Der Himmel über Mexiko

© Coproduction Office – Mantarraya – NoDream Cinema

Der mexikanische Film Batalla en el cielo wurde im Jahr 2023 in Mexiko restauriert und während der Berlinale erneut veröffentlicht. 2005 wurde der Film zum ersten Mal gezeigt und kontrovers diskutiert. Zu Beginn des Films werden die Hauptfiguren Ana (Anapola Mashkadiz) und Marcos (Marcos Hernandes) in einer expliziten Oral-Sex-Szene eingeführt. Für die Premiere in Mexiko wurden aufgrund der sehr freizügigen Darstellung von Sex Teile des Films herausgeschnitten.

Die Handlung folgt Marcos, der in Mexiko-Stadt lebt und als Fahrer für die Tochter eines Armee-Generals arbeitet. Nachdem er mit seiner Frau ein Baby entführt hat, stirbt dieses. Marcos ringt mit der Schuld des begangenen Verbrechens, während er gleichzeitig gegen seine Fantasien für Ana, die Tochter des Generals, kämpft. Nach einem sexuellen Zusammentreffen zwischen Ana und Marcos gesteht letzterer die Tat, und Ana überredet ihn, sich der Polizei zu stellen. Auf der Suche nach Erlösung begibt sich Marcos in die Basilika von Guadalupe, während die Polizei die begangenen Verbrechen aufdeckt.

Carlos Reygadas, geboren 1971 in Mexiko-Stadt, ist einer der bekanntesten mexikanischen Filmregisseure. Er wurde mit dem Jurypreis beim Cannes Film Festival 2007 und dem Preis für den besten Regisseur beim Cannes Film Festival 2012 ausgezeichnet. Im Jahr 2000 gründete er seine Produktionsfirma NoDream Cinema und debütierte mit seinem ersten Film Japón. Sein einzigartiger und kontemplativer filmischer Stil wurde international gelobt. Im Laufe seiner Karriere hat Reygadas soziale und existenzielle Themen erforscht und visuelle und narrative Elemente verwendet, um Filme zu schaffen, die über die einfache Handlung hinausgehen. Sein Fokus auf menschliche Intimität und seine Arbeit mit Nicht-Schauspielern waren Höhepunkte seines Werkes, das sich durch emotionale Tiefe und die Suche nach innerer Wahrheit auszeichnet.

Batalla en el cielo ist sicher nicht für alle Geschmäcker geeignet, da die Plansequenzen sehr lang sind und der Film generell im Tempo eher langsam ist. Viele Dinge bleiben ohne Erklärung und es mangelt an Kontext. Die Dialoge wirken zudem oft energielos. Dennoch gelingt es dem Regisseur, eine Atmosphäre der Fremdheit und Intrige zu schaffen. Aus einem Interview mit Reygadas ist bekannt, dass er bewusst Personen ohne Schauspielerfahrung einsetzte, um seine Protagonist*innen zu verkörpern. Zudem bekamen diese oft wenige Kontextinformationen zu ihren Szenen. Was damit geschaffen wird, ist diese Aura der Fremdheit, von Charakteren ohne Seele, die keine Vergangenheit oder Zukunft haben, und nur während des Films existieren. Insgesamt stellt sich Batalla en el cielo trotz der teils chaotischen Stimmung, die er transportiert, so doch als interessantes Kinoerlebnis dar.

LN-Bewertung: 3 / 5 Lamas

Nicht das Gelbe vom Ei

© Juan Pablo Ramírez / Filmadora

Der mexikanische Regisseur Alonso Ruizpalacios ist mittlerweile erfolgreicher Stammgast auf der Berlinale: 2018 gewann sein Film Museo einen Silbernen Bären für das beste Drehbuch, die Doku-Fiktion A Cop Movie 2021 die gleiche Auszeichnung für den besten Schnitt. Nun verlässt Ruizpalacios mit dem auf einem Theaterstück basierenden La Cocina (dt.: Die Küche) erstmals Mexiko und betritt die Räume eines New Yorker Restaurants am Times Square. „The Grill“, so der Name des Etablissements, bietet nicht die ganz exklusiven Gaumenfreuden, sondern eher Massenkost für die touristische Durchgangskundschaft. Schnell und möglichst kosteneffizient soll serviert werden und eine der Zutaten dafür ist der illegale Aufenthaltsstatus des Großteils des Küchenpersonals. Den nutzt der schmierige Restaurantbesitzer Rashid auf ziemlich unappetitliche Weise zu seinem Vorteil aus. Denn Mitarbeiter*innen wie der Hallodri Pedro (Raúl Briones) stehen so nicht nur ständig mit einem Bein vor dem Rauswurf aus dem Restaurant, sondern gleich aus dem ganzen Land. Das hält die Motivation bei der Arbeit quasi von alleine hoch. Pedro hat zudem ein Verhältnis mit der abgebrühten Kellnerin Julia (Rooney Mara), deren Schwangerschaft schmeckt jedoch nicht beiden in gleicher Weise.

La Cocina (aus nicht näher definierten Gründen fast komplett in Schwarz-Weiß gefilmt) gelingt esgut, die quirlige, rastlose Atmosphäre in der im Akkord arbeitenden Restaurantküche einzufangen. Schon zu Beginn des Films verfestigt sich aber der Eindruck, als würde hier zu viel in einen Topf geworfen. Die so zahlreichen wie unterschiedlichen Charaktere sind zwar vordergründig sehr unterhaltsam, was vor allem an den schauspielerischen Leistungen (eine Entdeckung vor allem Anna Diaz als Küchen-Neuling Estela) liegt. Doch das allein macht den Kohl leider nicht fett. Denn das Drehbuch bekommt es nicht gebacken, auch nur einem von ihnen eine vernünftige Hintergrundgeschichte zuzubereiten. Dem Publikum wird so mit interessanten Subplots der Mund wässrig gemacht, nur um diese dann im Nichts verlaufen zu lassen. Ein hartes Brot sind auch die häufigen, unverhohlen sexistisch-anzüglichen Bemerkungen und Gesten der männlichen Mitarbeiter in Richtung der (ausschließlich weiblichen) Kellnerinnen. Da diese meist unwidersprochen bleiben, kommt La Cocina hier in Teufels Küche. Zudem finden sich auch bei der Montage und Erzählweise des Films einige Haare in der Suppe: Manche Szenen sind geradezu schmerzhaft lang ausgedehnt, andere wirken nicht richtig abgeschmeckt oder zum falschen Zeitpunkt in die Geschichte eingesetzt.

Das durchgeknallte Finale ist zwar noch einmal ein gefundenes Fressen für Freund*innen der gepflegten Eskalation. Aber im Prinzip ist die Suppe hier schon versalzen. Denn letztendlich wird in Bezug auf das entscheidende Thema des Films – Wie umgehen mit illegalisierter Migration und Beschäftigung? – nur um den heißen Brei herumgeredet. Den Appetit verdirbt auch so manches abgedroschene Klischee über Lateinamerikaner*innen. Insgesamt ist La Cocina damit sicher kein Gourmetbissen geworden. Was sich der Film in über 2 Stunden mit zu vielen Unausgegorenheiten einbrockt, können auch großartige Einzelleistungen von Kamera und Schauspieler*innen am Ende nicht mehr auslöffeln.

LN-Bewertung: 2/5 Lamas

Die Pyramide umdrehen

25. Jahrestag des Aufstandes Aufmarsch der Milizen der EZLN im Caracol La Realidad (Foto: Anne Haas)

Die Silvesterfeier 23/24 ist Jubiläumsfeier der zapatistischen Aufstände in Chiapas. 30 Jahre ist es her, dass das Ejército Zapatista de Liberación Nacional (Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung, EZLN) zu den Waffen griff und den „Krieg gegen das Vergessen“ begann. In den 90er Jahren wurden die autonom regierten Teile des südlichen Bundesstaats Mexikos zu Orten der Hoffnung und Inspiration für linke Bewegungen weltweit. Internationalistische Brigaden reisten nach Chiapas, bis heute ist die Solidaritätsarbeit mit organisierten Gruppen in der Region stark. Die „Reise für das Leben“ der zapatistischen Delegation durch Europa 2021 stärkte alte Strukturen und schuf neue Netzwerke.

Die fünf Caracoles (sp.: Schneckenhäuser; so werden die Verwaltungszentren der autonom verwalteten Gemeinden genannt), seit 2019 auf zwölf erweitert, waren als Sitze der Räte der Guten Regierungen stets Anlaufpunkt für die lokale Bevölkerung, mexikanische und internationale Solidarität sowie unterstützende NGOs. Mit der Pandemie, und zuletzt der steigenden Gewalt in Chiapas wurde es jedoch etwas ruhiger um die Caracoles. Schilder mit der Aufschrift „Caracol geschlossen“ hingen seit Anfang 2023 an den Eingängen. Folglich wuchsen im Laufe des Jahres Sorge als auch Neugierde in Chiapas, vorangetrieben durch kecke Kommentare einzelner compas, Mitglieder der Zapatistischen Bewegung: „Ihr wisst, wir können nichts verraten, aber es wird etwas Großes kommen.“

Die Aufregung war daher groß, als im Oktober die ersten Kommuniqués auf der Internetseite enlace zapatista erschienen. Gleich in der zweiten Meldung wurde der symbolische Tod von Subcomandante Galeano, der 2014 Subcomandante Marcos ersetzt hatte, verkündet. Statt ihm tritt nun Capitán Insurgente Marcos als neue Identität auf den Plan, nebst dem seit 2014 offiziellen Sprecher Subcomandante Moisés, auch freundschaftlich bekannt als Sub Moy. Bereits seit zehn Jahren stecken die Zapatistas in den Vorbereitungen für die nun angekündigten Veränderungen, so Sub Moy im dritten Kommuniqué. Diese seien notwendig im Angesicht der katastrophaler werdenden Bedingungen durch staatliche Aggressionen und Drogenkrieg, den Klimawandel, Migration sowie die Pandemie.

„Der Sturm ist schon da, die ersten Tropfen fallen“, schreibt der Subcomandante, er komme schneller als gedacht und die bisherigen Strukturen seien ihm nicht gewachsen. Die Analyse der Zapatist*innen ist nicht optimistisch, sie ist realistisch und praxisnah. Sie verfallen jedoch auch nicht in apokalyptische Lähmung, stattdessen denken sie langfristig. Die gesetzten Ziele sollen ein Leben in Freiheit und mit Verantwortung für diejenigen ermöglichen, die in 120 Jahren leben, die siebte Generation von Kindern. Im Kommuniqué werden sie durch die Ururururenkelin des jungen zapatistischen Mädchens Dení symbolisiert. „Leben zu vererben“, so dass kommende Generationen mit Eigenverantwortung Entscheidungen treffen können, soll die Perspektive sein. In der vierten, der neunten und der zehnten Meldung wird konkretisiert, wie genau die neuen Strukturen aussehen werden. Die Auflösung der Zapatistischen Rebellischen Autonomen Landkreise (Municipios Autónomos Rebeldes Zapatistas, MAREZ) und der Räte der Guten Regierung (Juntas de Buen Gobierno, JBG) sorgten zunächst für vorschnelle Gerüchte über das Ende der Zapatistas. Diese wurden jedoch schnell, in ironischem Ton und mit Seitenhieb auf schlecht recherchierte Pressearbeit von den Zapatistas selbst ausgeräumt: „Die jetzige Regierung sagt, genau wie die früheren Regierungen, wir seien verschwunden oder seien geflohen oder hätten große Niederlagen erlitten, oder es gäbe gar keine Zapatistas mehr und wir seien in die USA oder nach Guatemala abgehauen. Aber schau nur: Hier sind wir. In Widerstand und Rebellion.“

Nach wie vor lebendig, widerständig und rebellisch

Dafür sollen die MAREZ und die Räte der Guten Regierung durch Lokale Autonome Regierungen (Gobiernos Autónomos Locales, GAL) abgelöst und Macht und Verantwortung dadurch nach unten an die Basis zurückgeführt werden. Die Gemeinden sollen einerseits besser und schneller auf die steigende Anzahl von Aggressionen reagieren können, worauf sich insbesondere auch der bewaffnete Arm der Bewegung, die EZLN vorbereitet. Gleichzeitig soll jedoch die hierarchische, pyramidenhafte Machtverteilung in der zivilen Regierung, wo die Verantwortung bei einigen wenigen liege und Entscheidungsträger*innen von Gemeinden trenne, aufgelöst beziehungsweise umgedreht werden. Die alten MAREZ und JBG waren wichtig, um etwas über basisdemokratisches Regieren zu lernen, hätten über die Jahre aber ihre Schwachstellen gezeigt. Die Regierungsstrukturen werden durch die GAL, von denen eine in jeder zapatistischen Gemeinde existieren wird, dezentralisiert und vor allem entbürokratisiert, um schnelle Entscheidungsfindung zu ermöglichen, so Subcomandante Moíses. Für Anliegen, die in größeren Zusammenschlüssen organisiert werden müssen, wie beispielsweise die Wasser- oder Gesundheitsversorgung und Organisation von Bildung, können die GAL sich regional und gemeinsam in den Kollektiven der autonomen zapatistischen Regierungen (Colectivos de Gobiernos Autónomos Zapatistas, CGAZ) zusammen­schließen, welche sich wiederum in größeren Zonen in Vollversammlungen vereinen können (Asambleas de Colectivos de Gobiernos Autónomos Zapatistas, ACGAZ). Dabei werden die Entscheidungen von der Basis in die Regionen und Zonen getragen, anstatt umgekehrt, vor allem auf den oberen Ebenen zu entscheiden und die Basis nur zu informieren, wie es sich den selbstkritischen Meldungen Neun und Zehn zufolge eingebürgert hatte.

