“Die Revolution und die Sterne”

Quilapayún live in concert Eduardo Carrasco ist seit 1969 musikalischer Leiter der Gruppe (Foto: Johann Lopez)

Warum habt Ihr Euch damals den Namen Quilapayún gegeben?
Der Name kommt aus dem Mapudungun, der Sprache der chilenischen Indigenen. Wir haben versucht damit eine Verbindung mit den Wurzeln unseres Volkes zu schaffen. Den Namen haben wir in einem Wörterbuch gefunden. Wir suchten die Worte „drei“ („quila“) und „bärtige“ („payún“), weil die drei, die wir damals waren, Bärte trugen. Daher kommt der gutklingende und schöne Name Quilapayún.

Wie veränderte sich im Laufe der Jahrzehnte Eure Rolle als politisch engagierte Musiker?
Das hat mit der politischen Entwicklung zu tun, nicht nur der Gruppe, sondern der Welt. Was mit dem real existierenden Sozialismus geschah, der Fall der Mauer, die Niederlage, die wir in Chile erlitten hatten, 15 Jahre Exil in Frankreich – all das hat uns verändert. Wir waren immer aufrichtig und versuchten unsere Gedanken auf die Bühne zu bringen. Die Welt hatte sich verändert. Wir hatten in den 1960er Jahren angefangen, als die Volks-, Gewerkschafts- und Studierendenbewegung in Chile auf ihrem Höhepunkt war. Wir waren Teil dieser Bewegungen. Es herrschte der Kalte Krieg und der wirkte sich auf alle Länder aus. In Chile gab es Diskussionen über den bewaffneten Kampf sowie Salvador Allendes demokratischen und friedlichen Weg zum Sozialismus. Wir bezogen Position in Form unserer Lieder. Sie waren Agitation, sehr militant und wir standen einer politischen Partei sehr nahe. Dann kamen die Niederlage, Exil und Pinochet. Das änderte unsere Orientierung. Wir entdeckten den revolutionären Wert in der Kunst an sich und sahen die Kunst nicht mehr nur als Instrument einer Revolution, die vor allem eine sozioökonomische war. Die Kunst selbst war revolutionär, ein Faktor des Wandels. Einfach auf die Bühne zu steigen und mit dem Publikum Gemeinschaft zu erleben hatte einen revolutionären Wert. Für uns war eine neue Zeit angebrochen und wir nannten sie Die Revolution und die Sterne. Die Revolution war nicht nur ökonomisch, nicht nur Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Sie war komplexer. Viel mehr Forderungen spielten eine Rolle. Diese Einsicht hatten wir im Exil. Wir befanden uns in einem Land, das nicht nach unserem Rhythmus tanzte. Gleichzeitig war die politische Situation in Chile unter Pinochet sehr unüberschaubar. Wir verloren etwas den Kontakt, aber wir machten irgendwie weiter. Nach dem Ende der Diktatur hatten wir auf einmal das Problem, dass nicht alle Mitglieder der Gruppe aus dem Exil zurückkehren wollten. Einige blieben aus familiären Gründen in Frankreich. Es gab dann eine Zeit mit weniger Aufführungen. 2003 kam es dann in Chile zu einer Wiederbelebung von Quilapayún. Wir nahmen unseren Platz wieder ein. Unsere Lieder hatten wieder eine Verbindung zum Publikum und unsere Botschaften wurden viel besser verstanden. Seitdem haben wir eine umfangreiche Arbeit geleistet, um an der Idee der Revolution und der Sterne anzuknüpfen und uns einen Weg zu bahnen als professionelle Künstler, in Chile und Lateinamerika, ohne dabei die Dinge aufzugeben, die wir in Europa vor allem in Frankreich und Spanien entwickelt haben. Dort ist unsere Musikgruppe anerkannt und hat einen festen Platz in der Erinnerung vieler Menschen.

Wie erlebte die Gruppe das Exil in Frankreich, wie war es dort Lieder zu schreiben, weit weg von dem, was in Chile geschah?
Das war ein schwieriger Prozess, denn wir waren weit weg von unserer Heimat. Wir lebten in einem Land, wo unsere Sprache nicht gesprochen wurde. Also mussten wir Künstler werden, die attraktiv für das dortige Publikum waren. Zu dieser Zeit reisten wir viel nach Deutschland, wir tourten durch die Niederlande, Belgien, Italien und vor allem nach Spanien. In dieser Phase legte die Gruppe viel mehr Wert auf das Künstlerische, weniger Agitation. Das Publikum war sehr anspruchsvoll. Solidarität allein reichte nicht aus, wir mussten etwas spielen, was die Menschen bewegte und interessierte. Wir komponierten viele verschiedene Lieder, immer mit der Erinnerung an Chile und der Solidarität, wir mussten aber unterhaltsam, interessant und einfallsreich sein. Poesie war immer wichtig für uns. So gut wir konnten übersetzten wir sie in die Sprachen der Länder, wo wir auftraten. Auch in Deutschland hatten wir ein sehr schönes Konzert im Berliner Ensemble. Wir waren geleitet von unserer Idee der Revolution und der Sterne und verbanden unseren Auftritt mit Elementen des Theaters. Das war witzig und gefiel den Leuten. Da gab es Affenpuppen, die Pinochet und seine Frauen darstellen sollten. Wir hatten sie mitten ins Publikum gesetzt und machten Scherze mit ihnen. Es war eine kreative Zeit, die uns aber gleichzeitig ein bisschen von Chile entfernte.

Hattet Ihr sehr großes Heimweh zu dieser Zeit?
Nicht so viel. Chile war wie der Mond, unendlich weit weg, denn uns war die Einreise verboten. Und wir hatten unsere Familien, Kinder und unser Leben in Frankreich, deshalb übertrug sich das Heimweh auf Frankreich. Als wir in Japan tourten dachten wir an den Champs Elysée und den Eiffelturm. Das macht das Exil mit einem. Wir lernten Frankreich und Europa lieben. Wir stellten uns dem Leben dort in diesem Moment.

Was bedeutet der Jahrestag des Putschs von Pinochet für Euch und wie wird er in Chile begangen?
Für uns ist der Jahrestag des Putsches etwas Essenzielles in unserem Leben, denn wir sind als Musikgruppe tief mit dieser Geschichte verbunden. Wir werden im Präsidialpalast in Santiago, der Moneda, singen, nach Frankreich reisen, wo wir zu einer Hommage für Salvador Allende im Rathaus von Paris auftreten. Außerdem fahren wir nach Österreich, Spanien und auch in die Schweiz. Es finden viele Gedenkveran-staltungen statt. Auf der anderen Seite erlebt Chile eine eigenartige Phase, die wir selbst nicht richtig verstehen, eine Art Regression. Ein Wieder-aufleben des Pinochetismus. Die Leute wollen wieder eine harte Hand und eine starke Regierung, die mit der Kriminalität aufräumt. Die politischen Themen in Chile haben sich nach rechts verschoben, ohne dass man sagen kann, die Bevölkerung wäre rechts. Aber ohne Zweifel erfährt die Rechte in Chile zurzeit eine große Unterstützung.

Der Präsident ist links und das Parlament rechts.
Seit längerer Zeit haben wir ein Land, das etwas desorientiert ist. Nach einer linken Präsidentin Bachelet folgte Piñera – und dann wieder Bachelet und ein weiteres Mal Piñera. Mal gewinnt die Rechte in den Wahlen und dann wieder die Linke. Ein reines Durcheinander, es ist eine Art Maschinerie der Konfusion, getrieben von Enttäuschung über die Politik. Die Politik hat es nicht geschafft die wichtigsten Probleme der Leute zu lösen. Das bedeutet, dass wir uns in einer instabilen Zeit befinden. Man kann nicht sagen, nur weil die Rechte Wahlen gewonnen hat, dass alle Wähler rechts wären. Vor allem weil die Leute nicht mehr in den Kategorien rechts und links wählen. Sie wählen in Funktion ihrer unmittelbaren Interessen und deshalb fällt es plötzlich zu einer Seite und nach zwei Jahren zur anderen Seite. Diese Instabilität ist beunruhigend und ärgerlich. Es ist nicht angenehm in diesem Moment in Chile zu sein. Die Politik ist zurzeit keine Sache, die einen begeistert. Aber wir machen weiter und versuchen an Salvador Allende, Victor Jara, Pablo Neruda und das zu erinnern, was damals geschehen ist. Wir sind Linke, wir werden uns nicht ändern. Wir bewahren das historische Gedächtnis und vor allem wollen wir zeigen, dass in unseren Werten die wahre Zukunft unseres Landes liegt. Nicht in der Leugnung, das wäre verwerflich. Wir leben in einer verwirrenden Zeit, auch in den USA und Europa erstarken die Ultrarechten. Hoffen wir, dass bald eine verständnisvollere und positivere Zeit anbricht, ausgehend von den demokratischen und den Menschenrechten, welche uns antreiben.

Was wünschst Du Dir für Chile und Lateinamerika?
Mein Traum ist der gleiche, den Allende hatte, von einem demokratischen Sozialismus, der die Menschenrechte achtet, das Recht auf Gestaltung, Freiheit, die individuellen Rechte respektiert und außerdem in der Lage ist seinem Volk ein würdiges Leben zu geben mit einer soliden Wirtschaft, die sich nicht nur auf ausländische Investitionen stützt, sondern auch auf das, was wir kreieren und erfinden können mit dem, was wir an Ressourcen haben. Das würde ich mir wünschen.

TANTE ISABEL SUCHT EINE BLEIBE

Übte offen Kritik an Konventionen Die Sängerin Chavela Vargas (Foto: Paul Chaverri & Ana Castro)

Es war ein ganz normaler Tag im Leben des Umweltanwalts Paul Chaverri – damals, vor 28 Jahren. Da stand plötzlich seine Nachbarin Yisela Ávia Vargas mit ihrer Tante vor der Tür. Sie tranken Limonade zusammen, erzählten sich die Neuigkeiten aus dem Ort und Paul fragte nach ihrem Anliegen. Tante Isabel war gerade aus Mexiko heimgekehrt und suchte eine Bleibe in der Nähe ihrer Familie, in der beschaulichen Gemeinde (Kanton) Flores vor den Toren San Josés, der Hauptstadt Costa Ricas. Bevor die beiden Damen wieder gingen, überschaute die Tante Pauls weitläufiges, grünes, fast unbebautes Grundstück am Fluss. „Wenn ich wählen könnte“, sagte sie, „würde ich gerne auf einem solchen Grundstück alt werden“. Don Paul bewegt dieses Ereignis bis heute. Denn er wusste damals nicht, dass besagte Tante die berühmte Sängerin Isabel „Chavela“ Vargas war. Zwei Schlüsse zog er aus diesem Treffen: „Erstens, was für ein kulturloser Idiot ich war, Chavela Vargas nicht erkannt zu haben“, er lachte. „Und zweitens, was für eine schlichte Person sie eigentlich war.“ Im Oktober 2022, also 28 Jahre später, und zehn Jahre nach ihrem Tod im August 2012, ernannte das costa-ricanische Parlament jene Isabela „Chavela“ Vargas zur Benemérita de las Artes Patrias, zur verdienstvollen Künstlerin des Landes.

Berühmt wurde Isabel „Chavela“ Vargas gleich zweimal. Erst machte sie sich vor allem als Ranchera-Sängerin im Mexiko der 1960er Jahre einen Namen. Damals verkehrte sie mit den größten Künstler*innen der Zeit wie Cantinflas, Gabriel García Márquez, Elizabeth Taylor, Picasso, Ava Gardner oder Grace Kelly. Zwei Jahre lebte sie bei Diego Rivera und Frida Kahlo. Allerdings geriet die Karriere der extravaganten Dame nach und nach ins Stocken, da eine starke Alkoholsucht und der Machismo im Musikgeschäft ihr größere Engagements verwehrten. Dann, in den frühen 1990er Jahren, wurde sie eher zufällig wiederentdeckt. Zunächst gewann sie der deutsche Regisseur Werner Herzog für eine Rolle in seinem Film Cerro Torre. Anschließend verhalfen ihr der spanische Regisseur Pedro Almodóvar und der Sänger Joaquín Sabina zu einem fulminanten Comeback als Sängerin und Schauspielerin. Vargas’ Oeuvre umfasst geschätzt 40 Schallplatten und sechs Filme.

Neben ihren Erfolgen spielt der kulturhistorische Hintergrund ihres Lebens eine entscheidende Rolle für die Ernennung zur Ehrenbürgerin von Costa Rica. Die Abgeordnete Ada Acuña erklärte während der Abstimmung, die Ehrenbürger*innenwürde stehe stellvertretend „für all jene Künstlerinnen, die gezwungen waren, das Land zu verlassen, um als solche anerkannt zu werden“. Denn Chavela Vargas teilte das Schicksal zahlreicher vor allem weiblicher Kunstschaffender im Costa Rica des frühen 20. Jahrhunderts, die zur freien Ausübung ihrer Talente meist nach Mexiko auswanderten, darunter auch die heute als „Nationaldichterin“ gefeierte Carmen Lyra. „Diese großen Geister kämpften zuerst gegen ihre Heimat an, da sie nicht in die Grenzen der alten Traditionen passten“, kommentiert die Philologin und Vargas-Expertin Sonia Jones Leon diesen Ausbruch mit Blick auf die engmaschigen Institutionen Staat und Kirche im Costa Rica der 1930er und 1940er Jahre. Und so begründet auch die ehemalige progressive Abgeordnete Paola Vega ihre Initiative zur Ehrung von Isabel Vargas nicht nur damit, dass sie als „eine der wichtigsten Referenzen der lateinamerikanischen Musik, die in Costa Rica geboren wurde“ zähle, sondern auch „als eine Revolutionärin gegen den Machismo und die Homophobie ihrer Zeit.“

Ranchera singen, trinken, rauchen Chavela Vargas (Mitte) spaltet das recht konservative Costa Rica bis heute (Foto: Paul Chaverri & Ana Castro)

Denn was Chavela Vargas von anderen Künstler*innen ihrer Generation unterschied, war zweifelsohne die Radikalität ihres artistischen Ausdrucks. Schon in ihrer Jugend fiel sie in ihrem ländlich geprägten und streng konservativen Heimatort durch ihre rebellische und sonderbar maskuline Art auf. Als Tochter von Kaffeebauern lernte sie früh lesen und schreiben. „Aber anstatt sich auf ihre Zukunft als verheiratete Hausfrau vorzubereiten, folgte das junge Mädchen den Landarbeitern zu den Cantinas, jene verruchten Kneipen, in denen Schnaps getrunken und Gitarre gespielt wurde, das beeinflusste sie zweifelsohne“, erzählt Ana Castro, costa-ricanische Aktivistin für Gleichstellung, Musikerin der Band Claroscuro und Bekannte Chavelas.

