Herr Schnee gegen Lulas Erbin

So viele Überraschungen boten die brasilianischen Präsidentschaftswahlen seit Jahrzehnten nicht mehr. Als am Abend des 5. Oktober die offiziellen Ergebnisse der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen bekanntgegeben wurden, hatten nur wenige mit diesem Ausgang gerechnet. Dass die amtierende Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT mit 41 Prozent der Stimmen gewann, war erwartbar. Dass der Kandidat der rechtssozialdemokratischen Partei PSDB, Aécio Neves, mit 33 Prozent noch den zweiten Platz erreichte hatten die wenigsten auf der Rechnung. Beide treffen nun am 26. Oktober in der Stichwahl aufeinander.
Die meisten Umfragen hatten die Kandidatin der sozialistischen Partei PSB, Marina Silva, schon in der Stichwahl gesehen. Mit 21 Prozent wurde sie nur Dritte, erzielte damit dennoch einen enormen Achtungserfolg. Die erste Runde der brasilianischen Präsidentschaftswahlen war in der Regel immer ein Duell zwischen zwei Kandidat_innen. Diesmal gab es erstmalig drei Anwärter_innen mit realistischen Chancen. Das de facto Zweiparteiensystem bei brasilianischen Präsidentschaftswahlen, in dem nur Kandidat_innen der PT und der PSDB reale Chancen haben, konnte sich nur knapp behaupten.
Marina Silvas Abschneiden ist um so beachtlicher, da sie für ihren Wahlkampf kaum Zeit hatte. Denn am 13. August 2014 kam der eigentliche Kandidat der PSB, Eduardo Campos, bei einem Flugzeugunglück ums Leben. Silva stieg dadurch von der Vizepräsidentschafts- zur Präsidentschaftskandidatin auf (siehe LN 483/484). Während Campos allenfalls Umfragewerte von 10 Prozent erzielte, entwickelte sich seine Nachfolgerin schnell zur ernstzunehmenden Gegnerin für Präsidentin Dilma Rousseff. In den Umfragen lag sie bald vor Aécio Neves und die Stichwahl erschien als realistisches Ziel.
Mit ihrem Ergebnis hat sich Marina Silva als bedeutende politische Kraft etabliert. Ihr kam zugute, dass sie und ihre Partei weniger mit Korruption assoziiert werden als die Kandidat_innen der PT und der PSDB. Zudem gewann sie viele Stimmen unter den gesellschaftlich immer einflussreicher werdenden evangelikalen Christ_innen, zu denen sie sich zählt. In den Bundesstaaten Acre – ihr Heimatstaat – und Pernambuco – Heimatstaat von Eduardo Campos und Bollwerk der PSB – erhielt Marina Silva noch vor Dilma Rousseff die meisten Stimmen.
Das Duell in der Stichwahl am 26. Oktober heißt nun aber doch Aécio Neves gegen Dilma Rousseff, so wie man es vor Campos‘ Tod erwartet hatte. Der Enkel des ersten gewählten Präsidenten nach der Militärdiktatur, Tancredo Neves, war bereits zweimal Gouverneur des wirtschaftlich wichtigen Bundesstaats Minas Gerais. Bei seiner Wiederwahl 2006 hatte er beachtliche 73 Prozent der Stimmen erreicht. Neves wirbt damit, dass er den Haushalt von Minas Gerais konsolidiert habe. Kritiker_innen sehen dies anders und weisen darauf hin, dass diese vermeintliche Haushaltskonsolidierung zu einem großen Teil mit außerordentlichen Zuwendungen durch die Bundesregierung erreicht wurde und keinesfalls nachhaltig sei. Zudem hat Neves die Ausgaben im sozialen Bereich, insbesondere in der Bildung, massiv gekürzt. Eine Lehrer_innengewerkschaft aus Minas Gerais veröffentlichte jüngst einen Aufruf, Aécio Neves nicht zu wählen. Die PSDB und die großen Medien ignorieren diese Kritiken und verkaufen Neves‘ vermeintliche Haushaltskonsolidierung als große Erfolgsstory, die nun auf ganz Brasilien ausgeweitet werden sollte.
Bereits 2010 wollte Neves Präsidentschaftskandidat der PSDB werden. Er musste sich jedoch seinem parteiinternen Rivalen aus São Paulo, José Serra, geschlagen geben, trat stattdessen für die Wahlen zum Senat an und gewann einen Sitz. Der mit 54 Jahren noch relativ junge Aécio Neves verspricht eine Erneuerung der PSDB, die bislang von wesentlich älteren Politiker_innen aus São Paulo dominiert wird. Eine interne Revolution bedeutete seine Kandidatur jedoch bei weitem nicht. Auch unter Neves stehen die „Tukane“, wie sich die PSDB-Mitglieder wegen ihres Wappentiers nennen, für eine wirtschaftsliberale Politik, die vor allem den Interessen von Industrie und Agrarunternehmen dient.
Neves galt von Beginn der Kampagne an für die Tukane als Hoffnungsträger aber auch als Risiko. Der Präsidentschaftskandidat ist dafür bekannt, gerne und viel zu feiern. Er hat enge Verbindungen zum Politik- und Unternehmerclan der Perrella aus Minas Gerais. Im November vergangenen Jahres wurde ein Helikopter der Perrellas auf ihrem Privatflugplatz mit 450 Kilogramm Kokain von der Polizei gesichert. Zezé Perrella leugnete, irgendwas mit dem Deal zu tun zu haben, die Untersuchungen wurden eingestellt. Auch die größtenteils rechten Medien Brasiliens ließen den Fall schnell auf sich beruhen. Viele unabhängige Blogs im Internet vermuten dahinter die Einflussnahme von Neves‘ Wahlkampfteam und der PSDB. Es kursieren Geschichten von Journalist_innen, die wegen Berichten über den Skandal von großen Verlagshäusern gefeuert wurden.
Das Thema Drogen soll vom Präsidentschaftskandidaten fern gehalten werden. Etliche seiner Mitarbeiter_innen sind damit beschäftigt, Leute zu verklagen, die auf Facebook oder anderen sozialen Medien Drogengerüchte über Aécio Neves verbreiten. „Neves“ heißt auch Schnee, und es scheint, als habe der Kandidat der Tukane mehr mit weißem Pulver zu tun, als nur seinen Namen. Gerüchte, dass Neves Kokain konsumiert, kursieren seit langem in Minas Gerais. Im Juni dieses Jahres wurde er in einer Fernsehshow mit diesen konfrontiert, weigerte sich aber, dazu ernsthaft Stellung zu beziehen. Es handele sich nur um „Gerüchte aus der Unterwelt des Internets“, so Neves.
Seine Gegner_innen kritisieren seinen Umgang mit den Medien. Sie weisen darauf hin, dass Neves mehrfach massiven Druck auf Zeitungen ausübte, die über Korruptionsskandale in seinem Umfeld berichtet hatten. So schrieb die Lehrer_innengewerkschaft von Minas Gerais, dass Aécio Neves „am Rande des Ausnahmezustands“ regiert habe. Als Gouverneur erließ er zahlreiche Gesetze als Dekrete am Kongress vorbei. Viele Aktivist_innen und linke Blogger_innen attestieren Neves deshalb ein zweifelhaftes Demokratieverständnis.
Die Kritik hat Aécio Neves bislang wenig geschadet, nicht zuletzt wegen der massiven Unterstützung seitens der rechten Medien. Die Umfrageergebnisse sehen zu Redaktionsschluss Neves und Rousseff Kopf an Kopf. Das Meinungsforschungsinstitut Datafolha hat den Tukan mit 46 gegenüber 44 Prozent für Rousseff ebenso vorne wie das Konkurrenzunternehmen IBOPE mit 51 Prozent gegenüber 49 Prozent. Angesichts einer Fehlerspanne von 2 Prozent sind sie damit gleichauf. Das anerkannte linke Politikmagazin Carta Capital verwies jedoch auf die ohnehin fragwürdigen Umfrageergebnisse, angesichts der miserablen Vorhersagen zum Wahlergebnis von Marina Silva.
Am Ende werden die meisten reichen Brasilianer_innen wohl Aécio Neves wählen, die meisten Armen der Präsidentin den Vorzug geben. So ist es kein Wunder, dass im ärmeren Norden eher PT gewählt wurde und im reicheren Süden eher PSDB. Der traditionellen Ober- und Mittelschicht fällt aber wenig mehr ein, als die Korruption der PT und das schwache Wirtschaftswachstum zu geißeln. Dabei zeigen unabhängige Studien, dass die PSDB in weit mehr Korruptionsskandale verstrickt ist als die PT oder die mit ihr verbündete Mitte-Rechtspartei PMDB. Insbesondere im letzten Jahr sind die Angriffe der rechten Medien auf die PT-Regierung deutlich hasserfüllter geworden.
Hinter dem Hass auf die Arbeiterpartei stehen vor allem Ressentiments. Ein Kommentar auf dem linken Internetportal Carta Maior erwähnte, dass hinter dem „Anti-Petismo“ genannten Phänomen der alte Rassismus der traditionellen Elite stehe. Diese könne es nicht ertragen, dass nun auch Menschen aus den ärmeren Schichten in die Mittelschicht aufstreben, gesellschaftliche Teilhabe einfordern und auch bekommen. Dahinter stehe die Sehnsucht nach dem alten Brasilien, dass vor allem den reichsten 30 Prozent der Gesellschaft diene.
Zwar macht sich auch bei den ärmeren Bevölkerungsschichten Enttäuschung über die PT Regierung breit, die sich allzu oft an den Interessen der Wirtschaft orientiert hat und alte Entwicklungskonzepte verfolge. Dennoch bleiben viele der Arbeiterpartei treu, schließlich hat diese die verschiedenen Wohlfahrtsprogramme eingeführt, welche eine deutliche Besserung für die Ärmsten des Landes gebracht haben. Zudem sehen viele in der PT immer noch das kleinere Übel als die wirtschaftsliberale PSDB. Viele befürchten unter einer Regierung von Aécio Neves eine Privatisierungswelle wie zu Zeiten des Präsidenten Fernando Henrique Cardoso (1995-2002), dem Mentor von Aécio Neves.
Am stärksten schnitt die PSDB im bevölkerungsreichsten und wirtschaftsstärksten Bundesstaat São Paulo ab, ihrem traditionellem Hoheitsgebiet. Dort konnte sich auch im ersten Wahlgang der regierende Gouverneur Geraldo Alckmin mit über 70 Prozent der Stimmen durchsetzen. Neves war hier der stärkste Präsidentschaftskandidat. Carta Capital aus São Paulo schrieb dazu, die Wahlen zeigten, dass der Bundesstaat der reaktionärste des Landes sei. In Minas Gerais, der Heimat von Aécio Neves, lag dagegen Dilma Roussef vorn und auch das Gouverneursamt ging dort an die Arbeiterpartei PT verloren.
Angesichts dieser unklaren Lage wird nun interessant, wie sich andere Parteien und gesellschaftliche Gruppen positionieren. Carta Capital ruft zur Wahl von Dilma Rousseff auf, ebenso die einflussreiche Bewegung der Landlosen Arbeiter MST und viele Gewerkschaften. Die wichtigste linke Partei PSOL bleibt eher neutral: Sie rät ihren Unterstützer_innen, ungültig oder zumindest nicht für Neves zu stimmen. Wie sich die PSB zur Wahl verhält war zum Redaktionsschluss unklar. Marina Silva wirbt eher für ein Bündnis mit den Tukanen, andere in der PSB raten zu Neutralität.
Faktisch wird es vermutlich wenig Bedeutung haben, wer die Stichwahl gewinnt. Die Kongresswahlen, die ebenfalls am 5. Oktober stattfanden, ergaben eine deutliche rechte Mehrheit. Der Gewerkschaftsverband DIAP schrieb bereits vom „rechtesten Kongress seit 1964“ (dem Jahr, als die Militärdiktatur begann, Anm. d. Red.). Zwar werden die PT und die mit ihr verbündete PMDB die Mehrheit stellen, aber letztlich dominieren Vertreter_innen der Industrie und der Agrarunternehmen beide Kammern. Gegen sie wird Dilma Rousseff nicht regieren können. Sollte sich Aécio Neves, der Kandidat der Wirtschaft, durchsetzen, wäre es politischer Selbstmord, würde er die Wohlfahrtsprogramme einstampfen. Wer immer am 26. Oktober gewinnen wird, regiert wird wohl wie bisher: Mit Unterstützungsprogrammen für die Armen, aber ohne die grundsätzlichen Strukturen zu hinterfragen, die die Interessen der traditionellen Eliten stützen.

