamerikas mit repressiven polizeilichen Maßnahmen gegen die Banden vor. In Honduras und El Salvador ist beispielsweise bereits die Mitgliedschaft in einer Gang eine Straftat – ein Tätowierung als Beweismittel genügt. Die Polizei sperrt verdächtige Bandenmitglieder willkürlich in die Gefängnisse, denn für einen Marero gibt es kein faires Gerichtsverfahren.
Wer sich nicht nur für gute Unterhaltung interessiert, sondern sich in den realen Alltag der Maras hineinversetzen will, für den bleibt Christian Povedas Dokumentation La Vida Loca derzeit die einzige Alternative. Der französische Filmemacher zeigt mit seiner preisgekrönten Dokumentation, dass eigentlich die Mareros die Verlierer der Gesellschaft sind. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als sich einer Gang anzuschließen – denn sie gibt ihnen sozialen Halt und hilft ihnen zu überleben. Sein einziger Drehort war ein Armenviertel in Soyapango (El Salvador). Dort dokumentierte er 16 Monate lang das Leben mehrerer Mitglieder der Mara 18, der rivalisierenden Gang der MS 13.
Die Tatsache, dass es bei den Leichen in diesem Film nicht um SchauspielerInnen handelt, lässt niemanden kalt. Indem Poveda ganz nah an den Menschen bleibt und sie in ihrem traurigem Alltag begleitet, gelingt es im, für das Thema zu sensibilisieren.
Die ProtagonistInnen erzählen jedoch ihre leidvollen Geschichten nicht direkt in die Kamera. Die ZuschauerInnen sollen vielmehr durch Handlungen und gefilmte Gespräche an die Situation herangeführt werden, was leider nicht immer gelingt. Die Dokumentation leidet auch darunter, dass Poveda sich nicht auf das Schicksal von ein oder zwei DarstellerInnen konzentriert, sondern die Geschichte acht wahrer HeldenInnen gleichzeitig erzählt. Die Menge der ProtagonistInnen sprengt jedoch den Rahmen der Dokumentation und verhindert so, dass das Publikum sich in die einzelnen Charaktere wirklich hinein fühlen kann.
Dem Regisseur selbst war dieses Manko bewusst. Die Handlung des Films nur auf eine Person zu beschränken, wäre einfach zu riskant gewesen, erklärte Poveda in einem Interview.
Seine Angst war begründet, insgesamt sieben Personen kamen bei den Dreharbeiten ums Leben. Christian Poveda selbst starb am 2. September 2009 in El Salvador durch Schussverletzungen. Sein Engagement für die „verlorene Generation“, wie er selbst die Maras nannte, musste er mit seinem Leben teuer bezahlen.

Sin Nombre // Spielfilm von Cary Fukunaga // USA 2009 // 94 Min. // Deutsch // Kinostart 29. April.

La Vida Loca // Dokumentarfilm von Christian Poveda // Spanien, Mexiko, Frankreich 2008 // 90 Min. // Deutsch und Spanisch // auf DVD ab 6. Mai.

Land in der Transition

Mauricio Funes, der neue Präsident, spricht höchstpersönlich von einer Unsitte: „Das ist doch niemals genügend Zeit, um eine Regierung zu katalogisieren, um einen kompletten Regierungsplan in Marsch zu setzen.“
Große Sorgen braucht er sich allerdings nicht zu machen, denn die Regierung bekommt großen Zuspruch aus der Bevölkerung: Laut einer Studie der Technischen Universität El Salvadors sind 83,8 Prozent zufrieden mit Funes´ Amtsführung. Und seine Noten sind überdurchschnittlich. Auf einer Skala von 1 bis 10, die die Zentralamerikanische Universität UCA den Menschen vorlegte, erhält er den Durchschnittswert 7,16. Keiner seiner extrem rechten Vorgänger konnte dies erreichen. Die SalvadorianerInnen wollten und wollen den cambio, den Wandel. Und die Regierung hat erste Wahlversprechen umgesetzt.