Die Kommuniqués Nummer 13 und 14 sind bei Redaktionsschluss die letzten Kommuniqués vor zwei als fünfzehnte und sechszehnte Meldung veröffentlichten Videos. Sie stellen die politischen Analysen der Zapatistas in Bezug darauf vor, was in den letzten Jahren in Chiapas, Mexiko und der Welt passiert ist. Dabei nehmen sie auch immer wieder Bezug auf andere Kämpfe, wie die unermüdliche Arbeit der Buscadoras (dt.: die Suchenden; gemeint sind die Mütter von Personen, die gewaltsam verschwinden gelassen wurden, Anm. d. Red.) in Mexiko, den Konflikt um Zypern oder den historischen und aktuellen Widerstand der palästinensischen Zivilbevölkerung. Die Rolle des neu auf den Spielplan gerufenen Capitán Insurgente Marcos sei, nach den abgelösten Subcomandantes Galeano und Marcos, die kritische, pessimistische Stimme des Zapatismus zu sein und immer das Schlimmste vorherzusagen, um es zu verhindern. Der aktuelle Horizont aus dieser Perspektive ist eine apokalyptische Hypothese – die Menschheit ist nicht mehr zu retten. Vernichtungskriege und die fortschreitende Zerstörung der Natur sind notwendig zur Erhaltung des Systems und daher mehr Normalzustand als Ausnahme. Der Capitán selbst widerlegt seine Hypothese nach eigenen Regeln jedoch sogleich wieder mit Beispielen für Gegenbewegung. Die Zapatistas lassen trotz deprimierendem Ausblick keinen Raum für Zynismus: „Die bloße Möglichkeit – minimal, winzig, unwahrscheinlich bis zu einem lächerlichen Prozentsatz –, dass Widerstand und Rebellion zusammenfallen, bringt die Maschine ins Straucheln. Das bedeutet noch nicht ihre Zerstörung. (…) Und doch muss eine neue Hypothese entworfen werden.“

Wenn keine Türen mehr da sind, braucht es Risse im System

Dazu müssen auch europäische und andere solidarische Bewegungen von unten und links, wie die Zapatistas sagen, ihren Beitrag leisten. Die kleinen Risse, die sie im System erzeugen, müssen ausgeweitet werden, Bewegungen kreativ bleiben und nicht nach den Regeln des Feindes spielen, um Kooptierungsversuchen durch den Staat und grünen Kapitalismus zu widerstehen. Aus Chiapas kommen dafür kreative, philosophische und, angesichts der prekären Lage, überraschend humorvolle Impulse und Analysen. Jahrhunderte des Widerstands härten ab. „Wir müssen weiterlaufen, inmitten des Sturms. Aber das kennen wir als (indigene) Völker schon, zu laufen, mit allem gegen uns.“ Und obwohl einschneidend, sei die Restrukturierung der Autonomie noch lange nicht alles, was die Zapatistas in den kommenden Wochen anzukündigen hätten. Mehr Neuigkeiten aus dem lakandonischen Urwald können also mit Spannung erwartet werden.

Zauber im Alltäglichen

Ein Windstoß. Ein Regenschauer. Das Rascheln des Grases. Ein Geräusch, tausendmal gehört und doch vielleicht noch nie so bewusst und intensiv, wie in diesem Moment. Dieser Eindruck stellt sich oft ein beim Sehen der exzellent gedrehten Dokumentation El Eco, die einer ländlichen Familiengemeinschaft in einem entlegenen Dorf auf der Hochebene von Puebla, Mexiko, folgt.

© Radiola Films

Der unbestrittene Star ist in El Eco der Ton – aktuell ein kleiner Trend im lateinamerikanischen Film. Schon der letztjährige Gewinner des Silbernen Bären, Robe of Gems, vertraute stark auf das Auditive, um das Geschehen auf der Leinwand fühl- und erfahrbar zu machen. Und auch in El Eco scheinen Donnergrollen, Tiergeräusche oder die leisen und lauten Gespräche der Bewohner*innen oft schärfer, präsenter als in der Realität zu sein. Dadurch verleiht die mexikanisch-salvadorianische Regisseurin Tatiana Huezo (u.a. Tempestad) auch scheinbar alltäglichen Dingen einen magischen Touch. Die virtuose (Hand-)Kamera von Ernesto Pardo steht dem in nichts nach: Wenn ein Junge einem Huhn hinterherjagt oder eine Schafherde über die Wiese trampelt, folgt sie exakt den Bewegungen und man fühlt sich als Zuschauer*in mitten im Geschehen. Dazu hat Huezo ein Gespür für Momente, Blicke und Bewegungen, die Unausgesprochenes transportieren und so ein tieferes Verständnis für Situationen eröffnen.

Diese kleinen Tricks und genauen Beobachtungen sind auch notwendig, um dem Film Spannung zu geben. Denn viel Ungewöhnliches passiert nicht in der Siedlung El Eco (das namensgebende Echo gibt es dort wirklich). Frauen und Kinder bewirtschaften die Höfe, pflegen Tiere und die greise Großmutter, während die Männer weit weg auf Baustellen Geld verdienen. Der zugrunde liegende Machismus wird direkt und indirekt spürbar: Eine Mutter hat ihre Schulausbildung für die Familie abgebrochen, der toughen Jugendlichen Montse wird die Teilnahme an Pferderennen verboten und auch einige sexistische Sprüche gibt es zu hören. So wird ein Junge von seinem Vater am Abräumen des Tisches gehindert, denn dafür seien „die Frauen da“. Die Männer würden schon genug hart arbeiten müssen. Trotz allem gelingt es Tatiana Huezo aber auch, Momente einzufangen, in denen die Frauen und Mädchen versuchen, die patriarchalen Strukturen aufzubrechen und zu verändern.

Die Abgeschiedenheit von El Eco bietet den Kindern und Jugendlichen zwar eine geborgene Welt mit Naturerfahrungen, Freundschaft und unbeschwertem Spiel in Sicherheit, die nicht allen ihren Altersgenoss*innen in Mexiko vergönnt ist. Unter dem präzisen Blick, den der Film auf sie legt, wird aber auch schmerzlich deutlich, dass sich nicht alle ihre Träume und Wünsche  in El Eco verwirklichen lassen werden.

Tatiana Huezo zeigt mit El Eco erneut, warum sie momentan als eine der talentiertesten Dokumentarfilmer*innen Lateinamerikas gilt. Der Film ist eine beeindruckende Beobachtung der harten und entbehrungsreichen Lebensrealität in der mexikanischen Peripherie, der sie durch die Kunst des Filmemachens aber einen besonderen Zauber verleiht. Einziges kleines Manko: Am Ende wirken einige Alltagsszenen etwas repetitiv. Ein paar Minuten weniger hätten dem Film deshalb wahrscheinlich eher genutzt als geschadet.

LN-Bewertung: 4/5 Lamas

Nachtschwärmen mit Kaktus

Foto: Leo Calzoni

Der Bus ist gerade weg. Und der nächste kommt erst in acht Stunden. Es sieht also so aus, als ob Hugo diese Nacht an der Haltestelle verbringen müsste. Ganz schön langweilig, wenn die einzige Aussicht auf Gesellschaft dabei in einem Kaktus mit Namen Adolfo besteht, den er in einem Blumentopf mit sich herumschleppt. Nicht, dass das den stillen Einzelgänger groß stören würde. Aber die Alternative ist verlockend: Das Mädchen mit der Fliegermütze auf der anderen Straßenseite schnorrt nicht nur eine Zigarette von Hugo, sondern lädt ihn gleich auch noch auf eine Kostümparty ein. Nach kurzem Zögern lässt sich Hugo auf das Angebot der quirlig-durchgeknallten Momo ein und los geht es auf eine vergnügliche und turbulente Reise durch die Nacht.

Sofía Auzas stimmungsvoller Debütfilm funktioniert von der ersten Sekunde an prima. Das liegt in erster Linie an seinen Hauptdarsteller*innen: Zwischen Juan Daniel García Treviño als Hugo und der sehr überzeugenden Rocio de la Mañana als Momo stimmt die Chemie. Dabei wird zum Glück nicht übertrieben auf Teeniefilm-Klischees herumgeritten. Stattdessen hauen sich die beiden mit viel Wortwitz Dialoge um die Ohren, bei denen kein Auge trocken bleibt. Die schlagfertige Momo behält hier zwar meist die Oberhand, doch im Laufe des Films lernt auch Hugo immer besser, ihr ordentlich Kontra zu geben.

Die Geschichte des Films wird in knackigen 70 Minuten erzählt, von denen dafür keine einzige verschwendet ist. Dass Hugo mit Adolfo unterwegs ist, hat einen traurigen Hintergrund: Den Kaktus hat ihm sein kürzlich verstorbener Vater hinterlassen und er ist auf dem Weg zu seiner Beerdigung. Seine Mission: Einen Platz finden, an dem es Adolfo gut ergehen wird. Das entpuppt sich aber als gar nicht so einfach, wie es klingt und die Suche wird durch einige Zwischenfälle unterbrochen. Denn Momo hat ein Geheimnis und keine Skrupel, den gutmütigen Hugo zur Ausführung ihrer Pläne einzuspannen. Wobei auch sie seine Hilfe noch mehr benötigt, als es zunächst den Anschein hat.

Sofía Auza ist mit Adolfo eine erfrischende Komödie gelungen, die mit authentischen Charakteren und einigen echten Lachern überzeugt. Die Inszenierung ist in sich stimmig, fast märchenhaft leuchten die Schauplätze und die Gesichter der Protagonist*innen in der Nacht. Dazu passt, dass der Film in keiner erkennbaren Stadt spielt. Nur Mexiko ist als Land durch Sprache und kulturelle Items wie Tacos vorgegeben. Adolfo ist ein gelungener Film für Jugendliche, weil er einen originellen und glaubwürdigen Ton findet, ohne abgedroschene Plattitüden zu benutzen. Kein Wunder, dass sich davon auch die Jury der Berlinale überzeugen ließ: Sie verlieh Adolfo den Gläsernen Bären für den besten Jugendfilm in der Sektion Generation 14plus.

LN-Bewertung: 4/5 Lamas

Die Suche nach dem Glück

© I Love You Chingos LLC

„The last one is a Republican!“ Dieser simple Spruch beim Wettrennen zwischen den Freund*innen Silvia Del Carmen Castaños und Estefanía „Beba“ Contreras, zugleich Regisseur*innen und Protagonist*innen des preisgekrönten Dokumentarfilms Hummingbirds, entspricht der lakonischen Stimmung, die ihn trägt. Es ist Sommer in Laredo, Texas, wo die mexikanische Grenze in Sichtweite ist. In wackeligen Handkamerabildern, die große Nähe erzeugen, wird das Leben der Freund*innen zwischen Bowling, Bingo und Border gezeigt. Beiläufig und doch unmittelbar beschäftigen sich die beiden mit schweren Themen, die ihre Lebensrealität bestimmen. Estefanías unsicherer Aufenthaltsstatus (sie hat keine gültigen Papiere), die drohende Abschiebung und die eigene Migrationsgeschichte, die beide seit Kindesbeinen bzw. noch im Mutterleib erlebt haben, bilden ein zentrales Thema dieser Doku. Wer den Grenzraum Mexiko-USA kennt, weiß, wie sehr der Austausch beider Welten dort den Alltag bestimmt. Die Doku zeigt die Lebenswelt der Chicano-Community, der aus Mexiko oder anderen Ländern Mittelamerikas stammenden Bewohner*innen der Borderlands zwischen USA und Mexiko. Dort sind auch  Silvia und Estefanía aufgewachsen und verwurzelt. Ihre Sprache ist Spanglish (US-amerikanisches Englisch durchsetzt mit spanischen Halbsätzen), der örtliche Wal-Mart akzeptiert mexikanische Pesos und an jeder Ecke werden Tacos oder Tamales verkauft.

