100 TAGE PETRO

Neuanfang Feier nach dem Wahlsieg von Gustavo Petro (Foto: Fredy Henao)

Der Regierungsplan stellte eine lange Liste an Verbesserungen mit Schwerpunkt auf der Stärkung des staatliche Renten- und Gesundheitssystems, der Einleitung der Energiewende und der Umsetzung der Agrarreform vor. Allesamt Pläne, die eine umfangreiche Finanzierung benötigen. Deshalb war es für die Regierung oberste Priorität, mit der Steuerreform durchzustarten. Anfang November wurden die Hauptinhalte der Reform diskutiert: die Einführung von Steuern auf gesundheitsschädliche Lebensmittel mit hohem Zuckergehalt, auf den Export von Öl und Kohle, die Steuer auf Renten und auf die Kirche. Die Reform zielte zunächst darauf ab, 25 Milliarden kolumbianische Pesos zu sammeln.

„Die zentrale Philosophie der Steuerreform als solche besteht aus zwei Aspekten: erstens, die Zahlungsfähigkeit des Landes zu erhöhen und zweitens, die soziale Gerechtigkeit in Kolumbien zu steigern “, teilte Präsident Gustavo Petro CNN mit, nachdem über die Reform in der Senatskammer abgestimmt wurde. Dafür soll in die Beseitigung von Armut und Ungleichheit investiert werden – beginnend mit einer Umverteilung der steuerlichen Last. Im Unterschied zur Politik unter der vorherigen Regierung sollen diejenigen mit einem höheren Einkommen nun auch mehr Steuern zahlen. Des Weiteren sollen Steuervergünstigungen für Unternehmen abgeschafft und Steuerhinterziehung stärker bekämpft werden.
In zwei parallelen Plenarsitzungen verabschiedete der Kongress die meisten der Artikel, die eine Steuererhöhung ausmachen. Die Regierung rechnet damit, ab 2023 mit rund 20 Milliarden Pesos etwa 1,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zusätzlich an Steuern einzunehmen. Kolumbien ist eines der Länder, das unter den mittleren und großen Volkswirtschaften Lateinamerikas am wenigsten Steuern erhebt: laut OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, erhält der Staat Kolumbien auf diesem Weg 13 Prozent des BIP, während der Durchschnitt in Lateinamerika bei 16 Prozent liegt.

Dennoch traf die Reform bereits während der Verhandlungen auf Kritik von der Opposition, besonders in Bezug auf die zunehmende Versteuerung von Einwegplastik beim Verkauf von Nahrungsmitteln. Die Parteien Centro Democrático und Liga Anticorrupción sehen die Steuer als eine unnötige und weitere finanzielle Last für Kolumbianer*innen, die bereits durch die Inflation von hohen Lebensmittelpreisen betroffen sind.

Die Agrarreform und der „allumfassende Frieden“

Unter anderem soll die neue Steuerreform die Finanzierung von einem der wichtigsten Projekte der Regierung sichern: die Agrarreform. Petro setzt dafür auf den Kauf von ungenutzten Ländereien von Großgrundbesitzer*innen. Das erworbene Land ist für Bauern und Bäuerinnen ohne eigenen Grundbesitz vorgesehen und soll den Landfonds, der im Rahmen des Friedensabkommens geschaffen wurde, teilweise aufstocken. So soll die Reform der Steigerung der Agrarproduktion dienen und gleichzeitig den Friedensprozess fördern.

Nach einer Studie des Wohlfahrtsverbands Oxfam besitzt in Kolumbien derzeit ein Prozent der Bevölkerung über 80 Prozent der privaten Agrarflächen. Die Notwendigkeit einer Agrarreform, die eine gerechte Umverteilung des Landbesitzes wurde bereits im Friedensabkommen im Jahr 2016 festgehalten. Hinzu kommt das 2011 verabschiedete Gesetz für Opfer und Landrückgabe, welches die Rückgabe der Ländereien an Bauern und Bäuerinnen vorsieht, die von Landraub und gewaltsamer Vertreibung betroffen sind. Die Landrückgabe schreitet jedoch nur langsam und keineswegs konfliktfrei voran. Unter anderem wurden mehrere Grundstücksbesitzende, die ihr Land einforderten, bedroht, erneut vertrieben oder gar ermordet. So bleibt die Reform auch in Hinsicht auf den bewaffneten Konflikt und die dadurch verursachte Enteignung von Kleingrundbesitzer*innen ein aufgeladenes Thema, das über reine Wirtschaftsbedenken hinausgeht.

Bereits in der letzten Ausgabe (LN 580/581) berichteten LN über die gelungene Kooperation mit der Föderation von Viehzüchtern Fedegán. Die Föderation erklärte sich bereit, drei Millionen Hektar Weideland an die Regierung zu verkaufen. Hierfür wurden drei Milliarden kolumbianische Pesos (645 Millionen Euro) bereitgestellt. An sich verheißt dieses Abkommen den Auftakt einer lang erwarteten Reform. Diana Salinas, Mitgründerin des Onlinemediums Cuestión Pública, betrachtet im Interview mit der Heinrich-Böll-Stiftung diesen historische Pakt jedoch mit Skepsis. Fedegán sei eine der wichtigsten Lobbyorganisationen Kolumbiens, die sich weigerte an den Friedensgesprächen von 2013 teilzunehmen. Die Zusammenarbeit könne sich daher als eine für alle Seiten pragmatische, vorteilhafte Strategie erweisen. Dennoch bleibe sie problematisch, da Fedegáns Rolle in der Fortsetzung des Konflikts umstritten ist. „Das kann sich als sehr intelligente Strategie erweisen, aber auch zum Bumerang einer Amnestie durch die Hintertür werden“. Nun stellt sich die Frage, wie sich die Regierung dahingehend positionieren wird. In einem Bericht von amerika21 hat sich Landwirtschaftsministerin Cecilia López dazu geäußert: Viehzüchter*innen von Fedegán müssen vor der Übergabe ihrer Grundstücke beweisen, dass sie die legitimen Besitzer der Ländereien seien. Das soll verhindern, dass enteignete Grundstücke zum Verkauf gestellt werden.

Es bleibt also abzuwarten, was für Entwicklungen die Agrarreform wirklich mit sich bringen wird. Doch laut Salinas könnte die Zusammenarbeit mit Fedegán mehr Bewegung in die Verhandlungen mit paramilitärischen Akteuren bringen – ein Vorteil zugunsten des Friedensprozesses. Denn im Rahmen des Gesetzes „Ley de Paz Total“ möchte die Regierung den Kontakt mit allen noch aktiven bewaffneten Gruppen und mögliche Friedensverhandlungen mit diesen (wieder-)aufnehmen.

Seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens mit den FARC im Jahr 2016 war die Gewalt im Rahmen des Konflikts drastisch zurückgegangen. Nach Angaben des Instituts für Entwicklungs- und Friedensstudien Indepaz ging die Zahl der Morde von 12.665 im Jahr 2012 auf 1.238 im Jahr 2016 zurück – eine fragile Entwicklung, die für viele kein Ende der Gewalt verheißt: „Die ging auch nach dem Friedensabkommen mit der FARC weiter“, erklärte Aktivist José Roviro López Rivera im Interview mit LN. Die Situation hat sich seitdem nur verschlimmert. Denn seit zwei Jahren haben paramilitärische Gruppen und kriminelle Organisationen ihre Präsenz in verschiedenen Regionen Kolumbiens ausgebaut. Dem UN-Bericht von 2022 zu Folge seien diese häufig in illegale Aktivitäten wie Drogenhandel und illegalen Bergbau verwickelt. Mord, sexuelle Gewalt, Rekrutierung von Kindern und Jugendlichen und Erpressung sind einige der Mechanismen, die sie nutzen, um die Bevölkerung zu unterdrücken. Hinzu kommen die Vertreibungen und die Enteignungen, die weiterhin in den ländlichen Gebieten stattfinden. Indigene und afrokolumbianische Gemeinden machen nach Einschätzungen des Amtes der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten UNOCHA 57 Prozent der vertriebenen Bevölkerung aus.

Paradigmenwechsel im Kabinett

Weitere Entscheidungen in der Besetzung des Kabinetts richteten sich nach den sozialen Aspekten des Regierungsplans. Schon im ersten Kapitel des Wahlprogramms kündigte Petro an, sich für die Rechte der kolumbianischen Frauen einzusetzen und ihre Teilhabe in politischen Prozessen zu erhöhen. Mit einem intersektionalen Fokus soll Diskriminierung sowohl auf der politischen, als auch der wirtschaftlichen Ebene bekämpft werden. Deshalb sollen bei der Repräsentation nicht nur Frauen, sondern auch andere ausgegrenzte Gruppen wie Jugendliche, indigene Gemeinschaften, Afrokolumbianer*innen, die LGBTIQ+ Community und die kleinbäuerliche Bevölkerung stärker miteinbezogen werden.

Der Grundstein dafür wurde mit der Besetzung seines Kabinetts gelegt. Zum ersten Mal sind indigene Frauen im Kabinett vertreten: Arhuaco-Aktivistin Leonor Zalabata Torres als Botschafterin bei den Vereinten Nationen und Anwältin Patricia Tobón Yagari als Direktorin der nationalen Opfereinrichtung sowie als Leiterin der Einrichtung für Landrückgabe. Ein weiteres Anliegen, das in Zukunft dem Schutz ausgegrenzter Bevölkerungsgruppen dienen soll, ist die Schaffung eines Gleichberechtigungsministeriums. Der Gesetzentwurf dafür wurde am 18. Oktober vorgelegt und Vizepräsidentin Francia Márquez soll das neu zu schaffende Gleichberechtigungsministerium leiten. Das neue Ministerium soll unter anderem auch die Organisationstruktur der Regierung ändern. Der Frauen- und der Jugendrat, die bisher dem Präsidenten unterstanden, werden abgeschafft und gehen in die Zuständigkeit des neuen Ministeriums über. Während sich die Regierungsstruktur ändert, scheint die Opposition auf der Strecke zu bleiben. Momentan schafft sie es nicht, eine geschlossene Front zu bilden, berichtet El País. In der Senatskammer haben sich die Handlungen des Centro Democrático darauf begrenzt, den Vorschlägen der Regierung entgegenzuwirken. Dafür zeigt Gustavo Petro eine gewisse Kompromissbereitschaft mit der Opposition, und der Ex-Präsident Álvaro Uribe fungiert hierfür als Sprachrohr. Uribes Position ist durch seine Justizprobleme, den politischen Linksruck des Landes und seine von vielen Bürger*innen abgelehnte Nähe zur traditionellen politischen Klasse geschwächt. Sein positives Image erreicht laut der letzten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Invamer keine 25 Prozent. Im Kontrast dazu hat Petro nach seinen 100 Tagen im Amt bei den Kolumbianer*innen mit einem positiven Image von 61 Prozent in der letzten Umfrage vom Nationalen Beratungszentrum Uribe klar an Beliebtheit übertroffen.

Er war nicht in der Lage, seine Partei so zu organisieren, dass sie eine solide Opposition bildet, berichtete El Espectador. In gewisser Weise sei er für die Spaltung verantwortlich, indem er Miguel Uribe Turbay zum Listenführer des Senats wählte, anstelle langjähriger Persönlichkeiten der Partei Centro Democrático. „Es gibt immer noch keine klare Führung“, sagt Andrés Forero, Vertreter des Centro Democratico für die Zeitung El País „Und ich weiß nicht, ob es in den nächsten vier Jahren eine geben wird“. Und doch kann sich das in Zukunft ändern. Der wachsende Wirtschaftsdruck stellt die neue Regierung vor eine noch härtere Probe, aus der die Opposition neue Kraft ziehen könnte.

// REALITÄTSABGLEICH

„Brüder und Schwestern, setzen wir uns für die Würde ein. Setzen wir uns für soziale Gerechtigkeit ein. Lasst uns Frauen das Patriarchat in unserem Land beseitigen. Setzen wir uns für die Rechte der vielfältigen LGBTQ+ Gemeinschaft ein. Setzen wir uns für die Rechte unserer Mutter Erde ein, unseres großen Hauses. Schützen wir unser großes Haus und die Artenvielfalt. Lasst uns gemeinsam den strukturellen Rassismus beseitigen.“ Die Schlussworte von Francia Márquez’ Rede nach ihrer Wahl zur Vizepräsidentin Kolumbiens im Juni 2022 beschreiben die Hoffnung, die den sozialen Aufbruch und den Aufruhr auf den Straßen in vielen lateinamerikanische Länder seit 2019 getragen hat. Millionen Menschen protestierten für mehr soziale Gerechtigkeit und waren dabei heftiger Repression ausgesetzt. Schüler*innen und Studierende, Feminist*innen und Indigene waren tragende Säulen vielfältiger Bewegungen, die auch dafür sorgten, dass ehemalige Aktivist*innen wie Francia Márquez und Gabriel Boric seitdem regieren.

Sexisten, Rassist*innen und korrupte Rechtspopulist*innen wurden dagegen zuletzt mehrfach nach Hause geschickt – rechte beziehungsweise rechtsextreme Kandidat*innen wie Rodolfo Hernández in Kolumbien, José Antonio Kast in Chile oder Keiko Fujimori in Peru mussten in die Opposition. Sollte sich nun am 30. Oktober Lula in der Stichwahl in Brasilien durchsetzen, würden die sieben bevölkerungsreichsten Länder Lateinamerikas „links“ oder „progressiv“ regiert. Zwei Jahrzehnte nach der sogenannten Pink Tide schwappt also wieder eine linke Welle durch Lateinamerika. Das gibt etwas Hoffnung in sonst sehr kruden Zeiten.

Doch was ist überhaupt links an den neugewählten Regierungen und was verbinden wir mit ihnen über die notwendige Abwehr von rechtsextremen Demagog*innen hinaus? Wie gehen wir damit um, wenn Gabriel Boric ganze Regionen im Süden Chiles zur „Terrorabwehr“ militarisiert? Wenn AMLO in Mexiko die Rolle des Militärs im Inneren immer weiter ausweitet, während das Schicksal zehntausender Verschwundener unaufgeklärt bleibt? Wenn die argentinische Regierung auf Fracking setzt oder Pedro Castillo in Peru gegen das Recht auf Abtreibung und queere Menschen schwadroniert? Wie nah Euphorie und Frust beieinander liegen können, zeigte sich ganz besonders in Chile, als der progressive Entwurf für eine neue Verfassung bereits nach einem halben Jahr Boric-Regierung auf breite Ablehnung stieß.

Ob die neuen Linksregierungen einen nachhaltigen Wandel auf den Weg bringen können – ob sie etwa mehr soziale Rechte und eine Abkehr vom Extraktivismus durchsetzen können – oder ob diese Erwartungen an fehlenden parlamentarischen Mehrheiten und leeren Staatskassen scheitern und am Ende Wunschdenken bleiben, wird sich erst zeigen. Anstatt eine neue Ära des sozialen und gesellschaftlichen Wandels zu feiern, wollen wir daher in diesem Dossier erst einmal genauer hinsehen. Für was stehen die neuen Regierungen im Einzelnen, welche Bündnisse gehen sie ein, gibt es über diskursive Fortschritte hinaus auch Perspektiven auf tatsächliche Transformationen?

Von der Hoffnung, dass der Staat für ein besseres Leben sorgt, haben sich nicht erst seit den Zapatistas viele emanzipatorische Bewegungen und Projekte bereits verabschiedet. Sie versuchen stattdessen, in kollektiver Eigenregie Fakten zu schaffen und Autonomie aufzubauen. Schlaglichthaft wollen wir Euch daher in diesem Dossier auch einige dieser Erfahrungen vorstellen. Sie haben im Hinblick auf konkrete Veränderungen oft schon einiges erreicht – trotz Repressionen von staatlicher Seite, auch von so mancher „Linksregierung“. Es bleibt zu hoffen, dass Regierungen wie die von Petro und Márquez oder Boric nicht die Bewegungen vergessen, die sie an die Macht gebracht haben.

ÜBERWIEGEND PRAGMATISCH

Nur symbolisch ein gemeinsamer Block? Vielversprechende gemeinsame Projekte neuer linker Regierungen wie der von Boric (Chile) und Petro (Kolumbien) gibt es bisher kaum (Foto: Prensa Presidencia)

Nur wenige Jahre ist es her, dass die Linke in Lateinamerika als gescheitert galt. Nach der „rosaroten Dekade“ Anfang des Jahrtausends, als die meisten Länder des Subkontinents progressive Regierungen hatten, schienen sich Stagnation und Rückschritte breit zu machen. Wo nicht direkt rechte Regierungen das Zepter übernahmen, geriet die regierende Linke zumindest gehörig unter Druck, agierte teilweise autoritär und konnte kaum mehr an frühere Erfolge anknüpfen. Als Andrés Manuel López Obrador in Mexiko 2018 im dritten Anlauf die Präsidentschaftswahl gewann, schien das zunächst fast ein wenig aus der Zeit gefallen. Doch seitdem kam es bei fast allen Urnengängen zu einem Machtwechsel. Und meistens gewannen linke Kandidat*innen. In Argentinien lösten die Links-Peronist*innen mit Alberto Fernández und der Vizepräsidentin Christina Kirchner 2019 nach vier Jahren die neoliberale Regierung unter Mauricio Macri ab. In Bolivien kehrte die Linke im November 2020 ein Jahr nach dem Putsch gegen Evo Morales an die Macht zurück. Im vergangenen Jahr triumphierten neben Gabriel Boric in Chile auch Xiomara Castro in Honduras und Pedro Castillo in Peru. Im Juni dieses Jahres folgte der Wahlsieg von Gustavo Petro mit Francia Márquez als Vize in Kolumbien. Und in Brasilien könnte Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva in der Stichwahl Ende Oktober den rechtsextremen Jair Bolsonaro in die Opposition schicken. Rechte Wahlsiege gab es in den vergangenen Jahren hingegen nur in wenigen Ländern wie Uruguay und Ecuador.

Die erneute Stärke linker Politiker*innen ist beachtlich. Denn die Abnutzungserscheinungen auf den Regierungsbänken sowie die strukturellen Grenzen der begonnen Transformationsprozesse waren in den 2010er Jahren in den meisten Ländern unverkennbar. Infolge antineoliberaler Kämpfe hatten die linken Regierungen – ausgehend vom erstmaligen Wahlsieg von Hugo Chávez in Venezuela 1998 – die Rolle des Staates gegenüber dem Markt gestärkt und Privatisierungen gestoppt. Zuvor marginalisierte Bevölkerungsmehrheiten wie Indigene und Bewohner*innen von Armenvierteln erlebten materielle Verbesserungen und mindestens symbolische Wertschätzung. Am weitesten gingen die Veränderungen in Venezuela, Bolivien und Ecuador, wo neue Verfassungen verabschiedet wurden, die soziale und teilweise ökologische Zielsetzungen formulierten. Zumindest dem Anspruch nach verfolgten die Regierungen der drei Länder Transformationsansätze in Richtung grundlegend anderer Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme. Außenpolitisch entstanden neue lateinamerikanische Integrationsbündnisse ohne die USA. In Verbindung mit anfänglichen Bemühungen der Demokratisierung sorgte all dies für eine breite politische Legitimität. Die Widersprüche zwischen politischer Partizipation und ausgeprägtem Präsidentialismus ließen sich jedoch kaum auflösen. Die vergleichsweise großen Handlungsspielräume der Regierungen beruhten ab 2003 vor allem auf den hohen Weltmarktpreisen für Rohstoffe, während die Wirtschaftsstrukturen und Steuersysteme kaum verändert wurden. Für die breiten Massen war also Geld da, ohne die strukturellen Privilegien der reichen Eliten antasten zu müssen.