Sie startete ein Programm zur Armutsbekämpfung, schaffte die Krankenhausgebühr ab und richtete ein „Komitee der sozialen Ökonomie“ ein, in dem neben UnternehmerInnen auch VertreterInnen der sozialen Bewegungen sitzen und die Regierung bei der Umsetzung ihrer Politik beraten. „Noch nie wurde das Volk so sehr in Entscheidungen einbezogen wie heute“, ist Maria Silvia Guillen, Vorsitzende der linken Sozialrechtsorganisation FESPAD, begeistert. Auch die Mehrheit der UCA-Befragten bezeichnet sich als links. Die Priorität auf Armutsbekämpfung war keine Eintagsfliege, sondern wird fortgesetzt. So verkündete Funes Ende September im Departamento San Martín den Bau von 1.500 Häusern im Rahmen des Programms „Häuser für Alle“. Ebenfalls im September vergab er Landtitel an landlose Bauern und Bäuerinnen. Für die im Land noch verbliebenen Gewerkschaften sind dies allerdings nur Tropfen auf den heißen Stein. Das Komitee der sozialen Demokratie war am 3. September offiziell konstituiert worden. Sein Wirken wird, gerade auch von den sozialen Bewegungen, die der Befreiungsfront Farabundi Martí (FMLN) mit zum Wahlsieg verholfen haben, genau beobachtet werden, bietet es doch einen Ansatzpunkt, der Kultur des „Vertikalismus“ in Gesellschaft, Staat und Parteien – inklusive der FMLN – entgegenzuwirken und eine Rückkopplung von Politik an die Basis zu erreichen. Ob allerdings etwas herauskommt bei den Beratungen des Komitees, ist keineswegs sicher. Das Gremium ist nämlich der Neuaufguss eines alten Hutes, der während der Friedensverträge 1992 in den Ring geworfen wurde. Der damalige Wirtschafts- und Sozialrat entschlief jedoch bald friedlich, unter anderem weil die UnternehmervertreterInnen nicht für die ILO-Konventionen zur Gewerkschaftsfreiheit zu gewinnen waren.
Gerade für die radikalere Linke inner- und außerhalb der FMLN hatte der cambio gar nicht so viel versprechend begonnen. Das Land war durch jahrzehntelangen schärfsten Neoliberalismus quasi „gewerkschaftsfrei“. Funes hatte im Wahlkampf ein eindeutiges Bekenntnis zum Privateigentum abgegeben und sich ohne Umschweife als Sozialdemokrat geoutet. Doch waren viele dann wieder positiv überrascht, dass er in seiner Antrittsrede sehr konkret wurde und Säulen eines „Umfassenden Krisenplans“ mit dem Bau von 25 Tausend Häusern, dem Aufbau eines Systems des sozialen Schutzes und einem Anspruch auf Basisgesundheitsversorgung nannte. Als dann aber klar wurde, dass die vorangegangene konservative ARENA‑Regierung ein riesiges Haushaltsloch hinterließ und dass sie etwa in den Ministerien für Soziales und Gesundheit 29 Phantom-MitarbeiterInnen beschäftigt hatte, die den SteuerzahlerInnen im Jahr 700.000 US-Dollar gekostet hatten, sank die Stimmung merklich. Die Regierung zog aus dem Korruptionsskandal ihrer politischen Gegner dennoch politischen Nutzen und startete eine Anti-Korruptionskampagne, die ebenfalls gut ankam. Verteidigungsargumente der Rechten, die neue Regierung wolle nur von den wahren Problemen des Landes ablenken, fanden wenig Gehör.
Ganze andere Kritik kam aus dem radikalen Flügel von Funes‘ Regierungspartei FMLN und aus der Lesben- und Schwulenbewegung. Auch die hiesige Solidaritätsbewegung konnte nur mit dem Kopf schütteln. Noch in der letzten Sitzung des alten Parlaments hatte die FMLN einem Gesetz zugestimmt, nach dem Schwule weder heiraten noch Kinder adoptieren dürfen. Frauen- und Homosexuellen-Organisationen liefen Sturm gegen dieses als Umfallen wahrgenommene taktische Abstimmungsverhalten „ihrer“ Partei. Dem bewegungsnahen FMLN-Flügel schwante Böses für die neue Legislaturperiode. Schließlich traten die ParlamentarierInnen aber dann doch einen halbwegs geordneten Rückzug an, die zweite Lesung wurde verschoben, weil die FMLN noch Diskussionsbedarf habe. Spätestens nach dem ersten Monat des neuen Präsidenten schärfte sich dessen politisches Profil. „Romero im Herzen, Lula im Blick“ titelte ein deutscher Kommentator aus dem progressiven kirchlichen Spektrum treffend. In der Tat ist der ehemalige Journalist Funes aus katholischem Elternhaus den sozialen Ideen des von der Rechten ermordeten Erzbischofs von El Salvador ebenso verbunden wie der Politik eines nationalen Ausgleichs zwischen aufgeschlossenem Unternehmertum und fortschrittlichen Bewegungen und Kräften, wie sie Lula in Brasilien praktiziert. „Wir werden nicht den Sozialismus ausrufen“, hatte Funes schon vor Amtsantritt prophezeit.