In diesem Setting im geografischen Niemandsland, sehen wir Silvia, Estefanía und ihren Freund*innen einen Sommer lang zu. Wir sehen ihre jugendliche Lebensfreude, das Kichern Pubertierender, aber auch ihren entschlossenen Aktivismus. Sie kämpfen für die Legalisierung von Abtreibung und sind auf der Suche nach einer eigenen Identität ohne binäre Genderzuschreibungen und tradierten Rollenbildern. Das Gestern ist passé, die Zukunft hat noch nicht angefangen. Die Protagonist*innen befinden sich in der Schwebe zwischen Unbeschwertheit, Melancholie und dem Streben nach Glück.

Zurecht gewann Hummingbirds den mit 7.500 Euro dotierten Großen Preisder Jury in der Sektion Generation 14plus. In der Begründung der Jury heißt es: „Für einen berührenden und subtilen Blick in intime Momente eindrücklicher Charaktere, die mit ihrer Freundschaft wachsen […] Ihre Aktionen, Jokes, Lieder, ihr Lachen und ihre Körper sind politisch – und ein notwendiger Weg des Widerstandes.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

LN-Bewertung: 4/5 Lamas

Der Reiz der Oberfläche

„Sol, komm runter!“ Mit allen Mitteln versuchen die Familienmitglieder und Partygäste, das Mädchen vom Dach herunterzubekommen. Aber Sol hat keine Lust, denn sie will nur eines: Endlich ihren kranken Vater sehen, zu dessen Ehren die Veranstaltung stattfindet. Als man ihr auch noch mit einer Drohne auf den Leib rückt, reicht es endgültig: Ein Stein, ein gezielter Wurf und schon ist sie Elektroschrott. Als „rebellisch“ wird sie daraufhin von ihren Tanten bezeichnet, es sei „so eine Phase“.

© Limerencia

Dabei tut Sol nur das, was in Lila Ávilés zweitem Spielfilm Tótem den wenigsten gelingt oder erlaubt ist: Sie reflektiert ihre Empfindungen und fordert Zeit, sie zu verarbeiten. Die meisten anderen gehen auf im Trubel der Feier einer mexikanischen Mittelschichtsfamilie. Gefühlt unendlich viel Zeit wird in Vorbereitungen für Dinge investiert, die letztlich nur kurz dauern oder gar nicht gelingen. Wie der Kuchen, der ihrer Tante Nuri verbrennt, so dass sie die ganze mühevolle Arbeit erneut auf sich nehmen muss. Oft bleiben in der Hektik Kontakte flüchtig, Gespräche unvollständig. Streite brechen aus und werden abgewürgt, es ist keine Zeit dafür. Dabei hat die Familie eigentlich auch ohne das große Fest genug Sorgen, um die sie sich kümmern muss, denn es liegt ein dunkler Schatten auf ihr. Sols Großmutter ist bereits gestorben, ihr Großvater leidet an Kehlkopfkrebs im fortgeschrittenen Stadium und auch ihr Vater Tono kann sich wegen einer schweren Krankheit (welche es ist, wird nicht gesagt) kaum noch ohne Hilfe auf den Beinen halten. Das bringt die Familie sichtbar an ihre Grenzen, emotional und, wie im Laufe des Films immer klarer wird, auch finanziell. Jede*r geht mit dieser Belastung anders um, die Party ist gleichzeitig Ablenkung und Klebemittel, das die vielen unterdrückten Konflikte und Diskussionen übertünchen soll.

Lila Avilés hat mit Tótem ein mexikanisches Familienfest wie aus dem Bilderbuch porträtiert. Der Trubel, die Diskussionen um Essen und Vorbereitungen, die herumwuselnden Kinder und Tiere, das scheinbare Chaos, das letztendlich doch in einen überraschend geordneten Ablauf mündet, auch wenn nie alles funktioniert – wer jemals auf einer Veranstaltung dieser Art war, wird unzählige Dinge wiedererkennen. Das Problem von Tótem ist: Der Film ist selten mehr als das. So unverbindlich wie die Gespräche vieler Personen untereinander bleiben auch die Beziehungen vieler Charaktere. Was im wirklichen Leben zur Aufrechterhaltung der Harmonie oft notwendig ist, wird im Film zu einer verpassten Chance. In der Fiktion bestünde die Chance, angerissene Konflikte eskalieren zu lassen, Probleme ernsthaft anzugehen, die Dinge ans Licht zu zerren. Doch für diesen letzten Schritt fehlt Tótem der Mut. Am stärksten sind noch die Momente, in denen die Handlung sich auf Sol konzentriert. Sie ist die Einzige, die sich aus dem Strom der Ereignisse herauszuziehen und das Wesentliche zu destillieren versucht, während von den Erwachsenen keine*r ihre Sorgen ernst nimmt. Wann die Welt endet und ob ihr Vater sterben muss, fragt sie deshalb lieber den Sprachassistenten ihres Handys. Doch mehr und mehr gerät ihre Geschichte aus dem Fokus und Tótem erliegt – wie auch die Familie darin – dem Reiz der Oberfläche, indem mit Fröhlichkeit und Aktivität eine heile Welt beschworen wird. Oft geschieht das durch die vielen mexikanischen Bräuche, Anekdoten und Partybeiträge, die gut aussehen und unterhaltsam sind, aber letztlich nichts Signifikantes zur eigentlichen Geschichte beitragen können. Und so kann auch der (sehr späte) Kontrapunkt, den Totém setzt, nicht mehr die Tiefe herstellen, auf die der Film bis etwa zur Hälfte hoffen lässt.

LN-Bewertung: 3/5 Lamas

Zu viel des Schlimmen

„Für eure Tränen müsst ihr hier bezahlen!“ Schon bei der Einführung in ihre neue Heimat wird den Neulingen in der mexikanischen Militärakademie Colegio Militar klargemacht, welcher Wind hier weht. Potros nennt sie der verschlagene Ausbildungsoffizier Eugenio Sierra, der kaum älter als sie selbst ist. Potro, das heißt auf Spanisch sowohl „Fohlen“ als auch „Qual“. Ein symbolischerer Name für die Erstsemester in David Zonanas Film Heroico ist schwer vorstellbar.


© Teorema

Denn Luis, der 18-jährige Protagonist in der bienenstockähnlichen Parallelwelt der Soldat*innenausbildung, lernt schon bald, worauf es hier ankommt: Stillstehen, trainieren, Klappe halten. Egal wie sehr einer der Kadetten mal wieder erniedrigt wird und wie nahe er ihm selbst steht. Sein Freund Ratón („Maus“) verinnerlicht das alles sehr schnell. Der sensible Luis kommt dagegen durch die fortdauernden Schikanen und Ungerechtigkeiten schon bald in Gewissenskonflikte. Zumal sich herausstellt, dass die hehren Ideale von Hilfe für die Bevölkerung, Ehre und Gerechtigkeit oft nicht mehr sind als verlogene Lippenbekenntnisse. Regisseur David Zonana hat in seiner noch jungen filmischen Karriere schon einiges erreicht. Als Produzent war er unter anderem im Jahr 2015 an dem Oscar-nominierten Spielfilm 600 Miles und an Michel Francos Chronic beteiligt, der beim Festival in Cannes den Preis für die beste Regie gewann. Auch sein eigenes Spielfilmdebüt Mano de obra (Workforce) gewann nationale und internationale Preise. Diese Qualität merkt man auch Heroico durchaus an, denn die Aufnahmen vor der architektonisch und landschaftlich reizvollen Kulisse der Militärakademie sehen kraftvoll und    beeindruckend aus. Beim Drehbuch von Heroico hat Zonana allerdings etwas zu dick aufgetragen.  Kein Bild ist zu plakativ, kein Klischee zu abgegriffen, um nicht gnadenlos ausgeschlachtet zu werden. Dazu kommt, dass die schauspielerischen Leistungen der Hauptdarsteller*innen leider nicht genügen, um ihren Charakteren ausreichend Tiefe zu geben. Vor allem Santiago Sandoval Carbajal bleibt als Luis zu blass, um wirkliche Emotionen beim Zusehen aufkommen zu lassen. Aber auch Fernando Cuautles Spiel als Eugenio Sierra wirkt zu kumpelhaft, um ihm den Fiesling wirklich abzukaufen. Darüber hinaus wird über die Motive der meist unmoralisch handelnden Personen bis auf die familiären und finanziellen Zwänge der Kadetten nichts bekannt. Dadurch bleiben die Figuren in Heroico hölzern und auch die Geschichte läuft vorhersehbar und ohne große Überraschungen ihrem Ende entgegen. Was ein mexikanisches Full Metal Jacket hätte werden können, verliert sich deshalb leider in Plattitüden, die so oder so ähnlich schon oft zu sehen waren: Die Welt ist schlecht und die Militärs sind es ganz besonders. Schade, denn mit etwas mehr Zwischentönen und Differenziertheit hätte der Film seine bestimmt gut gemeinte Message deutlich wirkungsvoller transportieren können.

LN-Bewertung: 2/5 Lamas

Triggerwarnung: Explizite Darstellung psychischer und physischer Gewalt

ECHTE TRANSFORMATION ODER PERSPEKTIVLOSE LINKE?

“Ich will keinen Tren Maya!” Neue Großprojekte lassen Bewegungen an echter Transformation zweifeln (Foto: Francisco Colín Varela via Flickr , CC BY 2.0 )

Die hemdsärmelige Art des Präsidenten, seine Provokationen auf den allmorgendlichen Pressekonferenzen, die umstrittenen Großprojekte oder die Militarisierung der inneren Sicherheit: Viele ärgert der undiplomatische Regierungsstil von Andrés Manuel López Obrador, andere warnen vor den Gefahren eines sich immer autoritärer gebärdenden Populismus. Und dennoch bleibt der AMLO genannte Politiker ungemein populär. 2018 hatte die Hälfte aller Wähler*innen dem Hoffnungsträger der gemäßigten Linken ihre Stimme gegeben. Heute bewerten sechs von zehn Mexikaner*innen seine Regierungsarbeit positiv. Im verarmten Süden des Landes, in den Bundesstaaten Chiapas, Tabasco und Oaxaca beispielsweise, erreicht der Präsident gar Zustimmungswerte von 80 Prozent.

Ein handfester Grund für die ungebrochene Zuneigung der Mexikaner*innen zu ihrem Präsidenten ist die Bekämpfung der Korruption. Zumal diese mit Maßnahmen zur Umverteilung verbunden ist – zur Abwechslung einmal von oben nach unten. In einem Land, in dem die staatlichen Leistungen für die meisten Menschen gelinde gesagt schon immer defizitär waren und Korruption die Programme zur Armutsbekämpfung noch zusätzlich schröpfte, kommt eine der zentralen Botschaften von AMLO gut an: „Es kann keine reiche Regierung in einem Land von Armen geben.“

Die Umsetzung dieser Botschaft ist für Mexikos Geschichte beispiellos. Spitzengehälter der Staatsbeamt*innen wurden massiv gekürzt, die Zeiten der staatlich gedeckten Spesenrechnungen für die Behörden sind vorbei. Beispielhaft für diese Politik ist der ehemalige Präsidentenwohnsitz Los Pinos in Mexiko-Stadt. Während AMLOs Vorgänger Enrique Peña Nieto dort noch wohnte, ist der Komplex mitten im Wald heute ein öffentlich zugängliches Museum. Täglich machen sich dort hunderte Besucher*innen ein Bild vom Luxus vergangener Zeiten. Viele Prunkstücke der Korruption sind allerdings kurz vor dem Machtwechsel Ende 2018 aus Los Pinos verschwunden, die Räume wirken leer, die ganze Villa wie geplündert. Im kollektiven Bewusstsein sind die Exzesse der früheren „pharaonischen Regime“, wie AMLO sie nennt, sehr präsent. Nicht nur die Partei der Institutionellen Revolution (PRI), die alte Einheitspartei, auch die rechte Partei der Nationalen Aktion (PAN) verprasste ohne mit der Wimper zu zucken Steuergelder. So schaffte Präsident Vicente Fox, der von 2000 bis 2006 regierte, für ebendiese Residenz zahlreiche Luxusgüter an. Der Skandal ging als Handtuch-Gate in die Geschichte ein, weil allein jedes Handtuch 402 US-Dollar kostete.

Eine zweite Komponente von AMLOs Politik ist eine gerechtere Besteuerung. Großunternehmen fanden dank ihrer Kontakte zur Politik früher immer Schlupflöcher zur legalen Steuerhinterziehung, das Steueramt verfügte gar in regelmäßigen Abständen Schuldenerlasse in mehrstelliger Millionenhöhe. Diese Ungerechtigkeit ging AMLO nicht juristisch an; vielmehr stellte er die Beschuldigten so an den Pranger, dass sie ihre Schulden „freiwillig“ beglichen. Die auf den präsidialen Pressekonferenzen veröffentlichte Liste zahlungsscheuer Unternehmen wirkte Wunder: Allein in den ersten beiden Regierungsjahren zahlten Firmen wie IBM, Walmart und Coca-Cola insgesamt 35.849 Millionen Pesos (1,8 Milliarden Euro) aufgelaufene Steuerschulden an den Fiskus.