Das Spiel der Malucos

„Os Mortos, Vicio, TMX, Sustos, Lixomania”. Thiago* zeigt auf das vollgesprühte Hochhaus. Riesige, verschnörkelte Buchstaben zieren die komplette Fassade des Gebäudes. „Die Schriftzüge stehen für einen Namen oder eine Gruppe.“
Thiago ist pixador und nennt sich Poder. Seit fast 20 Jahren sprüht er. „Als Kind haben mich die Schriftzüge fasziniert und ich habe mit pixação angefangen“, erinnert er sich. Mit Freund_innen aus der Nachbarschaft gründete Poder 1997 die Chamas-Crew, eine heute bekannte Sprüher_innengruppe aus dem Norden São Paulos. Immer noch zieht es den heute 30-Jährigen jeden Donnerstagabend ins Zentrum vor die Galeria Olido. Die Rua Dom José de Barros ist bei Tag eine belebte Einkaufspassage. Doch wenn es dunkel wird und die Rollläden der Geschäfte heruntergelassen werden, versammeln sich pixadores aus allen Teilen São Paulos in der engen Gasse im Herzen der Millionenstadt. Der Geruch von Marihuana liegt in der Luft. Aus einer Bar dröhnt laute Rap-Musik. Es wird getrunken und diskutiert. Die meisten Anwesenden sind jung, schwarz und männlich. Gefaltete Blätter, die folhinhas, werden herumgereicht, auf denen die Sprüher_innen unterzeichnen. In der Szene gilt es als Zeichen des Respekts, nach der „Unterschrift“ eines anderen pixadors zu fragen. Der sogenannte „Point“ ist zweifellos der wichtigste Treffpunkt der pixadores in der Stadt.
Pixação entstand Anfang der 1980er Jahre in São Paulo und ist eine spezielle Form des Graffitis beziehungsweise des Taggens (Signaturkürzel der Sprüher_innen, Anm. d. Red.). Als Vorläufer gelten die politischen Slogans, die Gegner_innen der Militärdiktatur an die Wände der brasilianischen Großstädte malten. In Stil, Anordnung und Aussage unterscheidet es sich jedoch von allen verwandten Arten, die man aus Europa, den USA und anderen brasilianischen Städten kennt. „Pixação wurde in den Straßen von São Paulo geboren, diese Art zu malen gibt es nur hier“, sagt Poder. Die einfarbigen, kryptischen Buchstaben bedecken mittlerweile große Teile der Metropole. Man findet kaum noch eine Mauer, Brücke oder ein Gebäude ohne die eigenwilligen Markierungen. Die ersten pixadores waren Heavy-Metal-Fans und eigneten sich die Schriftzüge ihrer Lieblingsbands an. Auch der Einfluss von nordischen Runen ist bis heute sichtbar. „Die Sprache der Barbaren von damals ist die Sprache der Barbaren von heute“, sagt der Fotograf und Szenekenner Choque.
Das Stadtbild mit zu prägen hat seinen Preis. Da die höchsten und gefährlichsten Orte am meisten Anerkennung bringen, setzen sich die pixadores beim Sprühen einem enormen Risiko aus. In waghalsigen Aktionen klettern sie die Fassaden von Hochhäusern hinauf, um in schwindelerregender Höhe ihre Schriftzüge anzubringen. Oft kommt es zu schweren Unfällen. Auffällig viele Rollstuhlfahrer_innen sind am Point anzutreffen. „Die meisten von denen sind beim Sprühen abgestürzt“, erklärt Poder, der selbst mehrere Freunde bei Unfällen verloren hat. Pixação ist damit wohl die einzige Kunstform, bei der die Künstler_innen ihr Leben riskieren. Auch kommt es nicht selten zum Bruch mit der Familie und dem sozialen Umfeld. „Alle sagen, dass ich meine Zukunft aufs Spiel setze und verrückt bin. Sie haben recht, aber ich kann nicht aufhören. Pixação ist eine Sucht“, sagt Poder.
Bei regelrechten Kriegen zwischen verfeindeten Crews ließen zudem in der Vergangenheit viele pixadores ihr Leben. Wie auch beim Graffiti organisieren sich die Sprüher_innen nämlich in Gruppen, den sogenannten grifes oder bondes. In der Regel bestehen diese aus fünf bis zehn Mitgliedern. Die Szene ist nach wie vor männlich dominiert, jedoch beginnen auch immer mehr Frauen mit pixação. Die Gruppenzugehörigkeit und ein territorialer Bezug spiegeln sich in den gesprühten Buchstaben wieder. Meist wird erst das eigene Kürzel gesprüht, gefolgt vom Namen der Gruppe und des Stadtteils.
Poder ist wie die große Mehrheit der pixadores in der Peripherie von São Paulo aufgewachsen. Im Gegensatz zum modernen und wohlhabenden Zentrum fehlt es in den Randgebieten der Stadt an grundlegender Infrastruktur und Bildungsmöglichkeiten. Armut, Gewalt und Chancenlosigkeit bestimmen das Leben vieler Bewohner_innen. Mittlerweile lebt Poder in einem besetzten Haus in der Innenstadt. Das Gebäude wurde von wohnungslosen Familien besetzt, nachdem sie aufgrund der stetig steigenden Mieten ihre Häuser verlassen mussten. Während viele pixação als Vandalismus und Langeweile von Jugendlichen abtun, sehen andere wie der Soziologe Sergio Franco die Bewegung vielmehr als eine Gegenöffentlichkeit von marginalisierten Jugendlichen, die auf eine eigene und unkonventionelle Weise auf ihre alltägliche Ausgrenzung und Diskriminierung reagieren. „Pixação ist die Stimme derer, die keine Stimme haben”, erklärt Franco.
„Für mich ist pixação zu 100 Prozent politisch und war immer eine Form des Protests gegen die Verhältnisse“, sagt Poder. Die pixadores eignen sich bestimmte Punkte der Stadt symbolisch an und verschaffen sich damit Aufmerksamkeit. Mit der brutalen Gestalt der Buchstaben brechen sie bewusst mit ästhetischen Standards. Die Provokation ist gewollt. Die Bewegung lebt von der Ächtung. „Für mich sind das bloß Kriminelle“, sagt Alvaro Santos, der ein kleines Geschäft auf der Rua Helvetia betreibt.
Im Gegensatz zu pixação hat es die Graffiti-Szene in Brasilien geschafft, die gesellschaftliche Abneigung zu überwinden und Einzug in den Mainstream zu halten. São Paulo gilt seit Langem als Welthauptstadt des Graffitis, die bunten Wände der Millionenstadt sind Touristenattraktion. Etliche Graffiti-Maler_innen der Stadt haben den Durchbruch auf dem internationalen Kunstmarkt geschafft. Die Werke der Zwillinge Os Gemeos werden in Kunsthallen von New York bis Tokio gehandelt. „Immer mehr Graffiti-Maler_innen stellen ihre Werke in Galerien aus. „Für die pixadores wäre so was undenkbar“, sagt der Sprüher AmorOdio. Diese suchen bewusst den Bruch mit der Gesellschaft. Mit spektakulären Aktionen gelingt es den pixadores immer wieder Unverständnis und Hass auf sich zu ziehen. Im Jahre 1991 reisten zwei Jugendliche aus São Paulo nach Rio de Janeiro und besprühten die Christusstatue, das heißgeliebte Symbol der Stadt. Mehrmals „überfielen“ Gruppen von pixadores Vernissagen und Galerien und übermalten Kunstwerke. Im Jahre 2010 folgten zwei pixadores der Einladung zur Biennale nach Berlin. Statt auf der vorgesehenen Fläche zu malen, kletterten die beiden die St.-Elisabeth-Kirche in der Invalidenstraße hinauf und besprühten das Bauwerk. Beim darauffolgenden Handgemenge schütteten die beiden dem Kurator Artur Zmijewski gelbe Farbe über den Anzug.
Die pixadores werden jedoch nicht nur von der Gesellschaft, sondern auch von staatlicher Seite scharf beobachtet. Die Polizei geht alles andere als zimperlich mit ihnen um. „Wenn sie uns erwischen, leeren sie die Sprühdosen auf unseren Gesichtern und unserer Kleidung aus und verprügeln uns“, erklärt AXS, der seit vier Jahren Sprayer ist und in São Mateus, am äußersten Rand von São Paulo, lebt. Auch an diesem Donnerstagabend vor der Galeria Olido zeigt die Polizei ihre harte Hand. Wie aus dem Nichts erscheinen mehrere Polizist_innen mit gezogener Waffe am Point. Die Beamt_innen greifen sich eine Gruppe von fünf Jugendlichen und drücken diese unsanft gegen die Fassade eines Schuhgeschäftes. Bis auf einige Sprühdosen und Marker finden die Polizist_innen jedoch nichts und müssen die Jugendlichen laufen lassen. „Die Repression ist Alltag. Sie versuchen uns fertig zu machen“, sagt TNS von den legendären Os Mais Imundos, den „Dreckigsten“.
Anfang August endete ein Polizeieinsatz tödlich. Heute erinnert vor dem Gebäude auf der Avenida Paes de Barros nichts mehr an die traurigen Ereignisse. Jets und Anormal, zwei bekannte pixadores aus dem Osten São Paulos, waren losgezogen, um das 17-stöckige Gebäude im Stadtteil Mooca zu besprühen. Die beiden schmuggelten sich am Pförtner vorbei und fuhren mit dem Aufzug in die letzte Etage. Was dann geschah, ist unklar. Die Polizei erklärte später, dass es sich um Banditen handelte und deshalb das Feuer eröffnet wurde. Die Familien der Opfer bestreiten dies und erklärten, dass die beiden entgegen der Aussage der Polizist_innen unbewaffnet gewesen seien. „Mein Mann war kein Krimineller, sondern pixador“, sagte die Witwe von Jets später in einem Fernsehinterview. „Die Polizist_innen wussten ganz genau, warum die beiden an dem Gebäude hinaufkletterten. Sie wussten, dass es pixadores waren und keine Einbrecher. Das war Mord“, sagt Poder, der Jets kannte und mehrmals mit ihm zusammen gesprüht hat. Eine Woche vor seinem Tod erzählte Jets ihm von seinen Plänen, das Gebäude in Mooca zu bemalen. „Warum sie geschossen haben? Das ist eine Playboy-Gegend, ein schicker Stadtteil. In den letzten Wochen gab es dort viele Beschwerden wegen pixação. Sie haben die Gelegenheit genutzt und jemanden von uns ermordet.“ In der Tat waren die beteiligten Polizist_innen schon vorher in ähnlich zweifelhafte Fälle mit Todesfolge verwickelt. Obwohl die Beamt_innen vom Dienst suspendiert wurden und ein Verfahren eingeleitet wurde, gibt es kaum Hoffnung auf eine Verurteilung.
„Die ersten Wochen nach dem Tod von Jets und Anormal waren alle geschockt. Jeder kannte die beiden“, sagt Poder. Für die versammelten pixadores am Point war Jets einer der wichtigsten und besten Sprüher der letzten Jahre. Jeden Tag sei er nach der Arbeit sprühen gegangen. Nach den tödlichen Schüssen folgten wütende Demonstrationen gegen Polizeigewalt, eine Neuheit für die Szene, die sich sonst nie direkt politisch äußert. Wochenlang sprühten pixadores in der ganzen Stadt die Namen der beiden Toten. „Je mehr sie versuchen uns zu unterdrücken, desto mehr werden wir malen“, sagt Poder, gegen den mehrere Gerichtsverfahren wegen Sachbeschädigung laufen. Trotz wachsender Repression scheint die Stadt mit pixação überfordert zu sein. Die Einsätze der Polizei wirken angesichts der tausenden Sprüher_innen oft wie ein Tropfen auf den heißen Stein. „Pixação wird niemals sterben, denn wir sind malucos, Verrückte.“ Poder trinkt sein Bier aus und verabschiedet sich für heute vom Point. Er habe noch Pläne, sagt er. Sprühdosen klackern in seinem Rucksack, als er in der Nacht der Millionenstadt verschwindet.

* Name von der Redaktion geändert

Der Höhenflug der Raben

Alle reden vom Papst, die Lateinamerika Nachrichten von Osvaldo Soriano. Nach dem Triumph bei der Copa Libertadores, quasi der südamerikanischen Fußball-Champions League, Mitte August unterließ keine Zeitung in Deutschland den Hinweis auf das berühmteste Mitglied des Club Atlético San Lorenzo de Almagro: Jorge Mario Bergoglio, einst Kardinal von Buenos Aires und inzwischen als Papst Franziskus in Rom tätig: Mitgliedsnummer 88235N-1, Eintrittsjahr 2008. 2008 war Osvaldo Soriano schon elf Jahre tot und so fiel 2014 in deutschen Gefilden der Name des zu Lebzeiten enorm populären Schriftstellers nicht, obwohl davon ausgegangen werden muss, dass Soriano im Himmel weit eher den gängigsten Schlachtruf der cuervos (die Raben) in die Realität umzusetzen pflegt, als der Stellvertreter des Herrn auf Erden: „Wir trinken den besten Wein aus Flaschen, und rauchen alles Gras, das wir kriegen können. Ohhh San Lorenzo. Ohhh San Lorenzo.“
In Madrid gibt es einen nach Osvaldo Soriano benannten Fanclub von San Lorenzo und selbst der Papst dürfte nicht bestreiten, dass Sorianos Zeugnisse der Leidenschaft nicht zu übertreffen sind: „Im Fußball wählt man sich keinen Siegerclub aus. Fan von San Lorenzo zu sein, ist ein Schrecken ohne Ende, eine Last, die man das ganze Leben mit sich schleppt, mit derselben Mischung aus Bestürzung und Stolz wie die Last, ein Argentinier zu sein.“ Der 1943 geborene Soriano hat zwar einige Erfolge erlebt, ein paar argentinische Meisterschaften zum Beispiel und vor allem die Ära, in der sein Idol José Sanfilippo von 1958 bis 1961 viermal in Folge Torschützenkönig wurde – mehr als die Meisterschaft 1959 sprang an Trophäen dabei aber nicht heraus.
San Lorenzo, das neben cuervos auch als ciclón (Wirbelsturm) firmiert, gehört zwar neben Boca Juniors, River Plate, Racing Club, Independiente zu den großen fünf Traditionsvereinen aus Buenos Aires, doch das verdankt der Club mehr seiner treuen Anhängerschaft als allzu großen Erfolgen. Da haben die anderen vier und noch ein paar weitere Vereine aus der Hauptstadt, wie z.B. Vélez Sársfield, mehr zu bieten als bis dato San Lorenzo. Umso enthusiastischer wurde den beiden Finalspielen der durch die Fußballweltmeisterschaft unterbrochenen Copa Libertadores entgegengefiebert. San Lorenzo konnte sich in der Gruppe nur mit Mühen und mit der niedrigsten Punktzahl ins Achtelfinale retten, von da an lief es aber immer besser, bis das Finale gegen Nacional Asunción aus Paraguay erreicht wurde. Und nach dem 1:1 beim Hinspiel in Asunción gab es kein Halten mehr. Bereits direkt nach dem Abpfiff pilgerten die ersten Fans in Buenos Aires zu den Ticketschaltern, in der Hoffnung, eine Karte fürs Rückspiel zu ergattern. Bis zu zwölf Stunden lang zelteten 100.000 Anhänger_innen bei winterlichen Temperaturen vor dem Nuevo-Gasómetro-Stadion im Stadteil Bajo Flores. Die Warteschlange war mehr als zehn Häuserblocks lang. Im Internet wurden 15.000 US-Dollar für eine Karte verlangt. Ein Besitzer wollte als Tausch gar einen Arbeitsplatz. Ob dieses Tauschgeschäft zustande kam, ist bislang nicht publik geworden.
Das Nuevo-Gasómetro-Stadion, indem San Lorenzo seit 1993 seine Heimspiele in Sichtweite zu einem villa miseria (Elendsviertel) in Bajo Flores auszutragen pflegt, fasst nur gut 40.000 Zuschauer_innen. So war klar, dass die meisten leer ausgehen mussten, zumal Klubmitglieder und Dauerkarteninhaber_innen vorrangiges Zugriffsrecht hatten. Umso größer dann die Feier nach dem 1:0-Zittersieg, die vor allem in den drei nebeneinanderliegenden Stadtteilen Boedo, Caballito und Almagro zelebriert wurde, an deren Schnittstelle das Viejo-Gasómetro-Stadion lag, das Herz des Vereins, bevor es einem Supermarkt weichen musste. Osvaldo Soriano hat wie kein anderer in seiner großartigen Kurzgeschichte Tor von Sanfilippo (siehe den Text in dieser LN-Ausgabe) diesen Verlust literarisch prägnant verewigt.
Der Traum von der Copa Libertadores ist Wirklichkeit geworden und der Traum vom Gewinn des Weltpokals, vorzugsweise gegen Real Madrid im Dezember bei der Clubweltmeisterschaft in Marokko, lebt ebenso wie der Traum der Träume: die Rückkehr an den Ort des alten Stadions einschließlich Neubaus. Was lange Zeit jenseits des Möglichen erschien, ist dank der Beharrlichkeit vieler Fans in den Bereich des Möglichen gerückt worden. Über 100.000 demonstrierten im Mai 2012 in Buenos Aires für die Rückübereignung des Stadiongeländes, zogen zur Plaza de Mayo und vor den Präsident_innenpalast Casa Rosada. Der für die Causa zuständige Stadtrat zeigte sich beeindruckt: Er beschloss Ende 2013 einstimmig, dass der Verein sein altes Gelände zurückerhalte. Das Unternehmen Carrefour solle sich mit San Lorenzo über einen Kaufpreis einigen, ansonsten werde der Supermarkt enteignet.
Just als Enteignung wird der Verlust des Stadions 1979 inmitten der Militärdiktatur (1976-83) von vielen Anhänger_innen betrachtet. „Haben Sie Kinder an der Universität?“, soll der von den Militärs eingesetzte Bürgermeister Osvaldo Cacciatore den San-Lorenzo-Präsidenten Vicente Bonina gefragt haben. Und als der bejahte, habe Cacciatore gesagt: „Dann rate ich Ihnen, das zu tun, worum ich Sie bitte.“ Solche Worte waren 1979 als unmissverständliche Drohung zu verstehen: Unter den 30.000 Todesopfern, die die Diktatur auf dem Gewissen hat, waren unzählige Student_innen.
San Lorenzo stimmte schließlich dem Verkauf zu. Das im Gegenzug erhaltene Ersatzgelände in Bajo Flores liegt weitab von den Ursprüngen des Vereins und dementsprechend fehlt es dort an sozialer Verwurzelung.
Der Deal rund ums Stadion hat weiteren unappetitlichen Beigeschmack. Aus dem von Cacciatore dem San Lorenzo-Präsidenten unterbreiteten Ansinnen, das Gelände für Straßen und Siedlungsbau dringlichst zu brauchen, war kurz nach dem Verkauf nicht mehr die Rede. Das Gelände wurde für 900.000 US-Dollar an eine Scheinfirma aus Uruguay verscherbelt. Diese wiederum reichte die rund 35.000 Quadratmeter zwei Jahre später für acht Millionen US-Dollar an den französischen Handelskonzern Carrefour weiter. Wer dabei alles die Hand aufhielt, ist ungeklärt. Carrefour errichtete dort seinen ersten Supermarkt in Argentinien und setzte seine Expansion in der Folgezeit fort.
Das nach dem benachbarten Gaswerk benannte Viejo Gasómetro, das Ende der 20er Jahre im vorigen Jahrhundert gebaut wurde, hatte in frühen Zeiten ein Fassungsvermögen von rund 80.000 Zuschauer_innen. Deshalb, wegen seiner Holztribünen und wegen der atemberaubenden Atmosphäre, galt es als „el wembley argentino“.
Bis zu seinem Wiederaufbau gilt es aber noch einige Steine aus dem Weg zu räumen. Der Verkaufspreis wurde von der Restitutionsbehörde mit 92 Millionen Peso angesetzt. An die 20 Millionen haben die auf vier Millionen geschätzten Fans und die 60.000 Mitglieder schon gesammelt, die ersten Raten an Carrefour sind geflossen. Zudem soll das Nuevo Gasómetro an die Stadt verkauft werden.
Vizepräsident Marcelo Tinelli, Kultfigur im argentinischen Fernsehen und Sponsor des Klubs, sowie sein Anwalt Matías Lammens, der als Präsident amtiert, sind auf alle Fälle optimistisch, dass es bereits 2016 mit dem Beginn des auf 75 Millionen US-Dollar veranschlagten Neubaus klappt und zwei Jahre später wieder in Boedo gespielt wird: Dann im Stadion „Papa Francisco“, wie der Klub per Twitter am 11. September bekanntgab. Der Gegner für das Wunscheröffnungsspiel ist unumstritten: der Erzrivale Huracán, der derzeit in der 2. Liga dümpelt.
Was die nach den rabenschwarzen Soutanen der Priester, die 1908 einst den ersten Vereinsfußballplatz auf einem Kirchengelände bereitstellten, benannten cuervos in ihrem Optimismus beflügelt, ist der sportliche Aufschwung, den der Verein nach seinem zwischenzeitlichen Abstieg in die zweite Liga vor allem seit dem Antritt von Papst Franziskus genommen hat: Seit Bergoglios Ernennung hat sich San Lorenzo vom hoch verschuldeten Abstiegskandidaten zum Verein mit Titelambitionen gewandelt. Im Dezember 2013 wurde schließlich der erste Meistertitel nach sechs Jahren errungen. Mannschaft und Klubführung reisten mit der Trophäe im Gepäck natürlich gleich mal in den Vatikan zur Audienz beim glücklichen Papst. In diesem Jahr setzte das Team dann seinen Siegeszug auch in der Copa Libertadores fort und auch danach gab es eine Papst-Audienz. In Argentinien ist schon vom Papsteffekt die Rede. Den Segen von Osvaldo Soriano hat diese Entwicklung gewiss.