Chavela Vargas als „eine Revolutionärin gegen den Machismo“

In einem Land, in dem es nicht einmal schicklich war, dass Frauen Gitarre spielten, trug Vargas entgegen der Konvention Hosen und Hut, jagte in ihrer Freizeit mit einem Revolver die Schlangen in den Kaffeeplantagen und kokettierte mit den Gerüchten über ihre gleichgeschlechtlichen Zuneigungen, indem sie Liebeslieder für Frauen sang. In jener Zeit wurde sie damit schnell zur Ausgeschlossenen. Weder in der traditionellen Gesellschaft noch in der mächtigen katholischen Kirche oder ihrem um Contenance bemühten Elternhaus war Platz für sie. „Es muss schrecklich für sie als queere Person gewesen sein“, kommentiert Ana Castro die Situation, „in der Dynamik eines Dorfes provoziert so etwas tägliche Beschimpfungen, Isolation und Scham innerhalb der eigenen Familie. Ich bin mir sicher: Wenn sie nicht geflohen wäre, hätte sie sich das Leben genommen.“ Mit 17 Jahren „floh“ Chavela über Kuba nach Mexiko. Dort führte sie einen noch exzentrischeren Lebensstil. Sang sie doch ausgerechnet die „Männermusik“ der Ranchera, trank, rauchte und wirkte aktiv mit an ihrem Legendenstatus, in dem sich die Wahrheit und das Phantastische immer mehr miteinander vermengten. Irgendwo zwischen den gefühlsüberladenen Welten ihrer Lieder, dem magischen Realismus der lateinamerikanischen Avantgarde jener Zeit und ihrem ungebrochenen Freiheitssinn entstanden Chavelas symbolreiche, poetische und interpretationsoffene Schilderungen ihres Lebens. Deshalb sind viele Ereignisse nach wie vor nur vage nachzuzeichnen, ihre Lebensdaten voller Unklarheiten und Widersprüche.

Dieses radikale Ausbrechen aus jeder gesellschaftlichen Ordnung und die offene Kritik an jeglichen Konventionen passt nicht in das noch immer etwas spießige Flores mit seinen alteingesessenen Familien. Bis heute wird Chavela Vargas in der Gemeindegeschichte mit keinem Wort erwähnt. Und auch dem Rest des Landes sind derartige Eskapaden eher fremd. Die Ernennung Chavela Vargas zur Benemérita wurde daher zum Gegenstand zahlreicher Kontroversen. Der evangelikale Parlamentsabgeordnete Fabrizio Alvarado fasste die öffentliche Meinung bei der Begründung seiner Ablehnung etwa so zusammen: „Frau Vargas hatte keine Verbindung zu unserem Land, vielmehr leugnete und zweifelte sie unsere Kultur und Gewohnheiten an. Sie hat sich immer als Mexikanerin verstanden (…) und zudem äußerte sie sich unvorteilhaft negativ über ihr eigenes Vaterland, öffentlich und eindeutig.“ Ana Castro wundert diese Ansicht wenig. „Die Kritiker*innen sind letztendlich die gleichen Menschen, die sie damals aus ihrer Heimat vertrieben haben, sie ließen sie nie zur Ruhe kommen. Nur diese Leute hat sie direkt angegriffen. Und sie hatte alles Recht dazu! Chavela hat Costa Rica nie gehasst, sie war oft und gerne hier. Sie fühlte sich nur nie wirklich zu Hause hier.“

„Chavela hat Costa Rica nie gehasst. Sie fühlte sich nur nie wirklich zu Hause hier.“


Auch Paul Chaverri stieß auf mächtigen Widerstand, als er versuchte, die Beziehung zwischen Chavela und Costa Rica neu zu interpretieren. Auf seinem weitläufigen Grundstück in Flores hat er eine kleine Bühne – und er nutzt sie gerne, um sich mit Musiker*innen zu umgeben. Bei Recherchen mit besagter Nichte stießen sie zudem auf den vollständigen Nachlass von Chavela: ihre Gitarre, Ponchos, Fotos, signierte Bücher und sogar ihre Kinderschuhe. Die Idee war geboren, gemeinsam mit dem Musikkollektiv Sonamos Latinoamérica ein mehrtägiges Festival zu organisieren. Neben Konzerten sollten auch Workshops über lateinamerikanische Musik stattfinden. „Costa Ricas Schulden bei Chavela und Chavelas Schulden bei Costa Rica“, lautete das Motto. Es kamen Künstler*innen aus ganz Lateinamerika, um auf dem Festival zu spielen.

Während das mexikanische Kulturinstitut in Costa Rica dieses Vorhaben unterstützte, regte sich im Gemeinderat von Flores schnell hartnäckiger Widerstand. Die Idee, Musikworkshops für die Schüler*innen anzubieten, wurde umgehend untersagt. Ein öffentliches Konzert in der Turnhalle der lokalen Schule sollte einige Stunden vor der Aufführung auf Eis gelegt werden. Sogar die Polizei war vor Ort – ein sehr seltener Anblick im friedlichen Costa Rica. Angeblich verstoße das Konzert als Großveranstaltung gegen die Hygieneauflagen in der Coronapandemie. Ein zähes Argumentieren und Verhandeln war die Folge, das Konzert stand auf der Kippe. Künstler*innen aus Argentinien, Ecuador und anderen Ecken des Kontinentes wunderten sich über diesen harschen Widerstand der Gemeinde gegen die Würdigung einer seiner lateinamerikaweit gefeierten Töchter. Es ist dem beherzten Einsatz des Schulleiters zu verdanken, dass die Veranstaltung mit 50 Teilnehmer*innen im letzten Moment stattfinden konnte. Große Aufmerksamkeit erregte das Festival nicht. Das liegt wohl auch am Coldplay-Konzert, das zeitgleich im Nationalstadion stattfand – vor 20.000 Menschen. Als deren Sänger zum Abschluss des Großevents das patriotische Lied „Patriótica Costarricense“ sang, wurde das Konzert als Sternstunde der costa-ricanischen Kultur gefeiert. Don Paul lacht verächtlich, wenn er die Geschichte hört und nennt sein in den vergangenen 28 Jahren kaum verändertes Grundstück samt Bühne im Herzen der Gemeinde nun offiziell „Kulturzentrum Chavela Vargas“. Trotzdem sind sich Paul und seine Mitstreiter*innen sicher, dass es noch eine Weile dauern wird, bis Isabel Vargas in Costa Rica eine sichere Bleibe findet.

“DAS LIED IST EIN INSTRUMENT DER SOLIDARITÄT”

Musiker im Exil Luis Enrique Mejía Godoy und Jandir Rodríguez beim Konzert in Berlin (Foto: Michelle Obando)

Wie kamen Sie auf die Idee, diese Konzertreise gemeinsam anzutreten?

Luis Enrique: Wir beide sind Künstler zwei verschiedener Generationen, aber uns eint der Kampf für die Zukunft Nicaraguas, für Meinungsfreiheit, für Frieden, für Demokratie und Menschenrechte. Weder Jandir noch ich gehören einer politischen Partei oder einer politischen Organisation an. Wir engagieren uns für die Einheit aller Nicaraguaner im Kampf gegen die Diktatur Ortega-Murillo. Jandir kann erzählen, warum wir uns zusammengetan haben, denn es war seine Initiative.

Jandir: Die Initiative entstand aus der vorangegangenen Europatournee, die ich unternommen hatte, und des Nicaragua-Vereins in Sevilla. Und meinem Traum von einem gemeinsamen Konzert mit Luís, da wir beide den Kampf für Menschenrechte mit unseren Liedern teilen. Wir beschlossen, unser Repertoire zu vereinen und den Nicaraguanern ein Lied der Hoffnung zu bringen und zur Solidarität in den Ländern aufzurufen, die wir derzeit besuchen.

Während der Sandinistischen Revolution in den 1980er Jahren waren Sie, Luís, und ihr Bruder Carlos international berühmt. „Ay Nicaragua, Nicaragüita“, geschrieben von Carlos, wurde zu einer Art Hymne der Revolution. Wie denken Sie heute über diese Zeit?

Luis Enrique: Die sandinistische Revolution kann man nicht vergessen. Sie ist ein wichtiges historisches Ereignis, nicht nur in Nicaragua und Lateinamerika. Der Kampf gegen die Somoza-Diktatur bewegte die Welt. Das ist eine Tatsache. Die 1980er Jahre waren Jahre des Kampfes für die Errichtung eines Traums, der durch einen Kampf im Innern unterbrochen wurde, woran die US-Regierung und die russische Regierung großen Anteil hatten. In gewisser Weise wurden wir Opfer des Kalten Krieges. Die 1990er kamen, die Sandinistische Nationale Befreiungsfront (FSLN) verlor die Wahlen. Für mich ist damit ein historisches Jahrhundert zu Ende gegangen, die Revolution hatte es bereits besiegelt.

Jetzt müssen wir neu darüber nachdenken, wie wir die Demokratie unter anderen Bedingungen aufbauen können. Heute machen sich die jungen Leute andere Gedanken, jetzt sind sie es − im Jahr 1979 (Jahr des Sieges der Revolution, Anm. d. Red.) waren wir es −, die das Sagen haben. Es sind immer die jungen Menschen, die diese Kräfte besitzen. Worin besteht der Unterschied? Damals war es ein bewaffneter Kampf, heute ist es eine Bürgerbewegung.

Vor Kurzem haben Sie das Lied „Nicamigrante soy“ geschrieben. Man könnte sagen, dass es eine Hommage an die Hunderttausenden Exil-Nicaraguaner*innen ist, die verstreut über viele Länder leben. Welches waren Ihre Beweggründe für das Komponieren dieses Liedes?

Luis Enrique: Ja, ich wollte ein Lied machen, das von meiner eigenen Erfahrung als Migrant, als Exilant und von den Tausenden von Nicaraguanern auf der ganzen Welt spricht. Allein in Costa Rica sind seit 2018 180.000 Flüchtlinge unter sehr schwierigen Bedingungen eingereist. Die meisten von ihnen sind junge Menschen zwischen 18 und 35 Jahren. Ihr Studium wurde unterbrochen, ihre Studienunterlagen weggeworfen, aus dem Computer gelöscht, und ihnen damit ihre Zukunft versperrt. Nicht allein, dass man sie in Nicaragua nicht haben will, sondern man will, dass sie Schwierigkeiten haben, wo immer sie sind. Es gibt viele junge Menschen, die bei Null anfangen: ohne Arbeit, ohne Studium, mit psychologisch sehr komplizierten Traumata, mit Kriegsverletzungen, aus dem Gefängnis entlassen, gefoltert. Deshalb wollte ich ein Lied der Hoffnung für die Migranten schreiben, wo immer sie sind, und ihnen sagen, dass wir eines Tages in ein freies Nicaragua zurückkehren können. Es ist außerdem ein fröhliches Lied, nicht triumphalistisch, sondern kämpferisch.

Mittlerweile leben alle Künstler*innen, die die nicaraguanische Kulturszene ausmachten, im erzwungenen Exil. Welcher war der auslösende Moment, der Sie die Entscheidung treffen ließ, Nicaragua zu verlassen?

Luis Enrique: Wie mein Bruder Carlos beschloss ich, im August 2018 zu gehen − nachdem wir bereits ein Dutzend Lieder für diesen Kampf geschrieben hatten, in Solidarität mit den Müttern, mit den politischen Gefangenen, mit den ersten Exilanten, den ersten Verfolgten, Drangsalierten und den ersten Toten natürlich. Das erste Lied, das ich geschrieben habe, heißt „Mi patria me duele en abril” (Mein Heimatland schmerzt mich im April). Etwa 15 Tage später − es gab bereits 40 Tote − wusste niemand, ob es 100, 200 oder 300 sein würden. Aber ich wusste, dass wir vor einer neuen, schrecklichen Situation stehen, in der der Tod wieder allgegenwärtig ist. Damit nahm Daniel Ortega die Maske ab, um auf diese Art zu sagen: „Ich gehe hier nicht weg, ich habe die Waffen.”

Sämtliche Institutionen stehen unter dem Kommando von Ortega und Murillo. Es gibt keine Meinungsfreiheit. Sie haben die Printmedien, das Fernsehen und den Rundfunk geschlossen und Journalisten, Sportreporter, Intellektuelle, Lehrer, Bauern und Studenten inhaftiert. Damit wurden unsere Hoffnung und die Perspektive eines Machtwechsels in Nicaragua zunichte gemacht.