Nach Jahren der ökonomischen Krisen unter neoliberaler Politik richten sich neue Programme an die verarmte Bevölkerung, und zwar ohne die von der Weltbank propagierten Leistungskriterien. Jugendliche und alte Menschen stehen im Fokus der staatlichen Stützen. Junge Erwachsene bekommen jetzt ein Stipendium für ihre berufliche Ausbildung, die allgemeine Rente ab dem 65. Lebensjahr wurde auf 1.925 Pesos pro Monat (rund 100 Euro) verdoppelt und soll weiterhin jährlich um 20 Prozent erhöht werden.

Auch der staatlich festgeschriebene Tagesmindestlohn verdoppelte sich in den letzten vier Jahren von umgerechnet 4,50 Euro auf knapp 9 Euro. Entgegen dem zentralen neoliberalen Argument deuten sich keine größeren Auswirkungen auf die Inflation an. Lange wurde so gerechtfertigt, den Tageslohn auf dem denkbar tiefen Minimum von rund 3 Euro zu halten. Diesen Hungerlohn gab einst Basilio González Núñez, Präsident der Nationalen Kommission zur Bestimmung des Mindestlohnes (CONASAMI), bekannt. Er selbst war von 1991 bis 2019 ununterbrochen im Amt und verdiente zuletzt monatlich 173.000 Pesos, was dem 68-Fachen des monatlichen Mindestlohns entsprach, den er den Hilfsarbeiter*innen auf dem Bau und in der Landwirtschaft zumutete. Auch wenn AMLO solche Fälle als „vergoldete Bürokratie“ anprangert, bleibt Mexiko ein Beispiel von krasser Ungleichheit. Gemäß der im September 2022 vorgestellten Zwischenbilanz der Regierung reduzierte sich die Einkommensungleichheit zwischen dem reichsten und dem ärmsten Zehntel innerhalb von drei Jahren von 18 zu 1 auf 16 zu 1.

Korruption und Straflosigkeit sind außerdem keineswegs Vergangenheit, wie prestigeträchtige Großprojekte beispielhaft zeigen. Beim Bau der neuen Erdölraffinerie Dos Bocas im Ort El Paraíso in Tabasco waren die Arbeiter*innen den mafiösen wirtschaftsnahen Gewerkschaften ausgeliefert, die solche einträglichen Geschäfte auch früher kontrollierten. Jeden Montagmorgen kassierte hier die der Partei PRI angehörende Gewerkschaft am Werktor in bar und ohne Quittung einen Betrag von den Arbeiter*innen. Wer nicht zahlen wollte, kam nicht rein, klagten die 1.500 Angestellten bei einem wilden Streik im Oktober 2021. Der Streik wurde gewaltsam unterdrückt. Und obwohl die Missstände so ans Licht kamen, änderte sich nichts – zu groß war die Eile, das Prunkstück der Renationalisierung der mexikanischen Energiepolitik fertigzustellen.

Neue Großprojekte im alten Stil

Die Großprojekte bleiben ein Brennpunkt in der sozialen Auseinandersetzung. Hier zeigt sich, dass sich an der grundlegenden kapitalistischen Ausrichtung und der Aneignung von oft indigenen Territorien nichts geändert hat. Dennoch, eine Reihe solcher Projekte früherer Regierungen wurde dank jahrelanger sozialer Proteste von AMLOs Regierung abgesagt, allen voran der Flughafen bei Atenco und Texcoco außerhalb von Mexiko-Stadt, aber auch Staudammprojekte oder eine US-amerikanische Bierfabrik in der wasserarmen Großstadt Mexicali. Neue Bergbaukonzessionen vergibt die Regierung nicht, auch wenn aktuelle Projekte trotz Widerspruch bis in die Umweltbehörden hinein nicht angerührt werden.

Im lukrativen Energiemarkt, der nach langem Widerstand erst von Peña Nieto 2013 privatisiert wurde, mussten europäische und nordamerikanische Unternehmen zuletzt bittere Pillen schlucken. Die Rückgängigmachung dieser neoliberalen Reformen geht trotzdem nur in kleinen Schritten voran. Gleichzeitig arbeiten die betroffenen transnationalen Unternehmen momentan eifrig daran, Mexiko wegen Verletzung der internationalen Freihandelsabkommen zu verklagen, was teuer werden kann. Einzelne Projekte werden dennoch abgesagt, so ein Windenergiepark der französischen Electricité de France in Oaxaca. Auch übervorteilende Verträge, die von der gut geschmierten Drehtürpolitik in der neoliberalen Vergangenheit zeugen, erneuern die Behörden nicht. Betroffen davon sind eine Reihe von Großunternehmen, darunter die spanische Iberdrola oder der holländisch-schweizerische Energiehändler Vitol.

Wie mit dem Bau der Raffinerie Dos Bocas angedeutet, sind die neuen Vorzeigeprojekte von AMLO kaum besser als die der Vorgängerregierungen. Der umgebaute Militärflughafen Felipe Ángeles nahe Mexiko-Stadt ist im März 2022 für die zivile Luftfahrt eingeweiht worden. Doch auch ein halbes Jahr später herrscht dort gähnende Leere, weil Fluggesellschaften und Passagiere ihn nicht nutzen wollen. Auch das Tourismusprojekt Tren Maya auf der Halbinsel Yucatán und der Interozeanische Korridor, ein Bauvorhaben zur Verbindung der Containerhäfen im Isthmus zwischen Oaxaca und Veracruz, wird von ökologischen Basisorganisationen und indigenen Protestgruppen heftig kritisiert. Doch der Bau der neuen Infrastruktur kommt fast überall ohne nennenswerten territorialen Widerstand voran. Ein Zeichen dafür, dass der Protest lokal oft weniger breit abgestützt ist, als es von außen den Anschein hat.

Die mexikanischen Menschenrechtsorganisationen kritisieren an der Regierung AMLO das Fehlen einer klaren Strategie, um die Menschenrechtskrise mit ihren historischen Missständen endlich anzugehen. Die Ausnahme ist der Fall Ayotzinapa, wo dank des unermüdlichen Drucks der Angehörigen der 43 verschwundenen Studenten im August und September 2022 endlich erstmals hohe politische und sogar militärische Entscheidungsträger in Haft genommen wurden. Das Staatsverbrechen von Ayotzinapa ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs und die Aufarbeitung kommt nach vier Jahren Regierungsverantwortung reichlich spät. Dennoch ist das juristische Vorgehen gegen Generäle und den ehemaligen Generalstaatsanwalt ein unerhörtes Ereignis in der langen Geschichte der politischen Repression des Landes. Immerhin musste sich in Mexiko im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Staaten bisher noch nie ein hoher Militär für Exekutionen oder gewaltsames Verschwindenlassen verantworten.

Wann und ob die Militärs überhaupt verurteilt werden, steht noch in den Sternen. Ein renommiertes Anwaltsbüro übernahm deren Verteidigung pro bono und der Generalstaatsanwalt zog 21 Haftbefehle, darunter gegen 16 Militärs, wenige Tage nach deren Ausstellung wieder zurück. Ein unglaublicher Sabotageakt der Chefetage an der Spezialeinheit der Staatsanwaltschaft zum Fall Ayotzinapa, den der zuständige Staatsanwalt Omar Gómez Trejo mit seinem Rücktritt quittierte. Präsident AMLO gab darauf öffentlich zu, es gäbe „starken Druck“ im Fall Ayotzinapa, ohne genauer darauf einzugehen. Die Angehörigen der 43 kritisierten am achten Jahrestag der Verbrechen die mangelhafte Aufklärung: „Ja, wir erreichten kleine Fortschritte mit dieser Regierung, aber als die Armee angefasst wurde, brach alles zusammen“, betonte Emiliano Navarrete, Vater des verschwundenen José Ángel Navarrete González, auf der Demonstration zum Jahrestag. Die Trauer steht im dabei ins Gesicht geschrieben.

Eine zentrale Schwäche der Transformation des Landes, die gemäß AMLOs Anhänger*innen momentan stattfinden soll, ist der Mangel an klarer politischer Ausrichtung der 2013 gegründeten Bewegung der Nationalen Erneuerung (Morena). Dank der Beliebtheit des Präsidenten gewinnt die neue Partei eine Wahl nach der anderen und nicht immer stehen dabei auch nur annähernd linke Visionen im Vordergrund. Im Gegenteil: An vielen Orten fanden Politiker*innen aus anderen Parteien bei Morena Unterschlupf. Das geht bis hin zum chiapanekischen Großgrundbesitzer Jorge Constantino Kanter, der die im Zuge des zapatistischen Aufstands von der indigenen Bewegung enteignete Oligarchie vertrat und für drastische rassistische Äußerungen bekannt ist. 2022 kandidierte er für Morena um das Stadtpräsidium von Comitán – zum Glück ohne Erfolg. Lokale Morena-Verwaltungsstrukturen waren gar in das gewaltsame Verschwindenlassen und die Ermordung von linken, aber der lokalen Morena-Regierung kritisch gegenüberstehenden Aktivist*innen involviert. Neu ist allerdings, dass deswegen Lokalpolitiker*innen in Untersuchungshaft sitzen, darunter der Gemeindepräsident von Amatán in Chiapas und die Gemeindepräsidentin von Nochixtlán im Bundesstaat Oaxaca.

“Als die Armee angefasst wurde, brach alles zusammen”

Der Gewaltspirale im Land wurde zwar 2019 die Spitze gebrochen, doch die Mordrate stagniert nun auf hohem Niveau: Die jährlich 28 Morde pro 100.000 Einwohner*innen entsprechen 98 Morden täglich. Viele Ecken und Enden des ländlichen Mexiko sind und bleiben Territorien ohne rechtsstaatliche Prinzipien, wo die caciques genannten Landfürste die Herren über Leben und Tod sind, heute meist im Verbund mit Mafiagruppierungen. Wenn die Verhältnisse absolut untragbar werden, dann wehrt sich die betroffene Bevölkerung bewaffnet. Wie 2021 in der Gemeinde Pantelhó im Hochland von Chiapas, wo die lokale Politikerfamilie und ihre pistoleros vertrieben wurden.

Einer der überraschendsten und gefährlichsten Aspekte der Regierung AMLO ist die breite Allianz mit dem Militär, dem auch die neuen Großprojekte übertragen werden. Anlässlich der Verlängerung der Militärpräsenz auf den mexikanischen Straßen sprach López Obrador im September 2022 von der „quasi-militärischen Macht der organisierten Kriminalität“, derer er sich erst bewusstwurde, als er das Amt antrat. Er habe deshalb seine Meinung in Sachen Militarisierung der inneren Sicherheit geändert. Ob das stimmt, mag bezweifelt werden, hat doch Wikileaks ein Gespräch in der US-Botschaft in Mexiko-Stadt vom Januar 2006 veröffentlicht, in dem der damals erstmals für das Präsidentenamt kandidierende AMLO zu Protokoll gab, dass er zwecks Bekämpfung der organisierten Kriminalität das Militär aus den Kasernen holen wolle, weil es die „am wenigsten korrupte Institution“ sei. Und gegen besseres Wissen wird die systematische Beteiligung des Militärs an Verbrechen wie Ayotzinapa individualisiert, die Institution als Ganzes nicht kritisiert.

Linke soziale Organisationen warnen ihrerseits, dass das Militär und die Nationalgarde auch andere Ziele verfolgen. So erklärt die Organisationsfront von Oaxaca (FORO), eine neue Allianz von zehn sozialen Organisationen, in ihrem Gründungsschreiben im September 2022, dass „die Militarisierung insbesondere dort strategisch präsent ist, wo es historisch am meisten Widerstand gegen Großprojekte der Regierung gab“. Auch wenn die dunkelsten Seiten der Streitkräfte momentan zurückgebunden sind, ihr Machtzuwachs ist unheimlich und wird über die Regierungszeit von AMLO hinaus wirken.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier „Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika“. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

„EINE DER SCHWERSTEN MENSCHENRECHTSVERLETZUNGEN“

Mexiko befindet sich in einer schweren Menschenrechtskrise, was sich in besonderem Maße an den erschreckenden Zahlen an gewaltsam Verschwundenen zeigt. Wie stellt sich die Situation aktuell dar?
Offizielle Angaben gehen derzeit von mehr als 105.000 Verschwundenen in Mexiko aus. Und das, ohne die Fälle zu berücksichtigen, die nicht zur Anzeige gebracht wurden. Diese Krise ist auch eine forensische Krise. Nach inoffiziellen Angaben gibt es 52.000 nicht identifizierte Leichen. Viele von ihnen wurden von Familienangehörigen von Verschwundenen gefunden.