Die anstehenden Aufgaben sind in der Tat gewaltig: Drängende soziale und ökonomische Probleme wie Kriminalität von Jugendbanden und Wirtschaftskrise machen die Arbeit der Regierung nicht einfach. Noch ist die Mordrate die höchste in Lateinamerika und die Überweisungen der oft illegal in die USA lebenden SalvadorianerInnen an ihre Familien sind mit dem Niedergang der US-Ökonomie rapide zurück gegangen. In deren Schlepptau ist der Däumling Mittelamerikas auch gehörig in die Finanzkrise gerutscht. Stolz ist Funes daher darauf, mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) Ende September ein Finanz-Stabilisierungsprogramm von 800 Millionen US-Dollar abgeschlossen zu haben und dass diese Stand-by-Vereinbarung es ermögliche, die Armutsbekämpfung ebenso fortzusetzen wie die Liquidität für Banken und InvestorInnen zu erhöhen. Die nicht nur jugendliche Delinquenz wird innenpolitisch einer der Prüfsteine für Funes werden. Natürlich bemüht er sich hier, die auf bloße Repression setzende Politik der harten Hand seiner rechten Vorgänger hinter sich zu lassen und sozial zu intervenieren. So verkündete er ebenfalls Ende September das Programm „Solidarische Stadtviertel“, das die Sicherheit der Bürger und die Wohnsituation in prekären Stadtvierteln verbessern soll. Dies vor dem Hintergrund, dass von 2006 bis 2008 laut UNO die städtische Armut um 8 Prozent gewachsen ist, was 200.000 zusätzliche Verarmte bedeutet. In der Gewaltproblematik geht Funes ebenfalls den Weg der Kommunikation und der Integration gesellschaftlicher Sektoren. Bei einem Treffen mit Kirchen-, Universitäts-, Bewegungs- und UnternehmervertreterInnen Ende August betonte der Regierungschef erste Erfolge: Die Mordrate sei von Mai bis August von monatlich 384 auf 278 gesunken.
Und noch ein anderes regionales Großereignis lässt Funes vorsichtig agieren: der Putsch in Honduras. Bereits am Tag nach Zelayas Entführung drohte der Chef der ehemaligen Regierungspartei ARENA (Nationalistisch republikanische Allianz) Funes am Telefon: Sollte er sich weiter vorwagen, drohe ihm das Gleiche. Man werde sich keinesfalls einschüchtern lassen, sagt Maria Silvia Guillen, und die besonnene Politik des Präsidenten unterstützen. Der lässt vorerst die Finger von heißen Eisen wie dem Beitritt zum progressiven Staatenbündnis ALBA (Bolivarianische Allianz für die Amerikas) oder der Revidierung des Amnestiegesetzes, das die Militärs, die im Bürgerkrieg Massaker begangen haben, vorerst unangreifbar macht. Andererseits hat er die diplomatischen Beziehungen zu Kuba wieder aufgenommen. Der außenpolitische Schwerpunkt liegt aber eindeutig auf der Orientierung an Brasilien, auch Chile spielt eine Rolle. Nach einem Antrittsbesuch von Funes im August hat die größte südamerikanische Volkswirtschaft Hilfe in diversen Bereichen wie Gesundheit, Erziehung, aber auch Wirtschafts- und Finanzpolitik zugesagt und Funes hat seiner Bewunderung für Brasiliens Weg Ausdruck gegeben. Daraus kann man eine pragmatische Ausrichtung an ökonomischen Großgewichten in Lateinamerika und einen links-liberalen Kurs ablesen.
Kritik – nicht nur daran – aus den eigenen Reihen gibt es genug. So sagt der ehemalige Direktor von El Salvadors alternativen Radionetzwerk Hector Vides: „Ich bin enttäuscht, Funes ist ein unsichtbarer Präsident. Er könnte punkten mit Initiativen zur Förderung alternativer Medien. Aber er vertut diese Chance einfach.“ UmweltschützerInnen sind enttäuscht, dass der Staatschef das umstrittene Staudammprojekt Chaparral (siehe LN 385/386) nicht stoppt. Böse Zungen behaupten, das liege daran, dass der Präsident der Elektrizitätsgesellschaft ihm im Wahlkampf eine Großspende habe zukommen lassen. Ursache dürfte aber eher sein, dass El Salvador bei Stopp des Vorhabens ein Verfahren vor dem Weltbank-Schiedsgericht ICSID droht, vor dem Unternehmen Länder auf entgangene Investitionen verklagen können. Die mindestens 60 Millionen US-Dollar, die der kanadische Minenkonzern Pacific Rim dafür veranschlagt hat, sind dem salvadorianischen Finanzminister angesichts der ohnehin prekären Haushaltslage ein Graus – zumal gegen El Salvador noch drei von diesen Verfahren anhängig sind. Dass sich Funes den DemonstrantInnen, die gegen das Mammutvorhaben vor dem Präsidentenpalast demonstrierten, nicht persönlich zeigte, nahmen diese ihm übel – hatten sie doch während des Wahlkampfes oft stundenlang auf „ihren Kandidaten“ gewartet. Wieder andere bemängeln, dass Funes die revolutionäre Demokratie in Form von Sozialisierung der Produktionsmittel und Klassenkampf nicht konsequent umsetzt. „Die Regierung sollte endlich klar sagen, auf wessen Seite sie steht und für wen sie regiert“, sagt der Ex-Comandante und Ex-FMLN-Aktivist Dagoberto Gutiérrez. VertreterInnen sozialer Bewegungen äußern unverhohlen, man könne keinen Unterschied zu früher feststellen und dass sie sich überlegen würden, noch einmal FMLN zu wählen. Dem entgegen moderatere Frente-Mitglieder, man dürfe die Regierung nicht so harsch von links kritisieren. Das arbeite der Rechten in die Hände. Erinnert wird an die bitteren Erfahrungen in Chile während der Allende-Regierung.