Sie, Luis, leben im Exil in Costa Rica. Schon während der Somoza-Diktatur haben Sie dort gelebt, bis 1979 die Revolution siegte. Was bedeutet dieses neuerliche Exil für Ihr künstlerisches Schaffen?

Luis Enrique: Mein erstes Exil in Costa Rica war, als ich 20 Jahre alt war, heute bin ich fast 78. Es ist also viel schwieriger, fast bei Null anzufangen. Ich bin Künstler und autark in dem Sinne, dass ich meine Gitarre und meine Stimme habe. Das ist es, was ich brauche. Ich hielt es für sinnvoller, Nicaragua zu verlassen und in Costa Rica zu sein, um in irgendeiner Weise zur Solidarität und zur Einheit im Kampf gegen die Diktatur beizutragen.

Das Lied ist ein Instrument der Solidarität, des Friedens, des Aufrufs, der Anklage. Auch Liebeslieder sind das. Ich schreibe schon seit 55 Jahren Lieder und bin mit Jandir darüber einig, dass es sich bei ihm um einen neuen Ausdruck handelt. Der Unterschied liegt im Einsatz der Technologie, doch das Bewusstsein, das Herzblut sind dasselbe, der Patriotismus ist derselbe, die Liebe zu Nicaragua − und unsere Absicht, die Poesie zu verteidigen in einer Situation, die uns zwingt, die Diktatur anzuprangern.

Die politischen Gefangenen sind heute mehr denn je ein authentisches Beispiel für nicaraguanische Vaterlandsliebe. In vielen Ländern der Welt weiß man nicht, dass sie im Hungerstreik sind, vor allem die Frauen sind isoliert: es gibt keine Bücher, sie bekommen keine Medikamente, kein Trinkwasser. Ortega-Murillo haben internationales Recht, die Menschenrechte, die OAS (Organisation Amerikanischer Staaten), die Vereinten Nationen und alle demokratischen Regierungen zum Gespött gemacht. Wenn Gabriel Boric aus Chile Kritik äußert, antwortet Daniel Ortega sofort mit dem Diskurs, dieser sei ein Handlanger der Vereinigten Staaten und wir seien Feinde Nicaraguas. Er wirft uns vor, Handlanger der CIA und Beschäftigte des US-Außenministeriums zu sein. Es ist völlig abgenutztes, dummes Gerede, aber er hat auch gezeigt, dass er in der Lage ist, all diejenigen zu töten, die gegen ihn sind.

Jandir, Sie leben im Exil in Guatemala. Wie wirkt sich die Situation auf Ihr Leben aus?

Jandir: Ich habe nie daran gedacht, meinen Lebensunterhalt mit Musik zu verdienen. Ich war Medizinstudent. Ich war kein Musiker, aber ich bin in einer musikalischen Familie aufgewachsen und die Musik war immer meine große Leidenschaft. Ich komponierte erste Lieder, jedoch sehr amateurhaft. Als ich nach Guatemala ging, änderte sich mein Leben völlig, denn ich musste herausfinden, wie ich überleben sollte. Das Einzige, was ich in diesem Moment konnte, war Musik, und das ist bis heute das Einzige, was ich kann. Die Migration ist eine große Herausforderung. Neben dem wirtschaftlichen gibt es auch den kulturellen Aspekt. Die Anpassung an eine neue Lebensweise, das Verstehen einer anderen Kultur, die Erfahrung von Fremdenfeindlichkeit, die Erfahrung von Diskriminierung. Darüber hinaus habe ich einen Prozess durchlaufen müssen, um mich in der guatemaltekischen Musikszene entwickeln zu können.

Luis Enrique: Gerade die jungen Menschen verlassen das Land, weil sie dazu gezwungen sind. Oft müssen wir es über tote Winkel verlassen − über inoffizielle Grenzen nach Honduras oder Costa Rica fliehen oder mit etwas Glück nach Europa, in die Vereinigten Staaten oder nach Kanada. Ausreisen von einem Tag auf den anderen, mit nichts, nur mit dem, was du auf dem Körper trägst. Du verlässt deine Familie, dein Zuhause, deine Arbeit. Das macht die Situation nur noch schlimmer. Für Jandir ist es also eine Sache, für ein Konzert nach Guatemala zu gehen und nach Nicaragua zurückzukehren, aber es ist eine andere, sich in einem Land niederzulassen, ohne es geplant zu haben. Weder er noch ich wissen, wann wir zurückkehren werden.

Auf Berlin folgt ein Konzert in Paris, das den mehr als 220 politischen Gefangen in Nicaragua gewidmet ist. Im Besonderen Dora María Téllez, die den ihr von der Pariser Universität Sorbonne Nouvelle verliehenen Ehrendoktortitel nicht entgegennehmen kann. Wie hoch schätzen Sie die Wirkung dieses Solidaritätskonzerts ein?

Luis Enrique: Das ist eine sehr besondere Aktivität und es gibt auch einen runden Tisch, an dem dieser Zusammenhang diskutiert wird. Es handelt sich also vielleicht um die unmittelbarste politische Aktivität der gesamten Tournee. Das Konzert in Paris ist ein sehr wichtiger Punkt − Großgeschrieben! Für Dora Maria, für die inhaftierten und isolierten Frauen und ganz allgemein für alle politischen Gefangenen.

Unter welchen Voraussetzungen würden Sie nach Nicaragua zurückkehren?

Luis Enrique: Absolute Freiheit! Ohne Erlaubnis zu leben, ohne Erlaubnis zu denken, ohne Erlaubnis zu singen, zu kommen und zu gehen, sich zu organisieren, zu mobilisieren − absolute Freiheit und Gerechtigkeit!

Jandir: Das ist entscheidend.

“FUNK HAT EINE SYMBOLISCHE MACHT”

Danilo Cymrot ist 36 und Soziologe aus São Paulo. 2022 veröffentlichte er das Buch O funk na batida: Baile, rua e parlamento. Er macht unter dem Namen „Danilo Dunas“ selbst Musik. (Foto: Lisa Pausch)

Warum beschäftigen Sie sich als Strafrechtler mit dem Funk?

Es gibt in der Kriminologie zwei Strömungen, die mich interessieren. Eine von ihnen ist die Subkulturtheorie. Sie beschäftigt sich mit Gangs in den Städten und Jugendkriminalität. Junge Leute treffen sich zu Gewalttaten, randalieren. Diese Forschung entstand in den USA in den 50er Jahren, als der Rock aufkam. Ich sage gerne, der Funk ist unser Punk. Eine andere Strömung ist der Etikettierungsansatz, er verschiebt den Fokus weg von der Frage „Warum begehen Menschen Verbrechen?” hin zu der Frage „Warum werden bestimmte Verhaltensweisen als kriminell eingestuft?“

Warum also wird in Brasilien ein Musikstil wie der Funk immer wieder als kriminell eingestuft?

Das begann in den 90er Jahren. Der Funk hatte mit dem Album „Funk Brasil“ von DJ Marlboro zum ersten Mal seine eigenen Texte auf portugiesisch. Er war erfolgreich in den Favelas von Rio de Janeiro, wurde aber von der kulturellen Elite ignoriert. Das änderte sich mit dem 18. Oktober 1992. An dem Tag passierte etwas an dem Strand Arpoador im Viertel Ipanema in Rio de Janeiro, einer noblen Gegend: ein mutmaßlicher „Raubzug“. An diesem Tag trafen sich zwei rivalisierende Gruppen aus Parada de Lucas und Vigário Geral, das sind zwei Viertel im Norden Rios. Sie trugen für gewöhnlich ihre Wettstreite auf den bailes im Norden der Stadt aus. Nun trafen sie sich am Strand und begannen zu raufen. Es war mehr eine Mischung aus Streit, Tanz und Witzeleien. Nur war das mehrheitlich weiße Publikum solche Szenen nicht gewöhnt. Es gab in den südlichen Vierteln bereits ein Klima der Intoleranz gegenüber jungen Schwarzen Menschen. Der Strand sollte eigentlich ein Ort der Demokratie in der Stadt sein, aber für die Anwohner der geschlossenen Wohnanlagen der Zona Sul war der Strand wie eine Verlängerung der eigenen Balkons. Sie sahen sich und die Touristen als die legitimen Flanierer an den Stränden. Als sich also eine Gruppe junger Schwarzer Menschen traf, um am Strand zu laufen und sich zu raufen, wurde die Polizei gerufen. Sie vertrieb die Jugendlichen, die liefen weg, die Polizei ihnen nach. Die Medien verbreiteten diese Bilder, als hätte es sich um einen Raubzug gehandelt. Das war der erste Moment, in dem viele Leute zum ersten Mal Kontakt mit der Funkszene hatten. Von da an war der Funk für sie keine kulturelle Ausdrucksform, sondern eine Sicherheitsangelegenheit, und Baile Funks wurden immer wieder als Orte von Kriminalität gesehen.

Welche Rolle spielen Texte, wenn sie von Gewalt und von Drogen handeln?

Die Texte sind ein Element, das eine Kriminalisierung zwar nicht rechtfertigt, aber erleichtert. Der Funk Proibidão etwa ist ein Subgenre, das von kriminellen Gruppen spricht, oft auf schmeichelhafte Art und Weise. Die MCs (Anm. d. Red.: Master/Mistress of Ceremonies, eine Eigenbezeichnung von Sprechgesangskünstler*innen) verteidigen sich damit, dass sie sagen, sie singen und erzählen ja nur von der nackten Realität. Und wenn ein MC auf einer Baile Funk Party über Drogengangs singt, bekommt er schnell Probleme mit Polizei und Justiz. Ihm wird dann vorgeworfen, mit seinem Gesang die eigenen Drogenverkäufe ankurbeln zu wollen.

Es ist ein fiktives Werk, auch wenn es von der Realität inspiriert ist. Der Autor darf nicht mit dem lyrischen Ich verwechselt werden. Der Autor darf übertreiben, fantasieren, das ist ganz normal im Funk. Manchmal hat der MC nicht mal eine Verbindung zum Drogenhandel. Woher kommt dann dieser Bezug zum Drogenhandel? Es bringt Glamour, weil es eine Verbindung von Gewalt und Macht gibt und jeder gerne als mächtig angesehen wird. Die Gang repräsentiert die Gemeinschaft, viele junge Leute sind selbst Opfer von Polizeigewalt geworden. Funk hat in dem Sinne auch eine symbolische Macht, um zurückzuschlagen. Wenn man schon die Gewalt, die man erlebt, nicht direkt zurückgeben kann, dann kann man das auf einer kulturellen, symbolischen Ebene.

Sie ziehen auch den Vergleich zum Gospel …

Rio de Janeiro ist eine Stadt mit einem hohen Anteil an Schwarzer Bevölkerung und eine der evangelikalen Städte in Brasilien. Man sieht hier viele junge Schwarze Menschen, die in die Kirchen gehen und viele von ihnen könnten sogar eine Verbindung zum Drogenhandel haben. Es gibt viele evangelikale Dealer. Es gibt auch im Gospel den Vorwurf, dass die Drogenhändler Shows finanzieren, nichtsdestotrotz wird der Gospel nicht kriminalisiert. Niemand wird hingehen und eine Kirche schließen.

Welche Rolle spielen die Sinnlichkeit des Funks, der Hüftschwung und die expliziten Texte zu Sexualität im Funk Putaría etwa?

Eine große Rolle. Schon im 19. Jahrhundert wurden in den Zeitungen die Musikstile Lundu und Maxixe angegriffen, also Musikstile der afrikanischen Disapora in Brasilien. Schwarzen Menschen wurde vorgeworfen, pornografisch zu sein und unanständig zu tanzen. Warum? Erstens, weil die Beziehung der europäischen Weißen zum Körper komplett anders war als die Schwarzer Menschen. Schwarze Musik legte traditionell viel Wert auf Rhythmus, Schläge, nicht nur Harmonien und Melodie. Und so ein markanter Rhythmus bringt die Leute zum tanzen. Das wurde beim weißen Bürgertum als etwas Unanständiges angesehen, sie wollten ja die europäischen Gewohnheiten imitieren. Die koloniale Elite betrachtete diese populäre Musik mit Verachtung, so war das auch mit dem Funk. Der Funk Putaría spricht offen über Sex. Gleichzeitig ist unsere Gesellschaft scheinheilig mit ihrem moralischen Zeigefinger – es ist eine der Gesellschaften, die am meisten Pornografie konsumiert und gleichzeitig homophob und transphob ist.

Es gab erst viel später Gesetzesvorschläge, die den Funk formell kriminalisieren sollten.

Das erste Mal im Jahr 2017, als ein ganz normaler Bürger den Funk als Delikt gegen die öffentliche Gesundheit und die Jugend einstufen lassen wollte. Im Jahr 2020 wurde der Funk in einen Gesetzesvorschlag von Junio Amaral aufgenommen. Amaral ist ein Abgeordneter der extremen Rechten. Er wollte die Aufführung von Baile Funks unter freiem Himmel kriminalisieren, wenn sie ohne Zustimmung der öffentlichen Behörde stattfinden. Also was heute eine Ordnungswidrigkeit ist, sollte ein Verbrechen mit einer Haftstrafe werden.

Die Gesetze sind aber nie weit gekommen. Warum?

Sie sind gescheitert, weil in Brasilien – anders als in den USA – nur der Nationalkongress Änderungen im Strafrecht vorschlagen kann. Kein Landtagsabgeordneter, kein Gouverneur, kein Präsident. Wenn aber in der Öffentlichkeit Stimmung gegen den Funk gemacht wird, dann gibt es politische Opportunisten, die solche Gesetzesvorschläge machen, um bestimmte Wähler anzusprechen und zu zeigen, dass sie den Funk bekämpfen. Sie können den Funk nicht formell kriminalisieren, weil sie die legale Kompetenz dazu nicht haben. Aber sie können auf das Verwaltungsrecht zurückgreifen.