Wer sind die Opfer der Verbrechen?
Es sind vor allem junge Menschen, die gewaltsam verschwinden. Obwohl die meisten von ihnen Männer sind, werden auch immer mehr Frauen Opfer. Diese Verbrechen werden meist im Kontext anderer Straftaten, wie Menschenhandel oder Sexualverbrechen, begangen. Diese geschlechtsspezifischen Charakteristika erfüllen uns mit zusätzlicher Sorge.

Welche Folgen haben diese Verbrechen für die Angehörigen?
Das Verschwindenlassen ist eine der schwersten Menschenrechtsverletzungen, da eine Vielzahl von Rechten betroffen ist. Nicht nur die Rechte der verschwundenen Person, die Unversehrtheit des Lebens und der Freiheit, sondern auch die Rechte der Angehörigen werden verletzt, auch weil der Verbleib der verschwundenen Person nicht bekannt ist.
Es sind meist Frauen, die ihre Angehörigen suchen. Sie sind Mütter oder Schwestern, die auf die Suche gehen, oft unter sehr schwierigen und unsicheren Bedingungen. Als Frauen sind sie mit besonderen Problemen konfrontiert, in Bezug auf die staatlichen Institutionen, aber auch in Bezug auf die eigenen Communities. In den letzten Jahren wurden 13 Suchende ermordet. Das zeigt auch, dass der Staat nicht in der Lage ist, diejenigen zu schützen, die die Aufgabe der Suche ausführen.

Warum verschwinden Menschen in Mexiko gewaltsam? Und welche strukturellen Bedingungen begünstigen diese Verbrechen?
Die Situation ist seit 2006 und dem sogenannten Krieg gegen die Drogen eskaliert. Die damalige Regierung von Präsident Felipe Calderón militarisierte das Land, was zu keinem Rückgang der Gewalt geführt hat. Im Gegenteil, es gab einen enormen Anstieg von Morden und Menschenrechtsverletzungen, darunter das Verschwindenlassen. Die beteiligten Akteure und die Motive, die hinter dem Verschwindenlassen stehen, sind vielfältig und komplex. Die organisierte Kriminalität spielt eine wichtige Rolle, aber auch die Sicherheitskräfte, die auf verschiedenen Ebenen an vielen dieser Verbrechen beteiligt sind. Manchmal arbeiten sie mit dem organisierten Verbrechen direkt zusammen, manchmal lassen sie es in bestimmten Regionen operieren, ohne einzugreifen. Das UN-Komitee gegen Gewaltsames Verschwindenlassen hat in seinem Bericht anlässlich seines Besuchs im April 2022 deutlich gemacht, dass es zu einem großen Teil genau diese Sicherheitspolitik ist, die das Verschwindenlassen begünstigt und ermöglicht.

Mit der jüngsten Reform der Nationalgarde wurde die öffentliche Sicherheit noch weiter militarisiert. Die Militarisierung der Sicherheitspolitik ist ein Teil des Problems. Ein weiteres Problem ist die Straflosigkeit. Sie ist einer der wesentlichen Faktoren, die Verschwindenlassen begünstigen. Und das dritte Element ist das Fehlen einer ganzheitlichen Politik, die die verschiedenen Stellen koordiniert, im Bereich der Sicherheit und im Bereich der Bekämpfung des Verschwindenlassens.

Welche Maßnahmen hat die Regierung von AMLO ergriffen, um das Problem zu bekämpfen?
Die Regierung hat die Krise anerkannt. Das war sehr wichtig und wir hatten Hoffnung, dass die Anerkennung auch zu angemessenen Schritten führen würde. In den ersten Jahren dieser Regierung wurden einige Maßnahmen erlassen, die den Eindruck erweckten, dass es in diesem Zusammenhang Verbesserungen geben könnte. Es wurden einzelne Maßnahmen ergriffen, wie die Stärkung der Nationalen Kommission zur Suche nach Verschwundenen, der Sondermechanismus zur forensischen Identifizierung (Mecanismo Extraordinaria de la Identificación Forense) oder die Schaffung des Nationalen Zentrums zur menschlichen Identifizierung (Centro Nacional de Identificación Humana). Diese und weitere Initiativen sind aber eher isolierte Maßnahmen und werden einem ganzheitlichen Ansatz der Politik nicht gerecht. Zudem wurden Maßnahmen erlassen, die in die entgegengesetzte Richtung gehen. Aus unserer Sicht ist die erwähnte Militarisierung eine der besorgniserregendsten Entwicklungen. Die Streitkräfte sind darauf trainiert, den Feind zu bekämpfen. Ein Großteil der Truppe ist weit davon entfernt, die Menschenrechte zu verteidigen, und sie ist auch sehr resistent gegen Transparenz und Rechenschaftspflicht, und Straflosigkeit ist ein großes Problem.

Im August wurde ein Bericht der Wahrheitskommission zum Fall Ayotzinapa veröffentlicht. Darin wurde die Komplizenschaft zwischen Militärkräften und organisiertem Verbrechen klar benannt. Von 83 ausgestellten Haftbefehlen in dem Fall betreffen nun 20 Militärs. Wie bewerten Sie den Bericht?
Der jüngste Bericht beinhaltet wichtige Elemente. Er zeigt deutlich, wie die Untersuchungen behindert wurden, um sie schnell abzuschließen und die „historische Wahrheit“ zu konstruieren. Es gab eine staatliche Politik, die darauf ausgerichtet war. Und er benennt deutlich, dass aufgrund der Verwicklung verschiedener staatlicher Institutionen von einem Staatsverbrechen gesprochen werden muss. In diesem Sinne ist der Bericht sehr relevant.
Es muss aber gesagt werden, dass dieser Bericht kein Bericht der Wahrheitskommission zum Fall Ayotzinapa ist, sondern nur der ihres Vorsitzenden Alejandro Encinas Rodríguez. Weder andere Mitglieder der Kommission noch Fachleute der GIEI (Interdisziplinäre Gruppe unabhängiger Expert*innen zum Fall Ayotzinapa, Anm. d. Red.) waren an der Erstellung und Bewertung beteiligt. Deshalb sind wir besorgt, dass die Veröffentlichung des Berichts vor allem politischen Gründen geschuldet ist. Familienangehörige haben den Bericht zwar ebenfalls begrüßt, fordern aber eine tiefere Analyse des genauen Tathergangs. Bisher haben sie noch immer noch keine Antwort darauf, wo ihre Söhne verblieben sind.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier „Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika“. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

SYSTEMATISCHE VERWEIGERUNG VON GERECHTIGKEIT

Gerechtigkeit für Sol ist Gerechtigkeit für alle Ein Mural zu María del Sol (Foto: Privat)

Über Deine Tochter wird berichtet, dass sie Fotografin war und in der Abteilung für den Schutz indigener Gemeinden gearbeitet hat. Das war es dann aber auch schon. Wer war María del Sol?
Maria del Sol war eine ausgelassene, fröhliche Person. Seit sie klein war, mochte sie es, zu fotografieren. Sie war immer hinterher, das zu erreichen, was sie machen wollte. Sie war eine sehr engagierte junge Frau und immer schnell erzürnt über jegliche Ungerechtigkeiten. Sie begleitete daher gelegentlich auch Proteste und Demonstrationen.

Eine Weile lang hat sie uns auch finanziell unterstützt, als ich mal keine Arbeit hatte. Wir hatten einen kleinen Brotverkauf eröffnet. Und es waren doch eher ältere Menschen, die vorbeikamen. Also kam es, dass María del Sol mit ihnen auf der Parkbank saß und sie ihr Geschichten von früher erzählten, von den Festen die sie gefeiert haben, einfach aus ihrem Leben. Maria del Sol gefielen diese Geschichten. Sie bewunderte die Menschen. Sie sah häufig mehr in den Leuten als den Eindruck, den sie auf den ersten Blick machten. Ich würde sagen, dass sie die Fähigkeit hatte, die Leute wirklich beim Wort zu nehmen und sie nicht in eine Schublade zu stecken.

Oaxaca und insbesondere Juchitán ist eine Region, in der viele indigene Gemeinschaften leben. Wie äußert sich geschlechtsspezifische Gewalt gegen indigene Menschen?
Indigene Frauen erleben viele Formen der Gewalt innerhalb ihrer Beziehungen, das ist sehr üblich, psychische, emotionale und auch physische Gewalt und Feminizide. Zumindest in Juchitán de Zaragoza. Allein in diesem Ort wurden dieses Jahr elf Frauen getötet. Das sagt viel aus über die Gewalt gegen Frauen. Und das ist nur einer von gut 40 Orten, die die Region des Isthmus (von Tehuantepec, Landenge in Mexiko, Anm. d. Red) umfasst. Es ist eine Zone normalisierter Gewalt. Ich weiß nicht, ob es auch etwas mit der Armut zu tun hat, was zu dieser Gewalt führt. Was ich jedoch weiß ist, dass es eine patriarchale Struktur gibt, die dazu führt, dass sich diese Verbrechen immer und immer wieder wiederholen.

Du hast mal gesagt: „Ich habe Mexiko über die Straflosigkeit kennengelernt“. Wie steht es denn aktuell um den Fall von María del Sol?
Der Fall wurde 2018 zuerst von der Generalstaatsanwaltschaft in Oaxaca aufgenommen. Danach wurde eine neue Akte angelegt wegen Wahlbetrug. Ein Jahr später gab es dann eine Akte wegen Diebstahl, denn als María del Sol, Pamela Terán und der Fahrer, Adelfo Guerra, getötet wurden, wurde ihr Equipment gestohlen. Die Anklage wegen Mord, was eigentlich juristisch als Feminizid geführt werden müsste, liegt ebenfalls in irgendeiner Akte. Alle drei Verfahren laufen aktuell noch und sind ohne weitere Ergebnisse. Vier Jahre später hat sich nichts getan.

Dann gibt es noch eine weitere Anzeige, die ich erstattet habe, gegen den Staatsanwalt von Oaxaca und dessen Mitarbeiter, weil sie ihre Arbeit nicht machen. Bei keinem der Verfahren gibt es Ergebnisse, keiner der Fälle wurde aufgeklärt. Wie soll man das denn nennen, außer Straflosigkeit? Sowohl die Behörden, als auch diejenigen, die den Mord in Auftrag gegeben haben, und die Ausführenden, bleiben straflos.

Dann ist der Kampf gegen Feminizide gleichzeitig ein Kampf gegen Straflosigkeit?
Klar! Die Mütter, die von den Fällen ihrer getöteten Töchter erzählen, berichten genau das gleiche. Eine der Mütter, deren Tochter erst verschwunden war und später dann ihr Körper gefunden wurde, hat herausgefunden, dass der Ex-Freund sie getötet hat. Plötzlich ist der junge Mann aber nicht mehr aufzufinden und es stellt sich heraus, dass seine Eltern in einer Justizbehörde arbeiten. Wenn also der Haftbefehl ausgestellt wird, nachdem endlich mal jemand der Mutter zugehört hatte, haben sie dem Typen Bescheid gesagt und er ist abgehauen. Er wurde nie festgenommen. Wer schützt hier also wen? Es sind die Leute in der Staatsanwaltschaft, die die Täter schützen. Es gibt hier viele Fälle, bei denen die eigentlichen Täter bekannt sind.

Wie würdest Du Deine Erfahrungen mit den Behörden beschreiben, nachdem María del Sol getötet wurde?
Erschöpfend in allen Facetten. Nicht nur emotional, auch was deine Ressourcen betrifft. Häufig werden ich oder andere Mütter gefragt: „Wie macht ihr das? Wo nehmt ihr die Kraft her?“ Ich weiß nicht, woher ich die Kraft nehme. Man muss aber weitermachen und schauen, dass man irgendwo Kraft herbekommt. Es gibt also diese Tiefs. Das sieht jedoch niemand. Das kriegen die Leute nicht mit. Die Behörden sehen nicht die systematische Ungerechtigkeit und wie die systematische Verweigerung von Gerechtigkeit dich zermürbt. Sie sagen dir: „An diesem Tag ist die Anhörung.“ Also schläfst du zwei Tage nicht, weil das dermaßen aufwühlend ist. Und dann wird die Anhörung spontan abgesagt, weil die Generalstaatsanwaltschaft einen Fehler gemacht hat. Das fühlt sich an wie ein Schlag ins Gesicht. Ich habe mich lange darüber aufgeregt, bis ich festgestellt habe – das machen die immer so. Und deswegen stimmt mit dem ganzen System einfach etwas nicht.