Es gibt nicht einmal rhetorisch vielversprechende gemeinsame Projekte

Die heutigen Linksregierungen stehen vor einer anderen Situation. Seit Jahren befindet sich die Region in einer Krise, die lange vor der Corona-Pandemie mit niedrigen Rohstoffpreisen einsetzte. Dass nun auch Länder linke Regierungen bekommen, die wie Kolumbien, Honduras oder Peru bislang als konservative Bastionen galten, zeigt zunächst vor allem, dass die Rechte keine Antworten auf die drängenden Probleme Lateinamerikas hat. Sowohl die neoliberalen als auch die Trumpschen Konzepte, mit denen etwa Bolsonaro in Brasilien sympathisiert, kommen nur einer kleinen Elite zugute.

Daher zeugen die jüngsten linken Wahlsiege nicht unbedingt von einer neuen Stärke der Linken, sondern vor allem von der starken Enttäuschung über die derzeitige Politik. Die heutigen linken Regierungen treten dabei weniger als ein gemeinsamer Block auf, als während der ersten Welle. Zwar gab es auch damals unverkennbare Unterschiede zwischen radikaleren und moderateren Regierungen. Doch verstanden sich alle mehr oder weniger als Teil einer lateinamerikaweiten Bewegung und übten den Schulterschluss, als es etwa gegen die von den USA anvisierte gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA (Área de Libre Comercio de las Américas) ging, die 2005 scheiterte.

Heute sind die linken Regierungen ideologisch heterogener

Heute sind die linken Regierungen ideologisch heterogener. Und in Nicaragua und Venezuela vertreten sie jenseits eines linken und antiimperialitischen Diskurses kaum mehr linke Politik. Für andere linke Kandidat*innen werden diese autoritären Regierungen zunehmend zum Problem. Wer im Wahlkampf eine sozialere Politik verspricht, wird schnell in die Venezuela- und Nicaragua-Ecke getrieben und muss versuchen, sich von Daniel Ortega und Nicolás Maduro zu distanzieren. Letztlich verfolgen die neueren linken Regierungen überwiegend klassisch sozialdemokratische Programme, die mal mehr, mal weniger grüne Einflüsse enthalten. Den lateinamerikanischen Eliten gilt jedoch bereits dies als linksradikal. So trat Xiomara Castro in Honduras im Januar dieses Jahres ihr Amt mit dem Versprechen an, die Armut zu bekämpfen und eine sozialere Politik umzusetzen. Im Gegensatz zur rechten Vorgängerregierung stellt sie sich gegen Korruption und das organisierte Verbrechen. Die neue kolumbianische Regierung will Armut und Ungleichheit durch Sozialprogramme bekämpfen, das Renten-, Gesundheits- und Bildungssystem stärken, die Abhängigkeit von Rohstoffen verringern sowie das Steuersystem reformieren. Der ländliche Raum und der Tourismus sollen gefördert, grüne Energieprojekte ausgebaut werden. Zudem will die Regierung durch neue Verhandlungen mit der noch aktiven ELN-Guerilla (Ejército de Liberación Nacional) und eine vollständige Umsetzung des Friedensabkommen mit der ehemals größten Guerilla FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) endlich wirklichen Frieden nach Kolumbien bringen. Das Abkommen von 2016 sieht unter anderem eine Agrarreform vor, die bisher nicht begonnen wurde und auf gehörigen Widerstand seitens der Großgrundbesitzer*innen stoßen dürfte.

Freiheit und Hoffnung Das progressive Verfassungsprojekt war in Chile für viele eng mit der neuen Regierung Boric verknüpft, scheiterte jedoch im Plebiszit (Foto: Ute Löhning)

Während sich die linken Regierungen Anfang des Jahrtausends jahrelang in der Offensive befanden und von Wahlsieg zu Wahlsieg eilten, ist die Lage heute ausdifferenzierter. Mexikos Präsident gilt kaum mehr als linker Hoffnungsträger und darf bei der kommenden Präsidentschaftswahl 2024 nicht noch einmal antreten. Perus schwacher Präsident laviert zwischen moderaten und radikalen Kräften, hat in einem Jahr Amtszeit bereits mehrere Kabinette verschlissen und muss im peruanischen Regierungssystem aufgrund fehlender Mehrheiten im Kongress jederzeit mit der Amtsenthebung rechnen.

Xiomara Castro hat in Honduras viel Gegenwind, weil die korrupte Rechte das Land nicht kampflos aufgibt und noch immer an zentralen Stellen im Staat vertreten ist. In Argentinien könnten bei der kommenden Präsidentschaftswahl wieder die Neoliberalen triumphieren. In Kolumbien sind die strukturell rechten Strukturen und die paramilitärische Gewalt trotz starker sozialer Bewegungen ein explosives Umfeld für die erste progressive Regierung des Landes. Und Lula da Silva hat in Brasilien im Vorfeld der Wahl Bündnisse mit neoliberalen Politiker*innen geknüpft.

Der Bolsonarismus indes würde auch mit einer Niederlage nicht als politische Kraft verschwinden, sondern eine einflussreiche Oppositionskraft darstellen. Nicht nur schnitt Bolsonaro in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen am 2. Oktober besser ab als sämtliche Meinungsforschungsinstitute prognostiziert hatten. Bei den zeitgleich stattfindenden Parlaments- und Regionalwahlen holten seine Anhänger*innen zudem eine beträchtliche Anzahl von Ämtern.

Ablehnung der neuen Verfassung sorgt für herben Rückschlag in Chile

Einen deutlichen Rückschlag musste Anfang September die Linke in Chile hinnehmen, als eine neue, fortschrittliche Verfassung an den Wahlurnen deutlich abgelehnt wurde. Der partizipativ erarbeitete Verfassungsentwurf war stark von sozialen, feministischen und indigenen Bewegungen beeinflusst und hätte vor allem die Rechte der Bevölkerung, den Umweltschutz sowie die wirtschaftliche Rolle des Staates gestärkt. Die Gründe für die Niederlage sind vielfältig. Die Erklärungen reichen von einer rechten Lügenkampagne, über interne Probleme des Verfassungskonvents, der vor allem aus linken und unabhängigen Delegierten bestand, bis hin zu möglicherweise für viele zu weitgehende Änderungen. Ein Verfassungstext allein kann ein Land zwar nicht verändern. Die Beispiele Venezuela, Bolivien und Ecuador zeigen, dass zwischen Verfassungsgrundsätzen und politischer Wirklichkeit mitunter tiefe Gräben klaffen. Aber der Entwurf hätte allen, die sich für ein soziales und ökologisches Chile einsetzen, bedeutende Rechte und Instrumente in die Hand gegeben. In der Verbindung linker Regierungsmehrheiten und sozialer Mobilisierung hätte tatsächlich das Potenzial gelegen, den Neoliberalismus zu überwinden, der Chile seit Jahrzehnten fest im Griff hat. Und dies hätte unweigerlich auch international Symbolwirkung gehabt. Zwar soll es einen zweiten Anlauf für die Abschaffung der alten Verfassung geben, die noch aus Zeiten der Diktatur unter Pinochet stammt. Doch wird der bestehende Entwurf mindestens abgeschwächt und statt von unabhängigen Delegierten wohl von Berufspolitiker*innen und Expert*innen ausgearbeitet werden.

Insgesamt sind mit der aktuellen linken Welle weniger Versprechen auf einen tiefgreifenden Wandel verbunden als zu Anfang des Jahrtausends. Es gibt keine bedeutende überregionale Zusammenarbeit und nicht einmal rhetorisch vielversprechende gemeinsame Projekte. In fast allen Ländern ist die Opposition zudem deutlich stärker als zu Beginn des Jahrtausends. Auch eine mögliche Überwindung des Rohstoffexport-Modells, wie sie in Kolumbien und Chile von Regierungsseite her zumindest thematisiert wird, ist angesichts der weltwirtschaftlichen Lage und des Krieges in der Ukraine unwahrscheinlich. Vorübergehende Verbesserungen für die ärmere Bevölkerung sind dennoch möglich. Und dass sich etwa die Nachbarländer Venezuela und Kolumbien politisch wieder annähern und künftig stärker kooperieren wollen, ist eine positive Entwicklung, die kaum zu unterschätzen ist. Doch darüber hinaus dominiert in dieser zweiten linken Welle bisher überwiegend der Pragmatismus.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier “Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika”. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

PROGRESSIVE REGIERUNGEN IN LATEINAMERIKA

Progressiv oder nicht? Politische Orientierung der Regierungen in einzelnen Ländern (Brasilien – Stichwahl am 30.10.2022, Kolumbien seit Juni 2022, Chile seit März 2022, Honduras seit Januar 2022, Peru seit 2021, Belize, Bolivien, Guyana & Surinam seit 2020, Argentinien seit 2019, Mexiko seit 2018, Trinidad & Tobago seit 2015, Nicaragua seit 2006, Venezuela seit 1999, Kuba seit 1959) (Grafik: Martin Schäfer)

Der Übersichtlichkeit halber sind die Regierungen Lateinamerikas hier in nur zwei Kategorien politischer Ausrichtung eingeteilt, links- bzw. rechtsgerichtet, dies ist jedoch vereinfachend.

Ob eine Regierung links- oder rechtsgerichtet ist, kann sowohl an ihrer Selbstzuschreibung wie auch anhand von externen Kriterien festgemacht werden. Da beispielweise ein autoritäter Staat wie Nicaragua, der die Menschenrechte missachtet, in der Wahrnehmung der Dossier-Redaktion nicht links wäre, aber auch nicht allein deswegen rechts, folgt die Darstellung im Wesentlichen der Selbstzuschreibung. Die Etiketten „linksgerichtet“ und „rechtsgerichtet“ sind hier also losgelöst von der An- oder Abwesenheit autoritärer Tendenzen zu verstehen.

Freie Wahlen oder nicht? Werte des Electoral Democracy Indexes für einzelne Länder (Grafik: Martin Schäfer)

Da eine Darstellung, die diesen Aspekt vernachlässigt, jedoch unvollständig scheint, ist der Grad autoritärer Tendenz separat in einer zweiten Karte veranschaulicht. Hierfür wurde der Electoral Democracy Index herangezogen, der vom V-Dem Institut der Universität Göteborg (https://www.v-dem.net/) entwickelt wurde. Er bildet auf Basis von Expert*innenmeinungen aus dem Jahr 2021 ab, inwieweit in einzelnen Ländern freie und faire Wahlen, individuelle Freiheitsrechte (z.B. Meinungs- und Versammlungsfreiheit) sowie alternative Informationsquellen gewährleistet sind. Ein hoher Wert des Indexes bedeutet beispielsweise sehr freie Wahlen.

Laut Index sind freie Wahlen in Lateinamerika am besten in Costa Rica, Uruguay, Chile und Argentinien gewährleistet. Die größten Defizite bestehen dagegen in Kuba, Venezuela und Nicaragua. Für die abhängigen Gebiete Französisch-Guayana, Malwinen/Falklandinseln und Puerto Rico wurde jeweils der Wert des zugehörigen Staates verwendet. Für Belize gibt es in den Daten keinen Wert des Index.

Die Kriterien des Index beinhalten ein relativ eng gefasstes Demokratieverständnis und stellen daher nur eine mögliche Sichtweise dar. Weitere demokratierelevante Aspekte wie etwa soziale Ungleichheit werden in diesem Index nicht berücksichtigt.

Aufgrund der zeitlichen Verzögerung bei der Erhebung der Daten schlägt sich eine Abnahme autoritärer Tendenzen nach einer Wahl nicht unbedingt sofort in den veranschaulichten Zahlen wieder.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier “Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika”. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

GABRIEL BORIC UND CHILES NEUE LINKE

Die Erde verteidigen Graffiti in Santiago de Chile gegen Holzraubbau in den Mapuche-Gebieten (Foto: Ute Löhning)

Umweltschutz, Feminismus, soziale Gerechtigkeit: Die Wahlversprechen von Gabriel Boric klangen verheißungsvoll. Nach Jahrzehnten des Neoliberalismus sollte Chile nun endlich die Kehrtwende schaffen. Dies- und jenseits des Atlantiks jubelte die Linke nach seiner Wahl zum Präsidenten im Dezember 2021. Endlich: das Ende der privatisierten Sozialsysteme, der extremen ökonomischen Ungleichheit und des umweltzerstörenden Extraktivismus. Stattdessen: der Anfang einer sozial-, umwelt- und geschlechtergerechten Gesellschaft und die Versöhnung mit den indigenen Bevölkerungsgruppen. So die Hoffnung.

Der jüngste Staatschef der Welt repräsentiert eine neue lateinamerikanische Linke, die mit den AMLOs und Lulas nur wenig und mit den Ortegas und Maduros gar nichts gemein hat. Als ehemaliger Studierendenanführer kommt Boric aus den sozialen Bewegungen. Auch wenn er schon vor einigen Jahren in die institutionelle Politik wechselte, haftet ihm dieses Image noch immer an. Und er macht sich auch wenig Mühe, es abzulegen – im Gegenteil. Statt in den Präsidentenpalast zog er in ein deutlich bescheideneres Haus in einem Mittelschichtsstadtteil Santiagos und auch sein Äußeres ist legerer, als man es sich jemals von einem chilenischen Präsidenten hätte vorstellen können: tätowiert, hemdsärmelig, ungekämmt. Anders als bisherige Präsidenten gibt Boric sich nahbar und sucht den Kontakt mit der Bevölkerung.

Von Anfang an war eine gewisse Enttäuschung jedoch insofern vorprogrammiert, als Borics Regierung sich nicht auf eine parlamentarische Mehrheit stützen kann: Sein linkes Parteienbündnis Apruebo Dignidad verfügt lediglich über 37 von 155 Abgeordneten sowie über 6 von 50 Senator*innen. Boric sah sich daher genötigt, die Basis seiner Regierung zu verbreitern. Infolge nahm er Mitte-Links-Parteien der ehemaligen Concertación (mit Ausnahme der Christdemokrat*innen) in seine Regierung auf. Als „Socialismo Democrático“ spielen diese Parteien eine zunehmend wichtige Rolle in der Regierung. Doch selbst dieses Bündnis hat keine eigene Parlamentsmehrheit und ist darauf angewiesen, mit anderen Kräften Kompromisse zu finden, im Senat sogar mit den Mitte-Rechts-Parteien.

Eines der ersten Projekte der neuen Regierung ist eine Steuerreform, die Boric und Finanzminister Mario Marcel bereits im Juli präsentierten. Marcel war zuvor Direktor der chilenischen Zentralbank und an allen Regierungen der Concertación beteiligt. Seine Ernennung brachte Boric reichlich Kritik ein, die Steuerreform mag jedoch manche überraschen. Laut Regierung hätten 97 Prozent der Steuerzahler*innen keine Erhöhungen zu befürchten, diese würden nur die oberen drei Prozent treffen. Das klingt nach wenig, laut dem Weltungleichheitsbericht 2022 verfügt das einkommensstärkste Prozent der Haushalte in Chile jedoch über rund 50 Prozent und die wohlhabendsten zehn Prozent sogar über mehr als 80 Prozent des Reichtums. Zentrale Bestandteile der geplanten Reform sind eine höhere Besteuerung von Vermögen, Kapitaleinkommen und hohen Einkommen, die Bekämpfung von Steuervermeidung und -hinterziehung sowie die Einführung von Abgaben für den Kupferbergbau.

Im laufenden Gesetzgebungsverfahren könnte außerdem eine Finanztransaktionssteuer hinzukommen. Mittlere Einkommen sollen durch Freibeträge für Mieten oder Pflege entlastet werden. Ein leicht reduzierter Steuersatz für Unternehmen soll Investitionen fördern.

Geplant ist, durch die Reform das Steueraufkommen um rund 12 Millionen US-Dollar (4 Prozent des BIP) zu erhöhen und so gut die Hälfte von Borics Regierungsprogramm zu finanzieren. Das aktuelle Aufkommen von 21 Prozent des BIP sei zu wenig, um die nötigen Sozialausgaben, etwa in den Bereichen Gesundheit und Bildung, zu tätigen, meint auch die OECD. Dort hält man die geplante Reform für „ambitioniert, aber machbar“. Nun wird es darauf ankommen, die nötigen Mehrheiten dafür zu gewinnen.

Eines der ersten Projekte der neuen Regierung ist eine Steuerreform Eine Ahnung, in welche Richtung die Politik von Gabriel Boric gehen wird, gibt der Haushaltsentwurf für das kommende Jahr 2023. Geplant sind Mehrausgaben in Höhe von 4,2 Prozent. Ein Schwerpunkt sind Investitionen in die „Infrastruktur für wirtschaftliche Entwicklung“ und in die Schaffung von Arbeitsplätzen. Ein zweiter Schwerpunkt ist die öffentliche Sicherheit. Der Fokus liegt hier auf zusätzlichen Mitteln für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität, unter anderem durch die uniformierte Polizei Carabineros, die wegen Menschenrechtsverbrechen während der Proteste 2019 des estallido social (der „sozialen Explosion“) in der Kritik stehen. Dritter Schwerpunkt ist die soziale Sicherheit mit Mehrausgaben von 8 Prozent, etwa für Investitionen in die Bildungsinfrastruktur, Gesundheitsversorgung und Sozialhilfen. Nach einem durch und durch linken Projekt klingt das zwar nicht, dafür aber nach einem mehrheitsfähigen.

Und Mehrheiten im Kongress sind für Boric überlebenswichtig, das gilt auch für die für seine Regierung zentrale Rentenreform. Nachdem das Gesetzgebungsverfahren auf die Zeit nach dem Verfassungsplebiszit verschoben wurde, kommt nun wieder Bewegung in die Sache: Medienberichten zufolge soll das bisherige System der privaten Rentenfonds (AFP) abgeschafft und durch ein öffentliches System ersetzt werden – eine der Hauptforderungen des estallido social. Die Regierung kündigte an, die Reform noch im Oktober 2022 in den Kongress einzubringen. Aber auch hier ist die Regierung auf Zustimmung aus der Opposition und möglicherweise auf Kompromisse angewiesen.

Auch außenpolitisch gibt sich Boric kompromissbereit. Immer wieder betont er in Interviews die Notwendigkeit einer stärkeren regionalen Integration und des Brückenbauens – ob zum linken Evo Morales in Bolivien oder zum rechten Guillermo Lasso in Ecuador. Gleichzeitig kritisierte er wiederholt entschieden Menschenrechtsverletzungen der autoritären Regime von Daniel Ortega in Nicaragua, Nicolás Maduro in Venezuela und Miguel Diaz-Canel in Kuba. Diese deutliche Beanstandung der Politik anderer linker Regierungen der Region bringt ihm einerseits Kritik ein, verleiht ihm aber auch Glaubwürdigkeit und spricht dafür, dass er nicht in das alte Rechts-Links-Schema passt, sondern einen neuen Typus progressiver Regierung vertritt.