Der Präsident muss auf der Hut sein: In 100 Tagen ist die Macht der GroßgrundbesitzerInnen und Großindustriellen nicht zu brechen – wenn das überhaupt gelingt und so Funes es überhaupt will. Und im Parlament ist die FMLN zwar die stärkste Fraktion, aber die rechten Parteien haben die Mehrheit der Sitze. Auch der oberste Gerichtshof ist noch in ihren Händen. Und so bereitet man sich in El Salvador vor auf die kommenden Kämpfe. Der Präsident aber sucht weiter den Ausgleich. Oder wie es der FMLN-nahe Ökonom Augusto Villalona ausdrückt: „Es hat sich eine fortgeschritten reformistische Regierung etabliert.“

Zwischen Traditionalismus und Migrationsträumen

Jenseits der Migration sieht Asucena Castillo, Direktorin des Radiosenders Radio Universidad, in der wirtschaftspolitischen Ideologie der letzten Jahrzehnte einen zentralen kulturellen Einflussfaktor. „Wenn der Neoliberalismus in Nicaragua einen Sieg errungen hat, dann ist es der, den Konsumismus und Individualismus in unserer Kultur zu verankern“, erklärt sie. Diese erstreckten sich nicht nur auf die Mittel- und Oberschicht, sondern auf die ganze Gesellschaft, einschließlich der Jugend. Ähnlich sieht das Memo Villano: „Das Lebensgefühl der Revolution, gemeinsam aus den vorhandenen Mitteln das Beste zu machen, ist heute abhanden gekommen“, beklagt der Grafikdesigner und Künstler aus Managua. Die FSLN heute nimmt er nicht als einladendes Angebot wahr: Zuviel werde vorgegeben, es gebe keinen Platz für Diskussionen. Überhaupt seien die Spielräume, sich zu begegnen, zu diskutieren und auszuprobieren für die Jugend sehr beschränkt und auch der Bedarf sei gering, „weil die meisten Politik mittlerweile mit etwas Schmutzigem assoziieren“. Zulauf hätten dagegen die evangelikalen Kirchen, die dafür plädierten, sich aus der Politik herauszuhalten.
Trotzdem, so der Journalist und Kultur-Aktivist Adolfo „Fito“ Taleno, sei in Nicaragua bei weitem nicht soviel kulturelle Eigenständigkeit verloren gegangen wie in den Nachbarländern oder in Europa: „Die McDonald´s-Kultur hat hier kaum Fuß gefasst, genauso wenig wie die Jugendbanden, die in Honduras und El Salvador starken Einfluss auf die Jugendkultur haben. Klassisches politisches Engagement, so wie früher, gibt es heute wenig, aber viele, die ihre eigenen Aktivitäten entwickeln, zum Beispiel Musik- oder Tanzgruppen gründen. Da dreht sich das meiste um Reggaeton, den ja auch die Medien vorzugsweise präsentieren, aber auch traditionelle Folklore findet wieder mehr Anklang.“
Ein weiterer Bereich, in dem sich Jugendliche aus eigener Motivation engagieren, ist der Umweltschutz. Gruppen wie der Club der jugendlichen UmweltschützerInnen und Rock Nica Ecológico arbeiten mittlerweile landesweit. Sie führen Kampagnen für Umweltbewusstsein in Schulen durch und organisieren gemeinsame Aktivitäten, bei denen sie Hänge aufforsten und Flüsse von Müll reinigen. Taleno sieht darin eine Art, sich sozial zu betätigen, ohne zu sehr mit den unbeliebten Parteien in Kontakt treten zu müssen.
Anderen Bewegungen geht es hingegen genau darum, wenn auch bisweilen als Reibungsfläche. So hat in jüngster Zeit die Organisation Nationale Jugendbewegung (MJN) von sich reden gemacht, die in Managua fantasievolle Protestaktionen durchführt, die sich vor allem gegen den Machtmissbrauch der Ortega-Regierung richten. Ihre zentrale Forderung ist die völlige Neubildung des stark korruptionsverdächtigen Obersten Wahlrats. Auch wenn die Organisation Wert darauf legt, parteiunabhängig zu sein, sind ihre Aktionen immer wieder Ziel FSLN-treuer Schlägertrupps. AktivistInnen der MJN erklären sich die politische Abstinenz ihrer AltersgenossInnen mittlerweile auch mit der Angst, verprügelt zu werden. Die Präsenz in den größtenteils oppositionellen Medien ist der relativ kleinen Gruppe jedoch sicher. Zudem hat die regierungskritische linke Jugend, zu der sich auch die MJN rechnet, in dem Musiker Perrozompopo ein prominentes Sprachrohr gefunden.