Wie erklärst Du Dir dieses Ausmaß an Straflosigkeit?
Was wir hier sehen, ist ein patriarchaler Pakt. Es gibt eine enge Verflechtung zwischen Repressionsapparaten und den korrupten politischen Institutionen. Die Beamten lassen sich zum Beispiel Geld dafür geben, dass sie die Täter nicht weiter verfolgen. Das ist die Realität. Und die Staatsanwaltschaft nimmt das einfach hin. Diese patriarchalen Verflechtungen bedeuten dann, dass genau diese Taten straflos bleiben. Diese Verbrechen werden nicht geahndet. Das passiert überall – im Bundesstaat Mexiko, in Veracruz, im ganzen Land. Ich weiß das, weil das viele Mütter erzählen. Deswegen ist es das System, das falsch ist. Darauf bestehe ich!

Seit 20 Jahren gibt es Fortbildungen für Beamte. 20 Jahre! Und die Gesetzeslage ist eine der fortschrittlichsten was Feminizide betrifft. Letztes Jahr gab es Änderungen am Strafgesetz, um Gleichberechtigung zu implementieren. Das hilft nicht viel. Was also verstärkt die Gewalt? Die Straflosigkeit, die Tatsache, dass Staatsbedienstete nicht zur Verantwortung gezogen werden, deren Komplizenschaft. Und nicht zuletzt die Emanzipation der Frauen selbst. Männer sind sauer und wütend, dass jetzt auch Frauen öffentliche Ämter bekleiden oder wenn Frauen arbeiten gehen, unabhängig ihr eigenes Geld verdienen – dann wird das auch mit Gewalt beantwortet.

Was möchtest Du im Kampf gegen Straflosigkeit und geschlechtsspezifische Gewalt erreichen?
Im Fall von María del Sol fordere ich, dass die Behörden den Fall untersuchen und die Hintergründe aufklären. Es gibt viele Elemente, die auf eine Serie von Menschenrechtsverletzungen hinweisen. Ich bin überzeugt, dass wenn internationale Institutionen härtere Sanktionen gegen Mexiko aufgrund der Menschenrechtsverletzungen verhängen würden, mehr Druck ausgeübt werden könnte, damit der mexikanische Staat seiner Verantwortung nachkommt. Das wäre ein Weg. Ich glaube, wir haben mittlerweile die Türen geöffnet, damit auch weitere betroffene Frauen und Mütter anklopfen. Auch wenn jeder Fall anders ist, gibt es unzählige davon, wo Untersuchungen verschleppt werden und die Verbrechen ungesühnt bleiben.

Nur drei von 100 Fällen werden halbwegs aufgeklärt, wobei sich Statistiken dazu auch unterscheiden. Das sagt so viel darüber aus, mit welcher Dimension von Straflosigkeit wir es zu tun haben. Und ein Verbrechen, das nicht verurteilt wird, ist ein Verbrechen, das sich wiederholt. Auch wenn ich mittlerweile müde bin, werde ich nicht aufhören, jeden Tag für Gerechtigkeit zu kämpfen. Denn ich glaube, dass es viele Mütter gibt, die Unterstützung gebrauchen können. Viele erhalten Drohungen oder werden angegriffen. Manche Mütter sagen jedoch: Sie haben uns alles genommen, sogar die Angst.

FRAUEN IM NARCOLAND

„Weißt du, warum ich dich verstecke?“, fragt Rita ihre Tochter Ana in einer Szene von Noche de fuego, „Weißt du, was sie mit den Mädchen machen?“ Keine von beiden gibt eine Antwort, aber in dem kleinen Dorf in den mexikanischen Bergen wissen es alle: Das Drogenkartell, das den Mohnanbau in der Gegend kontrolliert, hat schon mehrere Mädchen verschleppt. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis sie kommen werden, um auch Ana abzuholen.

Tatiana Huezos erster Spielfilm, der auf dem Roman Ladydi von Jennifer Clement basiert, begleitet Ana und ihre besten Freundinnen María und Paula zwischen Kindheit und Jugend in einer Umgebung, die von Schutzlosigkeit geprägt ist: Wenn die Narcos in ihren schwarzen Pick-Ups wieder einmal angefahren kommen, geht die Angst um. Wer sich ihnen widersetzt, muss mit dem Schlimmsten rechnen und kann nicht auf die Hilfe von Polizei oder Militär hoffen, denn die stecken mit den Kriminellen unter einer Decke. Anstatt die Bewohner*innen zu schützen und den Drogenanbau zu bekämpfen, versprühen sie überall Pflanzengift, nur nicht auf den Mohnfeldern.

Das Verstecken von Weiblichkeit wird zum einzigen Schutz

Perspektiven gibt es kaum in dem armen Dorf: Viele Männer sind weggegangen, um anderswo Geld zu verdienen, ihre Söhne gehen schon in jungen Jahren in der lokalen Mine schuften oder steigen bei den Narcos ein. Wenn Lehrer*innen oder Ärzt*innen zur Arbeit ins Dorf geschickt werden, halten sie die Drohungen nicht lange aus, weshalb die Kinder auf Operationen warten müssen und mit der Schule kaum vorwärts kommen. Nur die Friseurin des Orts kann weiter arbeiten, da sie Schutzgeld bezahlt – die Mütter bringen ihr ihre Mädchen, damit sie ihnen die Haare kurz schneidet. Rita schimpft mit Ana, wenn sie sich schminkt, und lässt sie nur ungern auf die Straße. Hinter ihrem Haus gibt es eine getarnte Grube, in die Ana kriecht, wenn die schwarzen Pick-Ups nahen. Kurzum: Das Verstecken von Weiblichkeit ist der einzige Schutz, wenn der Staat versagt. Noche de fuego handelt davon, wie die Gewaltherrschaft der Kartelle über die Körper von Frauen bestimmt. Tatiana Huezo hat zuvor ausschließlich Dokumentarfilme gedreht, was man ihrem neuen Werk positiv anmerkt: ohne jegliche Verwendung von Klischees und ohne dabei allzu viel von der in der Luft liegenden Gewalt zu zeigen, beobachtet sie das Dorf und das Leben seiner Bewohner*innen, vor allem der Frauen, sehr genau. Es gibt in deren Alltag auch Lichtblicke und schöne Momente: die Menschen helfen sich gegenseitig und solidarisieren sich auch über Dörfer hinweg. Ana, María und Paula lieben es zu spielen, sie lassen sich gegenseitig Farben, Zahlen oder Tiere erraten. Sie sitzen zusammen im Wald, sie baden gemeinsam im Fluß und halten sich dabei an den Händen, sie genießen die Natur, umarmen sich. Dieser Zusammenhalt, diese heile Welt im Kleinen ist der Funken Hoffnung inmitten eines Meers der Trostlosigkeit. Folgerichtig fragt Ana einmal ihre beiden Freundinnen, was wohl passieren würde, wenn eine von ihnen plötzlich weg wäre. Es ist eine Frage, die sich in Mexiko heute leider allzu viele Frauen stellen müssen.

FÜR DAS WASSER, FÜR DAS LEBEN

Die Karawane für das Wasser verbindet lokale Widerstände und Initiativen (Foto: Jana Bauch)

Mit der „Karawane für das Wasser und das Leben“ protestierten die mitreisenden Aktivist*innen gegen die Verschmutzung und Privatisierung des Wassers sowie gegen Extraktivismus. Damit stellten sie sich zugleich deutlich gegen die Idee des Fortschritts durch Wirtschaftswachstum, die die mexikanische Regierung aktuell durch große Infrastrukturprojekte propagiert. Dazu wurden Orte besucht, an denen verschiedene Gruppen und Gemeinden für den Schutz des Wassers und indigene Rechte kämpfen. Ziel war nicht nur, auf kollektiv organisierten Widerstand aufmerksam zu machen, sondern auch, die betroffenen Kollektive zu vernetzen.

Eine Reise des Zuhörens und des Austausches

Marina vom Bündnis der Pueblos Unidos de Choluteca fasst das so zusammen: „Die Karawane ist wie eine Reise des Zuhörens und des Austauschs, bei der wir verschiedene Ecken Mexikos besuchen, um zu sehen, wie sich an Orten des Todes Gemeinschaften organisieren, die für das Leben kämpfen und Autonomie aufbauen.“

Die Karawane startete an einem besonderen Ort: der ehemals besetzten Wasserfabrik Altepelmecalli im zentralmexikanischen Bundesstaat Puebla. Auf dem Gelände der Fabrik hatte Bonafont, eine Tochterfirma des französischen Lebensmittelkonzerns Danone, fast 30 Jahre lang große Mengen an Wasser abgepumpt – pro Tag etwa so viel, wie 50.000 Menschen in einem Jahr zum Leben brauchen. Am letztjährigen Weltwassertag, dem 22. März 2021, wurde die Fabrik von den indigenen Nahua besetzt, um dort ein Gemeindezentrum aufzubauen. Damit konnte die massive Wasserentnahme von über einer Million Litern täglich gestoppt werden, sodass sich die Brunnen der Gemeinde wieder mit Wasser füllten. Obwohl die Besetzung im Februar 2022 geräumt wurde und die Fabrik nun von Sicherheitskräften bewacht wird, stehen die Maschinen dort weiterhin still.

Die Wahl des Startpunktes war symbolisch – aus geographischer, aber auch aus zeitlicher Sicht: Am Weltwassertag 2022, also ein Jahr nach der erfolgreichen Besetzung, begann die Reise zu über dreißig verschiedenen Zielen, die sich teils ähnlichen, teils verschiedenen Kämpfen widmen: eine Mülldeponie, die das Trinkwasser vergiftet, eine geplante Goldmine der Aldama Group sowie Orte des Widerstands gegen die staatlichen Infrastruktur-Projekte Projecto Integral de Morelos (PIM) und Corredor Transístmico. Mit ersterem soll Zentralmexiko durch ein Wärmekraftwerk und eine Gas-Pipeline mit Energie versorgt werden. Seit Baubeginn im Jahr 2012 prangern lokale Gemeinden immer wieder die Wasserverschmutzung durch Abwasser des Kraftwerks an; Wissenschaftler*innen warnen vor den Risiken, die der Betrieb der Pipeline in der Nähe zum Vulkan Popocatépetl mit sich bringe. Im Jahr 2019 wurde mit Samir Flores ein prominenter Gegner des PIM getötet; seitdem wurden weitere Aktivist*innen ermordet. Auch der Corredor Transístmico, der die Landenge von Tehuantepec im Süden Mexikos mit einem Schnellzug und einer Freihandelszone als Alternative zum Panamakanal etablieren soll, steht stark in der Kritik.

Die Karawane setzte sich aus bis zu 50 Menschen aus verschiedenen politischen Kollektiven zusammen. Mit einem eigens organisierten Bus besuchten die Teilnehmenden widerständige Projekte und wurden dort zumeist von mehreren hundert Menschen in Empfang genommen. Gemeinsam wurden Demonstrationen organisiert, Kundgebungen abgehalten und Orte der Zerstörung besucht, aber auch direkte Aktionen, wie etwa Straßenblockaden, durchgeführt. Dabei kam es wiederholt zu Repressionen durch die Polizei und die Nationalgarde, etwa durch Beschlagnahmung von Material. Die Karawane war auf ihrem Weg außerdem mehrfach gewalttätigen Einschüchterungsversuchen von organisierten Drogenkartellen ausgesetzt.

Gemeinsam an Orten der Zerstörung kämpfen

Auch neun Klimagerechtigkeitsaktivist*innen aus Lützerath waren bei der Karawane mit dabei. Das Dorf im Rheinland wird als eines der letzten von den Kohlebaggern des Konzerns RWE bedroht. Auf Einladung aus Mexiko sind die Aktivist*innen im März nach Lateinamerika gereist, um die Karawane zu unterstützen. „Diese Menschen stehen an den Frontlines der Klimakrise und in direkter Konfrontation mit zerstörerischen Großkonzernen. Wir wollen uns mit ihnen austauschen, vernetzen und somit von Menschen lernen, die schon seit 500 Jahren im Widerstand gegen koloniale, patriarchale und kapitalistische Ausbeutung sind“, erklärt Ronni Zepplin aus Lützerath. Die Vernetzung zum Bündnis der Pueblos Unidos, die die Aktivist*innen schon vorher aufgebaut hatten, hat sich während der Karawane intensiviert. Das Ziel, ihre Kämpfe zu verknüpfen und sichtbar zu machen, wurde sogleich in die Praxis umgesetzt: Rund um Ostern organisierten die Pueblos Unidos internationale Aktionstage, an denen digitale Podiumsgespräche, eine virtuelle Demo mit 14 verschiedenen Gruppen und eine Aktion vor der deutschen Botschaft in Mexiko stattfanden. „Wir wollen die Kämpfe in Mexiko mit Öffentlichkeit unterstützen, aber auch die europäischen Konzerne angreifen, die in Mexiko wirtschaften, insbesondere das grüne und soziale Image, mit dem zum Beispiel Danone versucht, seine Produkte zu verkaufen“, so Zepplin.