Die privaten Rentenfonds sollen abgeschafft werden

Am Transpazifischen Partnerschaftsabkommen TPP-11 entzündet sich der neueste Konflikt innerhalb der Regierung. Die Parteien von Apruebo Dignidad lehnen es aufgrund seiner umstrittenen Mechanismen zur Konfliktlösung mittels Schiedsgerichten ab, auch Boric stimmte als Abgeordneter einst dagegen. Die Parteien des Socialismo Democrático befürworten jedoch die Ratifizierung. Anstatt eine Ablehnung des Abkommens in seiner Koalition durchzusetzen, versucht Boric nun, in Nebenabreden zum Abkommen die Konfliktlösungsmechanismen abzumildern, um ihm zustimmen zu können – ein weiteres Zeichen seiner Kompromissbereitschaft. Bei dem absehbaren Ringen um Kompromisse hatte die neue Regierung eigentlich auf Rückenwind durch die neue Verfassung gehofft – und dies auch öffentlich erklärt, denn die neoliberale Verfassung von Pinochet steht vielen ihrer politischen Ziele im Wege. Mit der Ablehnung des Verfassungsentwurfs im Plebiszit ist es mit dieser Hoffnung nun vorbei. Zudem ist Boric politisch geschwächt, denn seine Regierung und die Verfassung wurden allgemein als miteinander verbunden wahrgenommen.

Boric war nur wenige Wochen im Amt, da begann eine rechte Kampagne, den Verfassungsentwurf –und damit auch ihn und seine Regierung – erfolgreich und nachhaltig zu diskreditieren. Diese lancierte Falschbehauptungen über künftig angeblich unsichere Renten, enteignete Wohnungen oder kollabierende Krankenhäuser. Gleichzeitig lenkten die rechten Medien den Fokus auf seinen vermeintlichen Schwachpunkt: die Sicherheitspolitik. Meldungen über gestiegene Kriminalität in den Großstädten häuften sich, während die Polizei nach Ermittlungen in Sachen Polizeigewalt Boric misstrauisch gegenüberstand. Die neue Regierung ist somit von Anfang an in der Defensive und muss reagieren, anstatt sich auf eigene politische Projekte konzentrieren zu können. Da nur begrenzt politisches Kapital zur Verfügung steht, muss sie sich überlegen, für welche Anliegen sie dieses am besten einsetzt. Die Befreiung der politischen Gefangenen des estallido social gehörte beispielsweise nicht dazu. Das Innenministerium trat weiterhin als Klägerin gegen Gefangene der Proteste auf, Teile der Regierung halten die Gefangenen nun für normale Straftäter*innen. Und nach dem neuen Haushaltsentwurf wird nun eben sogar jene Polizei finanziell aufgestockt, die für illegale Verhaftungen und die massive Polizeigewalt verantwortlich ist.

Auch in der Causa Mapuche hält Boric nicht sein Wort. Im Wahlkampf hatte er noch angekündigt, den von seinem Vorgägner Piñera verhängten Ausnahmezustand in der Region Araucanía nicht verlängern zu wollen. Angesichts von sich häufenden Meldungen über dortige Zusammenstöße und Straßenblockaden sah er sich aber schließlich doch dazu gezwungen, wenn auch die Rolle des Militärs dabei auf die Sicherung der Straßen begrenzt wurde. Das brachte seiner Regierung den ersten internen Streit ein, da die linken Parteien die Verlängerung eigentlich nicht mittragen wollten. Stattdessen verspricht Boric nun höhere Investitionen in den Plan Buen Vivir für bessere Lebensbedingungen in den südchilenischen, indigen geprägten Regionen – und erweckt damit den Eindruck, die misslungene Politik seiner Vorgänger*innen im Umgang mit den Forderungen der Mapuche fortzuführen.

“Confort” ist alle Nach dem Misserfolg des Verfassungsreferendums macht die Pinochet-Verfassung der bekannten Klopapiermarke Confort leider noch keine Konkurrenz (Foto: Ute Löhning)

Um die Verfassung noch zu retten, bewegte Boric die Mitte-Links-Parteien in letzter Minute dazu, für den Fall der Annahme Abschwächungen der Verfassung zuzusagen – ein weiteres Zugeständnis an die Rechte. Es half jedoch nichts, der Ausgang des Referendums zwang ihn zu noch mehr Kompromissbereitschaft. Er ersetzte seinen Weggefährten Giorgio Jackson im Kabinett durch die Bachelet-Vertraute Ana Lya Uriarte und berief mit Carolina Tohá eine Veteranin der Concertación zur Innenministerin, in Chile der wichtigste Kabinettsposten. So setzt sich ein Prozess fort, der schon mit seiner Unterschrift unter die Verfassungsvereinbarung 2019 sichtbar begonnen hatte: Boric ist mit der Zeit immer moderater geworden. Inzwischen erscheint er vielen Linken immer mehr als Wiedergeburtshelfer der Concertación, eine Art Bachelet 2.0.

Auf der einen Seite scheint die Abkehr von linken Positionen innerhalb kürzester Zeit – Boric ist erst ein halbes Jahr im Amt – darauf hinzuweisen, dass die anfänglichen Hoffnungen in seine Regierung womöglich überhöht waren. Eine Rolle dabei mag auch die geringe Regierungserfahrung von Borics Bündnis Apruebo Dignidad, vieler seiner Minister*innen und des Präsidenten selbst spielen, der noch im Jahr 2020 versicherte, sich für die Übernahme des höchsten politischen Amtes nicht bereit zu fühlen. Andererseits befindet er sich bei all seinen politischen Entscheidungen in mehr oder weniger vorhersehbaren Zwangslagen: einerseits die Pandemie, andererseits Wirtschaftskrise und Inflation infolge des kurz vor seiner Amtsübernahme begonnenen Kriegs in der Ukraine. Nicht zuletzt schränken die fehlenden politischen Mehrheiten den Handlungsspielraum der Regierung ein. Der aktuelle Kontext ist geprägt durch eine Sicherheits- und Wirtschaftskrise, mit sinkenden Einkommen und dem Verlust von Arbeitsplätzen, die anhaltende Bedrohung durch Corona, die Unsicherheit im Zusammenhang mit Kriminalität und Drogenhandel etwa durch Gruppen des organisierten Verbrechens wie dem Tren de Aragua, sowie den Herausforderungen durch die hohe Migration, vor allem aus Venezuela. Der Vergleich mit Michelle Bachelet hinkt insofern, als dass die Ex-Präsidentin mit vielen Problemen in diesem Ausmaß nie konfrontiert war und mit ihren Parteienbündnissen Concertación und Nueva Mayoría stets über parlamentarische Mehrheiten verfügte.

Es bleibt also zu hoffen, dass Boric und seine Regierung die immensen Herausforderungen bewältigen, ohne dabei durch ständige Kompromisse völlig die Glaubwürdigkeit zu verlieren. Denn besonders in Chile gibt es für Politiker*innen weder lange Schonfristen noch mildernde Umstände.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier “Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika”. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

GENOSSIN FRANCIA, PRÄSIDENT PETRO

Gustavo Petro und Francia Márquez Linke Hoffnung für das Land (Foto: Casa Rosada via Wikimedia Commons , CC BY 2.5 AR )

Wird jetzt alles besser in Kolumbien? Mit einem riesigen Volksfest wurde die Amtseinführung der neuen Regierung am 7. August gefeiert. 1819 wurden an diesem offiziellen Feiertag die spanischen Invasoren in der Schlacht von Boyacá geschlagen. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes ist nun ein linkes Bündnis an der Regierung.

Der Sieg von Gustavo Petro und Francia Márquez bei der Präsidentschaftswahl am 19. Juni hat in den emanzipatorischen sozialen Bewegungen Hoffnung geweckt und Euphorie ausgelöst. Tagelang wurde gefeiert, vor allem in den ärmeren Departamentos, wo Petro und Francia bis zu 80 Prozent der Wähler*innen hinter sich haben. Dann begann die Arbeit an einem linken Regierungsprojekt. Bis zum offiziellen Amtsantritt am 7. August wurden Hunderte Treffen mit Vertreter*innen der unterschiedlichen Sektoren durchgeführt, der Regierungsplan ausgearbeitet, Staatsbesuche gemacht.

Parallel zur Hochstimmung macht sich aber auch Angst breit, bis kurz vor der Amtsübergabe wurde sogar vor einem möglichen Staatsstreich gewarnt. Tatsächlich lag die Befürchtung in der Luft, dass Petro oder Márquez ermordet werden könnten. Die neue Vizepräsidentin und Umweltaktivistin hatte erst vor wenigen Jahren einen Anschlag überlebt. Die kolumbianische Rechte betont, dass Gustavo Petro und Francia Márquez bei der Stichwahl mit 50,6 Prozent der Stimmen lediglich einen knappen Sieg gegen den konservativen Rodolfo Hernández (47,2 Prozent) errungen hätten. Aber auch eine andere Lesart ist möglich: Noch nie hat ein Kandidat so viele Stimmen mobilisiert wie Gustavo Petro.

Petro hatte bereits vor vier Jahren als Präsident kandidiert. Seitdem ist viel passiert in dem lateinamerikanischen Land: Die Pandemie hat die Hälfte der Bevölkerung ins Elend gestürzt, 50 Prozent leben unter der Armutsgrenze. Die Gewalt hat zugenommen, Hunderte Aktivist*innen wurden ermordet, der Friedensprozess mit der FARC, der ehemaligen größten Guerillagruppe im Land, kann als gescheitert gelten. Die 2017 gegründete FARC-Partei hat sich bereits mehrmals gespalten, erreichte bei der Parlamentswahl 2018 nicht einmal ein Prozent der Stimmen, 300 ihrer ehemaligen Mitglieder wurden seit der Demobilisierung bereits umgebracht. Die Verhandlungen mit der ELN, der anderen linken Guerilla Kolumbiens, wurden abgebrochen.

Die landesweiten Proteste 2021 haben das Land wochenlang lahmgelegt, bis heute wird mit den Demonstrant*innen verhandelt. Francia Márquez hat damals am Protest teilgenommen und ist nicht nur daher vielen Genoss*innen von der Straße bekannt. Vielleicht überwiegt vor allem wegen ihr die Hoffnung auf bessere Zeiten. Denn der Erfolg geht zu einem großen Teil auf ihr Konto, sie gibt den „Niemanden“ eine Stimme und ein Gesicht, den Millionen von marginalisierten Menschen in Kolumbien.

Kurz vor den massiven Protesten im Mai und Juni 2021 war Francia Elena Márquez Mina noch eine wenig bekannte Schwarze Umweltaktivistin, die meist afrikanische, traditionelle Kleidung trägt, bunte Tücher zum Turban gewickelt um den Kopf, Armreifen aus Perlen und Muscheln. Zum Gruß, beim Sprechen oder Singen hebt sie immer wieder die linke Faust. Jetzt ist sie eine Herausforderung für die traditionelle politische Klasse. Ihr Ziel ist in eigenen Worten, „die hegemoniale patriarchalische Politik zu brechen“. Und tatsächlich hat sie das Potenzial dazu hauptsächlich aufgrund ihrer zutiefst demütigen Haltung gegenüber kollektiven Prozessen. Ihr politischer Leitsatz lautet: „Ich bin, weil wir sind.“

Francia Márquez wurde 1981 geboren und ist in einer kleinen Dorfgemeinschaft mit kaum 100 Einwohner*innen im südlichen Department Cauca aufgewachsen. Das Haus der Familie ist aus Lehm gebaut, ihr Großvater versammelte an den Abenden die Gemeinschaft und galt als ihr Sprecher. In demselben Haus begleitete sie ihre Großmutter im Sterben. Schon als junges Mädchen schürfte sie am Fluss Gold und half beim Anbau von Kaffee, Kochbananen und Yuca. Francia Márquez hat 2021 an den Protesten teilgenommen und ist vielen Genoss*innen von der Straße bekannt.

Das Department Cauca ist eines der gefährlichsten und gewalttätigsten Gebiete des Landes. Allein im Jahr 2021 wurden 70 Menschen aufgrund ihres Aktivismus für den Umweltschutz und die Menschenrechte umgebracht. Schon in ihrer Jugend erkennt Márquez den Zusammenhang zwischen der Zerstörung der Umwelt und der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit in den Bergbaugebieten. 2019 muss die Aktivistin aufgrund von Morddrohungen ihr Dorf verlassen. In Cali trifft sie auf Schwarze Aktivistinnen, die sie in ihrem sozialen Zentrum Casa Chontaduro aufnehmen.

Weniger radikale Linke setzten auf Petro

In diesem neuen Zuhause begegnen ihr zahlreiche Lebensgeschichten, die ihrer eigenen sehr ähneln. „Meine Biografie ist nur deswegen relevant, weil viele das Gleiche durchgemacht haben: Kinderarbeit, von klein an, auf dem Land und im Bergbau, sexueller Missbrauch und Belästigung, sklavenähnliche Arbeitsbedingungen bei reichen Familien.“ Francia hält auch als Vizepräsidentin engen Kontakt zu ihrer Herkunft und zur Bewegungslinken. Ihren Sieg feierte sie in ihrem Wohnviertel in Cali, ohne Sicherheitspersonal und schusssichere Weste. Sie kommt weiterhin zu Veranstaltungen, und am Montag nach der Amtsübergabe hat sie in ihrem Heimatdorf die Einführung gefeiert.

Weniger „radikale“ Linke setzten ihre Hoffnung eher auf Petro, denn er provoziert weniger und versucht, seine Regierung als offen in alle Richtungen zu positionieren. Bei seiner ersten Rede nach der Wahl machte er klar: Der Präsidentenpalast stehe jederzeit auch für die Opposition offen. Er werde auf Versöhnung setzen. So traf er sich nach der Wahl bereits mit seinen politischen Gegner*innen aus dem ultrarechten Lager. Diese gemäßigte Politik passt auf den ersten Blick nicht unbedingt zur Vergangenheit Petros und zur Darstellung seiner Person in den traditionell konservativen Medien. Petro war Mitglied in der M19-Guerilla, und das rechte Lager warnte stets vor seinem Versuch, den Sozialismus einzuführen. Allerdings sind in Kolumbien bewaffnete oppositionelle Gruppen nicht auch selbstverständlich sozialistische Bewegungen. Die M19-Guerilla gehört politisch eher zum sozialdemokratischen Lager. Trotzdem ist seine Vergangenheit in vielen Kreisen ein Stigma.

Francia Márquez gibt den „Niemanden“ eine Stimme

Sein diplomatisches Geschick lässt allerdings erwarten, dass Petro nicht nur zu den emanzipatorischen und fortschrittlichen Regierungen der Region enge Beziehungen aufbauen wird. Bereits in den ersten Wochen nach der Wahl hat er Francia Márquez auf eine Südamerikareise geschickt, auf der sie die Präsidenten und Regierungsmitglieder Argentiniens, Chiles und Boliviens sowie in Brasilien den linken Präsidentschaftskandidaten Luiz Inácio „Lula“ da Silva besuchte. Das Verhältnis zu den USA wird sich sicherlich verändern, denn Petro wird die traditionelle Rolle Kolumbiens in der US-Außenpolitik anfechten: Kolumbien wird nicht weiter der Damm gegen linke Regierungen sein.

Auch für das Nachbarland Venezuela ist die Wahl Petros eine gute Nachricht. Die politische Rechte Kolumbiens war unter anderem am versuchten Putsch in Venezuela 2019 beteiligt, bei dem sich der venezolanische Politiker Juan Guaidó selbst zum Interimspräsidenten ernannte und sogar von der deutschen Bundesregierung anerkannt wurde. Kolumbianische Paramilitärs und Militärs hatten ihn damals unterstützt. Nun werden nach Jahren der Funkstille zwischen Kolumbien und Venezuela die diplomatischen Beziehungen wieder aufgenommen. Der venezolanische Außenminister Carlos Farías und sein zukünftiger kolumbianischer Amtskollege Álvaro Leyva Durán haben dazu bereits Ideen vorgelegt. Der Wirtschaftswissenschaftler Petro wird als erste Priorität eine Reform der Steuer- und Rentenpolitik angehen. Denn das primäre Ziel der neuen Regierung ist die Bekämpfung von Armut und Ungleichheit. Für die ersten 100 Tage kündigte Petro daher bereits konkrete Reformpläne an. Außerdem will die neue Regierung auch das Freihandelsabkommen mit den USA neu verhandeln. Im Wahlkampf hatten Gustavo Petro und Francia Márquez zahlreiche Forderungen der Bewegungen aufgegriffen: Im Zentrum der Wahlversprechen stand der Schutz der Aktivistinnen vor Gewalt und Verfolgung. Seit der Unterzeichnung des Friedensvertrags sind über 900 Aktivistinnen ermordet worden, Kolumbien gilt als eins der weltweit gefährlichsten Länder für die politische Linke. Zudem sollen die Friedensverhandlungen mit der immer noch aktiven ELN-Guerilla aufgenommen und der Friedensvertrag mit der FARC umgesetzt werden.

Zu Petros Wahlversprechen zählen zudem strukturelle Reformen in Polizei und Armee. Die Polizei soll aus dem Verteidigungsministerium ausgegliedert werden. Dies ist vor allem mit Blick auf die Sozialproteste ein wichtiges Thema für linke Bewegungen – alleine bei den Protesten 2021 wurden über 80 Menschen von der Polizei getötet. Bisher wurde niemand zur Rechenschaft gezogen. Bereits vor der offiziellen Amtseinführung hat die neue Regierung aus diesen Wahlkampfversprechen einige konkrete Vorschläge erarbeitet, darunter die Freilassung der politischen Gefangenen, die seit ihrer Teilnahme an den Protesten in Haft sind.

Weniger vielversprechend sieht es in der Klimapolitik aus. Obwohl das Thema im Wahlkampf eine Rolle gespielt hatte, kündigte Petro nun an, vorerst nicht aus dem Kohleabbau auszusteigen. Zwar will er perspektivisch weg von Öl und Kohle, doch wegen des Ukraine-Kriegs steigen derzeit die deutschen Kohleimporte aus Kolumbien wieder an. Und das Entwicklungsland kann es sich nicht leisten, sich dieses Geschäft entgehen zu lassen. So plant die neue Regierung, den Abbau von Bodenschätzen weiterhin zu ermöglichen, allerdings mit sozial- und umweltverträglichen Beschränkungen. Und zumindest die derzeit laufenden Pilotprojekte im Fracking werden ausgesetzt.

Weniger vielversprechend sieht es in der Klimapolitik aus

Außerdem wird in den kommenden Jahren in den Ausbau der sozialen Infrastruktur investiert. Das ist unglaublich notwendig in einem Land, in dem Menschen an heilbaren Krankheiten oder Kleinkinder an Unterernährung sterben. Und bis 2023 werden die öffentlichen Unis keine Einschreibungsgebühr nehmen. Grund zur Freude geben vor allem zwei neue Ministerien: Das Ressort für Gleichstellung wird von niemand geringer als Francia Márquez selbst geführt; sie wird sich um die Rechte von Frauen, LGBTIQ+ und gefährdeten Bevölkerungsgruppen kümmern und für die soziale und wirtschaftliche Gleichstellung ausgegrenzter Teile der Bevölkerung kämpfen. Zudem wird ein Ministerium für Frieden, Sicherheit und Zusammenleben eingeführt.