Tor durch Sanfilippo

Lieber Eduardo,

Neulich war ich im Supermarkt „Carrefour“, da, wo früher das Stadion von San Lorenzo stand. Es begleitete mich José Sanfilippo, der Held meiner Kindertage, Torschützenkönig von San Lorenzo in vier aufeinanderfolgenden Spielzeiten. Da bummelten wir also zwischen den Regalen umher, umgeben von Kochtöpfen, Käse und Knackwürsten. Als wir schon auf die Kasse zugehen, breitet Sanfilippo plötzlich die Arme aus und meint: „Wenn ich daran denke, dass ich hier Roma eins mit dem Außenspann reingesetzt habe, damals bei dem Spiel gegen Boca …“ Er schneidet einer Dicken den Weg ab, die einen Karren mit Dosen, Fleischpackungen und Gemüse vor sich herschiebt, und sagt: „Das war das schnellste Tor der Geschichte.“
Ganz konzentriert, so, als erwarte er einen Eckstoß, erzählt er weiter: „Ich hab damals der Nummer fünf, einem Neuling, gesagt: Sobald das Spiel losgeht, gibst du mir eine weite Flanke in den Strafraum. Reg dich nicht auf; ich lass dich schon nicht schlecht aussehen. Ich war älter und er ein Jungspund, Capdevilla hieß er der erschrak und dachte: Mal seh’n, ob ich das tue. „Und ohne zu Zögern zeigt Sanfilippo auf einen Turm aus Mayonnaisegläsern und ruft: „Genau hier hat er ihn mir hingespielt!“ Die Leute sehen uns verwundert an. „Der Ball kam hinter den Mittelverteidigern runter, ich rannte los, doch er kam noch ein bisschen weiter vorne runter, ungefähr da, wo der Reis steht, siehst du?“ Er zeigt auf ein Regal den Gang hinunter und rennt plötzlich los wie ein Hase, trotz des dunkelblauen Anzugs und der gewienerten Schuhe: „Ich ließ ihn runterkommen und Bumm!“ Mit links tritt er nach dem Ball. Alle drehen wir uns zu den Kassen um, dahin, wo vor mehr als dreißig Jahren das Tor stand, und wir alle meinen den Ball fliegen zu sehen; genau da, wo die Batterien und die Rasierklingen hängen. Sanfilippo reißt jubelnd die Arme hoch. Die Kunden und die Kassiererinnen klatschen sich die Hände wund. Ich fange fast zu weinen an. Der „Nene“ Sanfilippo hatte das Tor von 1962 noch einmal geschossen, nur damit ich es zu sehen bekam.

Auszug aus dem Buch Der Ball ist rund und Tore lauern überall von Eduardo Galeano, Seite 144-145.
Wir danken dem Peter Hammer Verlag für die freundliche Abdruckerlaubnis.

Von Eduardo Galeano ist im Peter Hammer Verlag zuletzt erschienen: Kinder der Tage, Wuppertal 2013, 416 Seiten, 24,- Euro

Infokasten

Osvaldo Soriano
Auch fast 20 Jahre nach seinem Tod gehört der 1943 in Mar del Plata geborene Osvaldo Soriano zu den populärsten Schriftstellern Argentiniens. Das lässt sich daran ermessen, dass die 2004 vom Verlag Seix Barral gestartete Neuauflage aller seiner Werke in der Biblioteca Soriano so gut wie vergriffen ist. Das gilt auch für seine auf deutsch übersetzten Werke wie sein hierzulande bekanntestes Werk Das Autogramm, eine Parabel auf die Militärdiktatur, die vom deutsch-jüdisch-uruguayischen Regisseur Peter Lilienthal verfilmt wurde. Osvaldo Soriano war Autodiktat ohne Schulabschluss und fand dennoch oder gerade deshalb immer die treffenden Worte. Wie seine Lieblingstiere, die Katzen, war er hauptsächlich nachtaktiv. Seine Tätigkeit als Schrifsteller und Kolumnist der Tageszeitung Página 12 erlaubte dies problemlos. 1997 starb Osvaldo Soriano an Lungenkrebs und wird seitdem schmerzlich vermisst – nicht nur bei San Lorenzo, seinem über alles geliebten Fußballverein.

„Wir suchen Dich seit 10 Weltmeisterschaften”

Die Großmütter der Plaza de Mayo hatten Grund zur Freude, als Ende Juni mit Ricardo Luis Von Kyaw ein seit vier Jahren per Haftbefehl gesuchter Militärverbrecher der argentinischen Justiz übergeben wurde. Die Flucht des 66-Jährigen fand an der Grenze Panamas ein Ende, wo er wegen gefälschter Ausweispapiere festgesetzt wurde. Von Kyaw, Geheimdienstoffizier während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983, werden Verbrechen gegen die Menschheit vorgeworfen. Besonders schwer wiegt sein Wirken in dem klandestinen Gefängnis und Folterzentrum La Cacha in der Provinz Buenos Aires. Konkret wird er für das Verschwindenlassen von 137 Personen angeklagt. Zudem wird ihm die Verwicklung in Kindesraub vorgeworfen, so wie im Fall Sebastián Casado Tasca.
Jener Casado Tasca fungiert in den Zählungen der Großmütter-Organisation als Enkel Nummer 82. Im Jahr 2006 wurde seine wahre Identität „wiederhergestellt“ – wie es im lokalen Sprachgebrauch heißt. Der nieto restituido (zurückgewonnener Enkel) war im März 1978 in Gefangenschaft geboren worden. Seine Eltern, oppositionelle Jurastudierende aus La Plata, wurden Ende 1977 entführt und verschwunden gelassen – ihre Leichen sind bis heute nicht gefunden. Ihr Sohn wurde kurz nach der Geburt an ein regimetreues Ehepaar übergeben und wuchs wie viele geraubte Kinder ohne Kenntnisse seines eigentlichen familiären Hintergrundes auf. In dem Gerichtsverfahren gegen Casado Tascas Adoptivmutter Silvia Molina und die Polizeimedizinerin, die seine Geburtsurkunde gefälscht hatte, gab der Enkel 82 zu Protokoll, er hätte sich nie vorstellen können, Sohn einer Verschwundenen zu sein – bis die ersten Zweifel aufkamen. Die Suche nach seiner wahren Herkunft begann im Jahr 2000, als er durch seine Schwester erfuhr, dass beide adoptiert waren. „Es ist ziemlich schwierig, nichts zu tun, wenn die ersten Zweifel aufkommen“, erinnert er sich auf der Webseite der Großmütter.
Casado Tascas Spurensuche begann mit wahllosen Internet-Suchanfragen. Es folgten Vergleiche der eigenen Gesichtszüge mit den Bildern von Verschwundenen. Schließlich wandte er sich an die Nationale Kommission für das Recht auf Identität (Conadi), wo ihm erst Fotos seiner vermuteten Eltern Caspar Casado und Adriana Tasca vorgelegt wurden und letztlich ein DNA-Test Klarheit brachte.
Der Fall des heute 36-Jährigen ist exemplarisch für die „wiedergewonnenen“ Enkel_innen. Sicher geglaubte Gewissheiten werden zur Makulatur. Das unhinterfragte Familienverhältnis wird von der Realität eingeholt. So drängt sich die Frage auf, inwieweit die sozialen Eltern am Tod der biologischen Eltern Verantwortung tragen. Für die „wiedergewonnenen“ Kinder ist das Finden der eigentlichen Identität in der Regel eine komplette Neudefinition der eigenen Person, die voller Widersprüche ist. In seiner Aussage unterstrich Casado Tasca, dass er durchaus eine affektive Bindung zu seiner Adoptivmutter verspüre, obwohl sie ihm seine Herkunft verschwiegen habe. Molina wurde unlängst zu einer Haftstrafe von fünf Jahren verurteilt. Tascas Vater, dem als Gewerbetreibender eine Nähe zu den Mitgliedern des militärischen Geheimdienstes attestiert wird, ist bereits 2005 verstorben und wurde niemals zur Rechenschaft gezogen. Casado Tasca selbst gab an, dass er sich nicht nur seiner Eltern, sondern auch 27 Jahre seines Lebens beraubt fühle. Dennoch bemerkt er: „Meine Geschichte wiederzuerlangen war unglaublich. Meine biologische Familie zu finden ist das Schönste, was mir zeitlebens passiert ist.“
Auch im 37. Jahr ihres Bestehens wird die Vorsitzende der Großmütter der Plaza de Mayo, Estela de Carlotto, nicht müde zu betonen, dass immer noch 400 Enkel fehlen. Alle zwischen 1975 und 1980 Geborenen, die Zweifel an ihrer Identität haben, sind dazu aufgerufen, sich bei einer eigens geschalteten Hotline zu melden. Anlässlich der feierlichen Verkündung der jüngsten wiedergewonnenen Enkelin im Februar dieses Jahres, wies de Carlotto darauf hin, dass mit jedem weiteren entdeckten Enkelkind die Sichtbarkeit ihres Anliegens nach Gerechtigkeit, Verurteilung und Recht auf Identität steige.
Für die öffentliche Wahrnehmung sorgt aktuell ein in bester WM-Werbezeit ausgestrahlter TV-Spot der Organisation, in dem Lionel Messi die Suche nach den widerrechtlich angeeigneten Enkel_innen mit dem Ausspruch „Wir suchen dich seit 10 Weltmeisterschaften“ unterstützt. Der Menschenrechtsdiskurs ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Untrennbar verbunden ist er mit dem linksperonistischen Kirchnerismus, der seit der ersten Regierungsübernahme im Jahr 2003 die Weichen für eine veränderte Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit Argentiniens gestellt hat. Zahlreiche Enkelkinder bekleiden leitende Funktionen kirchneristischer Organisationen, der wohl bekannteste Vertreter ist Horacio Petragalla, der für das Parteienbündnis Frente para la Victoria der Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner im Abgeordnetenhaus sitzt. Dabei scheiden sich viele der Menschenrechtsorganisationen an der Frage, welche Haltung zum Kirchnerismus und seiner Kooptierungsstrategien (siehe LN 395) einzunehmen sei. Lediglich die Großmütter der Plaza de Mayo haben es bis dato vermeiden können, sich in einen regierungstreuen und einen oppositionellen Flügel zu spalten. Bei den Müttern der Plaza de Mayo und den Organisationen der Kinder der Verschwundenen konkurrieren regierungsnahe mit regierungskritischen Verbänden.
Der Politik Fernández de Kirchners und ihres verstorbenen Ehemanns Néstor muss trotz aller Kritik dabei zugute gehalten werden, dass die Menschenrechtspolitik mehr als reiner Diskurs ist. Die Justiz und die rechtlichen Vorgaben im Umgang mit Verbrechen gegen die Menschheit sind in den vergangenen elf Jahren systematisch umstrukturiert worden. Die kontinuierlichen Gerichtsprozesse und die langen Haftstrafen gegen Verantwortliche der Diktatur zeugen davon, dass die Justiz eine 180-Grad-Wende im Vergleich zum Versöhnungskurs der 1990er Jahre vollzogen hat: Zuvor hatte das sogenannte punto-final-, das„Schlussstrich“-Gesetz eine generelle Amnestie für alle Verbrechen der Diktatur eingeräumt. Harte Urteile gegen die damaligen Verantwortlichen sind heutzutage hingegen alltägliche Nachrichten. Erst kürzlich wurde mit Luciano Menéndez ein Ex-General zu lebenslanger Haft verurteilt, der für das Attentat auf den befreiungstheologischen Bischof Enrique Angelelli im Jahr 1976 verantwortlich war.
Die effektivere Strafverfolgung hat auch dazu geführt, dass die Bewegung viel ihrer Radikalität verloren hat. Konfrontative Aktionsformen wie die großen escraches, öffentliche Denunzierungen von Verbrecher_innen der Militärdiktatur, sind durch Strafverfolgung ersetzt worden. In den Jahren, in denen es noch „keine Gerechtigkeit“ gab, waren sie einziges und notwendiges Mittel für die Organisationen der Angehörigen der Verschwundenen, um unbehelligt lebende Ex-Militärs für ihre Verbrechen während der Diktatur gesellschaftlich zu ächten.