Auch nach der Karawane soll die gegenseitige Unterstützung weitergehen. Zepplin kommentiert: „Die Kontakte, die wir hier geknüpft haben, wollen wir nutzen, um uns gegenseitig nicht mehr alleine zu lassen. Wenn sie eine von uns angreifen, greifen sie uns alle an.“

PRIVATUNTERNEHMEN MÜSSEN DRAUSSEN BLEIBEN

Die mexikanische Regierung hat vor einigen Tagen erklärt, einen Gipfel mit den Lithium-Förderländern der Region, Argentinien, Chile und Bolivien, organisieren zu wollen. Das Treffen soll dem Erfahrungsaustausch dienen und Mexiko dabei helfen, die künftige Lithium-Produktion besser zu definieren, kündigte Präsident Andrés Manuel López Obrador an. Expertise ist durchaus gefragt, denn nach der Verstaatlichung des Lithium-Abbaus in Mexiko gibt es noch viele offene Fragen.

In einer hitzigen Atmosphäre voller Provokationen, Beleidigungen und lautstarker Beschimpfungen hatte Mexikos Parlament Mitte April eine Reform des Bergbaugesetzes beschlossen. Der von Präsident López Obrador eingebrachte Gesetzentwurf erklärt Lithium, das eine wichtige Rolle für die Produktion von Smartphones, Solarzellen und Batterien für Elektroautos spielt, zu einem strategischen Mineral, dessen Erkundung, Abbau und Nutzung in den Händen des Staates verbleibt.

Ein Leitartikel der linken Tageszeitung La Jornada feierte die Entscheidung als „historischen und äußerst positiven Schritt für Mexiko“. Die Gesetzesänderung „stellt einen notwendigen Schutz und eine Garantie für die Entwicklung und Unabhängigkeit des Landes dar“, hieß es.

Die Abstimmung über das Bergbaugesetz erfolgte weniger als 24 Stunden, nachdem die von López Obrador vorangetriebene Verfassungsreform des Energiesektors an der erforderlichen Zweidrittelmehrheit im Parlament gescheitert war. Der Präsident hatte mit der Reform die staatliche Kontrolle über den Strommarkt stärken wollen. Eine empfindliche, aber angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlament wohl einkalkulierte Niederlage. López Obrador bezeichnete das Votum der Opposition als „Verrat an Mexiko“. Das setzte den Ton für die Abstimmung über die Änderung des Bergbaugesetzes, für die nur eine einfache Mehrheit nötig war. Mit dieser wurde die Verstaatlichung des Lithiums, eines der Schlüsselelemente der Initiative zur Elektrizitätsreform, doch noch durchgesetzt.

Nach Verstaatlichung gibt es viele offene Fragen

Die Opposition kritisierte die Eile bei der Verabschiedung des Gesetzes und wies darauf hin, dass Lithium bereits nationalisiert und in der Verfassung geschützt sei. Mit dem geänderten Bergbaugesetz sollen nach dem Willen der Regierung Konzessionen für den Lithium-Abbau an private Unternehmen verboten werden, so dass diese extraktive Industrie in der alleinigen Zuständigkeit des Staates liegt. Dafür soll eine öffentliche, dezentrale Behörde geschaffen werden, die so genannte Mexikanische Lithiumagentur (Amlitio). Präsident López Obrador sagte wenige Tage nach der Parlamentsabstimmung, dass die Aufgabe dieser Agentur noch nicht vollständig definiert sei.

In Kürze werde entschieden, ob sie mit dem Finanz-, Wirtschafts- oder Energieministerium verbunden sein wird, obwohl er nicht ausschloss, dass auch das staatliche Energieunternehmen Comisión Federal de Electricidad (CFE) beteiligt sein wird.

„Die mexikanische Regierung hat Recht, wenn sie Lithium schützt“, erklärt der Ökonom Francisco Ortiz von der Universidad Panamericana de México gegenüber BBC. „Das Problem ist, dass wir nicht aus den Fehlern gelernt haben, die bei Pemex aufgetreten sind.“ Der staatliche Erdölkonzern Pemex kümmert sich um die Ölförderung, den Transport und den Vertrieb. „Im Laufe der Jahre haben wir festgestellt, dass dadurch ein ineffizientes Superunternehmen mit Milliarden von US-Dollar Schulden entstanden ist“, sagt Ortíz und spricht sich stattdessen für die Erteilung von „eingeschränkten und kontrollierten“ Konzessionen in einigen Bereichen des Lithiumprozesses aus. Im Gegensatz zu Ländern mit großen Lithiumvorkommen wie Chile oder Bolivien befindet sich das Mineral in Mexiko in tonhaltigem Gestein, das aufgebrochen werden muss, woraufhin das Lithium durch chemische Prozesse herausgelöst wird. „Es gibt bereits Labortests, die gezeigt haben, dass es technisch möglich ist, Lithium aus Ton zu gewinnen, aber wir müssen sehen, ob es wirtschaftlich machbar ist, wir müssen diese Industrie entwickeln“, so Armando Alatorre Campos, Präsident der Hochschule für Bergbauingenieure, Metallurgen und Geologen von Mexiko (CIMMGM) gegenüber dem Wirtschaftsblatt El Financiero.

Mexiko will die Technologie erst entwickeln oder erwerben

López Obrador räumte ein, dass Mexiko nicht über die Technologie für die Lithium-Gewinnung verfügt, „aber wir werden die Technologie entwickeln oder wir werden sie erwerben.“ Die Entwicklung der nötigen Technologie wird voraussichtlich viel Zeit und Ressourcen in Anspruch nehmen._Aufgrund der geringen Lithium-Konzentrationen der mexikanischen Vorkommen sind die Aussichten auf wirtschaftlich rentable Erschließung aber eher gering. „Das sind langfristige Prozesse mit Investitionen in Höhe von Hunderten von Millionen Dollar, und obwohl einige Vorkommen schon seit Jahren bearbeitet werden, haben wir noch nicht die Erträge, um sagen zu können, dass wir mit der Produktion beginnen werden“, sagt Alatorre. Er beklagt die im Schnellverfahren verabschiedeten Änderungen des Bergbaugesetzes. Die Rechtsunsicherheit werde die Aktivitäten zahlreicher Projekte beeinträchtigen. Vorgängerregierungen hatten acht Konzessionen zum Lithium-Abbau an Privatunternehmen vergeben. Nur eine hat bislang zu Ergebnissen geführt. Es handelt sich um eine Lagerstätte im nördlichen Bundesstaat Sonora im Besitz des britischen Unternehmens Bacanora Lithum, das der chinesische Konzern Gangfeng übernehmen will. Dort sollen ab 2024 jährlich 17.500 Tonnen Lithium gefördert werden. In einer zweiten Phase könnte sich die Produktion auf 35.000 Tonnen pro Jahr erhöhen, was Mexiko theoretisch zu einem wichtigen Produzenten machen würde. Doch seit der Verstaatlichung des Lithium-Abbaus herrscht Unklarheit. López Obrador hat bereits angekündigt: „Alle genehmigten Lithiumverträge werden überprüft.“

Es kommt zu Enteignungen und Zwangsumsiedlungen

Miguel Mijangos Leal vom Mexikanischen Netzwerk der vom Bergbau betroffenen Menschen (REMA) verweist auf das Beispiel Bolivien. „Bolivien – das die mexikanische Regierung in dieser Frage beraten hat – hat das Lithium seit Evo Morales verstaatlicht, und bis heute ist es ihnen nicht gelungen, einen Ausbeutungsprozess zu konsolidieren“, so Mijangos. Die mexikanische Regierung werde es nicht schaffen, Lithium zu nutzen, „es sei denn, sie geht ein Geschäft mit der Privatwirtschaft ein und die verkauft ihr die Technologie.“

Für REMA geht es ohnehin nicht in erster Linie um den Lithiumreichtum in Mexiko, sondern um die sozialen und ökologischen Folgen der Ausweitung des Bergbaus im Zusammenhang mit der Energiewende, da Lithiumbatterien „auch viele andere Metalle benötigen, die mit neuen Technologien einhergehen“. „Es kommt zu Enteignungen und Zwangsumsiedlungen, zur Spaltung von Gemeinschaften und sogar zur Aufgabe von Dörfern“; hinzu komme die „wahllose Nutzung natürlicher Ressourcen wie Wasser, bis sie verbraucht sind“, so die Umweltorganisation.

NACH DEM AUFSTAND: DIE RÄTE VON CHERÁN

Ausgiebige Feierlichkeiten Der Feiertag der Jungfrau von Guadalupe wird in der selbstverwalteten Gemeinde festlich begangen (Foto: Paul Welch Guerra)

Vor dem Häuschen neben den Schranken beziehen vier maskierte Männer in dunkelblauen Uniformen Stellung. Es ist 6 Uhr morgens im zentralmexikanischen Cherán, und nur ganz langsam klart es auf. Hier am Ortseingang ist es Zeit für die Wachablösung. Die uniformierten Neuankömmlinge laden und prüfen ihre Maschinengewehre, während die Nachtwache sich schadenfroh scherzend in den morgendlichen Feierabend verabschiedet. Ein großes Schild neben der Straße klärt auf: „Die Indigene Gemeinde von San Francisco Cherán heißt dich willkommen. Hier richten wir uns nach Bräuchen und Traditionen. Wir fordern Respekt, Sicherheit, Gerechtigkeit und die Wiederherstellung unseres Territoriums.“

Die Wachen sind Teil der Ronda Comunitaria, einer indigenen Selbstverteidigungseinheit, die in der 20.000-Einwohner*innen-Stadt für Sicherheit sorgt. Seit 11 Jahren bewachen sie Tag und Nacht die Barrikaden – so nennen die Menschen aus Cherán die Kontrollposten. Gebaut wurden die Barrikaden am 15. April 2011. Es ist der Tag, an dem sich Cherán erhoben hat, um Drogenkartelle, illegale Holzfäller sowie die korrupten politischen Parteien aus ihrer Stadt zu werfen. Der Beginn einer tiefen politischen Umwälzung, die so keiner in Cherán geplant hatte.

Demokratie und Tortillas am Feuer

Von den Barrikaden sind es fünf Minuten Autofahrt in die belebte Innenstadt. Vor der Kirche El Calvario wird heute, wie so oft am Wochenende, ausgiebig mit Blaskapellen, Stepptänzen und Tequila gefeiert. Es ist der Feiertag der Jungfrau von Guadalupe, für die indigene, überwiegend katholische Purépecha-Gemeinde ein wichtiges Ereignis. Kinder spielen bis spät in die Nacht unbeauf-sichtigt auf der Straße. Doch ein großes Wandbild an der Kirchenmauer erinnert an Zeiten, in denen das nicht denkbar gewesen wäre. Es zeigt ein schmerzerfüllt schreiendes Gesicht, eine Gestalt halb Mensch, halb Baum, mit einem Kopf aus Ästen. Der Wald und das menschliche Leben im Leid vereint.

Doña Chepa, die nur wenige Häuser weiter in ihrer offenen Küche sitzt, erinnert sich nur ungern an die Jahre zwischen 2008 und 2011, in denen immer mehr illegale Holzfäller in die Wälder um Cherán eindrangen – geschützt vom berüchtigten Drogenkartell La Familia Michoacana: „Sie kamen täglich bewaffnet mit ihren Pickups hier an. Und das auch noch mit der Selbstverständlichkeit, als würden sie ihr eigenes Haus betreten. Uns blieb nichts anderes übrig als die Köpfe gesenkt zu halten.“ 200 bis 300 Pickups fuhren Anfang 2011 täglich durch die Stadt, um das Holz zu holen. In drei Jahren hat die Gemeinde so über 7.000 Hektar Wald verloren – und ihre Sicherheit: Entführungen, Morde und Schutzgelderpressung sorgten für ein ständiges Klima der Angst.

Auch das Vertrauen in die Politik bröckelt in dieser Zeit immer mehr, denn für viele Bewohner*innen ist die Untätigkeit der Behörden ein Beweis, dass sie längst mit dem Kartell gemeinsame Sache machen. „Ein Schweinegeschäft“ sei die Politik hier schon immer gewesen, meint Doña Chepa. Trotzdem hat die 70-jährige Bäuerin, wie viele andere hier, immer treu die gleiche Partei unterstützt. Bis sie dann selbst maßgeblich dazu beigetragen hat, dass es heute keine Parteien mehr in Cherán gibt.