Doch Nicaraguas größte Jugendorganisation ist nach wie vor die Juventud Sandinista, der Jugendverband der FSLN. Auch wenn dessen agitatorischer Stil eher altbacken wirkt, beteiligen sich viele Jugendliche an den Wahlkämpfen der FSLN, an der landesweiten Alphabetisierungskampagne und den Massenmobilisierungen. Die Symbole und Musik der Revolution und der lateinamerikanischen Linken sind heute in Nicaragua auch in Jugendkreisen weitaus präsenter als noch in den 1990er Jahren. Aus denselben Kreisen rekrutieren sich allerdings auch die Schlägertrupps, die in Managua FSLN-kritische Demonstrationen und Proteste angreifen. Kulturaktivist Fito Taleno sieht das Hauptproblem für eine weitergehende Partizipation der Jugendlichen in der mangelnden Kommunikationsarbeit der Regierung: „Die Regierung unternimmt ihre Anstrengungen, macht sich aber bei den Leuten unbeliebt. Sie müsste versuchen, die Leute stärker einzubinden, sich so zu öffnen, dass die Leute Lust haben mitzumachen und sich als Teil eines gemeinsamen Projekts zu fühlen.“

Adolfo „Fito“ Taleno Mejia
ist heute 31 Jahre alt und beteiligt sich an verschiedenen sozialen Bewegungen, die der Studentenbewegung nahestehen. Er ist ausgebildeter Soziologe und arbeitet als Journalist beim Radiosender der linksliberalen Universität UCA in Managua.
Trotz seiner journalistischen Arbeit sieht sich Fito vor allem als Kommunikator: „Meine Leidenschaft ist, die Leute dazu anzuregen, einander zu begegnen, ob über das Radio oder ohne.“ Besonders wichtig ist Fito dabei, dass die NicaraguanerInnen ihre eigene Kultur hoch halten, die traditionellen Lieder und Tänze samt der Inhalte, die darüber tradiert werden. In diesem Zusammenhang liegen ihm besonders die ländliche Kultur und die Wertschätzung des ländlichen Raums generell am Herzen. Fito erkennt in Nicaragua eine im Vergleich zu den Nachbarländern noch relativ starke kulturelle Eigenständigkeit. „Ein Umstand, den wir vielleicht der Revolution verdanken“, meint er. Diese eigenständige Kultur zu fördern, ist auch Sinn des jährlichen Victor-Jara-Kulturfestivals in Managua und weiterer Kulturveranstaltungen, die Fito mitorganisiert.
Neben seiner kulturellen Arbeit ist Fito Aktivist in der Bewegung „Eine andere Welt ist möglich“. Diese parteiunabhängige Organisation versucht sozialen und politischen Themen Öffentlichkeit zu verschaffen, derzeit vor allem mit Aktivitäten zur Unterstützung des Widerstands gegen den Staatsstreich in Honduras. Politisch sozialisiert wurde Fito durch seine Mutter, die in ihrem Stadtviertel die Koordinatorin der CDS (so genannte Komitees zur Verteidigung des Sandinismus; Anm. d. Red.) war. „So wurde ich von klein auf mit den Gesundheitsbrigaden, der politischen Arbeit aber auch dem Contra-Krieg vertraut“, erzählt er. Später habe er sich einer katholischen Jugendgruppe in seinem Viertel angeschlossen, mit der sie auf dem Land Aufbauarbeit geleistet hätten: „Dadurch habe ich die Lage der Bauern kennen gelernt und auch ihren Glauben, ihre Kultur und Tradition.“
Geprägt habe ihn auch die internationale Solidarität, die Nicaragua damals erfahren hat. Fito erinnert sich gern an die Menschen aus Argentinien, Brasilien, Deutschland und Polen, die halfen, in seinem Viertel das Nachbarschaftshaus aufzubauen. „Die Erfahrung, freiwillig gemeinsam an einer Sache zu arbeiten, die deinen Traum mit Leben füllt, hat mich zu der Arbeit motiviert, die ich heute mache.“
// Andrés Schmidt

Memo
ist 30 Jahre alt und arbeitet mit Touristengruppen. Er ist das neunte Kind von elf Geschwistern, seine Eltern kommen vom Land und sind dann nach Managua gezogen.
Er hat vier Jahre Graphik-Design studiert – ohne Abschluss, weil gegen Ende mehr Marketing als Kunst Thema war –, und dann an der Uni einen Abendkurs in Englisch belegt. Inzwischen betreut Memo Touristengruppen und will sich mit der Idee selbständig machen, Angebote zusammenzustellen, durch die TouristInnen die soziale, historische und kulturelle Realität seines Landes kennen lernen können.