Und die Hürden für Baile Funks einfach hochschrauben?

Ja, sie können zum Beispiel die Zustimmung der Militärpolizei einfordern oder eine Vorlaufzeit von 30 Tagen sowie Sicherheitskameras, Metalldetektoren, Krankenwagen und Feuerwehr. Doch haben die meisten Veranstalter von Baile Funk Partys nicht die Mittel dafür, um all das aufzubringen. Wie sollen sie denn den Lärm isolieren? Doch wenn sie die Auflagen nicht erfüllen, kann der Baile Funk aufgelöst werden. In São Paulo wurde im Dezember 2019 ein Baile Funk mit Tränengas und Gummigeschossen aufgelöst, neun Jugendliche wurden dabei getötet. Es gibt viele Beispiele, auch in São Paulo, von Baile Funks, die auf unverhältnismäßig gewalttätige Weise aufgelöst wurden, weil sie solche Auflagen nicht erfüllt haben.

Wird sich die Situation für Funk-Künstler*innen nach dem Regierungswechsel nun verbessern?

Nicht notwendigerweise. Das Drogengesetz aus dem Jahr 2006 ist noch das Erbe einer Regierung, die sich als links und progressiv gesehen hat: Der Regierung von Lula und Dilma. Gerade unter Linken ist das daher ein heikles Thema, weil man sich nicht gerne selbst kritisiert. Die Gesetzesänderung ließ der Polizei und der Justiz mehr Spielraum – sie konnte Menschen als Konsumenten oder Dealer einordnen und je nachdem folgte eine Freiheitsstrafe oder eben nicht. Es geht dabei nicht unbedingt um die Menge an Drogen, sondern auch um die Umstände. Eine weiße reiche Person, die mit einer großen Menge Drogen entdeckt wird, wird immer sagen, dass sie das selber konsumiert. Die Chance, dass eine arme Schwarze Person, die mit der gleichen Menge Drogen entdeckt wird, als Dealer durchgeht, ist viel größer. Auch in meiner Forschungsarbeit habe ich gesehen, dass etwa die Tatsache, sich mit einer Funk-CD in Richtung eines Baile Funks zu begeben, von der Justiz schon als Anzeichen gelesen werden kann, dass man Teil einer kriminellen Vereinigung ist. Als ich das gesehen habe, war ich schockiert. Ein junger Mensch der Mittel- und Oberschicht kann Drogen konsumieren in schicken Bars, in die die Polizei nie einen Fuß setzen wird.

Gleichzeitig gab es Gesetzesvorschläge, um den Funk als Kultur anzuerkennen. Die Politikerin Marielle Franco, die 2018 in Rio de Janeiro ermordet wurde, war selbst Funktänzerin und hat sich für eine Anerkennung eingesetzt.

Ja, es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen der Regierung unter Lula und der Regierung unter Bolsonaro. Der Funk wird von der linken Seite eher als Kultur anerkannt. Die meisten Gesetzesvorschläge, die den Funk als Kultur anerkennen, kommen von linken Parlamentariern – inzwischen aber auch von rechts.

Eine der bekanntesten Abgeordneten in diesem Zusammenhang ist wohl Verônica Costa, sie macht als Mãe Loira do Funk selber Funk und war mit dem Produzenten der Furacão 2000 (bekannte Funk-Produktionsfirma) verheiratet. Oder Rodrigo Amorim, der dafür bekannt wurde, dass er ein Schild zur Erinnerung von Marielle Franco zerstörte. Er sprach sehr schlecht über den Funk Proibidão, aber machte gleichzeitig einen Gesetzesvorschlag, der die Funkkultur würdigte – er teilt den Funk ein in „gut“ und schlecht“. Der Funk ist geteilt, wie auch Brasilien. Es gibt Funkeiros, die auf der Seite von Bolsonaro stehen. Der gleiche Staat, der den Funk kriminalisiert, sucht auch den Dialog mit den Funkeiros. Das Kultursekretariat ist für den Funk, das Sicherheitssekretariat dagegen.

Arriesgada fragilidad

En el arte de tapa de Nómade se ve el rostro de la cantante, compositora e improvisadora Lucía Boffo multiplicado por nueve. Nueve facetas de la misma persona, nueve formas de acercarse a ese mismo ser. Como las nueve canciones que componen el álbum.
Nómade es el disco más arriesgado de la cantante, no por la complejidad compositiva, sino por el grado de exposición personal. Cada una de las canciones es un micro-universo en el que desnuda sentimientos y emociones como nunca lo había hecho. Es una mirada hacia adentro que invita a conocerla en su intimidad, a explorar los paisajes en los que creció, y la música que la atravesó; música que hoy define su estilo, tan personal como particular. Si “Quiero que me encuentres parece un homenaje encubierto a Spinetta, y en “Volvernos canción se escucha, difuminada y a lo lejos, una posible melodía drexliana, en “Mensajes transatlánticos”, “Lenga” o “Cerremos el telón”, la impronta del folclore argentino es determinante. También en “Desaparecer”, en donde incluso la música urbana tiene su lugar. El lenguaje jazzístico y por sobre todo la improvisación son, desde luego, elemento omnipresente. Y el coqueteo con el impresionismo francés casi que también. Especialmente en “Los ojos”, la canción que quizá más remita a trabajos anteriores, junto al pianista Andrés Marino.
En una época de escucha fragmentada, Nómade insiste en la unidad. El disco abre con una especie de manifiesto en clave de lo que vendrá: composiciones enmarcadas en el tan inmenso como escurridizo término canción; y termina con “Cerremos el telón”, a la vez síntesis de un vínculo que se desmorona y final del álbum. En el medio pasa de todo.
La voz, el piano y la guitarra son la columna vertebral de las canciones que integran el disco. Y a éstos se le suman arreglos de cuerdas y vientos, (contra)bajo, sintetizadores y efectos. Sin embargo, como era de esperarse, la voz en la música de Lucía Boffo sigue siendo el elemento estelar. Y no sólo por la calidad interpretativa y el evidente dominio técnico, sino porque la cantante deja muy en claro que ésta, una vez despojada de las palabras, es un instrumento como cualquier otro. Ella improvisa con la misma naturalidad con la que habla. O respira.
El nomadismo es movimiento, transformación, constante habitar nuevos espacios. En ese ir y venir hay abandono, pero también acumulación infinita de recuerdos, experiencias y encuentros. Nómade fue creado y producido entre Ushuaia, Buenos Aires y Berlín, y eso se escucha en los paisajes evocados, en las historias y en su gente. Y qué gente. Quique Sinesi, Violeta García, Ingrid Feniger, Daniel Schnock e Juan Ignacio Sueyro son algunes de les músiques que intervienen en esos micro-mundos. Nada mal para un debut. Porque Nómade es el primer disco solista de Lucía. Ahora, si los rumores son ciertos y tenemos suerte, es el primero de varios.

ALLE LIEDER SIND VERKLUNGEN

Jandir Rodríguez (Foto: Michelle Obando Blume)

Nach deiner Tournee 2019, bei der du Lieder aus deinem ersten Album Héroes de Abril (Helden des April) vorgestellt hast, bist du nun mit deinem neuen Album Volar (Fliegen) in Europa unterwegs. Nach Konzerten in Amsterdam, London, Genf, Madrid und Sevilla trittst du nun in Berlin auf. Wo wirst du dein neues Album noch vorstellen und wie läuft die Tour?
Die Konzerte waren bisher sehr gut besucht und die Stimmung hat mir gut gefallen. Nach Berlin werde ich noch in Brüssel, Barcelona und Kopenhagen auftreten und dann noch mal in Sevilla. Ich stelle mein neues Album Volar vor, das ich in Guatemala vor allem mit guatemaltekischen Musiker*innen produziert und bearbeitet habe. Am 19. März haben wir das Album bei einem Konzert in Guatemala vorgestellt, das auch gestreamt wurde. Es war ein sehr schönes Konzert, bei dem auch der bekannte nicaraguanische Liedermacher und Komponist Perrozompopo aufgetreten ist. Ich habe die Lieder aus dem neuen Album gespielt, aber natürlich habe ich auch die älteren Lieder gespielt, die aus den Protesten von 2018 heraus entstanden sind und einen eher sozialpolitischen Inhalt haben. Volar hat ein neues Konzept und eine neue musikalische Atmosphäre: Es sind Liebeslieder mit eher poetischem Inhalt über die Liebe im Alltag, aber auch im gesellschaftlichen Zusammenhang.

Ein Album, das eher grundsätzliche Werte des menschlichen Zusammenlebens besingt?
Ja, es gibt zum Beispiel ein Lied mit dem Titel „Libre“ (Frei), das von der Freiheit in allen ihren Aspekten handelt und darauf verweist, dass niemand uns die Freiheit verwehren kann und wir vielleicht sogar uns selbst entkommen müssen, um frei sein zu können. Ein anderes Lied heißt „Clochard“ und erzählt die Geschichte eines Mannes aus meinem Geburtsort San Rafael del Norte. Er hatte ein psychisches Problem und fiel deshalb aus dem sozialen Gefüge des Dorfes heraus, war aber immer da und stadtbekannt. Er heißt Ventura, ist inzwischen über 90 Jahre alt und heute im Rollstuhl unterwegs. Er hat ein Kriegstrauma und nahm manchmal ein Holzstück, um wie mit einer Pistole auf die Kids zu schießen, die ihn ärgerten, wenn er im Müll nach Essen suchte. Ich wollte seine Geschichte erzählen, da es in allen Dörfern ähnliche Figuren gibt, die immer noch mit den Bildern des Krieges zu kämpfen haben.

Glaubst du, dass Musik hilft, Wunden zu heilen?
Sicher. Lieder benennen oft den Schmerz, holen ihn hervor, bringen uns zum Weinen und das ist heilsam, damit der Schmerz nicht in uns stecken bleibt. Ich glaube ein Lied, das uns zu Tränen rührt, ist Teil des Heilungsprozesses. Und in diesem Sinne berühren meine Lieder oft die Menschen und bringen sie zum Weinen. Für mich ist das positiv. Ich spüre, dass ich dazu beitrage, dass eigener und kollektiver Schmerz bearbeitet wird.

Welche Rolle können Kultur und Musik überhaupt noch in Nicaragua und im Exil spielen?
Nicht nur die Musik, die Kunst insgesamt, wie zum Beispiel Schriftsteller*innen, Theaterleute, Karikaturist*innen haben eine enorme Bedeutung für den Widerstand. Die Kunst ist heute eines der geeignetsten Mittel, die Gefühle des Widerstands auszudrücken. Kunst, die in die Welt hinausgeht und sichtbar macht, was in Nicaragua passiert, hilft uns zu widerstehen und ist Teil der kollektiven Erinnerung. Durch die Kunst drücken wir aus, wie wir den geschichtlichen Moment erleben und erreichen damit, dass der Aufstand, die Forderung nach Freiheit und der Widerstand spürbar bleiben und nicht in Vergessenheit geraten.

Die Proteste von 2018 haben viele Lieder und Parolen der sandinistischen Revolution und aus der Zeit von Salvador Allende in Chile aufgenommen.
Ja, wir haben es vor einigen Jahren für undenkbar gehalten, dass eine derartige Repression noch einmal in Nicaragua möglich sein würde. Manche Aspekte der Repression sind sogar schlimmer als unter Somoza, weil sie ausgefeilter sind. Künstler*innen werden verfolgt, Literaturfestivals verboten, eben wegen der großen Resonanz, die Kultur hat. Dass sich viel­­­e Kultur­schaffende von ihnen abgewandt haben, war ein schwerer Schlag für sie (Ortega-Murillo, Anm. d. Red.), da sie immer dachten, sie hätten sie hinter sich. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass das erwachende Bewusstsein der Jugendlichen auch zu einer neuen Kulturbewegung führen würde und ältere Künstler*innen sich hinter sie stellen könnten.

Wie spiegelt sich das Exil in deiner Musik wider?
Zum Beispiel in meinem Lied „Exiliado“ (Exilierte). Als ich es schrieb, war ich noch in Nicaragua und habe mich in die Situation der bereits Exilierten versetzt. Als ich dann selbst nach Guatemala ins Exil gehen musste, habe ich gemerkt, dass manche Aspekte fehlten. Mir ist klar geworden, wie viel tiefer der Schmerz geht. Heute singe ich das Lied anders. Heute vermittelt sich das Lied den Zuhörer*innen anders. Auch das Lied „Nicaragua en la maleta“ (Nicaragua im Koffer) beschreibt das Exil, hat aber wie viele meiner Lieder am Ende einen Hoffnungsschimmer. In „Exiliado“ heißt es: „Exilierter, morgen wird alles anders sein, mit deinem Rucksack kehrst du aufs Feld zurück, um die Saat der Befreiung zu säen”. Wir brauchen diese Hoffnung und ich will den Menschen dieses kleine Stück Hoffnung mit meinen Liedern geben. Natürlich haben wir sehr schmerzhafte Erfahrungen gemacht, aber mit meinen Liedern will ich vermitteln, dass wir nach wie vor eine Zukunft haben, die wir gestalten können.