Das Kabinett der neuen Regierung entspricht Petros integrativem Politikstil. Das Außenministerium geht ans konservative Lager, an die eher liberale Strömung gehen die Ressorts Wohnen und Landwirtschaft. Aus dem eher linken Lager kommen der neue Bildungsminister, der Verteidigungsminister sowie die drei Frauen in den Ressorts Umwelt, Gesundheit und Kultur, María Susana Muhamad von der linken Partei Colombia Humana, Carolina Corcho und Patricia Ariza Flórez aus der Unión Patriótica. Insgesamt gibt Petro mit seinen Ernennungen vielen unterschiedlichen Lagern eine Repräsentation in der Regierung.

Trotz unterschiedlicher Einschätzungen seitens der linken Bewegung wird diese Regierung für mehr Einheit unter den Linken sorgen, für mehr Austausch und direkte Beteiligung vieler marginalisierter und ausgeschlossener Bevölkerungsgruppen. Ihr ständiger Bezug auf Protest und Bewegung, ihre direkten Kontakte zu Aktivist*innen und linken Intellektuellen lassen auf eine wirkliche Veränderung hoffen.

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„KRIMINELLE STRUKTUREN NOCH IMMER TEIL DES STAATES”

Joaquín Mejía Rivera Bei einer Veranstaltung in Berlin (Foto: Ute Löhning) )

In ihrer Amtsantrittsrede kündigte Präsidentin Xiomara Castro verschiedene Maßnahmen an, die in den ersten 100 Tagen ihrer Amtszeit umgesetzt werden sollten. Dazu gehörte auch die Bekämpfung der Korruption. Hat Xiomara Castro nach neun Monaten ihrer Präsidentschaft dieses Versprechen erfüllt?
Ja, aber all das ist relativ zu betrachten. Die Regierung von Castro bat die Vereinten Nationen (UN), eine internationale Kommission zur Bekämpfung von Korruption und Straflosigkeit (CICIH) einzurichten. Tatsächlich ist auch ein Sondierungsteam der UN nach Honduras gereist. Im Moment herrscht Stillstand, weil es in zwei sehr wichtigen Punkten verschiedene Auffassungen gibt. Erstens möchte die honduranische Regierung das Expert*innenteam der CICIH auswählen, aber die UN lehnen dies ab, weil es die Unabhängigkeit der CICIH einschränken würde. Zweitens fordert die Zivilgesellschaft, dass die CICIH Befugnisse einer unabhängigen Staatsanwaltschaft bekommt, die eigene Fälle vorlegen kann, die aber auch die Generalstaatsanwaltschaft bei der Untersuchung ihrer Fälle begleitet.
Dabei ist jedoch zu bedenken, dass die Kommission in Guatemala (CICIG) vom Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt wurde, weil sie mit den Befugnissen einer unabhängigen Staatsanwaltschaft ausgestattet war. Die guatemaltekische Verfassung besagt, dass das Monopol der Strafverfolgung bei der Generalstaatsanwaltschaft liegt. In Honduras ist es genau dasselbe. Deshalb wäre eine Verfassungsreform erforderlich, die vom Kongress durchgeführt werden muss. Die Regierung von Xiomara Castro und ihre Verbündeten haben aber nicht einmal eine einfache Mehrheit im Kongress, so dass dies fast unmöglich ist.

Auch hat Xiomara Castro während ihrer Antrittsrede angekündigt, Honduras frei von Tagebau zu erklären und versprochen, das ZEDE-Gesetz abzuschaffen, ein Gesetz, das autonome Zonen im Land ermöglichte, mit eigenen Gesetzen und verwaltet von Investoren. Wie sieht es damit aus?
In der Tat wurde das Land als frei von Tagebau erklärt, aber das ist nur eine rhetorische Erklärung, die bisher keine Auswirkungen auf die Territorien hat. Es stimmt, dass keine weiteren Konzessionen vergeben wurden, aber die bestehenden Konzessionen wurden nicht ausgesetzt. Sie schaden noch immer der Umwelt, den Territorien und der Gesundheit der Menschen. Es ist auch nicht zu leugnen, dass Castro das ZEDE-Gesetz aufgehoben und mit einigen ZEDEs verhandelt hat, um das Regime zu ändern (den Investor*innen wurde angeboten, sich als rechtskonforme Sonderwirtschaftszonen zu konstituieren, Anm. d. Red.). Aber es gibt eine ZEDE namens Próspera, die sich schlicht weigert. Sie bauen an ihrer Modellstadt einfach weiter. Also hat sich bisher nichts wirklich geändert. Die Präsidentin hat mit der Aufhebung des Gesetzes aber ihr Versprechen gehalten.

Im Vorfeld der Wahl hat Castro einen Pakt mit feministischen Organisationen geschlossen, mit konkreten Vereinbarungen, wie die Aufhebung des Verbots der „Pille danach”. Das Ziel waren sichtbare Verbesserungen der Situation von Frauen im Land. Was konnte davon umgesetzt werden?
Es liegt in den Händen der Exekutive, das Verbot der „Pille danach” aufzuheben. Das ist bisher nicht passiert. Honduras ist das einzige Land in Lateinamerika, in dem sie verboten ist. Für die Aufhebung ist ein Exekutivdekret ausreichend, dabei ist eine Zustimmung des Nationalkongresses nicht erforderlich. Bisher hat Xiomara Castro, die von sich behauptet, sie sei die Präsidentin einer feministischen Regierung, dieses so leicht zu erfüllende Versprechen nicht eingelöst. Auch im Kabinett selbst sieht man Widersprüche. Obwohl sie verkündet, dass dies die Zeit der Frauen ist, hatte das vorherige Kabinett von Juan Orlando Hernández mehr Ministerinnen als das von Xiomara Castro, was offensichtlich nicht mit ihrem Diskurs übereinstimmt.

Der ehemalige Präsident Juan Orlando Hernández wurde an die Vereinigten Staaten ausgeliefert, weil er der Zusammenarbeit mit dem organisierten Verbrechen beschuldigt wird. Besteht diese Verflechtung zwischen der derzeitigen Regierung und dem organisierten Verbrechen noch immer?
Juan Orlando Hernández wurde zwar ausgeliefert, aber die kriminellen Strukturen befinden sich noch immer innerhalb des Staates. Eines der großen Hindernisse für Castros Regierung ist, dass sie zwar an die Macht gekommen ist, aber eben nur an einen Teil der Macht. Denn viele mit dem organisierten Verbrechen verbundene Strukturen von Juan Orlando Hernández sind immer noch Teil des Staates. Das ist ein großes Hindernis. Es gibt Anschuldigungen gegen einzelne Mitglieder der Regierung von Xiomara Castro, die über viel politische Macht verfügen und denen ebenfalls Verbindungen zum Drogenhandel nachgesagt werden. Dies sind nur Gerüchte, aber sie geben Anlass zu großer Sorge.

Wie kann sich das auf die Castro-Regierung und ihre Handlungsfähigkeit auswirken?
Ein deutliches Beispiel für die Auswirkungen ist die Frage der Entmilitarisierung. Die Streitkräfte sind nicht erst seit Juan Orlando Hernández direkte Komplizen des Drogenhandels. Die Armee ist seit den 1970er und 1980er Jahren eine Schlüsselfigur im Drogenhandel in Honduras und ganz Mittelamerika.
Xiomara Castro ist es bisher nicht gelungen, das Militärbudget zu kürzen, die Macht der Streitkräfte zu reduzieren oder ihnen die Aufgaben der öffentlichen Sicherheit zu entziehen. Dort ist ein Umstrukturierungsprozess erforderlich, das ist eine wichtige Forderung der Zivilgesellschaft. Zudem ist ein nationaler Dialog über die Frage, ob es überhaupt eine Armee geben soll oder nicht, notwendig. Denn die Streitkräfte sind, wie Victor Mesa sagt, zum schlimmsten Albtraum für die Demokratie geworden. Doch angesichts der Macht des Militärs und seiner Verbindung zum Drogenhandel ist das sehr schwierig.

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ECHTE TRANSFORMATION ODER PERSPEKTIVLOSE LINKE?

“Ich will keinen Tren Maya!” Neue Großprojekte lassen Bewegungen an echter Transformation zweifeln (Foto: Francisco Colín Varela via Flickr , CC BY 2.0 )

Die hemdsärmelige Art des Präsidenten, seine Provokationen auf den allmorgendlichen Pressekonferenzen, die umstrittenen Großprojekte oder die Militarisierung der inneren Sicherheit: Viele ärgert der undiplomatische Regierungsstil von Andrés Manuel López Obrador, andere warnen vor den Gefahren eines sich immer autoritärer gebärdenden Populismus. Und dennoch bleibt der AMLO genannte Politiker ungemein populär. 2018 hatte die Hälfte aller Wähler*innen dem Hoffnungsträger der gemäßigten Linken ihre Stimme gegeben. Heute bewerten sechs von zehn Mexikaner*innen seine Regierungsarbeit positiv. Im verarmten Süden des Landes, in den Bundesstaaten Chiapas, Tabasco und Oaxaca beispielsweise, erreicht der Präsident gar Zustimmungswerte von 80 Prozent.

Ein handfester Grund für die ungebrochene Zuneigung der Mexikaner*innen zu ihrem Präsidenten ist die Bekämpfung der Korruption. Zumal diese mit Maßnahmen zur Umverteilung verbunden ist – zur Abwechslung einmal von oben nach unten. In einem Land, in dem die staatlichen Leistungen für die meisten Menschen gelinde gesagt schon immer defizitär waren und Korruption die Programme zur Armutsbekämpfung noch zusätzlich schröpfte, kommt eine der zentralen Botschaften von AMLO gut an: „Es kann keine reiche Regierung in einem Land von Armen geben.“

Die Umsetzung dieser Botschaft ist für Mexikos Geschichte beispiellos. Spitzengehälter der Staatsbeamt*innen wurden massiv gekürzt, die Zeiten der staatlich gedeckten Spesenrechnungen für die Behörden sind vorbei. Beispielhaft für diese Politik ist der ehemalige Präsidentenwohnsitz Los Pinos in Mexiko-Stadt. Während AMLOs Vorgänger Enrique Peña Nieto dort noch wohnte, ist der Komplex mitten im Wald heute ein öffentlich zugängliches Museum. Täglich machen sich dort hunderte Besucher*innen ein Bild vom Luxus vergangener Zeiten. Viele Prunkstücke der Korruption sind allerdings kurz vor dem Machtwechsel Ende 2018 aus Los Pinos verschwunden, die Räume wirken leer, die ganze Villa wie geplündert. Im kollektiven Bewusstsein sind die Exzesse der früheren „pharaonischen Regime“, wie AMLO sie nennt, sehr präsent. Nicht nur die Partei der Institutionellen Revolution (PRI), die alte Einheitspartei, auch die rechte Partei der Nationalen Aktion (PAN) verprasste ohne mit der Wimper zu zucken Steuergelder. So schaffte Präsident Vicente Fox, der von 2000 bis 2006 regierte, für ebendiese Residenz zahlreiche Luxusgüter an. Der Skandal ging als Handtuch-Gate in die Geschichte ein, weil allein jedes Handtuch 402 US-Dollar kostete.

Eine zweite Komponente von AMLOs Politik ist eine gerechtere Besteuerung. Großunternehmen fanden dank ihrer Kontakte zur Politik früher immer Schlupflöcher zur legalen Steuerhinterziehung, das Steueramt verfügte gar in regelmäßigen Abständen Schuldenerlasse in mehrstelliger Millionenhöhe. Diese Ungerechtigkeit ging AMLO nicht juristisch an; vielmehr stellte er die Beschuldigten so an den Pranger, dass sie ihre Schulden „freiwillig“ beglichen. Die auf den präsidialen Pressekonferenzen veröffentlichte Liste zahlungsscheuer Unternehmen wirkte Wunder: Allein in den ersten beiden Regierungsjahren zahlten Firmen wie IBM, Walmart und Coca-Cola insgesamt 35.849 Millionen Pesos (1,8 Milliarden Euro) aufgelaufene Steuerschulden an den Fiskus.

Nach Jahren der ökonomischen Krisen unter neoliberaler Politik richten sich neue Programme an die verarmte Bevölkerung, und zwar ohne die von der Weltbank propagierten Leistungskriterien. Jugendliche und alte Menschen stehen im Fokus der staatlichen Stützen. Junge Erwachsene bekommen jetzt ein Stipendium für ihre berufliche Ausbildung, die allgemeine Rente ab dem 65. Lebensjahr wurde auf 1.925 Pesos pro Monat (rund 100 Euro) verdoppelt und soll weiterhin jährlich um 20 Prozent erhöht werden.

Auch der staatlich festgeschriebene Tagesmindestlohn verdoppelte sich in den letzten vier Jahren von umgerechnet 4,50 Euro auf knapp 9 Euro. Entgegen dem zentralen neoliberalen Argument deuten sich keine größeren Auswirkungen auf die Inflation an. Lange wurde so gerechtfertigt, den Tageslohn auf dem denkbar tiefen Minimum von rund 3 Euro zu halten. Diesen Hungerlohn gab einst Basilio González Núñez, Präsident der Nationalen Kommission zur Bestimmung des Mindestlohnes (CONASAMI), bekannt. Er selbst war von 1991 bis 2019 ununterbrochen im Amt und verdiente zuletzt monatlich 173.000 Pesos, was dem 68-Fachen des monatlichen Mindestlohns entsprach, den er den Hilfsarbeiter*innen auf dem Bau und in der Landwirtschaft zumutete. Auch wenn AMLO solche Fälle als „vergoldete Bürokratie“ anprangert, bleibt Mexiko ein Beispiel von krasser Ungleichheit. Gemäß der im September 2022 vorgestellten Zwischenbilanz der Regierung reduzierte sich die Einkommensungleichheit zwischen dem reichsten und dem ärmsten Zehntel innerhalb von drei Jahren von 18 zu 1 auf 16 zu 1.

Korruption und Straflosigkeit sind außerdem keineswegs Vergangenheit, wie prestigeträchtige Großprojekte beispielhaft zeigen. Beim Bau der neuen Erdölraffinerie Dos Bocas im Ort El Paraíso in Tabasco waren die Arbeiter*innen den mafiösen wirtschaftsnahen Gewerkschaften ausgeliefert, die solche einträglichen Geschäfte auch früher kontrollierten. Jeden Montagmorgen kassierte hier die der Partei PRI angehörende Gewerkschaft am Werktor in bar und ohne Quittung einen Betrag von den Arbeiter*innen. Wer nicht zahlen wollte, kam nicht rein, klagten die 1.500 Angestellten bei einem wilden Streik im Oktober 2021. Der Streik wurde gewaltsam unterdrückt. Und obwohl die Missstände so ans Licht kamen, änderte sich nichts – zu groß war die Eile, das Prunkstück der Renationalisierung der mexikanischen Energiepolitik fertigzustellen.

Neue Großprojekte im alten Stil

Die Großprojekte bleiben ein Brennpunkt in der sozialen Auseinandersetzung. Hier zeigt sich, dass sich an der grundlegenden kapitalistischen Ausrichtung und der Aneignung von oft indigenen Territorien nichts geändert hat. Dennoch, eine Reihe solcher Projekte früherer Regierungen wurde dank jahrelanger sozialer Proteste von AMLOs Regierung abgesagt, allen voran der Flughafen bei Atenco und Texcoco außerhalb von Mexiko-Stadt, aber auch Staudammprojekte oder eine US-amerikanische Bierfabrik in der wasserarmen Großstadt Mexicali. Neue Bergbaukonzessionen vergibt die Regierung nicht, auch wenn aktuelle Projekte trotz Widerspruch bis in die Umweltbehörden hinein nicht angerührt werden.

Im lukrativen Energiemarkt, der nach langem Widerstand erst von Peña Nieto 2013 privatisiert wurde, mussten europäische und nordamerikanische Unternehmen zuletzt bittere Pillen schlucken. Die Rückgängigmachung dieser neoliberalen Reformen geht trotzdem nur in kleinen Schritten voran. Gleichzeitig arbeiten die betroffenen transnationalen Unternehmen momentan eifrig daran, Mexiko wegen Verletzung der internationalen Freihandelsabkommen zu verklagen, was teuer werden kann. Einzelne Projekte werden dennoch abgesagt, so ein Windenergiepark der französischen Electricité de France in Oaxaca. Auch übervorteilende Verträge, die von der gut geschmierten Drehtürpolitik in der neoliberalen Vergangenheit zeugen, erneuern die Behörden nicht. Betroffen davon sind eine Reihe von Großunternehmen, darunter die spanische Iberdrola oder der holländisch-schweizerische Energiehändler Vitol.

Wie mit dem Bau der Raffinerie Dos Bocas angedeutet, sind die neuen Vorzeigeprojekte von AMLO kaum besser als die der Vorgängerregierungen. Der umgebaute Militärflughafen Felipe Ángeles nahe Mexiko-Stadt ist im März 2022 für die zivile Luftfahrt eingeweiht worden. Doch auch ein halbes Jahr später herrscht dort gähnende Leere, weil Fluggesellschaften und Passagiere ihn nicht nutzen wollen. Auch das Tourismusprojekt Tren Maya auf der Halbinsel Yucatán und der Interozeanische Korridor, ein Bauvorhaben zur Verbindung der Containerhäfen im Isthmus zwischen Oaxaca und Veracruz, wird von ökologischen Basisorganisationen und indigenen Protestgruppen heftig kritisiert. Doch der Bau der neuen Infrastruktur kommt fast überall ohne nennenswerten territorialen Widerstand voran. Ein Zeichen dafür, dass der Protest lokal oft weniger breit abgestützt ist, als es von außen den Anschein hat.

Die mexikanischen Menschenrechtsorganisationen kritisieren an der Regierung AMLO das Fehlen einer klaren Strategie, um die Menschenrechtskrise mit ihren historischen Missständen endlich anzugehen. Die Ausnahme ist der Fall Ayotzinapa, wo dank des unermüdlichen Drucks der Angehörigen der 43 verschwundenen Studenten im August und September 2022 endlich erstmals hohe politische und sogar militärische Entscheidungsträger in Haft genommen wurden. Das Staatsverbrechen von Ayotzinapa ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs und die Aufarbeitung kommt nach vier Jahren Regierungsverantwortung reichlich spät. Dennoch ist das juristische Vorgehen gegen Generäle und den ehemaligen Generalstaatsanwalt ein unerhörtes Ereignis in der langen Geschichte der politischen Repression des Landes. Immerhin musste sich in Mexiko im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Staaten bisher noch nie ein hoher Militär für Exekutionen oder gewaltsames Verschwindenlassen verantworten.

Wann und ob die Militärs überhaupt verurteilt werden, steht noch in den Sternen. Ein renommiertes Anwaltsbüro übernahm deren Verteidigung pro bono und der Generalstaatsanwalt zog 21 Haftbefehle, darunter gegen 16 Militärs, wenige Tage nach deren Ausstellung wieder zurück. Ein unglaublicher Sabotageakt der Chefetage an der Spezialeinheit der Staatsanwaltschaft zum Fall Ayotzinapa, den der zuständige Staatsanwalt Omar Gómez Trejo mit seinem Rücktritt quittierte. Präsident AMLO gab darauf öffentlich zu, es gäbe „starken Druck“ im Fall Ayotzinapa, ohne genauer darauf einzugehen. Die Angehörigen der 43 kritisierten am achten Jahrestag der Verbrechen die mangelhafte Aufklärung: „Ja, wir erreichten kleine Fortschritte mit dieser Regierung, aber als die Armee angefasst wurde, brach alles zusammen“, betonte Emiliano Navarrete, Vater des verschwundenen José Ángel Navarrete González, auf der Demonstration zum Jahrestag. Die Trauer steht im dabei ins Gesicht geschrieben.