Den Beginn der Revolution hat er nicht bewusst erlebt, weil er erst 1979 – im Jahr der Revolution – geboren wurde. Seine Geschwister waren aber in den Gesundheits- und Impfkampagnen engagiert und sein Vater war Mitglied einer Kooperative. Memo kann sich noch erinnern, dass es damals eine unglaubliche Energie im Lande gab und dass die Leute sich bei vielen Aktivitäten beteiligt haben. Trotz der ewigen Krise hätten die Leute gelacht, sie seien mit Begeisterung die „Architekten ihrer eigenen Zukunft“ gewesen. Er denkt an die Versammlungen, in denen diskutiert wurde. „Demokratie ist mehr als die Demokratie der 1990er Jahre. Die Freiräume, zu diskutieren und offen seine Meinung zu sagen, hat die Revolution geschaffen. Die Zeitungen heute kritisieren nur, sie schlagen nichts Neues vor“, meint Memo. Er möchte sich die Revolution nicht stehlen lassen. Laut Memo denken die LandarbeiterInnen und die armen Leute, die FSLN sei heute noch so revolutionär wie in den 1980ern, aber es sei unklar, woher das Geld komme und es werde paternalistisch verteilt. Er kritisiert, dass es nicht mehr die demokratische Kultur wie in den 1980ern gebe, stattdessen werde vorgegeben, was zu denken sei. Auch die Freiräume, um Underground und neue Kultur auszuprobieren, seien sehr klein. Eine der wenigen Ausnahmen sei das Espacio Sur – ein Club, der einem Sohn von Ortega gehören soll – wo viele Rockgruppen mit regierungskritischen Texten aufträten. Auch das Internet spiele nicht die große Rolle, da nur eine reduzierte Anzahl von städtischen Jugendlichen Zugang habe. Zudem werde das Netz kaum für politische Diskussionen genutzt. Die Jugendlichen seien oft desillusioniert, meint Memo.
Er selbst ist der Meinung, dass man die Straße nicht den Parteigängern überlassen dürfe, aber bei einer Demonstration nach den Kommunalwahlen habe es sehr viel Aggression gegeben. Memo kritisiert, dass die heutige FSLN gegenüber den alten GegenerInnen zu sehr auf Versöhnung setzte, während sie die alten MitstreiterInnen oft als Feinde behandele. Allerdings sieht er auch die oppositionelle Sandinistische Oppositionspartei MRS kritisch. Sie sei nur eine kleine, eher elitäre Kraft, die die Armen nicht erreiche. Einer politischen Gruppe könnte er sich heute nicht anschließen.
Trotz aller Probleme lebt Memo gerne in Nicaragua: „Ich liebe mein Land – wir feiern immer, wir feiern, wenn wir traurig sind, wenn wir fröhlich sind oder wenn wir ärgerlich sind. Selbst bei einer Beerdigung werden Karten gespielt. Die Menschen sind füreinander da, alle in der Familie und die Nachbarn kümmern sich um die Kinder. Die sind niemals alleine. In den USA ist das anders.“ Die Ideen von Sandino seien nach wie vor gut, „jetzt müssen wir sie zurückerobern.“
// Ulla Sparrer

Aus den Tiefen herauskommen

Tief war das Wasser vor der Küste bereits, als Christoph Kolumbus vor über 500 Jahren Anker werfen ließ. „Agúas hondas“ nannte er das mittelamerikanische Land – Honduras. „Der Name hat unser Land seither geprägt, aus den Tiefen sind wir nie herausgekommen“, beklagt Alfredo Bográn, Gewerkschafter und Aktivist des linken Bloque Popular (Populärer Block). Zumindest einen Hoffnungsschimmer sieht Bográn, denn Anfang Oktober ratifizierte der Nationalkongress einmütig den Beitritt des Landes zur Bolivarischen Alternative für die Völker Unseres Amerikas (ALBA). Die damit verbundene Unterstützung aus Venezuela kommt wie gerufen, denn die Armutssituation in Honduras ist fatal: Bis zu 80 Prozent der Menschen – vor allem in den ländlichen Gebieten – leben in Armut und können ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen. Das Land ist nach Haiti und Nicaragua eines der ärmsten der Region. Die mit ALBA verbundene Hilfe ist dann wohl auch der wahre Grund für den Beitritt in das Wirtschaftsbündnis. Denn Präsident Manuel Zelaya Rosales von der regierenden liberalen Partei PLH ist alles andere als ein Linker. Er gewann die Präsidentschaftswahl vor allem mit einer Kampagne gegen kriminelle Jugendbanden – die sogenannten maras sind ein großes Problem in Honduras, genau wie in den Nachbarländern Guatemala und El Salvador – in der er den „starken Staat“ beschwor.