Hundert Jahre Julio Cortázar

Das Werk Julio Cortázars umfasst sechs Romane, unzählige Kurzprosabände, Essays sowie diverse Publikationen, die nicht so einfach einem einzigen literarischen Genre zuzuordnen sind. Was Cortázar vor allem ausmachte, war der Drang zur Grenzüberschreitung in jeder nur möglichen Dimension. Er vermischte nicht nur Genres, sondern erfand zudem so viele Neologismen, dass er aus ihnen eine völlig neue Sprache kreierte: das gíglico, welches dieselbe Syntax und Morphologie wie das Spanische, jedoch einen eigenen Wortschatz besitzt und in vielen Werken Cortázars Verwendung findet. So besteht beispielsweise ein Kapitel seines berühmtesten Romans Rayuela fast ausschließlich aus Neologismen, die beim Lesen eigenständig mit Sinn zu füllen sind. Das Spiel mit der Sprache trieb Cortázar immer wieder an die Schwelle zur Unverständlichkeit, ohne diese jedoch jemals zu überschreiten. Stilistisch war er so präzise, dass ganze Erzählungen ohne Verben auskommen können und dennoch einen deutlichen Sinn ergeben. Seine Strategie war es, Ambiguität zu schaffen, Verwirrung zu stiften, die Lesenden aktiv in seine Literatur mit einzubinden und deren Aufmerksamkeit während der Lektüre immer aufrecht zu erhalten. Und das ist vielleicht seine größte Qualität: den Anfang einer Suche – nach Freiheit, nach neuen Lebensentwürfen, einer Person oder sogar dem Tod – zu beschreiben, deren konkreten Verlauf und Ausgang jedoch offen zu halten. Seine Literatur dient als Impuls, gibt jedoch keine Antworten. Im Prolog zu Rayuela schlägt der Autor selbst verschiedene Lesarten vor, denen zufolge der Roman entweder auf die traditionelle Art – von Anfang bis Ende – gelesen werden könne, oder aber nach einer scheinbar willkürlich zusammengesetzten Reihenfolge der Kapitel. Heraus kommen zwei völlig verschiedene Bücher.
Es ist nahezu unmöglich, die Literatur Cortázars einem bestimmten Themengebiet zuzuordnen. In seinen Erzählungen beschäftigte er sich oft mit scheinbar banalen Dingen. So gibt er beispielsweise Anweisungen zum Treppensteigen oder Uhrenaufziehen. Dies jedoch auf eine Art und Weise, die eine humorvolle Nostalgie der Zeit und des Todes erkennen lassen, ohne jemals auch nur ansatzweise dem Kitsch zu verfallen. Die bereits erwähnte Suche, nach irgendetwas, besonders nach der Sicherheit über den eigentlichen Gegenstand der Suche, ist immer präsent. Oft geht es um die Suche nach der eigenen Identität oder auch der der anderen. Die Frage nach der lateinamerikanischen Identität ist ein roter Faden in der Literatur Cortázars, ohne allerdings jemals direkt zur Sprache zu kommen. Für ihn ist Identität in erster Linie etwas Persönliches, Individuelles, das es zunächst eigenständig zu finden gilt, bevor auf kultureller Ebene darüber gesprochen werden kann. Seine Erzählungen handeln deshalb von Individuen, deren spezifische Konditionen außerhalb der Lektüre jedoch allgemeinere Fragen aufwerfen: Wer sind wir? Was ist Lateinamerika? Cortázar sagte einmal, dass Argentinien zunächst zurückweichen, in Bitterkeit versinken, den Grund berühren müsse, um sich das Recht auf eine eigene kulturelle Identität zu erarbeiten.
Entwurzelung, Einsamkeit, Verlorenheit in der Welt, das sind die großen Themen der latinoamericanidad („Lateinamerikanität“) und es sind Cortázars Themen. Auch wenn er einen großen Teil seines Lebens in Paris verbrachte, schrieb er für Argentinien und ganz Lateinamerika. Sein selbsternanntes „Exil“ in Paris konfrontierte ihn allerdings nicht selten mit dem Vorwurf der Entfremdung von Lateinamerika und der Unmöglichkeit des Verständnisses der wahren Begebenheiten auf dem Kontinent. Möglicherweise versuchte Cortázar sich auch deswegen in den späteren Jahren seines Schaffens aktiv in die politischen Geschehnisse Lateinamerikas einzubringen. 1959 unterstützte er die Kubanische Revolution, in den siebziger Jahren die emanzipatorischen Bewegungen in Zentralamerika. Er nahm an internationalen Gerichtsverhandlungen zu Menschenrechtsfragen teil und verzichtete mehrfach auf seine Autorenrechte, um die linken lateinamerikanischen Bewegungen finanziell zu unterstützen. In der Essaysammlung Nicaragua, tan violentamente dulce (deutsch: „Nicaragua, so gewaltsam zärtlich“) beschreibt Cortázar seine Eindrücke von der Sandinistischen Revolution und seinen Reisen nach Nicaragua. Nach seinen persönlichen Erfahrungen in Zentralamerika widmete er sich ganz seiner Rolle als politischer Intellektueller. Er gab Konferenzen, schrieb Chroniken, politische Manifeste, Polemiken, trat in Kontakt mit Journalist_innen, die seiner Meinung nach die Lage in Nicaragua nicht authentisch einschätzen konnten. Auch in Erzählungen wie Graffiti, welche die Lage der unterdrückten Zivilgesellschaft zu Zeiten der argentinischen Militärdiktatur beschreibt, drückt Cortázar, wenn auch auf sehr subtile Art und Weise, seine Kritik an den politischen Verhältnissen Lateinamerikas aus.
Nach Castros Kuba reiste er mehrfach. Auf den Fall des inhaftierten Dichters Heberto Padilla im Jahr 1971, der die gesamte lateinamerikanische Linke und somit auch die Schriftsteller des Booms in der Literatur spaltete, reagierte Cortázar mit einer Mischung aus Essay und Gedicht, die bis heute polemisiert wird. In Policrítica en la hora de los chacales (deutsch: „Politkritik in der Stunde der Schakale“) setzt sich Cortázar von den Meinungen anderer Intellektuellengruppen ab, denen er zuvor zugeordnet wurde. Für Cortázar waren Literatur und die konkrete politische Aktion unzertrennlich, ohne dass sich jedoch dabei die Literatur bestimmten revolutionären Kriterien unterzuordnen habe. Die Schakale, auf die er sich in seiner Antwort auf den Fall Padilla bezieht, stellen weder das eine noch das andere der gespaltenen Intellektuellenlager dar, sondern einen scheinbar unsichtbaren Feind, der die Kommunikation und die geringste Übereinstimmung beider im Laufe der sechziger Jahre unmöglich gemacht hatte. Er distanzierte sich somit sowohl von den Intellektuellen, die dem Castro-Regime stalinistische Maßnahmen vorwarfen, als auch von der kubanischen Regierung, indem er die Verantwortung des Konflikts den imperialistischen Kultur- und Propagandamethoden zuschrieb und den Konflikt selbst als ein intellektuelles Missverständnis aufzudecken versuchte.
Cortázar, der Schlichter, immer auf der Suche nach Antworten auf teils unformulierte Fragen, hat vieldeutige, oft unlesbare Spuren in der Welt hinterlassen. Ihnen zu folgen ist anstrengend, verwirrend und voller Gegensätze, kann uns aber einen der größten Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts näher bringen.

Umkämpfte Gegenwart in Brasilien

Stefan Zweig zeigte sich begeistert. Der österreichische Schriftsteller beschrieb Brasilien 1941 als „Land der Zukunft“. Vor dem geschichtlichen Hintergrund des Rassenwahns in Europa schien ihm sein Exilland geradezu den Rassismus überwunden zu haben. Bis heute wirkt der Mythos der sogenannte Rassendemokratie (democracia racial), in der die Nachfahren weißer Europäer_innen, schwarzer Versklavter und Indigener vermeintlich friedlich vereint die brasilianische Gesellschaft bilden. Das Bild vom „Land der Zukunft“ hält sich ebenso. Während die einen den diesjährigen Gastgeber der Fußball-Weltmeisterschaft der Männer nun in dieser Zukunft angekommen zu sehen glauben, spotten andere seit jeher, Brasilien werde das ewige Land der Zukunft bleiben.
Die schweizerische Sozial- und Wirtschaftsgeografin Verena Meier zählt eher zu den ersteren. In ihrem informativen und ansprechend geschriebenen Buch Brasilien. Land der Gegenwart kombiniert sie fundierte Hintergrundinfos zu Landeskunde, Geschichte, Kultur und Wirtschaft mit persönlichen Eindrücken. Ihr Streifzug führt durch die am Reißbrett entstandene Hauptstadt Brasilia, über eine Gated Community in São Paulo und eine Favela in und Rio de Janeiro bis ins Hinterland des Bergbau-Staates Minas Gerais und das Hafenviertel der nordöstlichen Metropole Recife. Ein eigenes Kapitel widmet die Autorin Natur und Menschen im Amazonasgebiet. Wenngleich sie auch auf die Schattenseiten von Brasiliens wirtschaftlichem Aufstieg wie beispielsweise die Macht des Agrobusiness‘ und die krassen Einkommensunterschiede eingeht, überwiegt ein optimistischer Blick auf das „Land der Gegenwart“.
Thematisch andere Schwerpunkte setzt der Sammelband Widerständigkeiten im ‚Land der Zukunft‘. Die Herausgeber_innen Shadia Husseini de Araújo, Tobias Schmitt und Lisa Tschorn greifen Zweigs Bild mit dem Ziel auf, es kritisch zu hinterfragen. Autor_innen aus Brasilien und Deutschland beleuchten in insgesamt fast 30 Texten Identitäten jenseits des Mythos‘ der Rassendemokratie, beschreiben Brasiliens Stellung in der Weltpolitik sowie die Brüche und Kontinuitäten seit der Militärdiktatur. Auch die etwas aus der Mode gekommene Forderung nach einer integralen Landreform wird breit thematisiert. Angesichts der Tatsache, dass etwa 32.000 Großgrundbesitzer_innen über eine Fläche verfügen, die viermal so groß wie Deutschland ist, bleibt das Thema hochaktuell. Ein umfassendes Kapitel handelt von städtischen Kämpfen und politischen Umstrukturierungen in den Favelas. Wer den wissenschaftlichen Duktus nicht scheut, in dem viele der Texte geschrieben sind, findet in dem überaus lesenswerten Sammelband Themen, die im Jahr der Fußball-WM wohl nicht im Zentrum des medialen Interesses stehen werden. Ob Brasilien nun in der Zukunft angekommen ist oder nicht: Seine Gegenwart bleibt umkämpft.

Shadia Husseini de Araújo, Tobias Schmitt, Lisa Tschorn // Widerständigkeiten im „Land der Zukunft“. Andere Blicke auf und aus Brasilien // Unrast-Verlag // Münster 2013 // 336 Seiten // 18 Euro

Verena Meier // Brasilien. Land der Gegenwart // Rotpunktverlag // Zürich 2013 // 256 Seiten // 29,90 Euro

// DOSSIER: FUSSBALLKULTUR IN LATEINAMERIKA

(Download des gesamten Dossiers)

28 Jahre ist es her, dass in Lateinamerika eine Fußball-Weltmeisterschaft der Männer stattfand. Seit der WM 1986 in Mexiko verfolgt der Weltfußballverband FIFA eine neue Strategie bei der Auswahl der Austragungsorte, um den Fußballkommerz weiter zu globalisieren. Mit den USA 1994, Japan und Südkorea 2002 und Südafrika 2010 fanden erstmals Weltmeisterschaften außerhalb Europas und Lateinamerikas statt. 2014 kehrt die WM nach Lateinamerika zurück und wird nach 1950 zum zweiten Mal überhaupt in Brasilien ausgerichtet. Grund genug für die Lateinamerika Nachrichten, das Dossier Abseits des Flutlichts herauszugeben. Uns interessieren dabei weniger die sportlichen Chancen einzelner Teams und noch weniger der Kult um Stars wie Lionel Messi oder Neymar. Wer sich über die in Brasilien auflaufenden Mannschaften informieren will, kann auf ein breites Angebot an Sonderheften zurückgreifen.

Neun lateinamerikanische Länder haben sich für die WM 2014 qualifiziert. Allen widmet LN jeweils einen Text, der mit dem Thema Fußball zu tun hat. Da dieser Sport weit mehr ist als Kommerz und Ergebnisorientierung, behandeln wir Themen, die sich überwiegend jenseits des Rummels um Tore und Talente abspielen. Fußball ist nicht nur im Alltag der meisten lateinamerikanischen Länder von großer Bedeutung, sondern hat auch soziale und politische Facetten. Unsere Themen reichen daher von einem Straßenfußballprojekt in Costa Rica über Fußball in Zeiten des Putschs in Chile oder Honduras bis hin zu Fankultur und Gewalt in Argentinien. Der Artikel über Ecuador beleuchtet die stark gewachsene Bedeutung afro-lateinamerikanischer Spieler, während sich ein Interview aus Kolumbien mit dem Einfluss der Drogenkartelle auf den dortigen Fußball auseinandersetzt.
Ganz an der WM und deren dubiosem Ausrichter, dem Weltfußballverband FIFA, kommen wir allerdings nicht vorbei. Wenn FIFA-Präsident Joseph Blatter etwa behauptet, die WM unter der Militärdiktatur 1978 in Argentinien habe zu einer „Art Aussöhnung“ zwischen „Bevölkerung und dem politischen System“ geführt, drängt sich ein Blick auf die politische Rolle der FIFA förmlich auf. Diese ist das Thema unseres Artikels über den Gastgeber Brasilien.

Wie Eduardo Galeano in seinem einleitenden literarischen Beitrag anschaulich beschreibt, war Fußball in Lateinamerika schon früh ein Sport für Alle, der „in den Wiesen, auf den Straßen und an den Stränden”, praktiziert wurde, „mit ein paar Steinen, die das Tor markierten“. Dies hat uns zu einer Fotostrecke über die vielfältigen Orte inspiriert, an denen auch heute noch in Lateinamerika Fußball gespielt wird – mitten in den Megacities ebenso wie an verlassenen Orten, die am Ende der Welt zu liegen scheinen.

Die gesellschaftlichen Proteste in Brasilien, die im vergangenen Jahr während des Confederations-Cups begannen, stehen nicht im Mittelpunkt dieses Dossiers. Das soll nicht heißen, dass diese nicht relevant sind. Im Gegenteil: Mit den negativen sozialen und städtebaulichen Folgen von WM und Olympischen Spielen in Brasilien haben sich die LN bereits im September 2013 in dem Dossier Im Schatten der Spiele: Fußball, Vertreibung und Widerstand in Brasilien eingehend beschäftigt. Außerdem berichten wir regelmäßig in den aktuellen Ausgaben darüber. Denn Brasilien bleibt spannend – vor, während und nach der WM.