Heute arbeitest du viel mit Musiker*innen in Guatemala. Was bedeuten diese neuen Kontakte im Exil für dich?
Das Exil hat mir die Möglichkeit gegeben, Musiker*innen aus ganz Zentralamerika kennenzulernen, mit ihren ganz verschiedenen Ansätzen, die Musik mit dem Leben und unseren alltäglichen Kämpfen zu verbinden. Ich habe viel über die unterschiedliche Wirklichkeit in unseren Ländern in Zentralamerika gelernt, das war eine große Bereicherung für mich. Das bezieht sich sowohl auf die Erweiterung meiner technisch musikalischen Möglichkeiten, aber vor allem auf die Erweiterung meines Blicks auf das Leben. Das zeigt sich in meinen Liedern. Mein Leben selbst ist reicher geworden in einem sehr umfassenden Sinne. Das Exil hat meine Art des Denkens verändert, meine Art mich auszudrücken erweitert und meine Art, das zu teilen und zu vermitteln, was ich erlebe und mache. Und in diesem Sinne hatte das Exil auch eine positive Seite. Ich musste einfach wachsen, um im Exil meine Widerstandskraft zu behalten und eine gewisse zu Resilienz entwickeln.
Sie haben mir sehr viel genommen und mich von Menschen getrennt, die mir enorm viel bedeuten. Doch mit dem Wenigen, das mir geblieben ist, habe ich es geschafft, etwas Neues zu entwickeln und das zu machen, was ich gerne mache und anzubieten habe.

Welche Themen teilst du mit deinen Musikerkolleg*innen aus El Salvador, Guatemala und den anderen Ländern?
Vor allem den politischen Blick auf die zunehmende Repression in allen unseren Ländern. In Nicaragua wird die Diktatur immer offensichtlicher, die Unterdrückung immer ungehemmter und die Reaktionen der internationalen Öffentlichkeit kümmern die Machthaber nicht mehr. Aber auch in Guatemala habe ich ähnliche Unterdrückungsmechanismen kennengelernt und das brutale Ausmaß der Korruption und den Zynismus von Seiten der staatlichen Behörden. Die Diskriminierung, der Rassismus und Machismo, die manchmal wie normale Verhaltensweisen erscheinen, sind erschreckend.

Zeigt sich hierin und im Caudillismo und Klientelismus das koloniale Erbe?
Ja genau, diese Mechanismen finden sich als inhärente Momente in den ehemaligen Kolonien wieder und es ist unsere Aufgabe, das zu überwinden und neue kulturelle Werte zu entwickeln. Wir müssen aufhören, nach einer Figur zu suchen, die wir vergöttern können und der wir alle Verantwortung überlassen. Wir müssen verstehen, dass die Individuen im bürokratischen Apparat nicht unantastbar sind, sondern von uns Bürger*innen zur Rechenschaft gezogen werden können. In dem Maße, in dem es uns gelingt, das zu verändern, werden wir uns befreien − nicht nur in Zentralamerika sondern in ganz Lateinamerika. Dafür setze ich mich mit meiner Musik ein, dafür spiele ich mit Musiker*innen aus anderen Ländern. Gerade in Guatemala war es für mich wichtig, den Rassismus zu überwinden und mit Musiker*innen wie Sara Curruchich und Chumilkaj zusammenzuarbeiten und somit auch Forderungen der indigenen Bevölkerung und der campesinos (Bauern und Bäuerinnen) Ausdruck zu verleihen und ihre Weltsicht zu verbreiten. Diese Aspekte der mesoamerikanischen Kultur sind mir in Guatemala nähergekommen. Auch in Nicaragua war es eine wirklich gute Entwicklung, dass die campesino-Bewegung so stark geworden ist und eine führende Rolle in den Kämpfen der Zivilgesellschaft und sozialen Bewegungen gespielt hat. Das ist vielleicht einer der wichtigsten Aspekte des Aprilaufstandes von 2018, die Kraft der campesino-Bewegung und ihr Protagonismus in den sozialen Kämpfen.

TALENTE FÜR DIE GUTE SACHE

Foto: Guillermo Díaz Morales

Die Stadt Tumaco im Südwesten Kolumbiens wird in den Medien überwiegend als ein von Gewalt und Armut geprägtes Gebiet dargestellt. Wie sehr identifizieren Sie sich als Bewohner*innen dieser Stadt mit dieser Darstellung?
Neisy: Die Darstellung ist einerseits gut, weil sie der Realität entspricht und auch dazu beiträgt, die Bedürfnisse, die wir in der Gemeinde haben, sichtbar zu machen. Aber sich nur auf das Negative zu konzentrieren, kann viel Schaden anrichten. Tumaco ist nicht nur gekennzeichnet von Armut und Übel, es gibt auch viel Gutes hier: So gibt es einige Organisationen, die sich für den Schutz der Menschen, der Kunst und der Kultur einsetzen. Außerdem sind da die vielen jungen Menschen, die Musik machen und tanzen und ihre Talente für die gute Sache hier bei uns einsetzen. Tumaco hat wunderschöne Strände, das Essen ist spektakulär, es gibt eine große Artenvielfalt und die Menschen sind sehr gastfreundlich – in jedem Haus hier würde dir ein Teller Essen angeboten werden. In Tumaco herrscht viel Armut und es sind auch bewaffnete Akteur*innen unterwegs, aber es ist nicht alles schlecht. Wir als Gruppe sind gewillt, die schöne Seite Tumacos zu zeigen.

Tumaco wird als vom Staat vergessene Stadt bezeichnet. Ist diese Vernachlässigung spürbar?
Leonardo: Ich glaube, man muss das ganze politische System in Kolumbien betrachten, in dem alles zentral regiert wird. Wir, die im Süden und in der Pazifikregion leben, werden als die „schlechte Seite“ Kolumbiens betrachtet. Das Departamento del Chocó, Valle del Cauca und Nariño sind Departements, in denen die Armutsquote stets hoch ist. Dabei handelt sich um eine multidimensionale Armut, die die Gemeinschaft auf allen Ebenen betrifft. Es wäre naiv zu sagen, dass sich alles schnell verbessern wird, aber was wir versuchen können ist, unsere Talente und Begabungen zu nutzen, um Dinge voranzubringen.

Verschiedene Regierungen haben versucht, die Armut in diesen vernachlässigten Regionen zu lindern. Spiegeln sich diese Bemühungen in Städten wie Tumaco wider?
Leonardo: Es gibt jetzt die Entwicklungspläne mit einem territorialen Ansatz. Diese Pläne sind aus dem Friedensabkommen entstanden. Hierbei handelt es sich um Projekte, in denen die Gemeinderäte Menschen dabei unterstützen, der Armut oder prekären Lage, in der sie sich befinden, zu entkommen. Dies ist jedoch auch eine Frage der politischen Entscheidung, die nicht nur vom Willen unserer Gemeinschaft abhängt. Die Hilfe kommt hauptsächlich von der Regierung, aber auch von den Kommunalverwaltungen. Teilweise kommen die Hilfen kaum oder gar nicht bei den Menschen an, die darauf angewiesen sind. Das spiegelt sich vor allem in der Bildung, im Gesundheitswesen, am Arbeitsmarkt und in einem beschränkten Zugang zu öffentlichen Universitäten wider. Jede weitere Regierung, die antritt, verspricht etwas und hält es am Ende nicht ein – das ist eine unendliche Geschichte in Kolumbien.

Sind Sie der Meinung, dass die afrokolumbianische Bevölkerung von der Anerkennung der Multiethnizität Kolumbiens in der Verfassung von 1991 profitiert hat?
Leonardo: Ja, dafür müssen wir uns das einzige Gesetz angucken, das die ethnischen Bevölkerungsgruppen betrifft – das Gesetz Nummer 70. Dieses Gesetz gibt Afrokolumbianer*innen die Möglichkeit, sich in Gemeinderäten zu organisieren. Durch diese Räte wurde anerkannt, dass die Gemeinschaften über kollektive Territorien verfügen. Ein Kampf, den alle Schwarzen Gemeinschaften bis heute führen, ist es, dieses Gesetz zu vervollständigen. Nur so können alle Rechte und Vorteile für die Menschen in den einzelnen Gebieten vollständig ausgeschöpft werden.

Wie sind Sie dazu gekommen, Musik zu machen? Welchen Einfluss hat das auf andere junge Menschen in Tumaco?
Emerson: Ich bin vor sieben Jahren zufällig durch einen Workshop dazu gekommen, Musik zu machen. Einige Kinder, die mit uns Musik gemacht haben, haben gerappt, das hat uns auch inspiriert. Unsere Musik hat auf die Jüngeren einen großen Einfluss, denn sie sehen, dass wir keinerlei böse Absichten haben, sondern einfach nur Musik machen wollen. Somit haben wir eine Art Vorbildfunktion und motivieren Jüngere dazu, Gutes zu tun.
Neisy: Pedro Luis, wie kommt es, dass Du heute kein Guerillero mehr bist, sondern in einer Musikgruppe aktiv?
Pedro Luis: Vor allem dank meiner Familie: Meine Mutter hat mir immer eine gute Ausbildung ermöglicht und mir einen Weg für die Zukunft geebnet. Ich habe die Musik im Centro Afro kennengelernt, das war ein wichtiger Meilenstein in meinem Leben. Ich weiß nicht, wo ich jetzt wäre, wenn ich die Musik nicht kennengelernt hätte. Dafür bin ich der Gruppe sehr dankbar. Wir haben sogar ein Aufnahmestudio, die jungen Leute kommen dahin, um Aufnahmen zu machen, sie wollen in unsere Fußstapfen treten. Es bereitet mir sehr viel Freude, so einen Beitrag für die Gemeinschaft leisten zu können.

Ist es in Tumaco gefährlich, Musik zu machen, um grundlegende Lebensrechte einzufordern, wie an so vielen anderen Orten in Kolumbien?
Neisy: Wir als Gruppe, die zu einer Stiftung gehören, fühlen uns sicher, denn wir werden als Teil von etwas anerkannt. Wir sind die Kinder aus dem Centro Afro, das wiederum zu der Gemeinde gehört. So haben wir die Freiheit, uns auszudrücken und werden dabei von der Gemeinde unterstützt. Es ist etwas anderes, raus auf die Straße zu gehen und etwas zu verkünden – das ist wie auf einem Podest zu stehen und dann zu singen. Die Musik beschützt uns ein wenig und gibt uns das Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein. Als Gruppe wurden wir nie bedroht oder hatten Angst, unsere Meinung zu äußern. Wir kämpfen für die Verteidigung der Menschenrechte, für den Frieden in unserem Land und für ein anderes Tumaco. Wir sind nie wegen jemandem fortgegangen, wir befinden uns also auch nicht in den Händen der öffentlichen Gewalt, solange wir die Freiheit haben, unsere Gefühle in Liedern auszudrücken.

Wie war es für Sie, zum ersten Mal nach Berlin zu kommen?
Maria Paula: Ich bin glücklich und stolz, dass meine Kolleg*innen und ich es so weit geschafft haben – für uns ist das ein großer Erfolg. Für die Zukunft hoffe ich, dass wir so weitermachen, neue Orte kennenlernen und uns musikalisch entwickeln können. Vor allem aber ist es uns wichtig, Jugendlichen eine Chance auf eine andere Lebensperspektive aufzuzeigen, damit sie nicht bloß an das schnelle Geld denken. Denn der einfache Ausweg ist nie eine Lösung.
Neisy: Wenn es da draußen jemanden gibt, der uns eine weitere Reise ermöglichen will, dann sind wir mehr als bereit und stehen sofort zur Verfügung.

Wie würden Sie jemanden dazu einladen, Tumaco zu besuchen?
Maria Paula: Tumaco ist ein Ort ist, an dem viel Freude und guter Geschmack herrscht – beim Essen und auch, was die Menschen dort betrifft. Es ist sehr schön dort. Der Strand, die Landschaft, die Atmosphäre und die Musik – einfach alles! Ich hoffe, ihr verliebt euch auch in Tumaco.
Emerson: Ich kann euch nur ans Herz legen, Tumaco zu besuchen. Habt einfach eine gute Zeit, genießt das Essen, lauscht der Musik und lasst es euch gut gehen!

TANZEN UNTER SCHMUTZIGEN STERNEN

Die seltsamste Rapperin Argentiniens, wie sich Hebe im Gespräch mit der Zeitung Clarín selbst bezeichnet, ist zurück. Sucia Estrella (schmutziger Stern) ist ein sichtlicher Bruch: War das Cover ihres letztes Albums Politicalpari (siehe LN 540) noch von punkig anmutenden Graffitis verziert, liegt die Rapperin nun dämoninnenhaft rauchend zwischen verblichenen Blumen.

Explizite Texte mit persönlicher Note über die schönsten Dinge des Lebens und Hebes kraftvolle Stimme machen das neue Album aus. Der raue Hiphop-Sound ihrer bisherigen Alben, die Anleihen von Cumbia, Reggaeton und Rock enthalten, ist harten elektronischen Klängen gewichen. Was bleibt, ist die energische Wut in Sara Hebes Stimme, auch wenn die oft von kryptischen Kürzeln bezeichneten Lieder diesmal weniger offensichtlich politische Inhalte haben. Es geht um Liebe, Sex, Feiern, Tanzen; die Texte sind persönlicher, intimer, expliziter. Sie sei einfach müde, immer das gleiche zu singen und zu sehen, wie sich doch nichts verändere, sagt Hebe im Interview mit der paraguayischen Zeitschrift Vos.