Eine zentrale Schwäche der Transformation des Landes, die gemäß AMLOs Anhänger*innen momentan stattfinden soll, ist der Mangel an klarer politischer Ausrichtung der 2013 gegründeten Bewegung der Nationalen Erneuerung (Morena). Dank der Beliebtheit des Präsidenten gewinnt die neue Partei eine Wahl nach der anderen und nicht immer stehen dabei auch nur annähernd linke Visionen im Vordergrund. Im Gegenteil: An vielen Orten fanden Politiker*innen aus anderen Parteien bei Morena Unterschlupf. Das geht bis hin zum chiapanekischen Großgrundbesitzer Jorge Constantino Kanter, der die im Zuge des zapatistischen Aufstands von der indigenen Bewegung enteignete Oligarchie vertrat und für drastische rassistische Äußerungen bekannt ist. 2022 kandidierte er für Morena um das Stadtpräsidium von Comitán – zum Glück ohne Erfolg. Lokale Morena-Verwaltungsstrukturen waren gar in das gewaltsame Verschwindenlassen und die Ermordung von linken, aber der lokalen Morena-Regierung kritisch gegenüberstehenden Aktivist*innen involviert. Neu ist allerdings, dass deswegen Lokalpolitiker*innen in Untersuchungshaft sitzen, darunter der Gemeindepräsident von Amatán in Chiapas und die Gemeindepräsidentin von Nochixtlán im Bundesstaat Oaxaca.

“Als die Armee angefasst wurde, brach alles zusammen”

Der Gewaltspirale im Land wurde zwar 2019 die Spitze gebrochen, doch die Mordrate stagniert nun auf hohem Niveau: Die jährlich 28 Morde pro 100.000 Einwohner*innen entsprechen 98 Morden täglich. Viele Ecken und Enden des ländlichen Mexiko sind und bleiben Territorien ohne rechtsstaatliche Prinzipien, wo die caciques genannten Landfürste die Herren über Leben und Tod sind, heute meist im Verbund mit Mafiagruppierungen. Wenn die Verhältnisse absolut untragbar werden, dann wehrt sich die betroffene Bevölkerung bewaffnet. Wie 2021 in der Gemeinde Pantelhó im Hochland von Chiapas, wo die lokale Politikerfamilie und ihre pistoleros vertrieben wurden.

Einer der überraschendsten und gefährlichsten Aspekte der Regierung AMLO ist die breite Allianz mit dem Militär, dem auch die neuen Großprojekte übertragen werden. Anlässlich der Verlängerung der Militärpräsenz auf den mexikanischen Straßen sprach López Obrador im September 2022 von der „quasi-militärischen Macht der organisierten Kriminalität“, derer er sich erst bewusstwurde, als er das Amt antrat. Er habe deshalb seine Meinung in Sachen Militarisierung der inneren Sicherheit geändert. Ob das stimmt, mag bezweifelt werden, hat doch Wikileaks ein Gespräch in der US-Botschaft in Mexiko-Stadt vom Januar 2006 veröffentlicht, in dem der damals erstmals für das Präsidentenamt kandidierende AMLO zu Protokoll gab, dass er zwecks Bekämpfung der organisierten Kriminalität das Militär aus den Kasernen holen wolle, weil es die „am wenigsten korrupte Institution“ sei. Und gegen besseres Wissen wird die systematische Beteiligung des Militärs an Verbrechen wie Ayotzinapa individualisiert, die Institution als Ganzes nicht kritisiert.

Linke soziale Organisationen warnen ihrerseits, dass das Militär und die Nationalgarde auch andere Ziele verfolgen. So erklärt die Organisationsfront von Oaxaca (FORO), eine neue Allianz von zehn sozialen Organisationen, in ihrem Gründungsschreiben im September 2022, dass „die Militarisierung insbesondere dort strategisch präsent ist, wo es historisch am meisten Widerstand gegen Großprojekte der Regierung gab“. Auch wenn die dunkelsten Seiten der Streitkräfte momentan zurückgebunden sind, ihr Machtzuwachs ist unheimlich und wird über die Regierungszeit von AMLO hinaus wirken.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier „Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika“. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

Wandlungsfähiger Widerstand

Die Verwunderung im In- und Ausland war groß als an Neujahr 1994 maskierte Frauen und Männer sieben Bezirkshauptstädte im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas besetzten und sich mehrere Tage Gefechte mit der mexikanischen Armee lieferten. Seitdem hat die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) einen langen Weg hinter sich gebracht. Dieser begann bereits ein Jahrzehnt früher, als am 17. November 1983 eine sechsköpfige Gruppe – hervorgegangen aus einer der zahlreichen mexikanischen Guerillas der 1970er Jahre – im lakandonischen Regenwald die EZLN gründete. Anfangs handelte es sich um eine dogmatische Gruppe, die sich an anderen Guerilla-Organisationen Lateinamerikas orientierte, zum Teil Kontakte zur Studierendenbewegung von 1968 hatte und mit einem avantgardistisch-kommunistischen Konzept die indigene Bevölkerung „befreien“ wollte.
Es folgte eine mehrjährige Etappe, in der die Kerngruppe der EZLN relativ isoliert blieb, da dieser paternalistische Ansatz, der zudem von mangelnder Kenntnis der Region begleitet war, auf großes Misstrauen bei der ortsansässigen indigenen Bevölkerung stieß. Nach einiger Zeit kam es jedoch zu einer offeneren Annäherung beider Seiten, die – neben anderen Faktoren wie dem Kampf der Frauen innerhalb der Bewegung und dem Einfluss der Befreiungstheologie – die undogmatischen Charakteristika der heutigen zapatistischen Bewegung ermöglichte. Die noch immer kleine Organisation trat daraufhin in einen wechselseitigen Lernprozess ein. Ihr Sprecher Subcomandante Marcos, einer der wenigen Mestizen der Gruppe, beschreibt diese Phase so: „Zusätzlich zu ihrer Kondition, die die indigene Bevölkerung für ein Leben in den Bergen befähigte, brachten sie uns ihre Weltsicht sowie ihre Sicht des Kampfes und ihre Kultur bei. Das heißt, in dieser Aufbauphase bewegten wir uns in einer Schule, wo es nicht klar war, wer Lehrer und wer Schüler war.“ Insgesamt zehn Jahre lang bereitete sich die politisch-militärische Organisation mit Unterstützung der zivilen Basis unter großen Anstrengungen und Gefahren im Untergrund auf Tag X vor.
Mit ihrem bewaffneten Aufstand vom 1. Januar 1994, der als ein wichtiger Ausgangspunkt der neuen antikapitalistischen Bewegungen gilt, katapultierte sich die EZLN auf die Titelseiten der mexikanischen und globalen Presse. In einer Zeit, in der von den westlichen Eliten ein endgültiger Sieg des Kapitalismus gefeiert wurde, manifestierten die vermeintlich Schwächsten der Schwachen im Südosten Mexiko ihr „¡Ya Basta!“ („Es reicht!“) und verdeutlichten so, dass das damals vielzitierte „Ende der Geschichte“ keineswegs erreicht war. Nicht zufällig fiel die Erhebung auf den Tag, an dem der nordamerikanische Freihandelsvertrag NAFTA in Kraft trat, mit dem die kapitalistische Entwicklung auf eine neue Stufe gehoben werden sollte.
Es folgten große Wellen der Solidarität mit der EZLN in und außerhalb Mexikos. Angehörige der solidarischen Zivilgesellschaft – im Verständnis der Zapatistas die unabhängig organisierten Menschen, die nicht von den Privilegien der Herrschenden profitieren – erklärten sich einverstanden mit den zentralen Forderungen nach Arbeit, Land, Unterkunft, Nahrung, Gesundheit, Bildung, Unabhängigkeit, Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Frieden. Sie schlugen der EZLN jedoch mehrheitlich einen nicht-bewaffneten Weg zu ihrer Durchsetzung vor. Die EZLN äußerte später, sie habe in diesem Moment auf die Zivilgesellschaft gehört; seit dem 12. Januar 1994 kämpft sie zivil für ihre Ziele, auch wenn es auf Gemeindeebene im Verlauf der Jahre durchaus zu einigen wenigen militanten Auseinandersetzungen zur Selbstverteidigung kam. Andererseits sah sich durch die enormen Sympathiebekundungen für die Zapatistas auch die mexikanische Regierung nach zwölf Tagen Bürgerkrieg gezwungen, einen Waffenstillstand zu proklamieren. Dessen ungeachtet sind bis heute zehntausende Soldaten in Chiapas stationiert. Ein wichtiger Grund dafür ist die Kontrolle des Einflussgebiets der EZLN.
Im Schwung des Aufstands besetzten die Zapatistas in Chiapas weit über 100.000 Hektar Land und verteilten es an tausende Familien. Auch viele Nicht-Zapatistas nutzten die damalige Dynamik zur Umverteilung dieses Produktionsmittels. Die EZLN bezeichnet diesen Prozess als Wiederaneignung, da ihrer indigenen Basis die Böden über Jahrhunderte von weißen oder mestizischen Oligarchen geraubt worden waren. Im Verständnis der indigenen Bevölkerung sind die Ländereien von integraler Bedeutung, wie Comandanta Kelly betont: „Das Land und die Territorien sind mehr als nur Quellen von Arbeit und Nahrung, sie sind auch Kultur, Gemeinde, Geschichte, Vorfahren, Träume, Zukunft, Leben und Mutter.“
Knapp zehn Jahre nach der Erhebung sah sich die EZLN zu einer weiteren strategischen Umorientierung gezwungen. Nachdem das mexikanische Parlament die Verträge von San Andrés scheitern ließ, für deren Zustandekommen die Zapatistas über Jahre mit der Regierung über indigene Rechte, Demokratisierung, die Abkehr von der neoliberalen Wirtschaftspolitik und die Verbesserung der Situation der Frauen verhandelt hatte, wählte die EZLN den Weg der „Autonomie ohne Erlaubnis“. Am 8. August 2003 gründete sie in den fünf autonomen Zonen der Zapatistas zivile Verwaltungszentren, sogenannte caracoles (Schneckenhäuser). Diese werden von fünf, nach dem Rotationsprinzip arbeitenden „Räten der guten Regierung“ koordiniert, deren Aufgabe es ist, die Entscheidungen der Basis umzusetzen – getreu dem zapatistischen Motto des „gehorchenden Befehlens“. Funktionsträger_innen, mit denen die Basis nicht zufrieden ist, können jederzeit abgesetzt werden.
Zuvor hatte die Bewegung intensiv reflektiert, um ihre eigenen Strukturen zu verbessern. Aus den Unzulänglichkeiten der eigenen Praxis, die die Zapatistas wie nur Wenige öffentlich machen, entstand dieser neue Schritt gesellschaftlicher Selbst­organisation. Die EZLN gab auf diese Art viele Kompetenzen an ihre zivile Basis ab. Mit Selbstbewusstsein berichtete Subcomandante Marcos 2013 von den Verbesserungen in den autonomen Gemeinden: „In diesen Jahren haben wir uns gestärkt und haben unsere Lebensbedingungen bedeutend verbessert. Unser Lebensstandard ist höher als in den regierungshörigen indigenen Gemeinden, die Almosen erhalten und mit Alkohol und nutzlosen Artikeln überschüttet werden. (…) Hier, bei nicht wenigen Fehlern und vielen Schwierigkeiten, ist eine andere Art des Politikmachens bereits eine Realität.“ Seit ihrem Schritt in die Öffentlichkeit war die EZLN um Allianzen bemüht. So unternahm sie vier Versuche, landesweite Bündnisse zu schmieden, um Mexiko zu demokratisieren und mehr soziale Gerechtigkeit zu erkämpfen. Die ersten drei Versuche wurden anfangs begeistert aufgenommen und es kam zu Treffen mit tausenden Aktivist_innen, die Initiativen schliefen jedoch schließlich ein. Der vierte Anlauf wurde durch die „VI. Deklaration aus dem Lakandonischen Urwald“ 2005 lanciert. Hier schlug die EZLN vor, in einem mehrjährigen, friedlichen und außerparlamentarischen Prozess namens „Die Andere Kampagne“, eine neue linke, antikapitalistische Verfassung für Mexiko unter Beteiligung aller marginalisierten Bevölkerungsgruppen durchzusetzen. Die Beurteilung dieses noch nicht abgeschlossenen Prozesses fällt ambivalent aus – Ende offen. Fest steht, dass sich die Ausrichtung der verschiedenen Initiativen im Laufe der Zeit immer weiter von den etablierten Parteien entfernte und sich den radikal basisdemokratischen Prinzipien annäherte, die die Zapatistas auch in ihren Gebieten anstreben. Die Bewegung um die EZLN ist somit mit wenigen anderen weltweit als anti-systemisch zu verstehen.
Auch die globale Vernetzung war für die EZLN von Anfang an wichtig. Zudem labte sich die desorientierte globale Linke regelrecht an der Radikalität und den konstruktiven Ideen dieser Rebell_innen, die entgegen altbackener Organisationen nicht selten poetisch die Sehnsucht nach „Einer Welt, in der viele Welten Platz haben“ formulierten. Vielfach lud die EZLN zu globalen Treffen nach Chiapas ein und animierte zur Nachahmung – was nicht häufig gelang. Die Zapatistas und viele emanzipatorische Aktivst_innen weltweit wollen sich auf Augenhöhe vernetzen, um gegen die sozialen und ökologischen Verwerfungen auf unserem Planeten vorzugehen. In zeitlich unterschiedlich starker Rezeption hatten Wort und vor allem Praxis der EZLN teils großen Einfluss. Slogans wie „Eine andere Welt ist möglich!“ oder die ersten freien Medienplattformen wie indymedia sind ohne die Mobilisierungen der EZLN wohl kaum denkbar. Ihr Aufruf, dass die größte Solidarität mit den Zapatistas die Organisierung kontinuierlicher emanzipatorischer Prozesse von unten links in der eigenen Lebensrealität wo-auch-immer sei, steht weiter im Raum und lädt uns alle ein.
Ihr strategisches Gespür für symbolträchtige und überraschende Aktionen hat die EZLN bis zur Gegenwart nicht verloren. Nachdem die großen Medien über Jahre kaum noch über ihren Kampf berichtet hatten, besetzten am 21. Dezember 2012 – dem Tag, der von den Mainstream-Medien fälschlicherweise als von den Maya prophezeiter „Weltuntergang“ kommerziell ausgeschlachtet worden war – rund 40.000 Zapatistas friedlich für einige Stunden die zentralen Plätze von fünf Städten in Chiapas – schweigend (siehe LN 464). Luis Hernández Navarro von der Tageszeitung La Jornada brachte die Symbolik der Mobilisierung auf den Punkt: „So wie sie sich das Gesicht bedecken mussten, um gesehen zu werden, hielten sie jetzt im Reden inne, um gehört zu werden“.
Für eine neue Initiative – „Die kleine zapatistische Schule“ – öffnete die EZLN im Sommer 2013 Hunderte ihrer Gemeinden. Über 1.200 ausgesuchte Gäste aus dem In- und Ausland waren eingeladen, den rebellischen Alltag im Aufstandsgebiet kennenzulernen. Die Offenheit, im Rahmen der Escuelita Zapatista am Leben der Zapatistas teilzuhaben, stellt ein Novum dar: Die eingeladenen Personen konnten die Tätigkeiten auf den Mais- und Bohnenfeldern miterleben, Fragen stellen und die Realität der Gemeinden kennenlernen. Das paternalistische Konzept von traditioneller „Entwicklungshilfe“ wurde radikal negiert: Hier unterrichteten Aktivist_innen aus den Reihen der EZLN die Gäste aus aller Welt, wie sie ihre Autonomie in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Justiz, Produktion und Medien verwirklichen. Die „kleine Schule“ wurde enthusiastisch aufgenommen und soll ob der großen Nachfrage mehrmals wiederholt werden.
Auch heute noch werden die Zapatistas immer wieder von staatlichen und paramilitärischen Kräften angegriffen. Darüber hinaus wird weiterhin versucht, sie durch neoliberale „Entwicklungsprojekte“, darunter Ölpalmen-Monokulturen oder Tourismusvorhaben, aus dem Widerstand herauszukaufen und durch Medienkampagnen als Kriminelle und rassistisch als „rückständige“ Indigene zu diffamieren. Die Position der EZLN dazu formulierte Comandanta Miriam noch im August 2013 deutlich: „Wir als originäre Bevölkerungsgruppen müssen die natürlichen Ressourcen (…) so gut wie möglich verteidigen, da es um unsere Mutter Erde geht, durch sie leben wir, durch sie atmen wir. Compañeros und Compañeras, um die Pläne des Todes abzuwehren, die uns die Neoliberalen aufzwingen, ist es notwendig, uns zu organisieren, unsere Kräfte, unseren Schmerz und unsere Rebellion zu vereinen und für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen.“
Selbstverständlich verlaufen die Initiativen der EZLN nicht idealtypisch und widerspruchsfrei, was auch von ihnen selbst immer wieder eingeräumt wird. Ein Beispiel ist hier die Situation der Frauen, die sich durch die Revolutionären Frauengesetze zwar deutlich verbessert hat; dennoch betonen die Zapatistinnen, dass noch viel fehle, bis von echter Gleichberechtigung in allen Gemeinden der EZLN gesprochen werden könne.
Bei allen Problemen und Bedrohungen, es gilt zu feiern: 30 Jahre Gründung der EZLN, 20 Jahre Rebellion und 10 Jahre Arbeit der caracoles. Der Kampf der Zapatistas gegen Ausbeutung und Unterdrückung wird – auch abseits akademischer, politischer oder subkultureller Moden – unter ihrem Motto „fragend schreiten wir voran“ und ihrer Parole „Alles für Alle!“ ohne Zweifel weitergehen. ¡Feliz cumpleaños, compas!