Lieber Brot als Spiele

Geplant war das alles anders. Ganz anders. Als Brasilien am 30. Oktober 2007 dazu auserkoren wurde, nach der gefühlten Ewigkeit von 64 Jahren wieder eine Fußball-Weltmeisterschaft auszurichten, erwartete die Welt einen kollektiven Freudentaumel. Äußerungen wie die des früheren Schalke-Profis Marcelo Bordon, das Land sei „rettungslos fußballverrückt“ und man werde „einen Monat lang ein Riesenfest durchfeiern“ nährten die Hoffnungen der Funktionäre der FIFA, dem Weltfußballverband. Eines der ältesten Versprechen des Fußballs sollte erneut für ihre alle vier Jahre perfekt inszenierte Illusionskunst instrumentalisiert werden: Die Alltagssorgen eines ganzen Landes – und auch die durchaus vorhandenen organisatorischen Bedenken bei der Vergabe – in einem Rausch aus Emotion und Weltvergessenheit zumindest für eine kurze Zeit ins Abseits zu stellen. Brasilien schien die perfekte Wahl dafür. Was beim Karneval alljährlich klappt, müsste doch auch auf ein Sportturnier übertragbar sein – um diese Gedankengänge des FIFA-Exekutivkomitees nachvollziehen zu können, bedurfte es keiner Wikileaks-Enthüllungen. FIFA-Präsident und Chefmissionar Joseph Blatter ließ es sich dann wie schon zuvor in Südafrika 2010 auch nicht nehmen, den Beitrag des Fußballs zur Entwicklung eines Landes in bunten Farben auszumalen. Die WM werde „einen riesigen sozialen und gesellschaftlichen Einfluss“ auf Brasilien haben, verkündete er auf der Homepage der FIFA. Zu diesem Zeitpunkt ahnte er vermutlich nicht im Entferntesten, wie recht er damit behalten sollte.
Blatters in zwei Richtungen interpretierbares Statement ist mittlerweile zu einer Wahrheit geworden, die niemand in der FIFA in dieser Form für möglich gehalten hätte. Sicher, schon am Tag der WM-Vergabe mischten sich erste kritische Stimmen in den Jubelsturm der offiziellen Feiern. Altstar Sócrates, schon zu Zeiten der Militärdiktatur für seine kritischen politischen Ansichten bekannt und geschätzt, prognostizierte polternd, das werde wohl wieder „eine große Klauerei. Steuergelder werden verschwinden und ein Großteil der geplanten Kosten wird aus der Tasche des Volkes fließen“. Auch die MTV-Moderatorin und Abgeordnete des Stadtparlamentes von São Paulo, Soninha Francine, kritisierte sehr zum Ärger Blatters die Entscheidung für ihr Land als „verwegen. Unsere Korruption ist ja bekannt.“ Der FIFA-Boss, von solcherlei Vorwürfen ebenfalls nicht gänzlich unberührt, blaffte den Kritiker_innen zu diesem Zeitpunkt noch entgegen, er verlange „mehr Respekt gegenüber der FIFA und ihren Mitgliedern“. Sechs Jahre später, als der WM-Testlauf Confederations Cup in Brasilien Station machte, hatten sich sowohl die Lage als auch sein Tonfall dramatisch verändert. Der Turnier-Gigantismus des Weltverbands und der eigenen Regierung rief angesichts drängender sozialer Probleme im Land massive Proteste der brasilianischen Bevölkerung hervor. Blatter selbst wurde bei der gemeinsamen Turniereröffnung mit Staatspräsidentin Dilma Rousseff in Brasilia von einem ganzen Stadion gnadenlos ausgepfiffen und äußerte daraufhin im Juli 2013 gegenüber der Presse spürbar nervös, man müsse „überlegen, ob man bei der WM-Vergabe falsch gewählt habe“. Dass es gar nichts zu wählen gegeben hatte – Brasilien war der einzige Bewerber für die Ausrichtung – durfte da gerne unter den Tisch fallen. Vor allem angesichts des mit „dubios“ noch freundlich umschriebenen Demokratieverständnisses, das die Kür der WM-Gastgeberländer seit geraumer Zeit umweht. Zu Tage trat allerdings das, was aufmerksame Beobachter seit Jahrzehnten bei WM-Turnieren verfolgen können: Die so gerne zur Schau getragene politische Neutralität der FIFA gilt nur, solange die Investitionssicherheit nicht in Frage gestellt wird. Blatters für seine Verhältnisse extrem undiplomatisches Statement gegenüber einem Ausrichter belegt diese These nur zu deutlich. Ebenso wie den Eindruck, dass die Mächtigen des Weltverbands die Mobilisierungskräfte von Brasiliens sozialen Bewegungen mindestens so sehr unterschätzt hatten, wie Brasilien das Team Uruguays vor der Niederlage im entscheidenden Spiel der letzten Heim-Weltmeisterschaft 1950.
Sport und Sportturniere werden seit der Antike als völkerverbindender, friedlicher Wettstreit proklamiert. Von seinen Funktionär_innen wird die Notwendigkeit der politischen Neutralität des Sports gerühmt, durch die er erst seine „positive Wirkung entfalten“ könne, wie der frisch gewählte Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), der Deutsche Thomas Bach, erst kürzlich wieder kundtat. Bewerbungen für große Sportevents sind jedoch nicht selten für sich schon ein Politikum, wie sich besonders bei den Fällen beobachten lässt, bei denen die Bevölkerung darüber abstimmen darf (so verhinderten Volksentscheide eine Kandidatur Münchens für die Winterspiele 2022). Zudem war die häufige Unterstützung der Sportverbände für den politischen Status Quo in autoritär geführten oder diktatorischen Ausrichterstaaten von Olympischen Spielen oder Fußball-Weltmeisterschaften durch die Bereitstellung der größten Bühne der Welt für Selbstdarstellung und Propaganda schon immer das Gegenteil von unpolitisch. Gemeinsam mit ihrer Missachtung der dortigen oppositionellen Bewegungen entlarvt sie die These von der Neutralität des Sports als bloße Rhetorik.
Die FIFA hat in dieser Beziehung eine besonders unrühmliche Geschichte. Markantestes Beispiel ist die skandalöse Weltmeisterschaft 1978 in Argentinien. Drei Jahre vor dem Turnier war die Sorge vor unruhigen sozialen Verhältnissen unter der Regierung Isabel Peróns in den Gängen der Zentrale des Weltverbandes greifbar. Nach dem rechten Militärputsch 1976 jedoch bekannte ein erleichterter FIFA-Präsident João Havelange: „Jetzt ist das Land in der Lage, die Weltmeisterschaft auszurichten!“ Die Welt könne nun „das wahre Argentinien kennenlernen“. Damit gemeint war eine Militärdiktatur, die in den folgenden Jahren mehr als 30 000 Oppositionelle verhaften, foltern und ermorden ließ. Eine Entschuldigung für Havelanges Aussagen gab es nie. Auch nicht von Joseph Blatter, der damals seine Premiere als FIFA-Generalsekretär feierte. Im Gegenteil, der heutige FIFA-Boss war und ist mit seinem früheren Chef politisch voll auf einer Linie, wie er erst kürzlich wieder bekannte: „Ich bin glücklich gewesen, dass Argentinien gewann. Zwischen der Bevölkerung und dem politischen System hat es eine Art Aussöhnung gegeben.“
Weltfremder Zynismus à la FIFA, den auch Blatters heutiger Nachfolger als Generalsekretär pflegt. Der heißt Jerôme Valcke und arbeitet fleißig daran, blattersche Werte in der nach unten offenen Unbeliebtheitsskala zu erreichen. Unter anderem wegen eines Statements, das eine erschreckende Kontinuität mit Havelanges Aussagen zu Argentinien ´78 erkennen lässt. Auf einer öffentlichen Pressekonferenz im März 2013 äußerte er unverblümt: „Ich werde Ihnen etwas sagen, das verrückt klingen mag. Aber weniger Demokratie ist manchmal besser für die Organisation des World Cup. Wenn ein starkes Staatsoberhaupt da ist, das Entscheidungen treffen kann, wie etwa Putin 2018 (Russland ist WM-Ausrichter 2018, Anm. d. Red.), das ist einfacher für uns Organisatoren als in einem Land wie Deutschland, wo man auf verschiedenen Ebenen verhandeln muss.“ Danach kritisierte er in noch deutlicheren Worten die föderalen Strukturen Brasiliens.
Weniger politische Neutralität ist kaum möglich. Aus der Sicht eines Weltverbandes, der das Profitstreben längst weit über das – sowohl sportliche als auch soziale – Fair Play gestellt hat, ist das allerdings ebenso logisch wie nachvollziehbar. Stabilität, eine öffentliche Darstellung ohne zu laute Störgeräusche und ein sicheres Investitionsklima für die milliardenschweren FIFA-Sponsoren sind die Rahmenbedingungen, die für einen reibungslosen Ablauf der größten Show der Welt mehr als alles andere nötig sind. Allerdings spricht einiges dafür, dass die FIFA ihren Willen diesmal nicht so leicht bekommen wird, obwohl ihre Auflagen wie üblich so exakt vom Ausrichterland erfüllt werden mussten, als sei der Fußballweltverband ein „Internationaler Währungsfonds des Sports“. Denn der Katalog der Unzufriedenheit in der Bevölkerung näherte sich dadurch der Länge der brasilianischen Küstenlinie an: Sparmaßnahmen, die das öffentliche Gesundheitswesen amputierten, während das separate Budget für wenig nachhaltige Luxusprojekte wie Hotels und Stadien unangetastet blieb. Ein versprochener Ausbau der öffentlichen Infrastruktur, vor allem des Verkehrsnetzes, der im Korruptionssumpf verschwand. Eine Sicherheitslage, die durch Einsatz öffentlicher Sicherheitskräfte in Favelas eher verschärft als verbessert wird – zumindest für diejenigen, die ohnehin schon unter prekären Verhältnissen zu leiden haben. Die Verzögerungen von Bauarbeiten in den Stadien, die zu Terminnot und in der Folge zu unwürdigen Bedingungen für die Arbeiter_innen führten, die mehrere Todesopfer forderten. Und schließlich das, was viele am Härtesten trifft: Die massenweisen Zwangsumsiedlungen, teils von einem Tag auf den anderen, oft ohne stabile rechtliche Grundlage, meist einhergehend mit Erhöhungen der Mietpreise auch für die, die in ihren Wohnungen bleiben konnten. Die FIFA hingegen hat sich völlige Steuerfreiheit auf ihre Gewinne zusichern lassen. Die Konsequenz: Brot und Obdach, Bildung und Gesundheit sind für die meisten Brasilianer_innen aktuell deutlich wichtiger als eine Sportveranstaltung, für deren explodierende Kosten sie aufkommen müssen.
Dass man mit diesen Maßnahmen nicht nur Freund_innen gewinnen wird war dem Weltverband und auch der brasilianischen Regierung vermutlich früh klar. Überraschend aber war die Wucht, mit der ein ganzes, zu Recht als fußballbegeistert bekanntes Land begann, sich gegen die Organisation FIFA zu solidarisieren. Die Proteste nahmen Ausmaße an, die Brasilien seit Jahrzehnten nicht erlebt hat, zur WM könnten sie wieder heftig aufflammen. „Não vai ter Copa“ („Es wird keine WM geben“) wurde zu einem der geflügelten Worte einer vielfältigen Bewegung, die auch Zuspruch von aktiven und ehemaligen Fußballern erfährt. Der bekannteste Kritiker unter ihnen ist der frühere Superstar und heutige Abgeordneten des brasilianischen Parlamentes, Romário de Souza Faria, der FIFA-Präsident Blatter im März 2014 als „Dieb und korrupten Hurensohn“ bezeichnete und Generalsekretär Valcke als „größten Erpresser im Weltsport“. Das Vorgehen des Weltverbandes analysierte der frühere Torjäger des FC Barcelona wie folgt: „Die Fifa kommt hierher, baut den Zirkus auf, hat keine Auslagen und nimmt alles mit.“
Mit dieser Meinung steht er nicht alleine da. Selbst die aktuellen Nationalspieler der brasilianischen Seleção zeigen Verständnis für die Demonstrant_innen auf den Straßen, wenn auch mit deutlich gemäßigterer Wortwahl: „Viele glauben, dass Fußballer nur an Fußball denken. Aber wir wissen, was gerade passiert. Wir wissen, dass die Demonstranten Recht haben mit ihren Protesten“, sagt etwa Stürmerstar Hulk von Zenit St. Petersburg. Probleme wird er deswegen keine bekommen, denn eine (Selbst-)Zensur wird nicht stattfinden: „Meine Spieler haben alle Freiheit, sich zu den Protesten zu äußern“, erteilte Nationaltrainer Luis Felipe Scolari bereits politische Meinungsfreiheit. Diese Linie war in vergangenen Jahren für die Spieler der Seleção nicht immer selbstverständlich.
Und so sprechen in Brasilien zwei Monate vor Beginn der WM völlig überraschend weniger Menschen von der Form des Nationalteams als vom Sinn und Zweck eines fußballerischen Heimvorteils, durch den viele ihr eigenes Heim verloren haben, und werden politisch aktiv. Eine soziale Bewegung, wie sie vor einem Jahr fast aus dem Nichts entstand, kann mit Fug und Recht als Alptraum der FIFA-Funktionäre bezeichnet werden. Sie ist nicht greifbar, weil sie keine klaren Führungspersönlichkeiten hat. Sie ist nicht kontrollierbar, weil sie sich spontan und dezentral organisiert. Und sie ist noch nicht einmal käuflich, weil sie von zu vielen verschiedenen und komplexen Aspekten der Benachteiligung gespeist wird, als dass sie einfach zu befrieden wäre. „Não vai ter Copa“ ist die ultimative Horrorshow für Blatter und die Sponsoren des erwünschten „Jogo Bonito“ („Schönen Spiels“). Vielleicht ist es ein Glück, dass sich die FIFA lange vom fröhlich-feiernden Image Brasiliens blenden ließ und die Sprengkraft seiner sozialen Bewegungen übersah. Dieser wird bei der WM nun eine einzigartige Möglichkeit geboten, auf nationale und globale Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen, zu denen der organisierte Fußball seinen Teil beiträgt. Allerdings sollte diese Gelegenheit auch genutzt werden, denn es könnte für längere Zeit die letzte bleiben. Die nächsten Weltmeisterschaften sind in Russland und Katar geplant.

Wenn einer einen Condoro baut

Was spielt Fußball in Chile für eine Rolle?
Fußball ist wahnsinnig wichtig. Dadurch fallen leider alle anderen Sportarten fast komplett unter den Tisch. Fußball ist auch die einzige Sportart, über die im Fernsehen berichtet wird. Höchstens noch ein bisschen Tennis, weil wir einige gute Tennisspieler haben. Wenn Chile an einem internationalen Fußballturnier teilnimmt, dann wird das überall übertragen, alle sprechen darüber. Oder man trifft sich und sieht sich das Spiel zusammen an. Und wenn Chile an der WM teilnimmt, dann ist das eine wirklich große Sache. Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, als sich Chile für die WM 1982 qualifizierte, mitten in der Diktatur. Als die Mannschaft das Qualifikationsspiel in Santiago de Chile gewonnen hatte, kamen wir gerade vom Land zurück. Auf den Straßen rannten lauter Menschen, die Fahnen schwenkten und ich dachte: „Huch, ist Pinochet jetzt gefallen oder was?“ Aber es war nur die WM-Qualifikation.

Stichwort Fußball in der Diktatur – ist es den Militärs gelungen, den Fußball für sich zu vereinnahmen?
Naja, es war komplizierter. Das Nationalstadion wurde ja nach dem Putsch zu einem Ort, an dem viele tausend politische Gefangene interniert waren. Von September bis November waren die Gefangenen dort, direkt im Stadion wurde auch gefoltert. Aber dann stand das WM-Qualifikationsspiel zwischen Chile und der Sowjetunion an, dafür musste das Stadion geräumt werden. Die Sowjetunion ist aber aus Protest gegen die Diktatur und die Folterungen nicht angetreten. Das heißt, Chile hat alleine gespielt, das Spiel wurde trotzdem angepfiffen. Und Carlos Caszely hat ein Tor geschossen. Er rannte und schoss ein Tor – und dann wurde abgepfiffen. Das war eine ziemlich absurde Geschichte, denn so hat sich Chile für die WM 1974 qualifiziert. Und es war symbolisch für die internationale Isolation Chiles während der Militärdiktatur.

Carlos Caszely war einer der Spieler, die als Gegner Pinochets galten. Welche Erinnerungen an ihn haben Sie?
Ich habe selbst sein Abschiedsspiel 1984 im Nationalstadion miterlebt. Caszely stand politisch links, das wussten alle. Seine Mutter wurde nach dem Putsch verhaftet und er selbst ist von 1973 bis 1978 nach Spanien emigriert und hat dort gespielt. Wir sind alle zu seinem Abschiedsspiel ins Nationalstadion gegangen, aber eigentlich nicht so sehr, weil wir uns für Fußball interessierten, sondern weil die linken Parteien, die Schüler- und Jugendorganisationen dazu aufgerufen hatten. Die ganze Schülerbewegung war dort, und hat mit Fahnen und Sprechchören gegen die Diktatur protestiert. Das Stadion war voll, es war eine super tolle Stimmung: Unten wurde Fußball gespielt und wir haben gegen die Diktatur geschrien! Das Spiel wurde ganz klar ein Protest gegen die Regierung.
Caszely hat bei seinem Abschied ziemlich viele Tore geschossen, aber auch einen Elfmeter versemmelt, worüber wir viele Witze gemacht haben. Als das Spiel zu Ende war, wartete draußen die Polizei auf uns, soweit ich mich erinnern kann, auch mit Tränengas. Wir sind dann ziemlich schnell weggerannt, damit sie uns nicht verhaften, was mir auch geglückt ist. Wir haben solche Momente immer genutzt, damit die Medien auf uns aufmerksam wurden. Natürlich haben sie in dem Sinne berichtet, dass „subversive Elemente“ im Stadion Randale gemacht hätten.