Also wehrt sie sich gegen die immer perfider wirkenden kapitalistischen Verhältnisse und die Uniformität des Musikmarktes, indem sie sich neuer Stile bedient: Trap, House, Techno oder Pop, die Sounds der jungen, aufstrebenden Musikszene Argentiniens. „Ich bin eine Marke und meine Musik ist Marketing“, rappt Hebe in „Almacén de Datos“ (Datenspeicher), gemeinsam mit der chilenischen Rapperin Ana Tijoux über einem fast erschöpft klingenden Beat. Der ständige, ermüdende Kampf um Sichtbarkeit in Playlists, auf Festivals und Konzerten verbindet die beiden kritischen Musikerinnen. In „BBY Voom“ greift sie die ihr entgegengebrachte Kritik, nun ihren eigenen Ausverkauf anzustreben, humorvoll auf: „Ich lehre euch immer noch, die Polizei zu hassen“. Mit „Yala Labaut“ geht sie zurück zu ihren Wurzeln. Der Song nimmt Bezug auf das gleichnamige Dorf in Patagonien, der Region, aus der Hebe selbst stammt. Dessen Einwohner*innen wehren sich gegen den geplanten Extraktivismus einer Minenfirma und zu ihrer Unterstützung bemüht die Rapperin dann doch wieder Demosprüche. Auch im Song „La Bronca“ (Die Wut) passt sich ihre überschlagene, Proteste hinaufbeschwörende Stimme perfekt den wild pumpenden Beats an. Dafür zeichnen insgesamt sieben Produzent*innen verantwortlich, neben ihrem Stammproduzenten Ramiro Jota etwa Río del Pari und Manu Calmet. Zusätzlich steuern neben Tijoux die argentinische Technoproduzentin Rattlesnake, DJ Sassyggirl und Sängerin The Colorated musikalische Überraschungen bei.

Eine Wiederholung würde einem Verrat gleichkommen, sagte Hebe im Interview mit dem argentinischen Radiosender Futuröck FM, und wer genau hinhört, findet zwischen den Zeilen die gleiche Haltung wie immer. Sucia Estrella ist eine Einladung zum Tanzen auf den Trümmern, unter den schmutzigen Sternen. Dazu kommt Sara Hebe nach Vorstellung ihres Albums in verschiedenen Ländern Lateinamerikas im Sommer auf Tour nach Europa.

MIT FUNKELNDEN MESSERN

„Die einzige Person, die diesen Preis gewonnen hat und kein Mann ist, war Mercedes Sosa vor 19 Jahren. Heute gewinnt ihn eine Lesbe.“ Mit diesen Worten nahm Marilina Bertoldi 2019 den wichtigen argentinischen Musikpreis Gardel de Oro für ihr Album Prender un fuego (Ein Feuer entfachen) entgegen. Wie unverzichtbar diese Sichtbarkeit ist, weiß Bertoldi selbst nur zu gut. Aufgewachsen in der Kleinstadt Sunchales in der Provinz Santa Fe, scheiterte sie in ihrer Jugend bis zur Verzweiflung daran, einen Ausdruck für ihr Begehren zu finden. Jahrzehnte nach ihrem lesbischen Comingout kämpft sie nun für echte Diversität. In ihrer Musik können sich auch jene wiederfinden, die sonst keinen Platz haben.

Mojigata heißt Bertoldis viertes, selbst produziertes Soloalbum. Der Titel nimmt Bezug auf eine eher im ländlichen Raum genutzte abwertende Bezeichnung für Personen, die nur keine Aufmerksamkeit erregen wollen. Auch Bertoldi legt es nicht darauf an, zu provozieren, eckt aber mit ihrer bloßen Anwesenheit als lesbische Frau im Musikbusiness oft genug an. Oftmals wurde sie auf Festivals von Musikern und Managern angefeindet: Sie ruiniere den Rock, sei Teil einer Bewegung, die auf Repräsentation und Vielfalt mehr Wert lege als Qualität.

Mojigata ist ein erneuter Beweis, dass das Gegenteil der Fall ist. Die Platte ist eine absolut notwendige Erneuerung, die dem argentinischen Rock überhaupt erst eine Zukunft schafft. Das stellen zehn Lieder und ein kurzes Intro eindrucksvoll unter Beweis. Kaum einer der Songs ist länger als drei Minuten, sie bleiben schnörkellos auf das Wesentliche reduziert. Eingängige Riffs, eine unglaublich präzise groovende Rhythmusgruppe, kurze, prägnante Gitarrensoli. Dazu singt, flüstert, schreit, knurrt Bertoldi mit ihrer unvergleichlichen Stimme.

Auch die Texte sind schlicht, aber umso eindrücklicher, die fast abgehackt wirkenden Sätze zutiefst argentinisch und durchzogen von Anglizismen, eine Hommage an ihre Vorbilder Fiona Apple und Sheryl Crow. Es geht um Alltägliches, psychische Probleme, Begehren. Im funky „Vivo Pensando en Ayer“ (Ich lebe ans Gestern denkend) wacht im Hintergrund eine Stimme auf, die später in „Beso, Beso, Beso“ (Kuss) poltert. Im Interview beim Programm Caja Negra verrät Bertoldi, dass diese Stimme eine Art vertonte Neurose sei. Denn in der queeren Community gebe es einen feinen Sinn für Humor, ausgelöst von dem Trauma, mit dem dort alle umgehen müssen.

Queeres Begehren ist auch Thema der bisher produzierten Musikvideos. In der sphärischen Ballade „Amuleto“ (Amulett) tritt Bertoldi mit der chilenischen Sängerin Javiera Mena auf. Im Video wird der Tagtraum einer erotischen Begegnung zwischen Mena als Ärztin und Bertoldi als Patientin inszeniert – laut Bertoldi das erste Video zweier offen lesbischer Musikerinnen aus Lateinamerika. Weniger subtil tritt die Musikerin in „La Cena“ (Das Abendmahl) gemeinsam mit der Sexworkerin und Aktivistin María Riot in einem ländlichen Anwesen auf. Das Video spielt mit der Romantik der Gauchos und ist gleichzeitig eine lesbische Utopie, die Klischees und Binaritäten aufwirft, um sie dann wieder zu verwerfen.
„Ich verbringe die Zeit damit, Messer zu schleifen“, faucht Bertoldi in „La Cena“ und es ist das Funkeln dieser Messer, das ausreicht, um die Dinosaurier des Rocks zittern zu lassen. Aber, wie sie selbst sagt: „Das Beste kommt erst noch, und der Rest kann brennen.“

GEGEN DAS REPRESSIVE VERGESSEN

„Das Lied ist eine Waffe“, sagte Víctor Jara 1971 der chilenischen Zeitung La Nación. Sein gemeinsam mit Mitgliedern der Folklore-Gruppe Inti-Illimani geschriebenes „Venceremos“ (Wir werden siegen) begleitete Salvador Allende auf dem Weg zum Wahlerfolg. Als dann der Putsch die Errungenschaften Allendes Regierungszeit zunichtemachte, versuchten die Militärs mit aller Kraft, auch die Musik zu zerstören: Inti-Illimani wurden ins Exil gezwungen, Víctor Jara im Estadio Chile, welches heute seinen Namen trägt, ermordet. In der als Apagón Cultural (etwa: kulturelles Blackout) bekannten Zeit wurden nicht nur Aufnahmen konfisziert und vernichtet, sondern sogar traditionelle Musikinstrumente wie Quena (Flöte), Bombo (Trommel) und Charango (ein zwölfseitiges Saiteninstrument, der Korpus bestand ursprünglich aus dem Panzer eines Gürteltiers) verboten. Damit endete die Blütezeit der Bewegung der nueva canción chilena. Diese war ein Jahrzehnt zuvor aus Violeta Parras Bemühungen, Lieder der Folklore aus den ländlichen Gebieten nach Santiago zu bringen, entstanden. Das Einbeziehen lokaler Folklore war prägend für damalige politische Lieder – und heute sampeln Rapperinnen wie die chilenische Musikerin Ana Tijoux in Chile oder die guatemaltekische Rapperin Rebeca Lane Folklore-Elemente für ihre Tracks.

Aus den finsteren Jahren der Militärdiktaturen in vielen lateinamerikanischen Ländern schrieben Bands wie die Rockgruppe Los Prisioneros in Chile, deren „El baile de los que sobran“ eine der Hymnen der Revolte von 2019 und des Paro Nacional 2021 in Kolumbien wurde, oder die Punkband Los Violadores in Argentinien über die Perspektivlosigkeit ihrer Generation und die Allgegenwärtigkeit der Repression. Charly García, einer der bekanntesten Vertreter des rock nacional in Argentinien, sang 1983 in „Los Dinosaurios“ über die Möglichkeit, jederzeit verschwunden gelassen zu werden, aber auch darüber, dass die als Dinosaurier bezeichneten Militärs gestürzt werden können.

„Das Lied ist eine Waffe“

Zu Beginn der Revolte im Oktober 2019 in Chile wurde Jaras „El derecho de vivir en paz“, ursprünglich in Solidarität mit Vietnam geschrieben, in einer gemeinsamen Aktion von zahlreichen bekannten Musiker*innen aus Chile ein neuer, auf die aktuelle Situation im Land angepasster Text verliehen. Im Dezember des Jahres spielten Inti-Illimani selbst vor einem riesigen Demonstrationszug auf der Plaza de la Dignidad in Santiago „El pueblo unido“ von Quilapayún und Jaras Ode an das Recht, in Frieden leben zu dürfen. Auch von der Marcha más grande de Chile (die größte Demonstration Chiles) einen Monat zuvor kursieren Aufnahmen, in denen das Lied von Tausenden Demonstrierenden gemeinsam gesungen wird.

Das Protestlied als Genre im spanischsprachigen Raum fand seinen Höhepunkt in den 60er und 70er Jahren. In einer Erklärung zum ersten Treffen des Protestlieds, welches 1967 in Varadero auf Kuba stattfand, hieß es: „Das Lied muss eine Waffe im Dienst der Völker sein, kein Konsumprodukt des Kapitalismus, um sie weiter zu spalten“. Die Überzeugung, für die Arbeiterklasse zu singen, ihr selbst anzugehören, gehörte damals dazu.

Über ein halbes Jahrhundert später gibt es auf dem vom Neoliberalismus und Konservatismus gebeutelten Kontinent immer noch mehr als genug Gründe, sich gegen die herrschenden Ungerechtigkeiten musikalisch aufzulehnen. Die Zahl derer, die mit der Gitarre in der Hand ihrer Wut Ausdruck verleihen, mag abnehmen, – aber es gibt sie noch, die kolumbianische Liedermacherin La Muchacha ist ein herausragendes Beispiel. Ihr „No Azara” entstand im Rahmen des Generalstreiks in Kolumbien: „Ihre Grausamkeit bringt mich nicht zum Schweigen. Wir haben die Power der Minga”. Der Begriff Minga bezeichnete eigentlich einen kollektiven Arbeitseinsatz, wird aber synonym für politische Versammlungen verwendet.

Die Lieder überschreiten unzählige Generationen und Grenzen

Soziale Medien haben dabei die Art beeinflusst, wie Musik entsteht und verbreitet wird. Die in sozialen Netzwerken verbreiteten kurzen Aufnahmen von Demonstrationen sind oft von Musik unterlegt und Musiker*innen wiederum nutzen dort aufgenommene Tonsequenzen, Sprechchöre oder das charakteristische Schlagen der Kochlöffel auf den leeren Töpfen beim Cacerolazo für ihre Lieder und Aufnahmen von Demonstrationen für Musikvideos.

Im alternativen kolumbianischen Musikmagazin Shock versucht Juan Carlos Escobar Campus anhand von Daten des Musikstreamingdienstes Spotify zu untersuchen, wie sich die Hörgewohnheiten junger Menschen rund um den Beginn des Paro Nacional verändert haben. Dabei fällt ihm auf, dass etwas weniger Reggaeton gehört wird. Escobar Campus mutmaßt, dass dies an der fehlenden politischen Positionierung der bekanntesten Vertreter*innen dieser Musikrichtung liegen könnte. Stattdessen erhöhen sich die Wiedergabezahlen von Liedern von Calle 13 und lokalen Künstler*innen, wie beispielsweise des Liedes „¿Quién Los Mató?“ von dem Sänger Junior Jein und drei weiteren Schwarzen Künstler*innen, das zum Genre des Salsa Choke (Mischung aus Salsa und urbanen Klängen) gehört. Das Lied erinnert an ein Massaker an fünf Schwarzen Jugendlichen in einem Zuckerrohrfeld bei Cali. Jein wurde am 14. Juni 2021 selbst von Auftragsmördern erschossen (siehe LN 565/566). Auch die älteren politischen Lieder, wie „El pueblo unido“, wurden wieder viel öfter gehört. Und natürlich sind die Proteste in Kolumbien immer musikalisch: Schon zum Generalstreik 2019 spielten 300 Musiker*innen verschiedener Konservatorien zu einem „Cacerolazo sinfónico“ in Bogotá auf. Andere tourten als „Un canto por Colombia” durch das Land. Und bei vielen Demos laufen lokale Percussiongruppen mit, um die Sprechchöre schlagkräftig zu unterstützen.

Zusätzlich zu eher länderspezifischen Protestbewegungen bringen kontinentübergreifende Kämpfe, wie etwa die der feministischen Bewegungen für das Recht auf freie und kostenlose Abtreibung und gegen Feminizide, ihre Lieder hervor: Das hymnische „Canción sin Miedo“ (Lied ohne Angst) der mexikanischen Sängerin Vivir Quintana oder das, wie die 2015 in Argentinien entstandene Bewegung benannte, „Ni una menos“ der queeren Reggaetonera Chocolate Remix. Im bedrückenden Panorama der Unterdrückung sexueller Vielfalt und reproduktiver Rechte in Mittelamerika schafft Rebeca Lane gemeinsam mit Audry Funk aus Mexiko und Nakury aus Costa Rica mit Somos Guerreras ein ermutigendes Projekt (siehe LN 541/542).