Infos und Literaturempfehlungen: www.chiapas.eu

Geschacher um die besten Plätze

Samuel Moreno, der Bürgermeister von Bogotá, sitzt im Gefängnis. Er soll massiv Gelder veruntreut haben, die für den Bau weiterer Linien des Metrobusses Transmilenio gedacht waren. Seine Art in Bogotá Politik zu machen, hatte zwar in den letzten Jahren für Kritik in den eigenen Reihen gesorgt, doch mit dem Entzug seines Mandates im Juli schien die Zersplitterung des Linksbündnisses Polo Democratico Alternativo (PDA) so gut wie vollzogen. Noch existiert die Bündnis-Partei, die vor wenigen Jahren als wichtige, neue linke Kraft galt. Der PDA hatte über mehrere Legislaturperioden das Bürgermeisteramt in Bogotá – eines der wichtigsten politischen Ämter in Kolumbien – für sich beanspruchen können. Doch nun gibt es zwischen den unterschiedlichen progressiven und klientelistischen Strömungen kaum noch einen Zusammenhalt.
Am 30. Oktober, wenn die Bürgermeisterwahlen stattfinden, steht eine Vielzahl von Bewerber_innen zur Auswahl. Da ist zunächst Morenos Gegenspieler im Polo, Gustavo Petro. 2010 trat er vergeblich als Präsidentschaftskandidat gegen den rechtsgerichteten jetzigen Präsidenten Juan Manuel Santos an. Inzwischen hat er mit einigen weiteren die Partei verlassen und stellt sich als unabhängiger Kandidat für die Nachfolge Morenos auf. Der Kandidat des PDA, Aurelio Suarez, gilt als nicht sehr charismatisch und wenig aussichtsreich. Antanas Mockus, der 2010 noch als Präsidentschaftskandidat der Grünen Partei für Überraschungserfolge gesorgt hatte, tritt nun doch nicht mehr selbst für das Bürgermeisteramt an. Mockus unterstützt die ehemalige Senatorin Gina Parody. Sie bewirbt sich als Unabhängige, war aber früher in der Partei Unidad Nacional des jetzigen Präsidenten Santos, kommt also ursprünglich aus dem rechten Lager. Mockus hat bereits eine neue Partei hinter sich, die Alianza Social Independiente und bringt wohl für ihn bestimmte Wähler_innenstimmen mit ins Lager von Parody.
Ex-Präsident Alvaro Uribe Vélez seinerseits macht nicht etwa Werbung für den Kandidaten der Partei der Unidad, sondern hat dem Kandidaten der Grünen Partei, Enrique Peñalosa, seine Unterstützung erklärt. Peñalosa war bereits von 1998 bis 2000 Bürgermeister. Die Allianz aus Grünen und Unidad ist deshalb kurios, weil die Grüne Partei 2010 als Gegnerin von Juan Manuel Santos in die Präsidentschaftswahlen gezogen war. Santos war immerhin Verteidigungsminister unter Uribe und dessen Wunschkandidat für die Nachfolge. Dazu steht Uribe Vélez für das System, dass die überwiegend jungen Unterstützer_innen der Grünen 2010 rundweg ablehnten. Ihr Erfolg im Wahlkampf hatte sich zumindest teilweise in der Forderung nach einer Verurteilung politischer Verbrechen und einem größeren Respekt des Staates vor menschenrechtlichen Grundsätzen begründet. Die in die neue Partei gesetzten Hoffnungen fallen somit endgültig in sich zusammen. Der laute Protest einiger Abgeordneter verhinderte zwar eine Rede Peñalosas vor dem Parteitag, hatte aber sonst kaum Konsequenzen. Im Süden Bogotás waren Alvaro Uribe Vélez und Peñalosa gemeinsam auf Wahlkampftour zu sehen. Uribe Vélez twitterte: „Peñalosa soll Bürgermeister werden, erinnern wir uns an den Transmilenio, Luxusschulen in Armenvierteln, Kindergärten, Parks, er soll es noch einmal machen.“ Peñalosa liegt bei den Umfragen vorn. Dionisio Araujo von der Konservativen Partei zog seine Kandidatur zurück, die konservative Partei unterstützt jetzt die Grünen. Die beiden traditionellen Großparteien der Konservativen und Liberalen haben ihren Einfluss in Bogotá weitgehend verloren.
Jaime Castro, der bereits Bürgermeister war, als zuletzt 1992 ein liberaler Bürgermeister wegen Korruption sein Amt aufgeben musste, tritt mit Unterstützung der Bewegung Autoridades Indígenas de Colombia (AICO) an. Carlos Fernando Galán schließlich wird von der aus dem Uribe-Umfeld stammenden, rechtsgerichteten Partei Cambio Radical ins Rennen geschickt. Beide haben kaum Aussichten. Erstaunlicherweise ist Galán der einzige, der ein umfassendes Programm zur Förderung von Frauen – beispielsweise den Ausbau von Frauenhäusern, von denen es in der 10-Millionen-Stadt gerade mal fünf gibt – sowie der Lesbisch-schwul-bisexuell-transgender-Gemeinde vorgelegt hat. Allen Kampagnen ist gemein, dass der Wahlkampf in Bogotá kaum eigene Themen setzen kann. Momentan sind in der Hauptstadt keine stadtpolitischen Probleme präsent, sondern vor allem die Ratifizierung des Freihandelsvertrages mit den USA durch den dortigen Kongress, die breiter werdenden Proteste der Studierenden wegen geplanter Reformen zum Hochschulgesetz und das Mitte Oktober zu Fall gebrachte Gesetzesvorhaben zur Verschärfung des Abtreibungsgesetzes. Dabei gäbe es viel zu verändern: Die Staus sind so schlimm wie nie, weil die Baustellen des Metrobusses die Hauptverkehrswege blockieren. Gewöhnliche Kriminalität steigt, Überfälle sind häufig. Dazu sind öffentliche Räume rar; die Mieten steigen. Dass eine_r der Kandidat_innen diese Prozesse umkehrt, glaubt kaum jemand.
Nicht nur in Bogotá, in allen 32 Departements werden Gouverneur_innen, Bürgermeister_innen und Gemeindeabgeordnete gewählt. Einige der kleinen Parteien, die spezifisch ethnische Gruppen vertreten wollen, wie ASI, Afrovides und AICO, haben sich in Plattformen für ihnen programmatisch fern stehende Kandidat_innen verwandelt: In Policarpa im Departamento Nariño etwa ist die ASI-Kandidatin fürs Bürgermeisteramt, Gladys Ortega (eigentlich eine Konservative), wegen angeblicher Verbindungen zu den „Rastrojos”, einer Nachfolgeorganisation paramilitärischer Gruppen, in Verruf geraten. „Wir wollen anständige Leute unterstützen”, wehrte sich der Parteivorsitzende Alonso Tobon. Finde man etwas heraus, so würden solche Kandidat_innen sofort aus der Partei ausgeschlossen, wie es mit dem ehemaligen Bürgermeister des Heimatortes von Gabriel Garcia Marqüz, Aracataca, geschah. Der war wegen Mordes und Bildung einer kriminellen Vereinigung festgenommen worden. 38 Kandidat_innen wurden im Vorfeld der Wahlen bisher ermordet. Die Regionalwahlen sind wohl auch deshalb mit mehr Gewalttaten verbunden als etwa die Kongresswahlen, da auf der lokalen Ebene noch direkter um finanzielle Mittel für die eigene Klientel gerungen wird.
Im afrokolumbianisch geprägten Departamento Chocó ist die Währung für Wahlstimmen Bauholz und Zement. Dort haben 80 Prozent der Bevölkerung keinen Zugang zu öffentlichen Diensten wie Wasserversorgung, Strom oder Abwasserversorgung. „Am Tag der Wahlen bilden sich Aufläufe vor den Wahlkreisbüros der Kandidat_innen, die Leute wollen sehen, was sie dort bekommen. Es ist die eine Möglichkeit für die Leute, was rauszuholen. Wenn sie an dem Tag nichts kriegen, dann nie”, wird eine Professorin aus der Departamento-Hauptstadt Quibdo in der Wochenzeitung Semana zitiert. Hier ist der ehemalige Gouverneur Sánchez Montes de Oca wegen Unterschlagung verurteilt und seines Postens enthoben worden. Welche politische Macht die Familie Sánchez dennoch hat, wird daran deutlich, dass der Bruder des Gouverneurs zwar wegen Verbindungen zu Paramilitärs in Bogotá im Gefängnis sitzt, aber dennoch in den Chocó reisen durfte. Dort besuchte er nicht nur das Begräbnis seiner Mutter, sondern auch das Parteibüro der Unidad Nacional. Der von ihm unterstützte Kandidat Jafet Bejarano hat versprochen, die Schuldächer in der regenreichen Region reparieren zu lassen und wird vermutlich die Wahl gewinnen. Die Gegenkandidatin Zulia Mena, die für eine kuriose Allianz aus dem linksgerichteten Demokratischen Pol, den Grünen und nun auch der Konservativen Partei antritt, hatte 2007 bei einer ersten Kandidatur Anzeige wegen Wahlbetrugs erstattet, da am Tag nach der Wahl Dutzende Wahlzettel mit für sie abgegebenen Stimmen im Müll gefunden worden waren. Passiert war damals nichts.
Das Wahlbeobachtungsinstitut MOE fürchtet dieses Jahr in mindestens 544 Gemeinden Wahlfälschung oder Unregelmäßigkeiten. In vielen Regionen sind ID-Karten aufgetaucht, die zu Verstorbenen gehören oder zu Menschen, die nicht existieren. Über 500.000 der für die Wahlen registrierten Karten wurden deshalb vom Nationalen Wahlrat annulliert. Alejandra Barrios von der Wahlbeobachtungsbehörde erklärt: „Diese annullierten Wahlregister lassen sich direkt in Finanzmittel der einzelnen Wahlkampagnen übersetzen” – Wahlfälschung kostet also. „Überlegen Sie sich mal, was es für eine logistische Leistung ist, wenn Sie Tausende Wähler, und die auch noch bezahlt, mit Bussen in einen anderen Ort bringen, damit diese dann dort für einen ausgemachten Kandidaten stimmen!”, so Barrios weiter. Natürlich seien diese Unregelmäßigkeiten nicht einer einzelnen Kampagne zuzuschreiben, dennoch „haben wir die Streitkräfte darum gebeten, dass sie Gemeindegrenzen von einzelnen Munizipien am Wahltag kontrollieren, weil wir dort von massiven Fällen von Mehrfachwahl ausgehen”, meint die Beobachterin im Interview mit Contagio Radio. Die Bitte um „Militarisierung” ist zunächst erschreckend, doch die Wahlbeobachterin insistiert: „Wir hoffen nur, dass Militär und Polizei auf den Fernstrassen die Busse und Autos so kontrollieren, dass nicht so etwas passiert wie zum Beispiel 2007 in Castilla la Nueva: Dort kamen unerwartet Busse mit Leuten aus anderen Dörfern an, die in Castilla wählten, obwohl sie eigentlich keine Berechtigung dazu hatten.” Es kam daraufhin zu Protesten, es wurden Wahlurnen verbrannt, mehrere Menschen wurden verletzt – „dort konnte dann gar nicht gewählt werden”, so Barrios. In anderen Regionen, wie zum Beispiel dem Valle del Cauca, wo es gewaltsame Zusammenstöße zwischen den Streitkräften und der Farc-Guerilla gibt, sei eine größere Präsenz des Militärs selbstverständlich nicht erwünscht.
Immer wieder entstehen Allianzen, um Kandidat_innen mehr Wahlstimmen zu ermöglichen, weil angenommen wird, dass eine feste Stammwähler_innenschaft den Kapriolen der Parteifunktionär_innen folgt. Doch so schnell wie sie geknüpft werden, lösen sich diese Allianzen bisweilen wieder auf.

Ein Staat wie jeder andere?

Begonnen hatte alles mit vielversprechenden Ankündigungen. Noch vor dem Amtsantritt ihres Chefs im Weißen Haus am 19. Januar 2009 versprach die designierte Außenministerin Hillary Clinton gegenüber Lateinamerika „direkte Diplomatie“, basierend auf „intelligenter Macht“. Aber bereits hier zeigte sich auch die andere Hauptlinie: „Wir müssen eine positive Agenda für die Hemisphäre haben – als Antwort auf die Angst machende Propaganda von Chávez und Evo Morales.“ Ein halbes Jahr später, Ende Juli, präzisierte Clinton die US-Außenpolitik als smart power vor dem gleichen Ausschuss: Darunter sei zu verstehen, dass die USA ihre Instrumente intelligent einsetzen und dabei weiterhin auf ihre Führungsstärke setzen wolle. Dabei war die Wortwahl von Vizepräsident Biden auf dem Amerika-Gipfel von Viña del Mar Ende März 2009 noch eine andere: „Die Epoche, in der wir Befehle gaben, ist vorbei“.
Welchen Stellenwert die oberste US-Außenpolitikerin dann vier Monate später Lateinamerika zumaß, erschloss sich aus der Agenda: Nach Europa und vielen anderen Regionen tauchte Lateinamerika unter den Stichworten Guantánamo und Drogenkrieg erst am Ende auf. Abraham F. Lowenthal, Professor für Internationale Beziehungen der University of Southern California, sieht das anders. In einem umfangreichen Beitrag in der August Ausgabe der Zeitschrift „Nueva Sociedad“ nennt er vier Gründe, warum die Lateinamerika-Politik für die USA besonders wichtig ist: Mit der zunehmenden Migration sind die amerikanischen Staaten näher zueinander gerückt; die Hälfte der Energie-Importe der USA kommen aus Lateinamerika; internationale Probleme wie die globale Erwärmung oder die Verbrechensbekämpfung sind nur überregional zu lösen, und es gibt gemeinsame Werte wie die grundlegenden Menschenrechte. Insofern sei die westliche Hemisphäre der natürliche Rahmen der USA in einer Welt, die immer unübersichtlicher werde und immer weniger attraktiv sei. Lowenthal macht zudem drei Prinzipien der Obama-Politik gegenüber Lateinamerika aus: Den Versuch, verloren gegangenes Vertrauen wieder zurück zu gewinnen; die Fokussierung auf einige wenige Probleme wie Energie, Umwelt und öffentliche Sicherheit sowie die Anerkennung von Unterschieden in Lateinamerika. Insofern sei die US-Politik auch eher bilateral ausgerichtet. Brasilien, Mexiko, aber auch Kuba stünden hier im Vordergrund. Dass die US-Politik in den kommenden Monaten oder Jahren in Missklang oder Schweigen enden könne, will Lowenthal nicht ausschließen. Auch Widersprüche sieht er. Etwa, wenn Hillary Clinton das propagierte Recht der Völker Amerikas auf Selbstbestimmung mit der Aussage konterkariert, dass die zunehmende Präsenz Chinas auf dem Kontinent für die US-Regierung Grund zur Besorgnis sei. Was Lowenthal allerdings zuversichtlich stimmt, ist die relative Schwächung von Lobby-Gruppen, die gegen den eingeschlagenen Kurs sind: die Exilkubaner in Florida etwa oder die US-Waffenlobby. Das könnte der Regierung mehr Handlungsspielräume eröffnen. Eine strategische Vision für Lateinamerika habe die US-Regierung jedenfalls.
Die Reaktion in Lateinamerika war von Beginn an mehrheitlich von kritischer Distanz geprägt. Emir Sader, brasilianischer Linksintellektueller, sprach bereits im Januar vom „schlechten Anfang Hillary Clintons“ und konstatierte, sie spreche, als ob sie sich im leeren, a-historischen Raum bewege. Er verlangte zuerst eine Selbstkritik der Politik unter Bill Clinton und Bush. Frau Clinton solle sich zunächst darüber bewusst werden, dass Amerika nicht mehr der gleiche Kontinent sei wie zur Regierungszeit ihres Mannes, als noch der Neoliberalismus und der amerikanische Freihandelsvertrag „regierten“. Im Februar präzisierte er: Wenn Obama den minimalen Respekt der lateinamerikanischen Länder erreichen wolle, müsse er nur dafür sorgen, dass Nordamerika sich einfach so verhalte wie all die anderen Staaten, die es auf der Welt gibt. In Saders Forderungskatalog finden sich: Einfrieren der Liste der Länder, die nicht mit den USA oder der Antidrogenbehörde DEA kooperieren sowie der Liste der als „terroristisch“ eingestuften Länder oder politischen Kräfte, sofortiger Rückzug der US-Truppen aus Guantánamo und Rückgabe des Territoriums an die kubanische Regierung. Atilio Borón, Soziologe an der Universität in Buenos Aires, sah in Obama einen „tío (Onkel) Tom: Ein deklassierter Schwarzer, der die Seinen verrät und sich in den Dienst der Herren stellt.“ Statt mit den Wall Street-Machern zu kungeln, hätte Obama sich mit den Führungspersonen der sozialen Bewegungen treffen sollen, die ihn überhaupt erst ins Weiße Haus katapultiert hätten.
Gleich nach dem Amtsantritt verkündete Obama sein Ziel, Guantánamo zu schließen, Reiseerleichterungen für ExilkubanerInnen und eine Lockerung der Bestimmungen zum privaten Geldtransfer (remesas) einzuführen. Borón war dies einen Applaus wert. Doch auf dem OAS-Gipfel in Trinidad und Tobago vom April machten lateinamerikanische Betrachter die Beobachtung, dass sich die großen Orientierungspunkte der Außenpolitik der Ära Bush „bester Gesundheit erfreuten“: Krieg und Ökonomie. Die Weichen hinter dem change scheinen auf Kontinuität gestellt, so Borón, der jenseits der Gesten wie dem Händedruck mit Chávez oder dem Gesprächsangebot an Kuba als ersten konkreten Schritt die Aufhebung des Embargos gegenüber der Karibikinsel verlangte. Das Verhalten der USA gegenüber Kuba könnte zu einer Nagelprobe seiner Lateinamerika-Politik werden. Obama dürfte es daran gespürt haben, dass ausgerechnet der erklärte USA-Bewunderer Álvaro Uribe, Kolumbiens konservativer Staatspräsident, formulierte: „Kolumbien spürt, dass die kubanische Regierung für den Frieden in der Region arbeitet.“
Ende Juni kam dann die nächste Nagelprobe für die US-Lateinamerika-Politik: der Putsch in Honduras. Von Beginn an kursierten Gerüchte, wonach die CIA daran beteiligt gewesen sei und die Vermutung, die honduranischen Militärs hätten niemals ohne „Rückfrage“ in Washington gehandelt. Die konkreten Schritte der US-Administration geben jedenfalls ein uneindeutiges Bild ab. Einerseits wurde der Putsch verurteilt, Zelaya als rechtmäßiger Präsident anerkannt, einigen Putschisten die Einreise in die USA verweigert, die aktuelle Militärhilfe in Höhe von 16,5 Millionen Dollar eingefroren und mit Costa Ricas Präsident Arias eine diplomatische Vermittlungsoffensive gestartet. Andererseits wird letzterer in Lateinamerika auch als „Sprecher des Imperiums“ (Borón) wahrgenommen und den USA Doppelzüngigkeit vorgeworfen. Die mehr als zehnmal höhere Wirtschaftshilfe für Honduras laufe weiter, zur andauernden Repression gegen Demonstranten, zu Ausgangssperren und Pressezensur schwiegen die USA. Obama habe noch ganz andere Waffen in der Hand, etwa die bürokratische Behinderung von remesas der Exil-Honduraner oder die Bitte an die europäischen Freunde, die Beziehungen mit der Putschisten-Regierung in Tegucigalpa einzufrieren. Unbestritten war Honduras die erste Krise in den US-lateinamerikanischen Beziehungen in der Obama-Ära. Emir Sader sah im Verhalten der USA die Handschrift Hillary Clintons, die durch die Vermittlung Arias einen einzigartigen Weg gefunden habe: Ohne Wahlmanipulation und ohne sich selbst die Hände schmutzig zu machen, in die inneren Angelegenheiten eines Landes einzugreifen. Noam Chomsky hatte bereits im März – also noch vor dem Putsch – an die Domino-Theorie der US-Lateinamerikapolitik ab den 50er Jahren erinnert. „Die Bedrohung durch das gute Beispiel“ zwingt dazu, jedes Abfallen eines lateinamerikanischen Staates vom US-dominierten Weg zu verhindern, da sonst weitere wie Domino-Steine fallen würden. Viele Staaten hatten geglaubt, dass so etwas im 21. Jahrhundert in Lateinamerika nicht mehr passieren könne – und wenn, dann eben nur unter tatkräftiger Mithilfe der USA. Obama verteidigte sich gegen die Kritiker, die ein Eingreifen Washingtons zugunsten Zelayas forderten, mit dem Argument: „Das sind dieselben, die sonst immer sagen, wir intervenieren immer, und dass die Yankees Lateinamerika verlassen sollen.“
Als Uribe im Juli ankündigte, er werde in seinem Land sieben US-Militärbasen zur Verfügung stellen, waren die Flitterwochen zwischen der neuen US-Regierung und Lateinamerika endgültig vorbei. Selbst gemäßigte Linke wie Brasiliens Lula da Silva reagierten arg reserviert. Auf dem Treffen der UNASUR (südamerikanisches Staatenbündnis) artikulierten denn auch nahezu alle Staatschefs – Uribe hatte kurzfristig abgesagt – ihre Kritik an der kolumbianisch-amerikanischen Kooperation. Zu sehen ist sie im Kontext des bereits unter Bill Clinton im Jahr 2000 initiierten „Plan Colombia“, der Drogenproduktion und Drogenhandel unterbinden sollte. Viele Regierungen in Lateinamerika sahen darin von Anfang an einen Deckmantel zur Sicherung der US-Präsenz in der Region. Daher kam bald der Gedanke auf, die USA verfolgten andere Ziele: geostrategische Sicherung des Zugangs zum Erdöl der Andenregion, Ausbau Kolumbiens als Brückenkopf in Südamerika, Ersatz für die bisherige Militärbasis im ecuadorianischen Manta, die die neue linke Regierung nicht verlängert hatte. Befürchtet wird nun eine Rüstungsspirale. Immerhin ist Kolumbien nach Israel bzw. Ägypten der größte Empfänger US-amerikanischer Militärhilfe. Andererseits zeigte sich Hillary Clinton im September besorgt über die Waffenkäufe Venezuelas in Russland: immerhin 92 russische Panzer im Wert von 1,5 Milliarden Euro – als Reaktion auf die Bedrohung durch Kolumbien, hieß es aus Caracas. Brasilien hatte bereits zuvor durch eine „strategische Rüstungs- und Atompartnerschaft mit Frankreich“ für Aufsehen gesorgt: 36 Kampfflugzeuge für 5 Milliarden Euro. Man muss dies allerdings auch als Ausdruck des Anspruchs einer Regionalmacht auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat sehen. Die BBC wiegelte daher auch ab: „Washington weiß, sobald es Brasiliens Anspruch auf die regionale Führungsrolle akzeptiert, wird viel von Chávez´ Donnern verschwinden.“ Allerdings rücken sich zwei Hauptkontrahenten in der westlichen Hemisphäre durch die geplante US-Stationierung bedrohlich nahe. So sieht es auch Fidel Castro, der sich am 6. November 2009 dazu unter dem Titel „Die Annexion Kolumbiens durch die USA“ publizistisch äußerte. Er habe den kolumbianisch-amerikanischen Vertrag gelesen und darin keine glaubhafte Begründung für diesen Kontrakt gefunden. Erinnert fühle er sich an die von den USA mit vorbereitete und unterstützte Invasion in der kubanischen Playa de Girón. Die B-26 Bomber operierten von Nicaragua aus. Heute stehe das US-Kriegsgerät in Kolumbien und bedrohe nicht nur Venezuela, sondern alle Mittel- und Süd­amerikanischen Staaten. Es hat den Anschein, dass in Amerika aktuell wieder alles beim Alten ist: dieselben Kontrahenten, dieselben Argumentationsmuster. Interessanterweise hatten schon Condoleezza Rice und Noam Chomsky – aus zwei politisch total gegensätzlichen Positionen – das Gleiche prophezeit: Obamas Außenpolitik werde sich kaum von der zweiten Amtsperiode George Walker Bushs unterscheiden.
Das militärische Auftreten der USA nach dem Erdbeben in Haiti untermauert die Richtigkeit dieser Einschätzung. Von vielen in Lateinamerika wird die US-Militärpräsenz nach dem Beben bereits als „kalte Intervention“ gesehen, die gegen eine stärkere Rolle Kubas in der Karibik und gegen Brasilien – als Führungsmacht der UN-Friedensmission auf der Insel – gerichtet sei.