Gab es auch Fußball-Skandale in Chile, so wie in anderen Ländern?
Der größte Skandal betraf den Torwart Roberto Rojas, dessen Spitzname „Cóndor“ war. Er hat beim WM-Qualifikationsspiel 1989 gegen Brasilien im Maracanã einen ziemlich großen Fehler gemacht. Chile musste gewinnen, lag aber gegen Ende des Spiels 0:1 zurück. Da fiel der „Cóndor“ plötzlich zu Boden und blutete. Er behauptete, dass ihn gerade ein Feuerwerkskörper getroffen hätte. Daraufhin hat die chilenische Mannschaft sofort aufgehört zu spielen und sich geweigert weiter zu machen, weil ihre Sicherheit gefährdet sei. Das Spiel wurde dann abgepfiffen. Aber als man später die Videoaufzeichnungen von dem Spiel angesehen hat, konnte man sehen, dass der Feuerwerkskörper den Torwart gar nicht berührt hatte. Irgendwann hat er gebeichtet, dass er selbst eine Rasierklinge dabei hatte und sich selbst eine Wunde zugefügt hat, die stark blutete. Das alles war von der Mannschaft so geplant worden: Wenn sie dabei wären zu verlieren, wollten sie erreichen, dass das Spiel abgebrochen und wiederholt würde. Tatsächlich wurde die chilenische Mannschaft für die WM von 1990 und 1994 gesperrt. Und seitdem, bis heute noch, sagt man: „Te mandaste un Condoro“, wenn Du einen Fehler gemacht hast. Oder „Condorito“, wenn Du Mist gebaut hast. Das ist in die Umgangssprache eingegangen.

Infokasten:

Constanza Silva Lira
ist Lateinamerikanistin und lebt in Berlin. Nach dem Putsch in Chile emigrierte sie 1974 mit ihrer Mutter nach Deutschland. 1980 kehrte sie allein nach Chile zurück, um dort 1989 die Schule zu beenden. Heute arbeitet sie als Referentin des Globalen Lernens vor allem an Schulen.

Putsch, Folter, Flucht – und dann Schikane

Neun Mann bilden die Mauer. Sechs in dunkelblau, drei in gelb. Der Schuss fällt, zwei Gelbe lassen sich fallen – und in der blauen Mauer klafft eine Lücke, durch die pfeilschnell der passgenaue Schuss fliegt und der Ball im Netz landet. Kunstschütze Rivelino hatte für Brasilien getroffen – und die Auswahl der DDR war besiegt! Es war bei der Fußball-WM 1974 in der BRD. Brasilien war amtierender Weltmeister, und wer wollte die Seleção nicht gern beim Zaubern am Ball sehen? Allen voran die Brasilianer_innen, die den Weg ins weit entfernte Westdeutschland gefunden hatten. Aber nicht allen wurde dies gestattet.
In Bochum lebte im Juni 1974 eine Gruppe von Brasilianer_innen, die dort Deutschkurse besuchten, unterstützt vom Ökumenischen Studienwerk der EKD. Im Februar 1974 waren sie nach Köln gekommen, nachdem ihre Odyssee sie 1971 aus Brasilien erst nach Chile, nach dem 11. September 1973 von dort nach Mexiko und Ende 1973 dann über Belgien nach Köln getrieben hatte.
In Brasilien herrschte seit 1964 die Militärdiktatur, ab Ende 1968 wurde die Repression in Brasilien massiv verschärft – Folter, Mord, Verschwindenlassen, alles staatlich sanktioniert und betrieben. Dagegen leisteten Menschen Widerstand. Militante Gruppen organisierten sich und entführten mehrere ausländische Botschafter_innen, um politische Gefangene von der Diktatur im Austausch freizupressen. Eine von den dadurch Freigekommenen war Maria Auxiliadora Lara Barcelos. Dora, wie ihre Freund_innen sie nannten, schloss sich im März 1969 dem bewaffneten Widerstand der Stadtguerrilla VAR-Palmares an. In der VAR-Palmares waren neben anderen Carlos Lamarca – als deren damals bekanntestes Mitglied – und der damals noch nicht so populäre Carlos Minc oder die heutige Präsidentin Brasiliens, Dilma Rousseff. Die VAR-Palmares war vor allem durch den Raub eines Geldkoffers mit zweieinhalb Millionen US-Dollar aus dem Haus des als korrupt verrufenen Ex-Gouverneurs von São Paulo, Adhemar de Barros, bekannt geworden. Carlos Lamarca ließ nach dem erfolgreichen Raub des „Koffers von Adhemar“ über die Agentur Agence France Press verlauten, die Gruppe habe die Schwarzkasse des korrupten Ex-Gouverneurs sichergestellt und werde „das dem Volk über Jahre gestohlene Geld zurückgeben“.
Dora, ihr Freund und ein Mitkämpfer der VAR-Palmares lebten zu der Zeit in Rio de Janeiro in einem Versteck. Doch der Vermieter denunzierte sie – und die Geheimpolizei stellte die Untergrundkämpfer_innen Mitte November 1969 und verhaftete sie nach einem Gefecht mit Schüssen und selbstgebastelten Sprengkörpern. Alle drei wurden in Foltergefängnisse gebracht, einer starb unter der Folter binnen Tagesfrist.
Dora wurde gefoltert. Monatelang. Bis am 7. Dezember 1970 der Botschafter der Schweiz, Enrico Bucher, von einer anderen Stadtguerrillagruppe in Rio de Janeiro entführt wurde. Im Austausch gegen den Botschafter wurden im Januar 1971 70 Gefangene freigelassen, des Landes verwiesen und nach Chile abgeschoben. Auch Dora.
Dora lebte in Chile und nahm ihr zuvor wegen des Eintritts in die Illegalität abgebrochenes Medizinstudium wieder auf. Dann kam der 11. September 1973. Dora flüchtete sich mit anderen in die mexikanische Botschaft. Sie konnte nach Mexiko ausreisen, aber Asyl gewährte ihr das Land nicht – so dass Dora und eine Gruppe von Brasilianer_innen den Weg über Belgien in ein Land antraten, das das politische Asyl uneingeschränkt in sein Grundgesetz geschrieben hatte. Die Odyssee der Zwei-Mal-Geflohenen sollte in Köln vorerst ein Ende finden. Amnesty International unterstützte Dora und die Gruppe bei den Asylanträgen, dennoch zogen sich diese über mehrere Monate hin. Schneller waren da die deutschen Polizeibehörden.
„Im Juni 1974 wurde ich zusammen mit zwei Genossen zur Ausländerpolizei in Bochum zitiert, wo man uns mitteilte, dass wir uns dreimal täglich beim nächstgelegenen Polizeirevier zu Kontrollzwecken zu melden hätten, und zwar während der 21 Tage der Fußball-Weltmeisterschaft, die in Deutschland stattfand. Nichterscheinen sollte zur Ausweisung aus dem deutschen Territorium führen. Wir fragten, woher diese Maßnahme käme, aber wir erhielten keine weiteren Erklärungen. Wir legten Widerspruch gegen diese Maßnahme ein (wobei die Anwaltskosten von der Kirche übernommen wurden) und verloren. Wir waren durch diese Maßnahme in unserem Studium ernsthaft beeinträchtigt, weil die Durchführung genau in die Zeit der Deutschprüfungen fiel. Außerdem konnten wir uns kein Spiel ansehen, wir mussten täglich drei Stunden laufen, um uns zu melden, einmal vor und zweimal nach dem Mittagessen.“ So steht es im Bericht von Maria Auxiliadora Lara Barcelos, der im Archiv des Berliner Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile Lateinamerika dem Staub der Geschichte trotzt. Aber die deutsche Ausländerbehörde schikanierte die Exilierten weiter. Im Oktober 1974 schrieb sich Dora an der Freien Universität Berlin ein, sie zog mit Unterstützung von Freund_innen nach West-Berlin, aber die Behörde teilte ihr mit, sie sei illegal nach Deutschland eingereist und es werde jetzt ein Verfahren gegen sie eingeleitet. Ab Mai 1975 wurde ihr das Verlassen West-Berlins untersagt, ihr in Chile zuletzt ausgestellter Pass lief im Juli 1975 ab – und die deutschen Behörden weigerten sich, ihr einen Pass auszustellen. Dora war damit praktisch staatenlos, wie viele Brasilianer_innen im bundesdeutschen Exil zu dieser Zeit.
Hannah Arendt sah in dem Besitz einer Staatsbürgerschaft „das Recht, Rechte zu haben“. Staatenlos ist demnach gleichbedeutend mit rechtlos. Und Dora war laut Berichten von Freund_innen aus ihrer West-Berliner Zeit gezeichnet von der in Brasilien erlittenen Folter. Depressionen und psychische Probleme bewogen sie, sich in Behandlung zu geben.
Am 1. Juni 1976 starb Maria Auxiliadora Lara Barcelos auf einem Charlottenburger Bahnhof. „Für die Polizei war der Tod Doras ein klarer Fall von Selbstmord. In Wahrheit wurde Maria Auxiliadora von denen umgebracht, die sie sieben Jahre zuvor in brasilianischen Gefängnissen barbarisch gefoltert hatten“, schrieb Heinz F. Dressel, der sie aus der Zeit in Bochum kannte. „Die psychische Erkrankung war ohne Zweifel eine Folge der physischen und psychischen Qualen, welche die damals 25-jährige im Laufe ihrer Haft zu erdulden gehabt hatte.“
Verbundenheit und Mitmenschlichkeit waren in jener Zeit Triebfeder der Solidaritätsarbeit mit Brasilien und den in Deutschland exilierten Brasilianer_innen. Die Unterstützung bei Behördengängen gehörte ebenso dazu wie das Öffentlichmachen der in Brasilien von den Militärs begangenen Taten. Die Verantwortlichen sollten beim Namen genannt werden. So dominierten Themen wie Folter und das Verschwindenlassen politisch Oppositioneller in Brasilien die Informationskampagnen der bundesdeutschen Brasilien-Soliszene. Zu den Höhepunkten zählten die Veröffentlichungen der Kölner Brasilien-Koordinationsgruppe von amnesty international und des Mettinger Instituts für Brasilienkunde, aber auch das öffentlichkeitswirksame „Brasilien-Tribunal“, das unter Leitung des WDR-Journalisten Claus Hinrich Casdorff 1972 in Köln abgehalten wurde und das der Diktatur in Brasilien Folter vorwarf. In den Archiven des brasilianischen Geheimdienstes SNI wurden unlängst Akten gefunden, die den Stempel eines der berüchtigten Repressionsorgane der Militärdiktatur, des Departamento de Ordem Política e Social (DOPS) aus São Paulo, trugen. Ihr Inhalt: Berichte über das Tribunal von Köln, dokumentiert und zusammengetragen mutmaßlich von Spitzeln der Diktatur. Auf dem „Brasilien-Tribunal“ wies der als „Verteidiger“ bestellte Hermann Görgen, Gründer der Deutsch-Brasilianischen Gesellschaft, die Vorwürfe der Folter durch den brasilianischen Staat als „nicht systemisch“ zurück und erklärte später, „die Brasilianer sind doch gar nicht an Demokratie interessiert“.
Genauso wenig Skrupel, sich mit Diktator_innen gemein zumachen, hatte auch die Bundesdeutsche Regierung. 1975 unterzeichneten Bonn und Brasília den bis heute bestehenden Atomvertrag (siehe LN 473). Während in Brasilien die Militärdiktatur folterte, Menschen spurlos „verschwanden“ oder ermordet wurden, schenkte Willy Brandt dem Junta-General Artur da Costa e Silva eine goldene Uhr.

Infokasten

Die zivil-militärische Diktatur in Brasilien (1964-1985)
Die zivil-militärische Diktatur herrschte in Brasilien vom Tag des Putsches gegen Präsidenten João Goulart am 1. April 1964 bis zum 14. März 1985, an dem José Sarney Präsident wurde. Am 13. Dezember 1968 erließ der damalige Präsident Marschall Artur da Costa e Silva den berüchtigten Institutionellen Akt Nr. 5: Dieses in Brasilien als AI-5 bekannte Dekret gab ihm die Befugnis, die Arbeit des Parlaments zu unterbinden, Politiker_innen ihres Amtes zu entheben und die Repression zu verschärfen. In Anlehnung an den Spielfilm „Die bleierne Zeit“ (1981) der deutschen Regisseurin Margarethe von Trotta wird in Brasilien der Zeitraum vom Erlass des AI-5 bis zum Amtsende des Präsidenten General Emílio Garrastazu Médici am 15. März 1974 die „Bleiernen Jahre“ genannt.
Laut neuesten Untersuchungen wurden während der brasilianischen Militärdiktatur von den Repressionsorganen 475 Menschen ermordet oder sind seither verschwunden, 24.560 Personen wurden verfolgt. Zahlen über ermordete Indigene und Kleinbäuerinnen und -bauern werden erst jetzt von der Wahrheitskommission mühsam zusammengetragen. Die dem Justizministerium unterstellte Amnestiekommission zur Anerkennung politischer Verfolgung zur Zeit der Militärdiktatur zählte 2008 über 70.000 Anträge auf staatliche Anerkennung der politischen Verfolgung und entsprechende Entschädigungszahlungen.

Amnestiegesetz
In Brasilien herrscht Straflosigkeit. Denn das brasilianische Amnestiegesetz vom 28. August 1979, das Lei n° 6.683, hat in Brasilien noch heute Gültigkeit. Es verhindert die juristische Aufarbeitung aller Straftaten der brasilianischen Militärdiktatur. Stichtag für die Amnestie ist der 15. August 1979.
Dennoch mühen sich Opfer, Angehörige, Menschenrechtsgruppen und Staatsanwält_innen, die durch das Amnestiegesetz deklarierte Straflosigkeit zu umgehen. So klagte die Brasilianische Anwaltskammer 2012 vor dem Obersten Gerichtshof Brasiliens letztinstanzlich. Es ging um die Frage, ob das Amnestiegesetzes verfassungskonform sei. Der Oberste Gerichtshof wies die Klage zurück – das Amnestiegesetz bleibt unangetastet

Politische Gefangene im heutigen Argentinien?