In seinem Buch El canto de la tribu bezeichnet der mexikanische Musiker Jorge Velsaco Bewegungen wie die nueva canción chilena als Möglichkeit, historische Momente von unten zu erzählen und sich gegen das von politisch Machthabenden angestrebte repressive Vergessen zu wehren. Dass das gelingt, zeigt sich darin, wie die erwähnten Lieder unzählige Generationen und Grenzen überschreiten. Ob sie nun als Protestlied gedacht waren oder nicht: Sie verbinden Kämpfe und Menschen, sind Ausdruck von Selbstermächtigung und der ermutigenden Gewissheit, dass es immer weiter geht.

AUFRECHT BIS ZUM SCHLUSS

Óscar Chávez bei einem Konzert in Mexico City an seinem 81. Geburtstag (Foto: ProtoplasmaKid via Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

Chávez gehörte zu den Gigant*innen der Música Folclórica Mexikos und ganz Lateinamerikas. Geboren 1935, wuchs er in den einfacheren Vierteln von Mexiko City auf und hatte dabei von Kindheit an Zugang zu Kunst und Musik. Sein Vater war ein leidenschaftlicher (allerdings nie professioneller) Gitarrist. So kam Chávez schon früh in Kontakt mit der Trova, einem fast vergessenen Stil lateinamerikanischer Gitarrenmusik, der im 19. Jahrhundert von fahrenden Sänger*innen in Kuba erfunden wurde. Nach der kubanischen Revolution von 1959 sollte dieser Stil in der Trova Moderna, die die traditionellen Wurzeln mit Sozialkritik und Einflüssen moderner Rock- und Popsongs kombinierte, ein Revival erleben. Óscar Chávez galt als eine*r der prominentesten Vertreter*innen dieses Genres.

Obwohl Chávez bereits 1963 sein erstes Musikalbum veröffentlichte, verdankte er seinen Aufstieg zu Berühmtheit seinem Wirken als Schauspieler in Los Caifanes. Der 1967 gedrehte Kultfilm, an dessen Drehbuch unter anderen Carlos Fuentes mitschrieb, gilt als Meilenstein des mexikanischen Kinos. Als Mitglied einer Gruppe junger Männer aus der Arbeiterklasse, die sich Caifanes nennen und durch das Nachtleben Mexico Citys ziehen, verdiente sich Óscar Chávez seinen Spitznamen Caifán Grande, der ihm später auch als Musiker erhalten bleiben sollte.

Das zweite einschneidende Ereignis für den Werdegang des Sängers waren die Studierendenproteste des Jahres 1968 in Mexiko. Bei den Kundgebungen gegen die Politik des mexikanischen Präsidenten Díaz Ordaz spielte Chávez regelmäßig in Universitäten und auf öffentlichen Plätzen und stellte sich gegen die Gewalt und Repression der Regierung, die im Massaker von Tlatelolco mit über 200 Toten gipfelte. Von diesem Moment an war die politische Dimension in Chávez’ umfangreichem musikalischem Werk allgegenwärtig. Unter den über 50 Alben, die er veröffentlichte, bestehen alleine 20 aus politischen Parodien und Protestsongs. Exemplarisch dafür steht das Stück La Casita, in dem er mit beißender Ironie Gier und Machtmissbrauch von Funktionär*innen kritisiert, die die Ideale der mexikanischen Revolution verraten haben.

Ikone der mexikanischen (Pop-)Kultur

Darauf, dass er sich mit Menschlichkeit und Prinzipientreue zum Anwalt der einfachen Bevölkerung machte, beruhte Óscar Chávez’ immense Popularität. Er bezeichnete sich selbst dezidiert als links, politische Parteien waren ihm allerdings zeitlebens zuwider. Dagegen unterstützte er Bewegungen wie die zapatistische EZLN, die er einmal als „zu den wenigen anständigen Leuten in Mexiko gehörend“ bezeichnete, mit Einnahmen aus Konzerten und Plattenverkäufen. Seine unverwechselbare Stimme, seine Verdienste um die Wiederbelebung und Erneuerung musikalischer Traditionen seines Landes und sein bescheidener, skandalfreier Lebenswandel machten ihn aber auch weit über das linke politische Spektrum hinaus zu einer Ikone der mexikanischen (Pop-)Kultur. So war und ist Chávez’ Musik bis heute an unterschiedlichsten Orten präsent und überschreitet gesellschaftliche Grenzen. Macondo performte er mehrfach in Künstler*innencafés gemeinsam mit Gabriel García Márquez, die sehnsüchtige Ballade Por tí fehlt auf kaum einer Karaokeparty. Ein Jahr vor seinem Tod wurde er deshalb folgerichtig von seiner Heimatstadt als „Lebendiges Kulturerbe Mexico Citys“ ausgezeichnet. Óscar Chávez’ Stimme wird in einem mehr denn je von Ungleichheit und Ungerechtigkeit gebeutelten Mexiko fehlen. Sein musikalisches Erbe aber wird überdauern. Descansa en paz, Caifán Grande.

„ICH DACHTE, ES WÜRDE UNS SO GUT GEHEN“

Barbi Recanati bei einem Konzert in Santa Fé (Foto: TitiNicola via wikimedia commons (CC BY-SA 4.0))

Ausgerechnet am 20. März, dem ersten Tag der Corona-bedingten Ausgangssperre in Argentinien (siehe LN 550), erschien mit Ubicación en Tiempo Real das erste Soloalbum der Gitarristin, Sängerin und Produzentin Barbara „Barbi“ Recanati. Der Titel lässt sich als „Live-Standort“ übersetzen, also jene viel genutzte Option von Smartphones, den eigenen Standort in Echtzeit zu teilen. Recanati selbst befand sich an diesem Tag bereits in häuslicher Quarantäne, zusammen mit Bandkollegen und ihrem Sohn. Auf die Mexiko-Tour im März hätte eigentlich ein Konzert auf dem großen SXSW-Festival in Texas folgen sollen. Trotz dessen Absage folgte auf den Rückweg über die USA die zwingende kollektive Quarantäne.

Barbi Recanati ist schon lange in der Alternativ-Rockszene in Argentinien aktiv und wurde als Lead-Sängerin der Utopians bekannt. Die Band löste sich auf, nachdem Recanati einen der Gitarristen rausschmiss, dem teilweise noch minderjährige Fans übergriffiges Verhalten vorgeworfen hatten.

Recanati stellt die alte Riege machistischer Musiker bloß

Seitdem kämpft sie für die Sichtbarkeit von FLINT*-Personen in der argentinischen Musikszene. Auf ihrem eigenen Label Goza Records, gegründet in Kooperation mit dem Community-Internetradiosender Futurock, ermöglicht Recanati jeden Monat einer Musikerin oder Band, ein Album zu produzieren. Dies soll einen Einstieg in die Musikszene abseits der etablierten und cis-männlich dominierten Strukturen erleichtern.

Die Erneuerinnen des argentinischen Rock eignen sich mit spielender Leichtigkeit dessen tausendfach reproduzierten und männlich konnotierten Gesten an. Wie Marilina Bertoldi, Paula Maffía und die Band Eruca Sativa stellt Recanati somit die alte Riege machistischer Musiker und Produzenten bloß, die über vermeintlich mangelndes Talent von Musikerinnen und das Ende letzten Jahres verabschiedete Mercedes-Sosa-Gesetz, welches eine Quote für weibliche Acts auf den Bühnen großer Musikveranstaltungen festschreibt (siehe LN 545), jammern.

Auf Goza Records erscheint nun auch Barbi Recanatis erstes eigenes Album, Ubicación en Tiempo Real. Trotz des modernen Titels der Platte schöpft sie musikalisch aus der Vergangenheit. War ihre vorher veröffentlichte EP Teoria Espacial („Raumtheorie“) noch von nach vorne preschendem, wütendem Rock dominiert, sind die sieben Songs auf Ubicación en Tiempo Real schleppender und eindrücklicher.

Inspiriert vom New Wave und Alternative Rock der 80er Jahre dominieren verzerrte Gitarren und hallende Synthesizer über dem Fundament einer präzise arbeitenden Rhythmussektion. Die Lieder und ihre Texte mögen zunächst einfach wirken. Doch die behutsamen und ausgefeilten Arrangements ziehen bei mehrmaligem Hören immer hypnotisierender in ihren Bann.

Hipsterfressende Hexen im Musikvideo

Die prägnanten Titel der sieben Lieder passen genauso zur schnörkellosen Musik wie die direkten, persönlichen Texte: „En la Frente“ („Auf die Stirn“). „Ich hoffe, du nimmst es nicht persönlich, ich hasse dich wirklich“, singt Recanati in „¿Qué Le Ves?“ („Was siehst du in ihm?“) über eine Person, die andere schlecht behandelt und sich damit herausredet, eigentlich ganz anders zu sein. „Los Demás“ kritisiert das ständige Reden über „die Anderen“ statt über sich selbst. „Para Darte“ („Um dir zu geben“) baut auf einer wuchtig, treibenden Basslinie auf und die schleppend schönen Ballade „Los Días Que No Estás” („Die Tage, an denen du nicht da bist“) wird vom einzigen Gast des Albums gesungen, Paula Trama der Popgruppe Los Besos. „Ich habe geglaubt, es würde uns so gut gehen“, singt Recanati in „Que No“ („Nein!“). Im dazugehörigen Video, von den Regisseurinnen Malena Pichot und Lucia Valdemoros inszeniert, tanzen Hexen durch ihr Haus, am Ende überlässt ihnen Barbi einen Hipster, der zu Besuch vorbeikommt, zum Fraß.

Eigentlich sollte Ubicación en Tiempo Real auch als Schallplatte erschienen, was die knapp gehaltene Songauswahl erklärt. Vorerst ist dieser Quarantäne-Musiktipp jedoch nur online, beispielsweise auf Spotify oder Youtube, zu hören.

AUS EINER ANDEREN ZEIT


Bild: Nuzzcom Music / World Circuit / BMG

„Ich genieße das Gefühl, dass in dem, was ich singe wirklich etwas steckt“, sagte der aus Santiago de Cuba stammende Sänger Ibrahim Ferrer einmal. Vielleicht meint er damit Geschichte, denn seine Musik klingt wie eine schöne Erinnerung an eine vergangene Zeit.

Das Album Buenos Hermanos überzeugt durch hervorragende Musiker*innen und eine vielfältige Instrumentierung. Produzent und Gitarrist Ry Cooder, der Ferrer bereits Ende der 1990er Jahre bei Buena Vista Social Club kennenlernte, verpasste dem bereits 2003 erschienenen Album einen aufgefrischten Klang, der alle Wünsche aufmerksamer Hörer*innen erfüllt. Zudem fügte er vier Lieder aus den alten Sessions hinzu. Warum zum Beispiel „Ven Conmigo Guajira“ damals nicht veröffentlicht wurde, weiß er nicht mehr zu sagen. Cooder bezeichnet die auf dem Album enthaltene Version sogar als die beste dieses kubanischen Standards. Das Lied „Me Voy Pa Sibanicú“, dem Cooder ein Solo mit der kubanischen Laúd beisteuerte, wird hingegen heute wohl nur noch auf dieser CD zu hören sein. Denn die Musik stammt aus einer anderen Zeit.

Ibrahim Ferrer singt auf dem 17 Titel umfassenden Album Lieder des kubanischen Son, dessen Wurzeln bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichen. Der Son verlor irgendwann nach der Revolution an Bedeutung und wurde zur Musik der Alten, bis Ferrer ihm als Sänger zu einer späten internationalen Blüte verhalf und damit selbst weltberühmt wurde. Für den Sänger eine große Überraschung, denn eigentlich hatte er sich Anfang der 1990er Jahre zur Ruhe gesetzt. Um sich den Lebensunterhalt zu verdienen, arbeitete er als Schuhputzer bis der Bandleader der Afro-Cuban Allstars, Juan de Marcos González Cárdenas, ihn plötzlich zu den Aufnahmen für Buena Vista Social Club einlud.

Als Buenos Hermanos 2003 erschien, begannen die USA den Krieg im Irak. Cooder sagte in einem Interview, der Krieg habe die USA kulturell zurückgeworfen. Weltmusik wurde auf einmal unpopulär. Dennoch wurde das im selben Jahr veröffentlichte Album von Ibrahim Ferrer mit einem Grammy ausgezeichnet. Es galt wohl damals wie heute: „Wir brauchen etwas Gutes, etwas Schönes in diesen Zeiten”, wie Cooder über die neue Auflage schwärmt. Das trifft ebenfalls auf das beiliegende Booklet zu, welches mit bewegenden Fotos, den spanischen Texten sowie englischen Übersetzungen eine gelungene Beigabe ist.

Der Son sowie Ibrahim Ferrer stehen für einen Sound, der wie der Blues die Grundlage für viele Musikstile geworden ist. Definitiv eine wertvolle Scheibe.

SCHLICHT UND EINFACH VERSPIELT

Die faltigen Hände zittern, als sie über das Klavier gleiten. Scheinbar orientierungslos tasten sie die Abstände zwischen den Tönen ab, rücken die vergilbten und zerfledderten Notenblätter zurecht. Doch dann bricht die Anfangssequenz von Medium die erzeugten Erwartungen: Die eben noch so müden Finger beginnen ihren Tanz über die Tasten, konzentriert und ohne Fehler führen die Hände eine perfekte Inszenierung des Intermezzo Opus 117 Nr. 3 von Brahms auf, dessen Melodien den ganzen Film begleiten werden.