Außer Textil-Maquiladoras gibt es im Land kaum Industrie und diese ist aufgrund der Konkurrenz aus China unter starken Druck geraten. Viele Anbauflächen für Bananen und Kaffee sind verwaist,seitdem der Weltmarktpreis für diese Produkte in den Keller gesunken ist. „Es gibt kaum reguläre Arbeitsplätze in Honduras außer im schlecht bezahlten öffentlichen Dienst oder den Maquilas mit Arbeitsbedingungen, die an Sklaverei erinnern. „Wer kann, verkauft irgendwie irgendwas auf der Straße. Aber Exportprodukt Nummer Eins sind Arbeitskräfte, die es vor allem in die USA zieht“, erklärt Edith Zavala vom Netzwerk der honduranischen Migrantenorganisationen. Mehr als eine Million der gut 7,5 Millionen HonduranerInnen wanderte aus, in die USA, nach El Salvador oder nach Spanien. Die Überweisungen der MigrantInnen an ihre Familien machen fast ein Viertel des Bruttoinlandsproduktes aus. Kein anderes Land der Region hängt wirtschaftlich so sehr am Tropf dieser remesas, den Geldüberweisungen aus dem Ausland. Jedoch sind diese Zahlungen aufgrund der Wirtschaftskrise in den USA derzeit rückläufig, insbesondere weil viele HonduranerInnen im dortigen Baugewerbe arbeiten und dieses von der Immobilienkrise besonders stark betroffen ist. Venezuela wird im Rahmen der ALBA-Mitgliedschaft nun Kredite für Kleinbäuerinnen und -bauern in Höhe von 30 Millionen US-Dollar gewähren, 100 Traktoren liefern sowie Programme im Bildungs- und Gesundheitssektor fördern. Zudem profitiert das Land bereits durch die Petrocaribe-Mitgliedschaft davon, dass es die Hälfte seiner Rohölrechnung bei Venezuela nicht sofort, sondern erst in 25 Jahren zahlen muss. Dabei gilt ein Zinssatz von nicht mehr als einem Prozent. Das Land kann zudem in in Form von Nahrungsmitteln oder anderer Exportprodukte zahlen.
Zu Zeiten der bewaffneten Konflikte in Zentral­amerika unterhielten die USA in Honduras einen ihrer wichtigsten militärischen Stützpunkte von wo aus sie ihre Operationen gegen die regierenden sozialistisch orientierten SandinistInnen der FSLN in Nicaragua und die linken FMLN-RebellInnen in El Salvador durchführten. Mit dem Ende dieser Konflikte in den 90er Jahren sank das US-Interesse an Honduras erheblich. Die gringos sind den HonduranerInnen aber nicht erst seit dieser Zeit verhasst. Jedoch gründet sich diese Ablehnung in der Regel nicht auf eine politische Basis. In den Nachbarländern Nicaragua, Salvador und auch Guatemala gibt es eine lange Tradition linker Widerstandsbewegungen, deren Denkschulen beispielsweise Intellektuelle hervor gebracht haben, deren Ideen auch heute in den jeweiligen Universitäten eine wichtige Rolle spielen. In Honduras gab es keine vergleichbare Bewegung. Das Land war sicheres Terrain für die reaktionären CONTRAs, welche die sandinistische Regierung in Nicaragua stürzen wollten.
„Die honduranische Linke träumte nie von einer Partei, wir wollten stets nur soziale Bewegung sein“, sagt Alfredo Bográn vom Bloque Popular (BP). Dieser Zusammenschluss aus radikalen GewerkschafterInnen und AktivistInnen aus Basiskomitees ist eine der wichtigsten Formationen der politischen Linken. In ihrer Monatszeitung Vida Laboral berichten sie von politischen Auseinandersetzungen, rufen zu Solidarität bei politischer Repression auf und wollen das historische Gedächtnis der populären Bewegung sein, indem sie an deren historische Persönlichkeiten erinnern. Öffentlichen Widerhall fand die vom BP unterstützte Kampagne gegen die von den Stadtregierungen in San Pedro Sula und anderenorts vollzogene Privatisierung der kommunalen Wasserversorgung. „Die Privatisierungen waren von der Zentralregierung gewollt. Den Kampf dagegen haben wir vorerst verloren, aber wir konnten unsere Bewegung aufbauen und neue Aktivisten um uns scharen“, berichtet Bográn. Im April dieses Jahres traten einige StaatsanwältInnen in den Hungerstreik. Sie demonstrierten auf diese Weise gegen die in Honduras systematische Korruption. Daraus entwickelte sich eine bis heute anhaltende Massenbewegung, die den Kampf gegen Korruption zu einem Hauptanliegen der sozialen Bewegung macht. Die zwei im Parlament vertretenen sozialdemokratischen Splitterparteien haben nach Meinung Bográns keine organische Beziehung zur außerparlamentarischen Bewegung und fristen im Parlament ein Schattendasein.