Gibt es heute wieder politische Gefangene in Argentinien? Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner würde diese Frage verneinen. Sie feiert ihre Regierung als eine der Menschenrechte und wird von den meisten führenden Persönlichkeiten der Menschenrechtsbewegung, die sich während der Diktatur der siebziger Jahre gebildet hat, unterstützt. Auch für Amnesty International gibt es in Argentinien keine politischen Gefangenen im klassischen Sinne: Niemand werde zum Wehrdienst gezwungen, und Pressedelikte werden nicht mit Gefängnis bestraft. „Ja, es gibt politische Gefangene!“, sagen dagegen heutige Menschenrechtsaktivist_innen. Sie prangern die „Kriminalisierung der sozialen Proteste“ an und sprechen von 6.000 Personen, die aus politischen Gründen inhaftiert sind oder unter Anklage stehen.
„Ja“, sagt auch eine Gruppe, deren Väter und Großväter zum Repressionsapparat der früheren Militärdiktatur gehörten. Sie werden, nach Meinung ihrer Familienangehörigen, „aus politischen Gründen“ verfolgt: 1.230 Angeklagte, 227 Verurteilte, das Durchschnittsalter ist 70,6 Jahre. Diese Gruppe namens HyNdPP (Kinder und Enkel der Politischen Gefangenen) fordert auf ihrer Website „ein Ende dieser Geschichte, damit die Wunden verheilen und wir in Frieden leben können“. Sie spielen in der Öffentlichkeit keine große Rolle, nicht einmal die Rechte nimmt sie ernst.
María del Carmen Verdú ist bei CORREPI aktiv, der Koordination gegen polizeiliche und institutionelle Repression. „Laut Statistik beklagen wir jeden Tag einen Toten. Sei es aufgrund des polizeilichen Gatillo Fácil oder weil ein Gefangener zu Tode gefoltert wurde, mehr als 3.000 Tote sind es seit dem Ende der Diktatur“, so die Rechtsanwältin. Gatillo Fácil steht für „einfacher Abzug“, wenn Polizist_innen in den Armenvierteln Jugendliche ohne konkreten Tatverdacht erschießen, ohne dass dies juristische Konsequenzen hat.
Wer arm und ein „Schwarzköpfchen“ (cabecita negra) ist und auf dem Polizeirevier landet, wird regelmäßig gefoltert. Allerdings hatte der Oberste Gerichtshof 2007 in einer Grundsatzentscheidung verkündet, dass nur in Diktaturen gefoltert wird, aber nicht in einer Demokratie, , wo diese Fälle nicht systematisch sondern individuelle Verfehlungen von Staatsbediensteten seien. Dieser Urteilsspruch hat die fatale Konsequenz, dass nur die Folter als Menschenrechtsverletzung angesehen wird, die nicht verjährt. Es ging um den Fall von Bueno Alves, der von dem Polizisten Jesús Derecho in seiner Zelle brutal misshandelt worden war – an der Tortur an sich bestand kein Zweifel. Derechos Anwalt plädierte auf Verjährung, weil die Misshandlung des Gefangenen nicht Teil einer systematischen Regierungspolitik sei, sondern nur eine individuelle Verfehlung, ein „illegales Zwangsmittel“, ein normales Delikt, das nur binnen fünf Jahren zu verfolgen sei. Der interamerikanische Gerichtshof urteilte 2011 anders, doch an der Karriere des Polizisten Derecho änderte das nichts.
Für CORREPI sind all diejenigen politische Gefangene, die aufgrund ihrer politischen oder gewerkschaftlichen Aktivitäten verfolgt werden, Demonstrant_innen wegen Landfriedensbruch, Streikende wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt. In diesen Fällen werden Beweise nur in eine Richtung gesammelt oder verschwinden ganz, werden Zeugen beeinflusst und Beschuldigte gefoltert.
Im Dorf Las Heras, das tief im Süden Patagoniens vom Erdöl lebt, wurden gerade mehrere Gewerkschafter zu lebenslanger Haft verurteilt. Bei einer Protestkundgebung gegen die Festnahme eines Gewerkschafters war ein Polizist ums Leben gekommen, und die Polizei wollte den Tod ihres Kollegen rächen. „Sie hatten keinen einzigen Indizienbeweis”, so die Strafverteidigerin Claudia Ferrero. Die einzigen Beweismittel des Staatsanwaltes waren durch Folter erpresste Aussagen von Beteiligten, die später widerrufen wurden. Ein Verwertungsverbot wollte er nicht gelten lassen.
„Ein paar Ohrfeigen oder eine Plastiktüte bedeuten doch nicht, dass man ihm vorschreibt, was er zu sagen hat”, sagte Staatsanwalt Ariel Candia vor Gericht. Eine über den Kopf gezogene Plastiktüte bewirkt Erstickungsanfälle und Todesangst, eine beliebte Foltermethode auch im Irakkrieg. Der Fall liegt jetzt beim Obersten Gerichtshof.
In Corral de Bustos, einem Dorf in der Nähe Córdobas, gingen 2006 die Bürger_innen auf die Barrikaden, nachdem ein fünfjähriges Mädchen vergewaltigt und ermordet worden war. Das lokale Rathaus wurde besetzt, und die Polizei ging gegen die Menge vor. Sechs Demonstrant_innen wurden verhaftet und zu hohen Haftstrafen verurteilt – ohne klare Beweise. Auch dieser Fall schmort derzeit beim Obersten Gerichtshof.
CORREPI leistet Rechtsbeistand und organisiert Kampagnen. Dabei werden die Aktivist_innen jedoch nicht von den traditionellen Menschenrechtsgruppen der 1970er Jahre unterstützt. Diese stehen heute an der Seite der Regierung, wie etwa Estela de Carloto, Präsidentin der Madres de Plaza de Mayo, den international bekannten Müttern und Großmüttern der „Verschwundenen“. „Sie sprechen von individuellen Übergriffen oder Irrtümern einzelner Beamter und Beamtinnen und wollen die zugrunde liegende Logik nicht sehen“, klagt Rechtsanwältin Verdú. „Sie sagen, diese Übergriffe seien bedauerlich, aber man könne Diebe, die von Polizisten geschlagen werden, nicht auf eine Stufe mit dem Terrorismus des Staates stellen; die einen seien Revolutionäre gewesen und die anderen seien Jungs, die an der Straßenecke herumlungern und zufällig von der Polizei misshandelt oder getötet werden.“
In Argentinien geht es bei dieser Debatte auch um sehr viel Geld. Die Menschenrechtskämpfer_innen von früher haben sich inzwischen in Forschungsinstituten und im öffentlichen Dienst eingerichtet. Es ist eine Art „Menschenrechts-Industrie“ entstanden, ein neues Establishment, das die Kongresse, Seminare und Tagungen bevölkert. Jahrelang finanzierte die Kirchner-Regierung die Baufirma von Hebe Bonafini, Führungsfigur der Madres de Plaza de Mayo. Nach unzähligen Korruptionsvorwürfen brach die Firma zusammen, es fehlen hundert Millionen Pesos. Auch die „Volkshochschule der Madres de Plaza de Mayo“ ging jetzt pleite, die Regierung übernahm die Schulden von 200 Millionen Pesos. Kurz zuvor hatte Bonafini den Oberkommandierenden der Armee, gegen den wegen Folter ermittelt wird, bei sich empfangen und freundlich interviewt. Als aber der Menschenrechtsaktivist Hermann Schiller in seinem Radioprogramm der Madres de Plaza de Mayo über den „einfachen Abzug“ und die Todesschüsse der Polizei berichtete, erhielt er seine Kündigung. Politische Gefangene in Argentinien? Nein, nein.

// Bestenfalls Kollateralschäden

Brasilien – vor genau 50 Jahren: Die Militärs putschen gegen die Regierung des Präsidenten João Goulart. 21 Jahre herrschen die Generäle im Land. Die Diktatur hinterlässt eine blutige Spur: Bürgerrechte werden außer Kraft gesetzt, Menschen verhaftet, gefoltert, verschwinden, werden ermordet.
Brasilien – vor 40 Jahren: Die Wirtschaft des Landes boomt. Seit 1968 wächst die brasilianische Wirtschaft um satte zehn Prozent pro Jahr. Das Land erlebt mitten in den „bleiernen Jahren“ der stärksten Repression sein Wirtschaftswunder.
Bonn – vor 39 Jahren: Die Bundesrepubliken der föderativen Staaten Brasiliens und Deutschlands unterzeichnen ein Abkommen über die „Zusammenarbeit auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kern­energie“. Bis zu acht Atomkraftwerke, eine Wiederaufbereitungsanlage sowie Urananreicherungsanlagen will Deutschland Brasilien verkaufen und das entsprechende Know-how gleich mitliefern. Das größte deutsche Exportgeschäft aller Zeiten!
Bonn – vor 35 Jahren: Der amtierende brasilianische Präsident, General Geisel, stattet der Deutschen Bundesregierung einen offiziellen Besuch ab. Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) lobt in seiner Tischrede die „Übereinstimmung der Werte“ und die „Konvergenz der Ziele“ der deutschen und der brasilianischen Bundesregierung, auch wenn man in Bonn „sozialliberal“ regiert und in Brasília militärisch. Und während im spätgotischen Saal in der Kölner Altstadt anlässlich des Geisel-Besuchs ein Staatsbankett der brasilianischen Regierung für „tausend Bestecke“ gegeben wird, prügelt die deutsche Polizei Atomkritiker_innen und die brasilianische Opposition der Militärdiktatur nieder. Auf einem Polizeirevier werden Festgenommene mit Fäkalien beschmiert. Die brasilianische Presse erlebt als Augenzeug_innen Szenen aus dem brasilianischen Alltag – in Köln.
Vier Ereignisse, ein gemeinsamer politischer Nenner: Die bundesdeutsche auswärtige Politik ist immer vorrangig Außenwirtschaftspolitik, Menschenrechte und Umwelt werden dieser untergeordnet. Für die in Brasilien tätigen deutschen Konzerne geht es allein um die Teilhabe am brasilianischen Wirtschaftswunder. So arbeitet zum Beispiel die deutsche Autoindustrie eng mit der Diktatur zusammen: 1994 zitiert die Tageszeitung Jornal do Brasil aus Akten der Geheimpolizei Deops, nach denen Volkswagen do Brasil und Mercedes Benz in den 1970er Jahren Spitzel in die Gewerkschaftsversammlungen ihrer Arbeiter_innen einschleusten. Die so gewonnenen Informationen werden an die Geheimpolizei der Diktatur weitergereicht. Zu den Verstrickungen mit der Militärdiktatur soll Volkswagen do Brasil erst jetzt, 2014, vor der Nationalen Wahrheitskommission in Brasília aussagen.
Profit für die Konzerne und goldene Uhren – eine schenkte Kanzler Willy Brandt (SPD) dem Junta-General Artur da Costa e Silva – aber kein Engagement für Menschenrechte und Umwelt: Brandt, Schmidt, Strauß & Co waren die Gefolterten und Ermordeten in den 1970er Jahren allenfalls egal, bestenfalls bedauernswerte Kollateralschäden. Dies galt jedoch nie für deutsche Wirtschaftsinteressen. Seit den 1970er Jahren sind in São Paulo deutsche Wirtschaftsunternehmen massiv vertreten, dort finden sich Volkswagen und Mercedes Benz, BASF und Bayer samt ihrer ebenfalls deutschen Zulieferer. Die Metropolregion Grande São Paulo mit über 20 Millionen Einwohner_innen als eine der größten Städte der Erde beherbergt bis heute die weltweit höchste Konzentration an deutscher Industrie. Für deutsche Konzerne rollte dort schon immer der Rubel, egal, ob er je nach Währungsreform Cruzeiro, Cruzeiro Novo, Cruzado, Cruzado Novo, Cruzeiro Real oder Real hieß – und die deutsche Politik gab und gibt eifrig Schützenhilfe.
Gab die Bundesregierung damals für den Bau des AKW Angra 2 eine Hermesbürgschaft in Milliardenhöhe, so bewilligte sie gleiches 2012 schon wieder, für Angra 3. Und ein Teil des Thyssenkrupp-Stahlwerks in Rio erhielt auch eine solche Exportkreditversicherung. Umwelt und Menschen – bestenfalls Kollateralschäden.

Der Kessel kocht

Am letzten Februarwochenende sind in São Paulo mehrere tausend Menschen auf der Straße. Spannung liegt in der Luft. Ein Großaufgebot der Polizei steht den Demonstrierenden gegenüber, die sich für ihren heutigen Protestzug auf dem altehrwürdigen Platz der Republik im historischen Zentrum São Paulos eingefunden haben. Ein Hubschrauber kreist tief über dem Platz und übertönt die Trommeln und Sprechchöre der Aktivist_innen. Die Hitze macht Demonstrant_innen und Polizist_innen gleichermaßen zu schaffen. Es ist die zweite Großdemonstration gegen die Fußballweltmeisterschaft in diesem Jahr in der Stadt. „Es werden Milliarden für die WM ausgegeben, doch ein großer Teil der Bevölkerung hat immer noch keinen Zugang zu Grundrechten wie Gesundheit oder Bildung“, kommentiert Talita, Aktivistin der Gewerkschaftsbewegung CPS Conlutas, während sie Flyer an Passant_innen verteilt.
Die Wut der Demonstrant_innen richtet sich gegen die enormen Ausgaben im Zuge der Fußballweltmeisterschaft und der Olympischen Spiele, sowie gegen die mit den sportlichen Großevents einhergehenden Räumungen und sozialen Probleme. „Die WM kommt nach Brasilien, doch die Bevölkerung wurde nicht darüber informiert, wer den Preis dafür zahlen muss“, heißt es im Ankündigungstext des Organisationsbündnisses.
Eine Stunde verspätet setzt sich der Demonstrationszug lautstark in Bewegung. „Es wird keine WM geben, es wird keine WM geben!“, hallt es immer wieder durch die Hochhausschluchten der Metropole. Auch heute bildet eine Gruppe von rund 200 schwarzgekleideten, vermummten Jugendlichen die Spitze der Demonstration. Die sogenannten Black Blocs stehen aufgrund ihres Auftretens und ihrer teils gewaltsamen Verteidigungsstrategie besonders im medialen Fokus. Während sie von großen Teilen der Öffentlichkeit als kriminelle Krawallmachende gebrandmarkt werden, verteidigen sie ihre Gewaltanwendung als Reaktion auf die Brutalität der Polizei und ihre Vermummung als Schutz vor Repression. Hinter den Black Blocs reihen sich Mitglieder sozialer Bewegungen, Gesundheits- und Bildungsorganisationen, linke Parteien und Studierendengruppen. Wie Medien später berichten, wächst die Demonstration im Verlauf auf über 2.000 Teilnehmer_innen an. Die Veranstalter_innen sprechen von 4.000.
Neben den enormen Ausgaben für die anstehenden Sportereignisse steht vor allem die Repression gegen die Protestbewegung und die Verschärfung des Demonstrationsrechts in der Kritik. „Der Terrorist trägt Uniform“ und „Brasilien, die Heimat der Handschellen“ ist auf Schildern und Bannern zu lesen, die die Demonstrierenden bei sich tragen.
Nach dem Tod des Kameramannes Santiago Andrade, der am 6. Februar bei einer Demonstration in Rio de Janeiro von einem Feuerwerkskörper getroffen wurde und wenige Tage später seinen Verletzungen erlag, erhält eine Gesetzesinitiative des rechtsgerichteten Senators Romero Juca Auftrieb. In dem derzeit im Senat diskutierten Anti-Terror-Gesetz PL499 sehen Kritiker_innen den Versuch, die Arbeit von sozialen Bewegungen im Zuge der Vorbereitungen zur WM weiter zu behindern. Mit dem Gesetz könnten als „terroristisch“ eingestufte Taten mit 15 bis 30 Jahre Haft bestraft werden. Laut dem zweiten Artikel des Gesetzesentwurfs würde das Gesetz greifen, „wenn Terror oder allgemeine Panik provoziert oder dazu angestiftet wird mittels eines Angriffs oder Versuchs eines Angriffs auf das Leben, auf die physische Integrität oder Gesundheit oder die Einschränkung der Freiheit einer Person zur Folge hat.“ Terrorismus ist in dem Gesetzesentwurf jedoch ungenau definiert und könnte subjektiv interpretiert werden, so die Kritik.
Kritiker_innen befürchten daher, dass Demonstrationen unter Anwendung des Gesetzes unterbunden werden könnten. „All jene, die gegen die staatliche Gewalt, Fahrpreiserhöhung oder die Räumungen auf die Straßen gehen, werden von diesem Gesetz bedroht sein“, meint die Aktivistin Juliana Brito vom Basiskomitee gegen die WM.
Der Gesetzesentwurf geht einher mit einer Reihe von Maßnahmen, die vor den näher rückenden Sportereignissen auf die Kriminalisierung sozialer Bewegungen abzielen. So bewies die Staatsmacht auch im Vorfeld dieser Demonstration ihre harte Hand. 40 Aktivist_innen aus São Paulo, denen unter fadenscheinigen Vorwürfen die Bildung einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen wird, erhielten in den letzten Tagen die Aufforderung, sich zum Zeitpunkt der Demonstration bei einer Polizeiwache zu melden. Wie der Chef der Operation Wagner Guidice bestätigte, hatten die Vorladungen zum Ziel, die Teilnahme der Aktivist_innen an der Demonstration zu verhindern. In Zukunft könnte diese Methode laut Guidice wiederholt werden. Zudem durchsuchte die Polizei in den letzten Tagen die Wohnungen von zwei Aktivist_innen. Ausbeute der Hausdurchsuchungen waren: einige Poster, Sprühdosen und ein Computer.
Auch an diesem Tag fährt die Polizei hartes Geschütz auf. Mehr als 2.000 Sicherheitskräfte sind im Einsatz und umstellen die Demonstration von Beginn an. Der Protestzug gleicht einem Wanderkessel. Eine neue Polizeispezialeinheit, die sich aus 100 Kampfsport erprobten Polizisten_innen zusammensetzt, darf am heutigen Tag erstmalig ihre Schlagkraft beweisen. Die erwarteten Auseinandersetzungen lassen nicht lange auf sich warten. Kurz nachdem die Demonstration in die Rua Xavier Toledo abbiegt, greifen Polizeikräfte ohne Vorwarnung den vorderen Teil der Demonstration an. Blendgranaten der Polizei explodieren, Tränengas liegt in der Luft. Für kurze Zeit herrscht Chaos.
Während die ersten Reihen eingekesselt werden, flüchtet der hintere Teil der Demonstration in die angrenzenden Straßen. Der Frust der Demon­strierenden über das abrupte Ende ihres Protests ist spürbar. Die Scheiben einiger Banken gehen zu Bruch. Rund um den Platz der Republik, wo Aktivist_innen ein Protestcamp aufgeschlagen haben, kommt es zu weiteren Auseinandersetzungen. Wieder explodieren Sprengsätze. Wieder kommt es zu Festnahmen. Der einsetzende Regen sorgt letztendlich dafür, dass sich die meisten Demonstrant_innen nach Hause begeben. Die Eingekesselten haben weniger Glück und müssen die Nacht in Polizeigewahrsam verbringen. Insgesamt nimmt die Polizei an diesem Tag 262 Personen fest.
Noch am Abend verbreiten sich die Bilder des Polizeikessels und der Verletzten über soziale Netzwerke und fast alle Medien. Nicht nur linke Aktivist_innen sind empört. Zwar sind Polizeigewalt und Willkür keine Neuheit bei Protesten in Brasilien, doch die Unverhältnismäßigkeit des Einsatzes und der wohl gezielt geplante Abbruch der Demonstration übertreten für viele Brasilianer_innen eine Grenze. „Ich war im vorderen Teil der Demonstration. Von beiden Seiten waren wir von Polizisten umstellt und aus dem Nichts begannen sie damit, auf die Demonstrierenden vor mir einzuschlagen“, erinnert sich der Student Lucas Brito. Zu einzelnen Sachbeschädigungen kam es erst nach dem Angriff der Polizei. Diese sieht den Einsatz als Erfolg und rechtfertigt ihr Eingreifen damit, dass Demonstrant_innen dazu aufgerufen hätten Sachbeschädigungen in der Stadt durchzuführen.
Journalist_innen berichten unterdessen von starken Behinderungen ihrer Arbeit und Übergriffen seitens der Polizei. Fünf Journalist_innen werden an diesem Abend festgenommen. Ironischerweise befindet sich auch Sérgio Roxo von der rechtsgerichteten Zeitung O Globo unter den Verhafteten. Grund der Festnahme: Roxo hatte sich mit einem Tuch vermummt. Auch Anwälte üben scharfe Kritik an dem Polizeieinsatz am Samstag. Die Rechtsanwaltsvereinigung Advogados Activistas, die Festgenomme auf Demonstrationen kostenfrei vertritt, berichtet von massiven Behinderungen und Einschüchterungen.
„Als wir den Angriff eines Polizisten auf einen jungen Mann filmen wollten, wurden wir aus dem Polizeikessel geworfen, besser gesagt mit einem Fußtritt hinausbefördert“, berichtet Anwalt André Zanardo. Der Professor der staatlichen Universität von São Paulo Pablo Ortellado kommentiert die Ereignisse dieses Tages auf seiner Facebook-Seite: „Seit dem Ende der Militärdiktatur in den 1980er Jahren nehme ich an Demonstrationen teil. Was ich gestern erlebt habe, war nicht die gewalttätigste Repression, aber die schwersten Bürgerrechtsverletzungen, die ich jemals erlebt habe: Präventive Anklagen, hunderte willkürliche Festnahmen, Einschränkung von Pressearbeit und Behinderung der Arbeit von Anwälten. Für mich hat dies nichts mehr mit einer liberalen Demokratie zu tun.“
Trotz des medialen und zivilgesellschaftlichen Aufschreis müssen die beteiligten Polizist_innen wohl kaum mit einer strafrechtlichen Verfolgung rechnen. Trotz regelrechter Gewaltexzesse und Verstöße auf fast jeder Demonstration wurde bislang kein Polizeibeamter für seine Taten bestraft. Diese Straflosigkeit wird durch das Fehlen jeglicher sichtbarer Identifikationsmöglichkeit noch begünstigt. Im Gegensatz dazu laufen ein Dutzend Ermittlungsverfahren gegen Aktivist_innen.
Diese können auch von institutioneller Seite kaum Unterstützung erwarten. Im Gegenteil: Das Urteil von Geraldo Alckmin, Gouverneur des Bundesstaates von São Paulo, zu den aktuellen Ereignissen fiel schnell und eindeutig aus. „Die Bevölkerung von São Paulo versteht den Unterschied zwischen legitimen Demonstrationen und organisiertem Vandalismus“, kommentierte Alckmin auf seinem Twitter-Account.
Auch für die in Brasília amtierende Arbeiterpartei PT scheint das Image des Landes im Vorlauf der WM über der Wahrung von Bürger_innenrechten zu stehen. Während Regierungsvertreter_innen noch im letzten Jahr verstärkt den Dialog mit sozialen Bewegungen und Basiskomitees suchten und öffentlich erklärten, Polizeigewalt vermeiden zu wollen, hat sich der Kurs der Regierung gewendet. Durch Einschüchterung und Repression sollen Proteste im Keim erstickt werden. Druck kommt dabei auch vom Fußballweltverband FIFA. Dieser hat unlängst erneut Garantien vom Gastgeberland eingefordert, dass mögliche Demonstrationen im Land nicht den Ablauf des Turniers stören. Die Protestbewegung steht somit vor großen Herausforderungen. Das Anti-Terror-Gesetz und die Zuspitzung der Repression könnten die Bewegung lähmen. Am vorletzten landesweiten Aktionstag, dem 25. Januar, beteiligten sich nur wenige. Viele Aktivist_innen fürchten sich vor Polizeigewalt und bleiben den Demonstrationen fern. Dass sich die Bewegung durch Repression mundtot machen lässt, darf jedoch bezweifelt werden. Die aktuellen Bilder könnten eine für die Regierung ungewollte Welle der Solidarität lostreten und die Geschichte wiederholen. Im vergangenen Juni löste die gewaltsame Niederschlagung von Protesten gegen die Erhöhung der Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr in São Paulo wochenlange Massenproteste im ganzen Land aus. Bereits am 12. März findet die nächste Großdemonstration in São Paulo statt. „Wir werden weiter auf die Straße gehen. Mit ihrer Repression kommt auch unser Widerstand“, so Felipe Alencar von der linken Studierendenorganisation Coletivo Construção. Und eins steht fest: Die WM in Brasilien rückt spürbar näher.