Die Bewusstlosigkeit aufbrechen

Über Allende wurde viel geschrieben. Aber auch zu seinem 100. Geburtstag gibt es zwar viele Erinnerungen, aber keine solide Biografie. Zu Pinochet erschienen mindestens sechs Biografien und die Autobiografie. Hat der Diktator nicht nur beim Putsch 1973, sondern auch im Gedächtnis Allende verdrängt?
Allende, der zeitlich fernere, ist uns näher als Pinochet. Aber an ihm scheiden sich die Geister. Das erschwert das Erinnern. Schon zu Zeiten seiner Volksfrontregierung (Unidad Popular, kurz: UP, 1970-1973) hat der Revisionismusvorwurf zu harten Diskussionen in der deutschen Internationalismusszene geführt. Viel Schutt muss beiseite geräumt werden, um über Allende etwas Authentisches zu sagen.
Es geht nicht um seine Person. In seiner letzten Rede, die am 11. September 1973 aus dem vom putschenden Militär belagerten Regierungspalast Moneda in Santiago über einen noch nicht bombardierten Radiosender übertragen wurde, bezeichnete er sich als der „Interpret des großen Wunsches der Arbeiter nach Gerechtigkeit“. Allende ist der womöglich letzte Repräsentant eines bewusst geführten Klassenkampfes im Marxschen Sinne, eines gesellschaftlichen Kampfes um Gerechtigkeit für die Unterdrückten und Armen, der nur durch den revolutionären Sieg der Arbeiterklasse über die Bourgeoisie gewonnen werden kann. Diesen Kampf führte Allende mit einer Energie, mit der heute nur noch private Lebensziele verfolgt werden. Vor seinem Wahlsieg 1970 hatte er drei Niederlagen einstecken müssen. Die Wahlkampfmanager des 21. Jahrhunderts hätten ihn längst ausgetauscht. Auch die chilenische Rechte führte diesen Klassenkampf sehr bewusst, mit Terror (wie die rechtsradikale Organisation Patria y Libertad), Boykotts, Provokationen und Hass. Der Klassenkampf der UP hatte klassische Züge: Sozialistische und Kommunistische Partei, daneben eine neue Linke, eine Einheitsgewerkschaft, und ideologisch die säuberliche Unterscheidung von Haupt- und Nebenwidersprüchen (zu letzteren gehörten etwa die „Frauenfrage“ oder sexuelle und ethnische Minderheiten). Dazu subventionierte Kultur, die ohne etwas Agitprop nicht auskam. All das klingt unzeitgemäß. Der Klassenkampf wird aber heute noch geführt, nur eben von oben und so subtil, dass die Ausgebeuteten es nicht mehr merken. Heute über Allende reden heißt, diese Bewusstlosigkeit aufzubrechen.

War der Putsch vermeidbar? Und wenn ja, wie? Schon diese Frage zu stellen wühlt Emotionen auf

Die Linke vieler Länder, auch die bundesdeutsche, hatte Hoffnungen in den Versuch der UP gesetzt. Allende wollte Freiheit und Sozialismus miteinander vereinen. Seine Regierung war aus freien Wahlen hervorgegangen. Sie mochte Fehler machen, aber das Paradigma der Solidarität war die Triebfeder des „chilenischen Prozesses“. Das stand außer Frage und machte die Solidarität auch auf deutscher Seite zur Bedingung für Kritik. In den endlosen Diskussionen dieser Zeit konnten wir auf das Beispiel Chile verweisen. Die UP hat die einem US-Unternehmen gehörende größte Kupfermine der Welt verstaatlicht und Chile damit zu dem gemacht, was man heute einen „Schurkenstaat“ nennt. Das war ein konkreter Schritt zur Beendigung der Ausbeutung. Arbeit hatte in diesem Chile wieder den Sinn, den Bedürfnissen der ArbeiterInnen und der Bevölkerung zu dienen. Landreform und Landbesetzungen durch Bauern und Bäuerinnen waren Handlungen, in denen die Armen ihr Schicksal in die Hand nahmen. Chile und Allende, das war keine Theorie, sondern die Probe aufs Exempel. Der Putsch machte Viele außerhalb Chiles wütend, weil er auch ihre Hoffnung zerstörte. Deshalb wurde die Chilesolidarität zu einer Art sozialen Bewegung.
War der Putsch vermeidbar? Und wenn ja, wie? Schon diese Frage zu stellen wühlt Emotionen auf. Das Bild von Allende ist nicht nur von konträren Positionen und Mystifikationen, sondern auch von Gefühlen überlagert. Wer sollte der objektive Historiker sein, der sich da heranwagt? Und die schiere Zahl der noch lebenden Freunde und Berater Allendes, die zur Interpretation der UP aus eigener Anschauung beitragen können, macht ein solches Vorhaben übergroß.
Da hat es der chilenische Geschichtsrevisionismus leichter. Zu ihm gehört übrigens auch ein deutsche Autor, Lothar Bossle, der in seinem Buch Allende und der europäische Sozialismus, der Eduardo Frei, Allendes christdemokratischen Vorgänger, als „Kerenskij Chiles“ darstellte, also als Wegbereiter einer zweiten Oktoberrevolution, und Allende als jemanden, der durch „Umsturztechniken“ das Chaos verursacht hat, das den Putsch notwendig machte. Der prominenteste chilenische Geschichtsrevisionist ist Pinochet selbst in seinem Buch Der entscheidende Tag (El día decisivo), in dem er nicht nur seine eigene Biografie, sondern auch die UP-Zeit umlügt. In der deutschen und internationalen Beachtung hat ein Büchlein von Victor Farías Allende vom Sockel gestürzt: Er sei heimlicher Rassist und ein Beschützer des nach Chile geflohenen Judenmörders Walther Rauff gewesen. Die Vorwürfe sind unseriös und gründlich widerlegt, aber nicht die Widerlegung, sondern die infame These machte Schlagzeilen. Das jüngste Machwerk dieser Art ist ein, im selben Verlag, der Farías herausgegeben hat, erschienenes Buch des an Folter und Mord der Pinochet-Diktatur beteiligten Miguel Krassnoff, dem Prototyp des Täters. Er biegt die europäische Geschichte seine Vorväter und die chilenische Geschichte um und frisiert seine eigene Biografie so lange, dass er als Opfer dasteht.
Zu der Vergangenheit, die hier entsorgt wird, gehören nicht nur die Verbrechen der Diktatur, sondern auch das Paradigma der Solidarität. Es würde, wenn es jemand noch durchzusetzen versuchte, die heutige chilenische Gesellschaft – und viele andere auch – auf eine harte Probe stellen. Das macht die Aktualität Allendes für das heutige Chile aus. Zukunft hat nur, wer eine Vergangenheit hat. Das individualistische, an Karriere und Konsum orientierte Leben der meisten Chilenen heute ist einer der Gründe, warum Chile sozioökonomisch immer noch so pinochetistisch ist und Allende eine blasse Erinnerung. Wenn sich in Deutschland überhaupt noch jemand an Allende erinnert, dann als Held oder Märtyrer – aber unter der Hand auch als Fossil einer nicht mehr verstehbaren Klassenkampfzeit.
Ist der Traum von Sozialismus und Demokratie
ausgeträumt? Allende hat versucht, die Demokratie auch in ihrer Form des Rechtsstaates zu vertreten. Allein das ist Grund genug, ihn zu erwähnen, wenn man vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts redet. Heute von Allende zu sprechen heißt, einen gewaltsam unterbrochenen politischen Weg weiterzudenken.

Die Vergangenheit ist nicht mehr, was sie war

Die Vergangenheit ist nicht mehr, was sie mal war. Das zeigen die Gedenkfeiern zum 40jährigen Jubiläum der Studierendenbewegung von 1968, da die Diskussion um Bedeutung und Reichweite der damaligen Kämpfe im Zentrum der aktuellen nationalen Debatte steht. Kollektives Gedächtnis und massive Popularisierung haben die Ereignisse von 1968 zu zentralen Bezugspunkten im politischen und kulturellen Diskurs gemacht, da sie einen Bruch im politischen System Mexikos erzeugt haben. Im Gegensatz zu früheren Bewegungen verursachte die Niederschlagung der Bewegung von 1968 eine starke Legitimitätskrise und begünstigte die Herausbildung neuer politischer Akteure.
Heute ist der Mythos um 1968 noch größer geworden: Als Kulminationspunkt des alten Systems und Initialzündung für eine neue Ordnung. 1968 ist eine Identität, eine Krisenerfahrung, die jenseits von Rationalität neue Aktionsformen und Werte erzeugte, die sowohl von einem Teil der neu entstandenen politischen Elite, als auch von einer Generation emotional geteilt werden.
Obwohl der offizielle Regierungsdiskurs über 1968 damals über alle Mittel verfügte, um sich durchzusetzen, ist er heute nach 40 Jahren überwunden. Er besitzt keine Glaubwürdigkeit mehr und die Verantwortlichen für Massaker und Unterdrückung werden moralisch verdammt.
Nichtsdestotrotz entging diesem jüngsten historischen Fieber einige der wichtigsten Konsequenzen der Bewegung: Das Entstehen einer neuen Intelligenzija (im Verständnis des russischen Schriftstellers P.D. Boborykin meint dieser Terminus die gebildete und progressive Schicht der Gesellschaft), die einen Weg zum Volk suchte und die Entstehung diverser sozialer Bewegungen. Wie lässt sich dies erklären?
Tatsächlich litt die sozialistische Bewegung in Mexiko bis 1968 chronisch an drei grundlegenden Krankheiten: ihre Entfremdung von der Bevölkerung, ihre Absorbierung im revolutionären Nationalismus des PRI-Systems und ihre Unfähigkeit, die nationale Realität zu erklären. Das Eindringen sozialistischen Gedankenguts in ArbeiterInnengewerkschaften und Bauernorganisationen war mit Ausnahme der Präsidentschaft Cárdenas (1934-1940) über Jahrzehnte marginal und oberflächlich. Wie der argentinische Theoretiker José Aricó aufzeigte, resultierte dies weniger aus einer schlechten Anwendung der Ideen von Marx, sondern vielmehr aus der Unfähigkeit des Philosophen selbst, die Realität Lateinamerikas zu begreifen. Diese Unfähigkeit wurde vom Marxismus der III. Internationalen zum Teil beibehalten. Außerdem hatten die Sozialisten in Mexiko Schwierigkeiten, sich auf selbstständige und kreative Weise in eine Gesellschaft und einen Staat einzubringen, die aus einer Volksrevolution hervorgegangen waren.
Die Bewegung von 1968 begann dies zu verändern. Tausende von Jugendlichen verließen die Universitäten und das Leben in Mexiko-Stadt, um auf dem Land, in Fabriken und in den Armenvierteln der Provinz politisch zu arbeiten. Ihre politische Kultur resultierte aus der Teilnahme an Studentenbrigaden, Vollversammlungen, Mobilisierungen auf der Straße, Auseinandersetzungen mit der Polizei und ihrem Argwohn gegenüber der kommerziellen Presse. Im Kampf für die sozialistische Revolution versuchten sie sich in die historischen und beginnenden Kämpfe der Bevölkerung zu integrieren und begannen ihre organisatorischen Auffassungen zu verändern. Ihre Gesellschaftsvision und politische Praxis der Vollversammlungen verschmolz – nicht ohne Zusammenstöße und Missverständnisse – mit den Traditionen und der Kultur der Massen.
Diese Integration erfolgte auch auf anderen Wegen. Von Seiten der katholischen Kirche, insbesondere durch die Jesuiten, fand ein Teil der Jugendlichen in der Bildungsarbeit und der Gründung von NGO eine Methode, sich mit der Bevölkerung zu verbinden. Andere blieben in den Universitäten und fanden in der Umformung und Ausweitung der Bildungsinstitutionen ihr Hauptterrain der politischen Aktion.
Obwohl sich dieser neue „Weg zum Volk“ theoretisch oftmals an einer handbuchartigen Vision des Marxismus orientierte – besonders stark war dabei der maoistische Einfluss – , entstand gleichzeitig eine wunderbare Neuinterpretation der nationalen Realität, inspiriert ebenso vom marxistischen Denken wie von einer stark von der Bewegung von 1968 beeinflussten Intellektualität. Viele der neuen theoretischen Beiträge zielten auf den absolut kapitalistischen Charakter der mexikanischen Wirtschaft und betonten die Notwendigkeit, dass die nächste Revolution sozialistisch sein müsse.
Aus dieser Vereinigung von Intelligenzija und Masse, der massiven Verbreitung von Elementen einer revolutionären Theorie, der Anwendung des Marxismus auf die mexikanische Realität und der permanenten Analyse der Umstände sollte eine neue Linke und eine neue Massenbewegung entstehen.
Die ersten Studierendenbrigaden, die sich zu vernetzen suchten, stießen auf einen sich eben formierenden gewerkschaftlichen Aufstand, getragen vor allem von den ElektrikerInnen und den ArbeiterInnen der Autoindustrie und der Eisenbahn. Ebenso trafen sie auf die traditionellen Kämpfe der Landbevölkerung, um Land und die breiten Mobilisierungen der marginalisierten Stadtbevölkerung, die für Wohnraum und Infrastruktur kämpften.

Das Hauptmerkmal dieser neuen sozialen Bewegungen ist ihr soziopolitischer Charakter.