Zumindest den Zungenschlag hat Präsident Manuel („Mel“) Zelaya hinsichtlich der Privatisierungen geändert. Als der Staatschef im August erklärte, warum er für den ALBA-Beitritt seines Landes eintrete, fragte er rhetorisch: „Wer hat behauptet, dass Honduras vorankommt, wenn das Wasser, die Luft und der öffentliche Dienst privatisiert werden?“. Statt dessen sei der Aufbau eines alternativen Modells zur Bekämpfung der Ausgrenzung und der Armut wichtig. „Wenn das System, welches in Honduras 40 Jahre lang den Ton angegeben hat, diese Probleme gelöst hätte, dann würden wir uns nicht für den Sozialismus Südamerikas interessieren“, fügte er hinzu. Zelaya sieht die Alternative für sein Land in einem „sozialistischen Liberalismus“, der Privatwirtschaft und ArbeitnehmerInneninteressen gleichermaßen respektiere. Für den Vertreter einer Partei, die wie die deutsche FDP der Liberalen Internationale angehört, sind das ungewöhnliche Worte. Und es gibt in Honduras auch starke politische Kräfte, die ihm das übel nehmen. Dies tut zum Beispiel der Unternehmerverband COHEP, dessen Vorsitzender erklärte, Honduras trete mit der Ratifizierung einer „ideologischen, politischen und militärischen Allianz bei, die der Geschichte, den Werten und Verpflichtungen von Honduras widerspricht“.
Symbolisch nach links gerückt war Zelaya bereits seit einiger Zeit. So nahm er als einziger liberaler Staatschef an den Feierlichkeiten zu den Jahrestagen der Sandinistischen Revolution in Nicaragua teil. Seitdem er an der ALBA-Mitgliedschaft interessiert war, forderte er ein Ende der US-Blockade gegen Kuba. Der sozialistische Karibikstaat habe Honduras und seinem Volk immer die Hand gereicht, ohne eine Gegenleistung dafür zu verlangen, sagte Zelaya in Hinblick auf die geleistete medizinische Hilfe. „Zelaya ist ein Mann der politischen Rechten, aber ist der erste Präsident seit Jahrzehnten, der etwas für die Armen tut und Kleinbauern konkrete Hilfe wie Saatgut und Maschinen zur Verfügung gestellt hat“, sagt Alfredo Bográn. Linke Oppositionelle werden aber weiterhin verfolgt. Erst in diesem Jahr kursierte eine „schwarze Liste“ mit Namen von Gewerkschaftsfunktionären, unter anderem der von Rosa Altagracia Fuentes. Die Vorsitzende der ältesten und größten ArbeiterInnengewerkschaft von Honduras CTH wurde Ende April dieses Jahres in einem Hinterhalt erschossen.
Welche Gegenleistung Venezuela für die durch den ALBA-Beitritt gewährten Vorteile indes bekommt, bleibt offen. Bislang gibt es keine Grundlagen einer gemeinsamen Außenpolitik, nicht einmal einer Zollpolitik. Es gibt Vereinbarungen zu militärischer Zusammenarbeit, vor allem aber verteilt die sozialistische Regierung von Hugo Chávez großzügig den Ölreichtum unter den Bedürftigen.
„Mel Zelaya ist ein ehrlicher Mann, der sein Herz für die Armen entdeckt hat, aber in seiner Partei hat er für seine Politik keinen Rückhalt“, berichtet auch Omar Rodriguez vom Vorstand der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes in San Pedro Sula. So sehen es viele und für Überraschung sorgte die Meldung, dass am Ende doch alle 62 Abgeordnete der Liberalen im Nationalparlament der ALBA-Ratifizierung zustimmten. Die Konservativen boykottierten die Abstimmung hingegen.
Doch kommt das Aus für ALBA bevor die Mitarbeit im progressiven Staatenbund überhaupt begonnen hat? Präsident Zelaya darf bei den Wahlen im kommenden Jahr kein weiteres Mal antreten. Und mit Mauricio Villeda setzte sich Anfang Dezember in der Liberalen Partei (PLH) des regierenden Präsidenten ein rechter Kandidat für das höchste Staatsamt durch, der den Kurs der jetzigen Regierung nicht fortführen will. Darin ist er sich einig mit dem am gleichen Tag gekürten Spitzenmann der konservativen Nationalistischen Partei, Porfirio Lobo. Einer der beiden wird die Wahlen im April gewinnen. Daran gibt es kaum einen Zweifel, denn eine linke Wahlalternative fehlt in Honduras.
„ALBA hat bei der honduranischen Regierung keine Zukunft“, titelte deshalb auch jüngst die alternative honduranische Nachrichtenagentur Común Noticias in einer Erklärung. „In der aktuellen Regierung gibt es nur sehr wenige FunkionsträgerInnen, welche ALBA positiv gegenüber stehen. Sogar die Mehrheit dieser sieht nur die Millionensummen, die in das Land fließen, aber sie teilen nicht die Idee eines Projektes für die gegenseitige Unterstützung zwischen Völkern, die eine seit Jahrhunderten bestehende Abhängigkeit überwinden wollen“. ALBA werde mehr als eine komplementäre Finanzquelle zu USAID, der Europäischen Union, dem IWF und der Weltbank gesehen. Die KritikerInnen zeigen sich zudem besorgt bezüglich der Verteilung der ALBA-Gelder: „Die Millionen sollen von den korrupten Institutionen des Staates verteilt werden. Leider werden sie sich nur selbst bereichern, denn es gibt keine Kontrolle“. Einziger Ausweg sei der organisierte Kampf der populären Sektoren für ALBA und gegen die Korruption.
// Torge Löding

Newsletter abonnieren