Ein Ort der Bewegung

Am 24. März 2004 jährte sich der letzte Militärputsch in Argentinien zum 28. Mal. Zwei Ereignisse markierten diesen Tag: In der Nationalen Militärschule im Westen des Großraums Buenos Aires hängte der damalige Armeechef Roberto Bendini auf Anordnung von Präsident Néstor Kirchner die Porträts zweier Massenmörder ab: Jorge Rafael Videla und Reynaldo Benito Bignone. Beide waren während der letzten Militärdiktatur (1976-1983) zu verschiedenen Zeiten Leiter der Streitkräfte gewesen. Zeitgleich wurde vor der Mechanikerschule der Marine (ESMA), in der sich eines der wichtigsten geheimen Haftzentren des Landes befunden hatte, eine öffentliche Gedenkfeier abgehalten. In Anwesenheit von Mitgliedern von Menschenrechtsorganisationen und vor Tausenden von Zuschauer_innen begingen Néstor Kirchner und der damalige Bürgermeister von Buenos Aires, Aníbal Ibarra, die Rückgabe des Grundstücks an die Stadt. Ziel war es, einen Ort der Erinnerung und der Förderung und Verteidigung der Menschenrechte zu errichten. Die Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit Argentiniens war im Kirchnerismus endlich zu einem wichtigen Eckpfeiler der staatlichen Politik geworden.
Jener 24. März vor zehn Jahren stellt einen Schlüsselmoment in der Geschichte des ESMA-Geländes dar. Der Kampf um die Rückgabe des Grundstücks hatte bereits einige Jahre zuvor begonnen. Anfang 1998 hatte der damalige Präsident Carlos Menem ein Dekret unterzeichnet, durch das die Verlegung der ESMA in eine Marinebasis im Süden der Provinz Buenos Aires verfügt wurde. Das historische Gebäude der ESMA sollte abgerissen werden, um einem Denkmal der „nationalen Einheit“ Platz zu machen. Daraufhin setzten sich Menschenrechtsorganisationen gegen den Abriss und für die Errichtung eines Gedenkortes ein. Eine Verfassungsbeschwerde, die zwei Angehörige ehemaliger Gefangener des geheimen Zentrums eingereicht hatten, führte schließlich zum Erfolg. Im Juli desselben Jahres erklärte der Richter Ernesto Marinelli den entsprechenden Artikel des Dekrets für verfassungswidrig. Er berief sich darauf, dass die ESMA zum nationalen kulturellen Erbe gehöre und daher für die zukünftigen Generationen zu erhalten sei. Das Urteil wurde im Jahr 2001 durch den Obersten Gerichtshof unterzeichnet und der frühere Beschluss des Präsidenten verworfen. Einige Jahre später wurde das Offizierskasino, in dem sich das Haftzentrum befunden hatte, zum Nationalen Historischen Denkmal erklärt; das Grundstück und die übrigen Gebäude erlangten den Status eines Nationalen Historischen Orts.
Die Öffnung der Pforten der ESMA im März 2004 für Tausende von Besucher_innen war ein ergreifender Moment für ehemalige Inhaftierte, Widerstandskämpfer_innen, Angehörige und große Teile der Gesellschaft. Und es war ebenso ein politischer Akt, der den Stellenwert der ESMA als Symbol des Kampfes um die Erinnerung besiegelte. Die dunkle Seite der argentinischen Vergangenheit wurde nun beleuchtet. Orte, die bedeutende Schauplätze des repressiven Regimes gewesen waren, wurden zurückerobert, umgedeutet und zu Beweismitteln der Justiz.
Die ESMA war nicht irgendeines der ungefähr 500 geheimen Haftzentren, die in ganz Argentinien existiert hatten. Die Bedeutung der Anlage ergibt sich nicht nur aus der großen Zahl der etwa 5.000 Verhafteten, die hier eingekerkert waren. Von der ESMA gingen auch die „Todesflüge“ aus, auf denen betäubte Gefangene aus Flugzeugen über dem Río de la Plata oder dem Atlantik abgeworfen wurden. Zudem fungierte der Ort als geheime Entbindungsstation, in der den inhaftierten schwangeren Frauen nach der Geburt die Kinder geraubt und an regimetreue Familien zur Adoption weitergegeben wurden. Die meisten der damaligen Inhaftierten sind bis heute „verschwunden“. Es gibt nur einige Überlebende, die von den Menschenrechtsverletzungen berichten können.
Die Eröffnung der ESMA als Gedenkstätte stellte einen Wendepunkt im langen Kampf der Menschenrechtsorganisationen für die Aufarbeitung der Vergangenheit dar. Und zugleich den Beginn einer intensiven Debatte um die konkrete Ausgestaltung des Ortes. Welches Konzept sollte das geplante Museum vertreten? Welchen Namen tragen? Wie viel von dem 17 Hektar großen Gelände und den über dreißig Gebäuden das Museum einnehmen? Wer sollte wann und auf welche Art am Entscheidungsprozess teilhaben dürfen? Die Diskussion dieser Fragen, so komplex wie notwendig, dauert bis heute an.
Die Aufteilung der Räume löste gleich zu Beginn eine der heftigsten Debatten aus. Die Vorstellung, den Ort der Erinnerung mit der Marine zu teilen, war für viele der beteiligten Organisationen nicht akzeptabel. Ab März 2004 wurde das Gelände von einer Kommission der argentinischen Regierung und der Stadt Buenos Aires verwaltet, die ein öffentliches Vorschlagverfahren für die Einrichtung des Museums einleitete. Zu den wichtigsten Auseinandersetzungen zählte die Frage, welcher historische Zeitraum im Museum Platz finden sollte. Nach der ersten Übergabe des Grundstücks an die Stadt im März 2004 dauerte es drei Jahre, bis die Marine es vollständig verließ. Seither liegt die Verwaltung des Grundstücks in den Händen der nationalen öffentlichen Körperschaft „Ort der Erinnerung und der Förderung der Menschenrechte“, die sich aus Repräsentant_innen der argentinischen Regierung, der Stadt Buenos Aires und der Menschenrechtsorganisationen zusammensetzt. Jede von ihnen ist durch eine Person im Vorstand der Einrichtung vertreten.
Im Lauf der vergangenen zehn Jahre füllte sich das Gelände nach und nach. Heute haben hier zahlreiche Menschenrechtsorganisationen ihren Sitz, darunter die verschiedenen Organisationen der Mütter der Plaza de Mayo sowie die Großmütter der Plaza de Mayo und H.I.J.O.S., die Organisation der Kinder der gewaltsam Verschwundenen. Auch andere zivilgesellschaftliche und staatliche Institutionen für Menschenrechte und Erinnerungskultur finden ihren Platz. Im Jahr 2013 nahmen an den vielfältigen Bildungs-, Kultur- und Wissenschaftsveranstaltungen auf dem Gelände 150.000 Menschen teil. Auch die Anzahl der Besuche am historischen Ort, dem ehemaligen Offizierskasino, das schon eröffnet wurde, als die Marine das Gelände noch nicht vollständig verlassen hatte, hat stetig zugenommen. Im Jahr 2006 kamen 1.300 Besucher_innen, 2009 knapp 8.000 und 2013 über 24.000. Derzeit wird von der Verwaltung ein neues Ausstellungskonzept erarbeitet, das in den kommenden Monaten umgesetzt werden soll.
Der zehnjährige Prozess der Umwidmung der ESMA in einen Ort der Erinnerung und Menschenrechte war von zahlreichen Spannungen geprägt. Judith Said, Leiterin des Archivo Nacional de la Memoria (Nationales Archiv für das Gedenken) erzählt von der schwierigen Frage, wie der Horror dargestellt, wie von dem Leiden der Opfer, die in dem Gefängnis des Offizierskasinos Qualen und menschlicher Demütigung ausgeliefert waren, erzählt werden kann. „Wie können wir als Zeitzeugen diesen Ort schaffen? Wir, die wir als Großmütter, Mütter, Kinder, Angehörige und Aktivisten ebenso wie die gesamte Gesellschaft unter den Folgen des Staatsterrorismus und unter den langen Jahren der Straflosigkeit zu leiden hatten?“ Wie auch an anderen symbolischen Orten der Brutalität der Macht bestehe die pädagogische Aufgabe der ESMA im Aufzeigen und in der Anklage des Staatsterrorismus sowie in der Verteidigung des Rechtsstaats, fügt Said hinzu. Aus all diesen Gründen sei die Herstellung des Gedenkens kein friedlicher Prozess: „Es gibt einen Kampf um die Erinnerung, da es noch einen anderen Diskurs gibt – den jener Kreise, die den Putsch unterstützt haben“.
Für Eduardo Jozami, den Leiter des Kulturzentrums für die Erinnerung Haroldo Conti, hat das ESMA-Gelände nach einem langsamen Prozess der Schaffung neuer Einrichtungen heute sehr viel an Dynamik gewonnen, ersichtlich nicht nur an dem deutlichen Anstieg der Besucher_innenzahlen, sondern auch an der Entstehung vielfältiger Initiativen. „Für uns ist der plurale Dialog zwischen Kultur und Erinnerung eine produktive Grundlage für die Schaffung eines ästhetisch-politischen Konsenses“, so Jozami. Dieser mache es möglich, weitergehende Interventionen auf dem Gelände anzugehen. Auch Judith Said glaubt, dass die Gebäude der ESMA nun einen Eindruck vermitteln, was durch den Staatsterror ausgelöst wurde: „Die Opfer werden nun gewürdigt, ebenso wie ihre Kämpfe und deren Gründe. Und zwar durch verschiedene kulturelle Mittel, die uns in unserer Identität stützen“.
Trotz der in den vergangenen zehn Jahren erreichten großen Fortschritte bleibt es für Jazomi eine Herausforderung, „den Prozess der Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit aus den Händen des entschädigenden Staates hin zu einem darüber hinaus auch symbolischen Ort zu überführen.“ Nach einem Jahrzehnt und weit davon entfernt, ein Ort der verdinglichten Erinnerungen zu sein, bleibt die frühere ESMA also ein Ort der andauernden Bewegung und Umwidmung.

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