Avocados oder Wasser

Losgetreten wurde der Aufstand vom 15. April 2011 von 15 Frauen. Die Hiobsbotschaft, dass die Holzfäller inzwischen eine für die Purépecha heilige Wasserquelle im Wald erreicht hätten, markierte eine neue Stufe der Eskalation. Aus purer Verzweiflung und ohne genaueren Plan verabredete sich Doña Chepa im Morgengrauen mit Nachbar*innen vor der Kirche, um die Straße zu blockieren, die direkt zur Quelle führt. Mit Feuerwerken und wildem Kirchenglockengeläute weckten sie die ganze Stadt. „Wer weiß wo die alle herkamen, aber Gott sei Dank kamen viele. Um 8 Uhr hatten wir den ersten Pickup mit Holz blockiert“. Dann, erzählt sie mit leiser Stimme, ging alles ganz schnell. Immer mehr Menschen kamen angerannt, um zu helfen. Fünf Holzfäller wurden entwaffnet, verprügelt und in der kleinen Kirche eingesperrt. Ein Versuch des Kartells in Zusammenarbeit mit der Polizei, die gefangenen Holzfäller zu befreien, konnte wie durch ein Wunder mit Böllern und Steinen verhindert werden – doch ein Cousin von Doña Chepa wurde dabei erschossen. In Rage setzten die Aufständischen mehrere der Holztransporter in Brand – kurz darauf fliehen der korrumpierte Gemeindepräsident und seine Gehilfen. Aus Angst vor Racheakten bauten die Bewohner*innen an allen Ortseingängen Barrikaden. Es beginnt ein fast einjähriger Belagerungszustand. An jeder Ecke entstehen Feuerstellen, an denen Tag und Nacht gekocht, geredet und koordiniert wird.

Heute spielen die Feuerstellen eine zentrale Rolle in der Organisation der Gemeinde. Knapp 200 gibt es auf dem Papier. Jede Stelle entsendet einen Koordinatorin in die wöchentliche Stadtteilversammlung. Die Feuerstelle 37 ½ – eine Abspaltung der Feuerstelle 38 – gehört zu den aktivsten. Unter einem kleinen Holzverschlag direkt am Straßenrand sitzen hier um 22 Uhr etwa zehn Menschen dicht zusammen und wärmen sich an den Flammen – Kleinkinder, Jugendliche, Erwachsene und Senior*innen. Weizentortillas werden mit Käse gefüllt und auf einem Rost erwärmt. Eine feste Tagesordnung gibt es bei den Treffen nie, erklärt Eudelia Madrigal Chávez (57), die mit ihrem Sohn direkt gegenüber wohnt. Tratsch, Berichte aus Nachbarschaftsversammlungen, Handymusik, hupende Autos und politische Entscheidungen verflechten sich zu einem dynamischen Abendprogramm.

Erst Hausfrau, jetzt Ortsrätin Eudelia Madrigal Chávez wohnt mit ihrem Sohn in Cherán und sitzt im Nachbarschaftsrat (Foto: Paul Welch Guerra)

In den Tagen nach dem Aufstand wurden an den Lagerfeuern von Cherán radikale Entscheidungen getroffen: die Verbannung aller Parteien, Wahlen und Behörden, die Gründung einer lokalen Selbstverteidigungseinheit, sowie die Entwicklung einer Rätedemokratie basierend auf Bräuchen der Purépecha. Ein Ältestenrat, ein Rat für Gemeingüter, ein Jugendrat und weitere Räte werden alle drei Jahre durch die Feuerstellen nominiert und anschließend auf Stadtteilversammlungen per Handzeichen gewählt. Schon früh setzte die Gemeinde darauf, ihre Autonomie auch rechtlich gegenüber dem mexikanischen Staat durchzusetzen. Der zweite Artikel der mexikanischen Verfassung sieht das kollektive Recht auf politische Selbstbestimmung für indigene Gemeinden theoretisch vor. Praktisch wurde dieses Recht nie realisiert. Doch 2014, nach jahrelangen Prozessen, gelingt es Cherán sich vor dem Verfassungsgericht durchzusetzen. Die erste offiziell anerkannte selbstbestimmte indigene Gemeindeverwaltung Mexikos war geboren. Ein Meilenstein, aber auch eine große Verantwortung: Wer kümmert sich um die politischen Tagesgeschäfte, wenn es keine Berufspolitiker*innen mehr gibt?

Eudelia hatte das zumindest nie vor. Sie ist immer gerne zu den Lagerfeuern gegangen, doch mit Politik wollte die Hausfrau nichts zu tun haben. Aber alles kam anders, nachdem ihr Mann, wie so viele hier, in die USA ausgewandert und wenig später dort gestorben ist. Der Koordinator von ihrem Lagerfeuer schlug ihr vor, für den Rat der Nachbarschaft zu kandidieren, um auf andere Gedanken zu kommen. Der Rat der Nachbarschaft ist ein Schlüsselgremium in der jungen Rätedemokratie Cheráns, denn er bildet ein Scharnier zwischen Feuerstellen, Stadtteilversammlungen und den Räten, zuvorderst dem Ältestenrat. Er soll Hierarchien abbauen und den Informationsfluss aufrechterhalten. „Ich habe ihm gesagt, dass ich die Grundschule nie abgeschlossen habe und nicht mal schreiben kann. Aber er hat einfach nicht lockergelassen und mir Mut zugesprochen“, erzählt Eudelia schmunzelnd. In Eudelias Familie kam der Vorschlag überhaupt nicht gut an, viel zu groß sei das Sicherheitsrisiko, sich so zu exponieren. Was sie dazu geritten hat, sich dann doch dafür zu entscheiden, kann sie heute selbst nicht mehr so recht erklären. Aber ihre Kandidatur war erfolgreich. Sie ist heute eine von zwölf Nachbarschaftsrät*innen. Sie erzählt das betont nüchtern, doch der Stolz ist ihr anzumerken.

Am nächsten Morgen ist Markt auf dem Rathausplatz von Cherán. Händler*innen aus der ganzen Region verkaufen Kleidung, Heilkräuter und Gemüse aller Art. Doch Avocados aus Cherán sucht man hier vergeblich. Dabei liegt die Stadt eigentlich mitten im wichtigsten Avocado-Anbaugebiet Mexikos. Rund 30 Prozent der weltweit produzierten Avocados stammen aus Michoacán, dem Bundesstaat, in dem Cherán liegt. Ein handgemalter Aushang am Eingang des Rathauses erklärt: „Denkt daran, dass sich alle vier Viertel darauf geeinigt haben, dass der Anbau von Avocados in Cherán verboten ist. Helft uns, unsere Gemeinde frei von Problemen zu halten“.

Gerechtigkeit ohne Staat?

Gleich mehrere Drogenkartelle kämpfen mit Übernahmen von Plantagen und Schutzgelderpressungen um die Vorherrschaft auf dem Avocadomarkt. Das Geschäft mit Avocados boomt weltweit. Für die Kartelle ist die Branche eine ideale Anlagemöglichkeit, um Geld zu waschen. Umweltschützer*innen, die auf die verheerenden gesundheitlichen und ökologischen Folgen des Avocadoanbaus hinweisen, droht der Tod, genauso wie Händler*innen und Bäuerinnen, die nicht kooperieren wollen. Am 11. Februar hatte die USA überraschend einen zweiwöchigen Importstopp von Avocados aus Mexiko erlassen, weil ein US-amerikanischer Agrarinspektor in Michoacán Todesdrohungen erhalten hatte.

Pedro Tapia kennt die Schattenseiten der Avocado-Industrie rund um Cherán gut. Der 46-Jährige war lange Obsthändler, heute arbeitet er für die lokale Wasserverwaltung. „Wir sind die einzige Gemeinde hier, die den Avocadoanbau verboten hat. Sobald du Cherán verlässt, siehst du die Plantagen überall. Doch die Pflanzen brauchen extrem viel Wasser und wir haben sowieso schon zu wenig davon.“ Eine Avocado braucht bis zu 600 Liter Wasser, um zu gedeihen. Die Entscheidung, sie nicht mehr anzubauen, fiel sofort nach dem Aufstand 2011. Aber einfach sei sie nicht gewesen: „Wir essen gerne Avocado hier und verkaufen lässt sie sich auch gut, im Gegensatz zu Mais, bei dem die Preise im Keller sind“. Es wundert Pedro deswegen kaum, dass manche hier in Cherán trotzdem ein paar Avocadobäume in ihren Gärten stehen haben.

Die Wasserknappheit in Cherán ist selbst ohne den Anbau von Avocados ein ernstes Problem. Deshalb hat der Ältestenrat 2015 den Bau einer Regenwasserauffanganlage beschlossen, die größte Lateinamerikas mit einem Fassungsvermögen von 20 Millionen Litern – so groß wie etwa zehn olympische Schwimmbecken. 2016 wurde das Projekt fertiggestellt, auf dem Krater eines Berges direkt hinter der Stadt. Heute will Pedro hier oben den Wasserstand prüfen. Mit zügigem Schritt läuft er den steilen Waldweg hoch und erklärt: „Auf dem Gipfel wird das Wasser aufgefangen und durch ein mehrlagiges Sediment von Steinen, Sand und anderen Materialen gefiltert.“ Am Fuß des Berges steht eine Wasseraufbereitungsanlage, wo das Wasser in Trinkwasserqualität abgefüllt wird. Trinkwasserversorgung war hier, wie im Rest des Landes, weitestgehend privatisiert. Die Rekommunalisierung hat die Wasserpreise nun drastisch reduziert: „Neun mexikanische Pesos (ca. 40 Cent) kostet unser 20 Liter-Behälter, der von Coca-Cola mehr als das Vierfache. Deswegen kaufen jetzt auch alle unser eigenes Wasser.“

Das Regenauffangbecken ist ein Vorzeigeprojekt der jungen Rätedemokratie in Cherán. Doch nicht alle Geschichten nach dem Aufstand sind Erfolgsgeschichten. „In Cherán wird viel von außen reinprojiziert, auch wir selbst müssen aufpassen, Cherán nicht zu romantisieren“, sagt der Lehrer Juan Manuel Rojas. Der 66-Jährige weiß, wovon er spricht. Seit vielen Jahrzehnten ist er in den oppositionellen Kämpfen von Indigenen, Bäuer*innen und Studierenden involviert. Doch dann, 2018, übernahm er zum ersten Mal selbst so etwas wie Regierungsverantwortung, als einer von zwölf K’eris. So heißen die Mitglieder des Ältestenrates, die für jeweils drei Jahre eine zentrale politische Rolle einnehmen. Erst vor wenigen Monaten endete Juans Legislatur im Rat.

Nicht alle Geschichten nach dem Aufstand sind Erfolgsgeschichten

Wenn der Lehrer über die Probleme seiner Gemeinde spricht, tut er das mit einer leisen Stimme und wählt jedes Wort sorgsam. „Wir sind bisher daran gescheitert, die Frage zu beantworten, wie eine Gerechtigkeit basierend auf Traditionen der Purépecha aussehen kann.“ Eine Frage, die sich schon in den ersten Stunden des Aufstandes aufdrängte, nachdem die fünf Holzfäller gefangen genommen wurden. Nur knapp gelang es erfahrenen Gemeindemitgliedern damals, einen Lynchmord an den verhassten Eindringlingen zu verhindern. Aber eine Übergabe der Gefangenen an staatliche Behörden schien ebenfalls undenkbar, zu sehr waren jene selbst mit den Kartellen verbandelt. Nach mehreren Tagen in Haft wollten auch die Gefangenen auf keinen Fall mehr an staatlichen Behörden ausgeliefert werden – zu groß war die Angst, sofort an die Kartelle weitergegeben zu werden und dort wohlmöglich als potenzielle Verräter in Ungnade zu fallen. „Wir haben sie trotzdem übergeben, zwecks mangelnder Alternativen, und dann nie wieder etwas von ihnen gehört.“

Auch 11 Jahre nach dem Aufstand bleibt das Dilemma: Ein juristischer und institutioneller Rahmen auf lokaler Ebene fehlt, um angemessen auf schwere Verbrechen reagieren zu können. „Alle Familien hier kennen sich. Es ist deshalb schwierig, Gerechtigkeit walten zu lassen, ohne dass bei Menschen Ressentiments entstehen. Kleinere Delikte können wir durch Vermittlung lösen, doch bei schweren Verbrechen müssen wir uns an externe Institutionen wenden.“

Zwar gilt Cherán inzwischen als eine der sichersten Städte im Bundesstat Michoacán, doch die gewaltvollen Verhältnisse aus der Umgebung sind hier durchaus spürbar. „Von externen Sicherheitskräften haben wir Hinweise bekommen, dass Cherán nach 2011 zu einem Versteck für Drogenhändler und Drogen geworden ist – denn die Behörden durften ja nicht rein“, erklärt Juan Manuel Rojas. Deswegen kooperieren die Räte heute in Sicherheitsfragen eng mit Landes- und Bundespolizei. Es passt in die pragmatische Linie, die Cherán von anderen indigenen Autonomieprojekten wie den Zapatistas im Süden Mexikos unterscheidet. Für Juan ist klar: „Wir sind Teil des mexikanischen Staates. Wir sind nicht unabhängig und wollen es auch nicht sein“.

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