Die Hände, denen die gut einstündige Dokumentation aus Argentinien eine so eindrückliche Szene widmet, gehören Margarita Fernández. Die inzwischen über 90 Jahre alte Pianistin und Künstlerin aus Buenos Aires ist eine langjährige Freundin des argentinischen Filmemachers und Autors Edgardo Cozarinsky. Dass der Regisseur die Porträtierte gut kennt, fällt bald auf: keine einleitenden Worte über Fernández, kaum biografische Bezüge oder Anekdoten. Cozarinsky konzentriert sich in Medium allein auf Margarita Fernández als Künstlerin und Vermittlerin – zwischen Film, Musik und Theater ebenso wie zwischen Jung und Alt. Historische Aufnahmen von Theater- und Musikperformances werden mit aktuellen Szenen kombiniert, die den Alltag der Pianistin zeigen. Darin wandert sie durch die Stadt und vermittelt ihren jugendlichen Schüler*innen das Werk von Komponisten aus dem 19. Jahrhundert, mit deren Persönlichkeiten sie sich intensiv auseinandergesetzt hat. Deren Musik, etwa die von Chopin oder Brahms, versteht Fernández als Quelle menschlicher Gesten.

So schön anzusehen diese intensive Beschäftigung mit der Musik auch ist, lässt Cozarinskys Dokumentation gleichzeitig zu viele interessante Aspekte von Margarita Fernández‘ Leben unerwähnt und driftet in Schlichtheit ab. Die freundschaftliche Beziehung zwischen Pianistin und Filmemacher wirft Fragen auf, die filmisch nicht beantwortet werden. Cozarinskys Annäherung auf persönlicher und musikalischer Ebene sieht über die interessante Biografie der Künstlerin hinweg, ihr politisches Engagement wird nur angedeutet, über ihre Herkunft erfahren die Zuschauer*innen nichts. Die Einzelheiten ihrer musikalischen und spirituellen Auseinandersetzung mit romantischen Komponisten mögen für Freund*innen und Fans von Margarita Fernández interessant sein, für Außenstehende fehlen jedoch von Anfang an zu viele Informationen über sie als Person. Auch die zuweilen sehr inszeniert wirkenden Dialoge zwischen Pianistin und Musikschüler*innen passen zu dem künstlerisch anmutenden, aber insgesamt zu oberflächlichen Filmprojekt. Abseits der sehr gelungenen und beeindruckenden Eingangssequenz schafft Medium leider nur eine blasse Erinnerung.

GEMEINSAM UND VON UNTEN

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LUCÍA BOFFO
ist eine argentinische Sänger und Komponistin aus Ushuaia, Feuerland. Ihre eigenen Alben erschienen in den Jahren 2014 (Ellingtones) und 2017 (Diente de león). Seitdem ist sie hauptsächlich an gemeinsamen Musikprojekten mit unterschiedlichen Künstler*innen beteiligt, zuletzt bei La cocina magnética und La jaula se ha vuelto pájaro y se ha volado (beide 2019).

(Foto: Andrea Vargas)


 

Seit jeher gibt es Künstler*innen, die sich offen gesellschaftlich engagieren und solche, die ihre Arbeit eher als ästhethisches Produkt sehen. Wie stehst du zu diesem Konzept?

Ich denke, wir alle machen Politik und wir alle engagieren uns. Man muss hier aber zwischen Politik und politischen Parteien unterscheiden: Meine Musik ist nie parteipolitisch! Aber es ist unmöglich, nicht politisch zu sein. Mein musikalischer Partner Andrés Marino und ich gehen das Thema aus einer impressionistischen Sichtweise an. Im Song „Ella allí“ beispielsweise, der von meiner Großmutter handelt, habe ich metaphorisch eine – wie ich finde – feministische Kritik geäußert. In diesem Lied erzähle ich ihr ganzes Leben und bewundere ihren unglaublichen Optimismus. Ich sage „unglaublich“, weil sie wirklich ein beschissenes Leben hatte. Das lag vor allem an der Situation der Frauen in der Gesellschaft. Als meine Oma geboren wurde, wurde sie ihrer Mutter, meiner Urgroßmutter, weggenommen, weil es keine alleinerziehenden Mütter geben durfte. Das ist für mich pure Politik.

Bezeichnest du dich als Feministin?

Ja, ich könnte mich als Feministin bezeichnen, oder als lernende Feministin, ich entdecke mich gerade neu. Immer wieder merke ich, dass bestimmte Realitäten und Ängste, von denen ich dachte, dass sie nur mich betreffen, strukturell sind. Dass ich nicht die Einzige bin. Diese Erkenntnis stammt besonders aus der letzten Zeit, in der in Argentinien die Generation des gemeinsamen Bewusstwerdens ihren Höhepunkt erreicht hat. Das war nur möglich, weil immer mehr Frauen sich getraut haben, ihre Erfahrungen zu schildern.

Warum war das so wichtig?

Ich denke, nur wenn wir unsere Erfahrungen miteinander teilen, können wir den Stillstand beenden. Ich dachte mein ganzes Leben lang, ich sei eine Schisserin. In Wahrheit sind wir das alle, weil wir Gründe dazu haben: Weil sie uns töten und weil sie uns vergewaltigen. Es ist egal, wo wir sind. Wir müssen immer mit zwei Augen im Rücken herumlaufen, um zu sehen, wer hinter uns läuft. Neulich habe ich in einer Facebookgruppe von Argentinier*innen in Berlin gelesen, dass eine junge Frau von einem Typen bis nach Hause verfolgt wurde. Sofort erzählten viele Frauen, dass ihnen ähnliche Dinge passiert sind. Diese Erfahrungen gibt es, manchmal mehr oder weniger, aber es gibt sie überall. Wenn du dir bewusst machst, dass die Angst nicht nur deine ist, kannst du aufhören, dich allein zu fühlen. Daher ist es unglaublich wichtig, darüber zu reden, auch wenn diese Themen sehr unangenehm sind.

Interessieren dich diese Erfahrungen vor allem privat oder auch auf der musikalischen Ebene?

Ich versuche, diese Dinge in meinen Liedern zu thematisieren. Vor Kurzem habe ich einen Text geschrieben, der von einem ähnlichen Thema handelt: von der Macht, frei lieben zu können und mit der Person, die man mag, händchenhaltend herumzulaufen. Denn das können immer noch nicht alle. Zwei Männer können nicht frei miteinander händchenhaltend herumlaufen. Wieso nicht? Weil es so ist, weil sie verurteilt und angestarrt werden. Selbst wenn wir sie nur ansehen und in lieblicher Stimme denken „ach, wie süß“, dann diskriminieren wir sie. Weil wir das wahrscheinlich bei einem heterosexuellen Paar nicht denken würden. Bei solchen Ungerechtigkeiten wird mir immer wieder bewusst, wie wichtig ich es als Musikerin finde, Stellung zu beziehen. Selbst wenn mir nur ein paar Menschen zuhören, ist das notwendig. Mir ist es wichtig, die Rolle der Frau in der Gesellschaft und in der Musik, ob singend oder komponierend, zu hinterfragen.

Schließlich bist du ja selbst Sängerin.

Genau. Mein Mittel ist die gesungene Sprache. Und während ich überlege, was ich den Menschen erzählen möchte, stelle ich auch infrage, in welcher Sprache ich singe. Deswegen habe ich angefangen, auf Spanisch zu texten. Das Englische hat mich immer angezogen, es ist eine Sprache mit vielen Harmonien, Lagen und Bewegungen, die die Ausschmückung von musikalischen Frequenzen begünstigen. Aber mich hat die Stimme selbst als Instrument schon immer fasziniert. Wenn ich Instrument sage, dann meine ich den Moment, in dem das eine Wort dich innehalten lassen kann.

Text ist ein grundlegendes Element der Popmusik…

Auf jeden Fall. Er ist der rote Faden der Popmusik. Und in den Charts ist dieser rote Faden immer eine Geschichte, als hätte Disney sie geschrieben: heterosexuelle Liebesgeschichten. Ich habe eine Theorie, dass die Popmusik immer die gleichen Narrative hat: Ein Mann sucht eine Frau, ist mit einer Frau zusammen oder wurde von einer Frau verlassen. Der Großteil der Lieder wird auf Basis dieses Narrativs geschrieben. Ich selbst habe lange Zeit so geschrieben. Bis ich gesagt habe: Halt.

Du bist verheiratet. Was sagt die selbsterklärte Feministin zur Ehe?

Die Eheschließung hat schon immer eine seltsames Gefühl in mir ausgelöst. Ich habe mich schon immer als unabhängige Frau gefühlt und eigentlich nie an eine langfristige Beziehung geglaubt. Als meine Beziehung mit meinem jetzigen Ehemann dann schon so lange gehalten hat, war das eine Überraschung für mich. Aber eine so lange Beziehung ist nur mit viel Empathie und Sensibilität möglich. Mein Mann bewundert mich. Und dass ich als Frau für mein musikalisches Können bewundert werde, ist wichtig in einer Zeit, in der die musikalische Szene uns gegenüber so feindselig ist.

Woran liegt das?

Daran, dass sie es gewohnt sind, dass die Frau nur die Begleitung ist. Vor allem in öffentlichkeitswirksamen Momenten. Wenn wir uns die Musik der Vergangenheit angucken, etwa die Geschichte des Rock, sind immer die Männer die Musiker und die Frauen die Groupies. Natürlich nicht in allen Fällen, aber zum großen Teil.

Die feministische Bewegung in Argentinien ist wegen ihrer Stärke auf der ganzen Welt bekannt. Siehst du einen Effekt, den die Bewegung auf die Musikszene genommen hat? Hat sich etwas verändert?

Ich denke, es ist noch viel zu tun. Aber in Argentinien erleben Organisationen von Frauen seit längerer Zeit ihren Höhepunkt. Die Liedermacherin Teresa Parodi zum Beispiel hat viel erreicht, als sie Kulturministerin war. In dieser Zeit hat sich eine große Bewegung und ein großes schönes Chaos entwickelt, in dem viele Gruppen Platz gefunden haben. Ich glaube, es gibt in der Musikszene eine große Bewegung von unten. MUCABA, die Vereinten Musiker*innen der Stadt Buenos Aires zum Beispiel, sind eine Gruppe von musikalischen Frauen aus allen Genres, die sich einmal die Woche treffen und Aktionen organisieren. Sie sind eine der Gruppen, die auf Festivals für das Mercedes Sosa-Gesetz gesorgt haben, ein Gesetz, das in Argentinien sehr kontrovers behandelt wurde und auf das viele Männer allergisch reagiert haben. (Das Mercedes Sosa-Gesetz sieht vor, dass mindestens 30 Prozent der Acts auf Musikfestivals von Frauen gespielt werden und wurde im Mai dieses Jahres vom Senat angenommen, Anm. der Redaktion)

Hat sich mit dem Gesetz etwas geändert? Wirst du öfter eingeladen, auf Festivals zu spielen?

In meinem Fall als Jazzsängerin ist es sogar weniger geworden, das muss ich leider sagen. Trotzdem habe ich viel Beifall bekommen, wenn ich dann mal in einem Club gespielt habe.

Schreibst du das der allgemeinen Situation im Land zu oder der Tatsache, dass du eine Frau bist?

Das hat zweifellos auch mit der Krise zu tun. Die Konzerthallen wollen besondere Acts, die „funktionieren“ und Follower auf Instagram haben. Die Inhaber*innen müssen die zehnfachen Stromkosten zahlen, also müssen sie ihre Räume füllen. Und wenn man dort nicht reinpasst, nicht funktioniert, dann spielt man auch nicht. Es ist traurig, früher habe ich oft mit Gruppen an bestimmten Orten gespielt. Jetzt antworten sie mir kaum noch.
Trotzdem hat es auch damit zu tun, dass ich eine Frau bin. Letztes Jahr gab es zum Beispiel eine Reihe mit Instrumentalmusik im Centro Cultural Kirchner. Die Reihe hieß „Die argentinische Jazzszene“ und es traten 18 Gruppen auf, in denen es nur eine einzige Frau gab, Belén López, eine unglaubliche Bassistin, die nur dort aufgetreten ist, weil in ihrer Band ein Musiker war, der am Programm mitgearbeitet hatte.

Gab es irgendeine Begründung seitens der Organisator*innen?

Nein. Aber es gab wichtige Kritik daran von Eleonora Eubel, einer großen argentinischen Sängerin und Komponistin, die ich sehr gern habe und bewundere. Ich glaube es war wichtig, dass die Kritik von ihr kam, weil sie eine ältere Dame ist. Es kam eben nicht von uns, der aufstrebenden Generation von „Frauen in Aufruhr“, wie manche meinen. Mit der Kritik wurde außerdem eine Liste von argentinischen Jazzmusikerinnen veröffentlicht. Und es waren nicht nur vier und auch nicht nur Sängerinnen.

Zum Glück gibt es immer mehr Veranstaltungen, die bewusst Musik von Frauen fördern und einen Raum geben…

Ja, die gibt es immer mehr. Eine andere wichtige Sängerin, Mavi Díaz, arbeitet in der Geschlechterkommission der argentinischen Vereinigung von Interpret*innen AADI und setzt sich dafür ein, dass in solchen Reihen auch Frauen eine Bühne bekommen. Tatsächlich hat es eine Zählung von Musikerinnen gegeben, damit die Programmverantwortlichen nicht sagen können: „Die gibt es nicht“. Diese Aktion wurde über das staatliche Musikinstitut organisiert. Es war ein wunderbares Projekt, das auch dazu geführt hat, dass wir uns untereinander vernetzen. Jetzt kennen wir uns viel besser als vorher, quer durch die musikalischen Genres. Das ist verrückt, vorher waren wir jede in unserer eigenen musikalischen Welt unterwegs. Jetzt formieren wir uns gemeinsam und von unten. Das ist wie mit der inklusiven Sprache, die man nicht aufhalten kann, wenn sie von unten kommt und sie niemand diktiert. Es ist etwas, dass einfach passiert, weil es passieren muss.

 

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