Weder die Bewegung von 1968 noch die Studenten, die auf das Volk zugingen, „fabrizierten” das Aufflammen dieser Kämpfe. Diese entstanden jeweils aus endogenen Faktoren, die nicht durch die Agitation der neuen Akteure produziert werden konnten. Gleichwohl veränderte ihre Präsenz die herkömmliche Organisationskultur sowie die bestehenden Kämpfe in diesen Sektoren und erleichterte ihre regionale und nationale Projektion.
Die neuen OrganisatorInnen ideologisierten die Kämpfe, an denen sie teilnahmen. Hinter jedem Streik vermuteten sie revolutionäres Bewusstsein, obwohl die teilnehmenden ArbeiterInnen zumeist lediglich höhere Löhne einforderten. Hinter jedem sich organisierenden Stadtteil vermuteten sie eine sich formierende Gegenmacht zum Staat, obwohl die BewohnerInnen nur ein Dach, Strom und Wasser wollten. Doch trotz des eklatanten Auseinanderklaffens zwischen den anvisierten Zielen und den praktischen Resultaten ihrer Einmischung, schuf ihre Präsenz Organisationen und Bewegungen, die andernfalls so nie entstanden wären.
Das Hauptmerkmal dieser neuen sozialen Bewegungen, von denen viele bis heute überlebt haben, ist ihr soziopolitischer Charakter, der verantwortlich für die tragende Rolle war, den diese Bewegungen bei der Erosion des alten Korporatismus und dem Aufbau neuer sozialer Netzwerke spielten. Aus ihnen entwickelte sich sowohl ein Teil einer politischen Klasse mit Bezug zum Volk als auch die Massenbasis der neuen Projekte von Mitte-Links. Diese Bewegungen hielten das Erbe eines Teils des politisch-kulturellen Gemeinguts der Bewegung von 1968 lebendig: die Unabhängigkeit vom Staates, das Funktionieren basierend auf einer Versammlungsdemokratie, die föderalen Formen der Koordinierung und, die Forderungen der Massenaktionen als Hauptinstrumente des Kampfes.
Allerdings darf auch nicht übersehen werden, dass viele der damals entstandenen Massenbewegungen gescheitert sind. Oftmals blieben sie in Turbo-Ökonomismus, Gremienwirtschaft und dem Desinteresse an repräsentativer demokratischer Politik gefangen. Ihr Antiparlamentarismus erlitt Schiffbruch innerhalb eines parlamentarischen Demokratieverständnisses. Ihre autonome Politik löste sich im Umfeld von politischer Kooptation auf. Ihr Antikorporativismus verkam zu Klientelismus. Abgesehen von einigen Ausnahmen und ihrem anfänglichen Einsatz, konnte ihre politische Praxis nicht auf breiter Ebene Fuß fassen und hat sich dem parteipolitischen Wahlkampf untergeordnet.
Als die AktivistInnen der Bewegung von 1968 in der Geschichte erschienen und 40 Jahre zurück sahen – so wie wir es jetzt tun – , stießen sie auf die Hochphase der Konsolidierung der mexikanischen Revolution. Das Mexiko von 1928 war noch nicht das Mexiko der Agrarreformen, der Arbeiterbewegungen, der sozialen Bildung, der Verstaatlichung der Eisenbahn und der Enteignung der Erdölbetriebe gewesen.
Wenn eben diese AktivistInnen 40 Jahre in die Zukunft hätten sehen können, hätten sie als Resultat ihrer Kämpfe die Wiedergeburt und das Aufblühen des Cardenismus und Zapatismus vorgefunden. Sie hätten außerdem die Entstehung eines neuen Staatsbürgertums gesehen, welches direkt von dieser Bewegung ausgelöst wurde und sich aus dem geschichtlichen Verlangen speist, das die Aufklärung der Vorgänge von 1968 als einen zentralen Punkt begreift. Es ist die Vergangenheit, welche die Hoffnung beleuchtet, es ist die Zukunft, die die Wahrheit über die Vergangenheit fordert.
2008 steht das Vergessen der Erinnerung an 1968 gegenüber. Was bei dieser Auseinandersetzung auf dem Spiel steht, geht weiter als nur die eigentliche Aufklärung dessen, was in diesem Jahr passiert ist. In diesem Kampf stehen sich ebenfalls Straffreiheit und Gerechtigkeit entgegen, die Willkür gegenüber den Bürgerrechten und der Pragmatismus der Macht steht einer auf ethischen Werten basierenden Politik gegenüber.
Im Gegenzug fordern tausende die Erinnerung als Wunsch auf Gerechtigkeit. Sie machen aus Trauer und Wut eine Quelle der Würde. Sie fordern die Öffnung der Archive, um das Benennen, Abgrenzen und Neudeuten der damaligen Ereignisse und der Schuldigen zu ermöglichen. Sie weigern sich, Gemessenheit als Deckmäntelchen der Straffreiheit anzuerkennen.
Diejenigen, die sich bereits von 1968 verabschieden, irren sich. Mehr als nur ein Jubiläum, mehr als die Erinnerung und mehr als ein weiteres Gedenkdatum im Kalender, sind die 40 Jahre der Bewegung von 1968 immer noch ein Kampfschauplatz gegenüber dem Autoritarismus und eine Gelegenheit, ihren kulturellen Sieg zu feiern. Sie sind außerdem ein Fenster, um auf die Geschichte hinauszuschauen, die im Entstehen ist.
Weit entfernt davon, eine Trauerzeremonie oder das Andenken an eine Niederlage zu sein, ist das Gedenken an die Bewegung von 1968 Teil einer Generalprobe, um ein anderes Land zu schaffen. Es ist die Zukunft, welche die Erinnerung auffrischt. Die Vergangenheit ist nicht mehr, was sie einmal war.

Nationalisten auf dem Vormarsch

Dort, wo asphaltierte Straßen enden und die Menschen in Strohhütten leben, spricht der Kandidat Ollanta Humala am liebsten. In Manchay, einem Vorort Limas ohne regelmäßige Wasserversorgung und Kanalisation, kreischen und tanzen die Menschen, als sein Autokonvoi naht. Wie bei allen Wahlveranstaltungen trägt der Gründer der Nationalistischen Partei Perus auch in der letzten Woche vor dem Urnengang am 9. April ein T-Shirt im roten Farbton der peruanischen Fahne mit der Aufschrift „Liebe für Peru“. Und wie immer fordert er seine AnhängerInnen zu Beginn auf, die rechte Hand aufs Herz zu legen und gemeinsam die Nationalhymne anzustimmen. Auf seinen Zuruf „Erhebt die Hand, wenn ihr Nationalisten seid“, recken sich tausende Arme empor.
Der ehemalige Oberstleutnant der peruanischen Streitkräfte lässt sich in solcher Umgebung gern wie ein Revolutionär als „comandante“ feiern. Schließlich ist er nicht nur Hoffnungsträger der Armee, sondern auch der Armen. Und in deren Augen qualifizieren ihn seine beim Militär erworbenen Führungsqualitäten dazu, als Präsident das Oberkommando für das ganze Land zu übernehmen. Comandante Ollanta versucht, den Nationalismus in den Rang einer Bewegung zu erheben. In Manchay erhält er donnernden Applaus, als er ankündigt, er wolle das Parlament in ein nationalistisches Heer umformen. Ob er das Parlament auf demokratischem oder autoritärem Weg hinter sich scharen will, verrät er dabei nicht. Seinen ZuhörerInnen ist das egal. Die meisten Menschen in den Armenvierteln haben das Vertrauen in staatliche Institutionen gänzlich verloren.

Der Comandante als Quizmaster

Der Nationalismus dulde keine korrupten Politiker und Beamten, wettert Humala und droht mit einer Kürzung von Diäten und üppigen Pensionen. In der Manier eines Quizmasters bewegt er sich von der Bühne auf einem Laufsteg in die Menschenmenge hinein und fragt ins Mikrophon: „Wisst ihr, was ein einfacher Soldat verdient?“ Jawohl, die Leute wissen es, umgerechnet etwa 40 Dollar. Ein Lehrer? Auch das ist bekannt, der bekommt 200 Dollar. Und ein Kongressabgeordneter? Die ZuhörerInnen müssen passen, also springt ihr Comandante selbst ein: Sage und schreibe zehntausend Dollar! Ollanta Humala gelingt es ohne Mühe, Empörung zu schüren und seine AnhängerInnen aufzuwiegeln.
Der Nationalismus, verspricht er, werde selbstverständlich die Armut bekämpfen. Als Präsident will er 1,5 Milliarden Dollar jährlich in die marode Landwirtschaft pumpen. Infrastrukturelle Maßnahmen in Armenvierteln und eine Aufstockung der chronisch vernachlässigten Bildungs- und Gesundheitshaushalte stehen ebenso wie die Schaffung neuer Arbeitsplätze ganz oben in seinem Programm. Transnationale Konzerne im Land sollen zu diesem Zweck Rohstoff- und höhere Gewinnsteuern entrichten. Im Originaltext Humala heißt das: Nationalisierung der Gewinne.
Ollanta Humala weiß: Die Mehrheit der Bevölkerung ist mit der neoliberalen Wirtschaftspolitik Präsident Alejandro Toledos unzufrieden. Während dessen Amtszeit nahm das Bruttoinlandsprodukt zwar durchschnittlich um fünf Prozent pro Jahr zu, doch das Wachstum wurde vor allem von den transnationalen Rohstoffkonzernen getragen. Die fuhren aufgrund der enorm gestiegenen Nachfrage nach Gold, Kupfer, Zink, Gas oder Öl märchenhafte Gewinne ein, genossen aber weiter die ihnen einst von Diktator Alberto Fujimori zugesicherten Steuerprivilegien und schufen kaum neue Arbeitsplätze. Der Anteil der Menschen, die in Peru in Armut oder sogar in absoluter Armut leben, hat sich dagegen im gleichen Zeitraum nur unwesentlich verringert.

Auf Chávez’ Spuren

Mit seinem wirtschaftspolitischen Programm sucht Ollanta Humala bewusst die Nähe anderer lateinamerikanischer Präsidenten wie Chávez oder Morales. Entsprechend lehnt er auch den bilateralen Handelsvertrag mit den USA ab, den Präsident Toledo allen Protesten zum Trotz gleich in der Woche nach der Wahl unterzeichnet hat und dem jetzt noch der Kongress zustimmen muss. Dem peruanischen Ökonomen Pedro Francke zufolge profitiert von diesem Vertrag lediglich die peruanische Textil- und Spargelindustrie. Für etwa 30 Prozent der Bevölkerung, die ihr Einkommen aus der Landwirtschaft beziehen, wird sich die wirtschaftliche Situation dagegen verschlechtern, wenn subventionierte Agrarimporte aus den USA demnächst zollfrei über die Grenzen gelangen. Die Unterzeichnung des Abkommens kommt nach Franckes Einschätzung den Interessen US-amerikanischer Groß-Investoren entgegen, deren Gewinnaussichten laut Vertragswerk von der peruanischen Regierung nicht geschmälert werden dürfen. Im Klartext bedeutet das: Keine künftige Regierung dürfte Gewinnsteuern erhöhen, eine Rohstoffsteuer oder gar Mitbestimmungsrechte für ArbeitnehmerInnen einführen. Auch ein Präsident Humala nicht.

Die Operation Löffel

Ollanta Humala hat noch etwas mit Hugo Chávez gemeinsam: Er scheiterte im Jahre 2000 mit einem Putschversuch gegen den damaligen Diktator Fujimori. Und er polarisiert die Bevölkerung. Vor allem das nationalistische Gedankengut des Kandidaten ist fast allen intellektuellen und demokratischen Kräften im Land ein Gräuel. Erst seit einem halben Jahr distanziert sich Ollanta beispielsweise von den Ansichten seines Vaters und politischen Mentors Isaac Humala oder seines Bruders Antauro Humala, die unter anderem die Todesstrafe für Homosexuelle fordern und einen Krieg mit Chile für unvermeidlich halten. Selbst als Antauro am Neujahrsmorgen 2005 mit einer Gruppe von Reservisten eine Polizeistation überfiel, Geiseln nahm und den Rücktritt Präsident Toledos forderte, hielt sich Ollanta zunächst mit Kritik zurück, obwohl bei der Aktion fünf Menschen starben.
Humala soll zudem während der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der Armee und der maoistischen Guerilla Leuchtender Pfad im Jahre 1992 als Hauptmann „Capitán Carlos“ an der Ermordung und Folterung von Zivilisten beteiligt gewesen sein. Mehrere Zeugen wollen ihn wiedererkannt haben. Doch der Präsidentschaftskandidat bestreitet die Vorwürfe, und die Militärakte Ollantas ist auf mysteriöse Weise verschwunden. Fest steht: Ollanta Humala war in der fraglichen Zeit in der Militärbasis Tingo María stationiert. Und sämtliche Soldaten dieser Basis nahmen damals nach Auskünften von Miguel Jugo, Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation APRODEH, an einer so genannten „Operation Löffel“ teil, bei der 39 Zivilisten ermordet wurden. Gegen die kommandierenden Generäle dieser Operation läuft zurzeit ein Ermittlungsverfahren.
Menschenrechte spielten im Wahlkampf indes keine besondere Rolle, und so siegte der ehemalige Capitán Carlos sogar im Wahlbezirk Tingo María. Die Stimmen für Ollanta Humala waren vor allem ein Votum gegen eine Fortsetzung des neoliberalen Wirtschaftskurses. Denn abgesehen von den gescheiterten Linkskandidaten Javier Díez Canseco von der Sozialistischen Partei und Alberto Moreno von der Bewegung Neue Linke, die zusammen nicht einmal 0,8 Prozent der Stimmen erhielten, steht nur Humala für einen wirkliche Wende in der Wirtschaftspolitik. Humala schaffte es auch, die Bewegung der Kokabäuerinnen und -bauern und indigene Gruppen in seine nationalistische Bewegung zu integrieren. Im Gegensatz zu Evo Morales ist er jedoch kein Politiker, der beabsichtigt, Basisbewegungen in Entscheidungen einzubeziehen.

Freier Fall für Flores

Ollanta Humala muss sich nun in einer Stichwahl vermutlich Alan García stellen, dem Vorsitzenden der sozialdemokratischen Partei Revolutionäre amerikanische Volksallianz (APRA). García kommt nach Auszählung von 95 Prozent der Stimmen auf 24,4 Prozent und liegt damit um 0,8 Prozent vor seiner Mitbewerberin Lourdes Flores. Das wäre für die Vorsitzende des rechtskonservativen Bündnisses Nationale Einheit ein äußerst bitteres Ergebnis, lag sie doch in allen Umfragen bis Mitte Februar noch deutlich an der Spitze aller Kandidaten. Flores steht allerdings – auch wenn sie es im Wahlkampf gern kaschiert hat –ganz klar für die Fortsetzung des wirtschaftspolitischen Kurses Präsident Toledos. Unter anderem ist sie eine entschiedene Befürworterin des bilateralen Handelsvertrages mit den USA. Flores kam der Umstand zugute, dass Frauen für weniger korrupt gehalten werden als Männer, doch sie rekrutierte ihre WählerInnen vorwiegend aus der Mittel- und Oberschicht. Das reicht offenbar heute nicht mehr, um in Peru Wahlen zu gewinnen.
Alan García war bereits von 1985 bis 1990 Präsident des Landes. Damals wurden zehntausende ZivilistInnen vom Leuchtenden Pfad und der Armee massakriert, und die Wirtschaft versank bei einer Inflation mit Spitzenwerten um 7.000(!) Prozent im Chaos. García selbst wurde damals schwerer Menschenrechtsverletzungen beschuldigt und verdächtigt, sich illegal bereichert zu haben. Dass er nun dennoch davor steht, in die Stichwahl einzuziehen, liegt daran, dass er bestechende rhetorische Fähigkeiten besitzt und als einziger Kandidat über eine solide Parteibasis verfügt. Im Übrigen zog García schon bei den letzten Präsidentschaftswahlen knapp vor Lourdes Flores in die Stichwahl ein. Dort scheiterte er allerdings gegen Alejandro Toledo.

García gegen Humala

Ob García dieses Mal wieder unterliegt, steht noch in den Sternen. Politische BeobachterInnen räumen dem Ex-Präsidenten gegen Ollanta Humala größere Chancen ein als Lourdes Flores. Denn möglicherweise wird die große Mehrheit der WählerInnen von Lourdes Flores in der Stichwahl für den APRA-Chef stimmen. Für weite Kreise der Ober- und Mittelschicht ist zwar ein Präsident García, der noch in den 80er Jahren die Banken verstaatlichen wollte, eine Horrorvorstellung, aber auch das kleinere Übel gegenüber einem völlig unberechenbaren Humala. Den vierten Platz in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen errang mit sieben Prozent der Stimmen die Kandidatin Martha Chávez, Sprachrohr des in Chile inhaftierten Ex-Diktators Alberto Fujimori. Deren WählerInnen, könnten sich in der Stichwahl für Ollanta Humala entscheiden.
Wie auch immer die Stichwahl ausgeht –es ist nicht auszuschließen, dass dem Wahlsieger in ein paar Jahren ein ähnliches Schicksal droht wie einem seiner beiden Vorgänger. Während Alberto Fujimori im Gefängnis sitzt, darf Alejandro Toledo nach den Wahlen seinen politischen Bankrott anmelden: Seine Regierungspartei ist an der von ihm selbst eingeführten Vierprozentklausel gescheitert und wird nicht mehr ins neue Parlament einziehen.

Aus dem Kerker in die Regierung

Ab dem 1. März 2005 gibt es in Uruguay zum ersten Mal eine linke Regierung. Obwohl mit 50,4 Prozent der Stimmen zwar nur äußerst knapp im ersten Wahlgang gewählt, hat das linke Bündnis Encuentro Progresista-Frente Amplio-Nueva Mayoría EPFANM in beiden Kammern des uruguayischen Parlamentes (17 Senatoren zu 14 Senatoren, 52 zu 47 Abgeordneten) die Mehrheit. Nach der Vereidigung des, der sozialistischen Partei angehörenden Präsidenten Dr. Tabaré Vázquez, kann es die Ernte von vielen Jahren Basisarbeit, Dialog und Militanz einfahren. Konkret schultert sie damit aber auch, das Land aus der existentiellen ökonomischen und sozialen Krise zu führen.
„Kein Schriftsteller hätte sich das ausmalen können: Compañero des Herzens in allen Stunden, nimm mir den Schwur ab.“ Mit diesen Worten bat José Mujica seinen alten Kampfgefährten Eleuterio Fernández Huidobro, ihn selbst einzuschwören. „Glückwunsch, geliebter Bruder“ war die Antwort von Huidobro. Zwei Ex-Stadtguerillas nahmen sich als Senatoren gegenseitig den Schwur auf die Verfassung ab. Für die einen ist ein Albtraum Realität geworden, für die anderen eine Utopie: am 15. Februar 2005 eröffnete mit José „Pepe“ Mujica ein ehemaliger Tupamaro die 46. Legislaturperiode des Parlamentes in Uruguay und als Anführer der MPP (Movimiento de Participación Popular), der Liste, die bei der Wahl am 31. Oktober die meisten Stimmen erhielt, schwor er die neuen Senatoren ein. Darunter auch den zweimaligen Präsidenten Julio María Sanguinetti, der Mujica noch im Wahlkampf wegen seiner Vergangenheit beschimpft hatte und, allerdings vergeblich, versucht hatte, ihn als Terroristen zu diffamieren.
Aber für Mujica kam es noch „schlimmer“: Als Präsident des Senats musste Mujica die Ehrenparade des Bataillons Florida vor dem Parlamentsgebäude abnehmen. Eben dieses Bataillon hatte ihn in den 60er Jahren zum ersten Mal verhaftet. Mujica selbst, zwischen 1973 und 1984 eingekerkert, davon viele Jahre in Einzelhaft der Willkür und Brutalität der Militärs völlig ausgeliefert, war nach diesem für ihn sicher schwersten Teil des Protokolls ohne Worte. Mehr als zehn der zukünftigen Minister und Staatssekretäre waren in den dunklen Jahren der Militärdiktatur für lange Jahre inhaftiert und die neue linke Regierung ist in Bezug auf die Summe der im Gefängnis verbrachten Jahre weltweit sicher einzigartig. Vom Kerker in die Regierung: Nichts bezeugt den fundamentalen Wandel in dem kleinen Land am Río de la Plata deutlicher. Eine historische Neuerung ist auch, dass mit der MPP-Abgeordneten Nora Castro zum ersten Mal eine Frau der Abgeordnetenkammer vorsteht.

Eine „breite Front“ an der Regierung

Im Gegensatz zu Argentinien, wo Néstor Kirchner im Mai 2003 unvorbereitet und gegen den Widerstand mächtiger Fraktionen seiner eigenen peronistischen Partei in die Casa Rosada einzog, war die Machtübernahme durch die Frente Amplio (FA) in Uruguay schon mehrere Jahre lang absehbar und die gleichberechtigte Einbindung aller Sektoren war immer Teil ihres Programms und Fundament für den Zusammenhalt der „Breiten Front“. Das Verteilen der Macht und damit auch der Verantwortung auf vielen Schultern hat allerdings auch zur Folge, dass nur wenige Frauen Ministerposten (drei von insgesamt 14 Ministerien) und andere hochrangige Stellen besetzen und das Durchschnittsalter in der Regierung bei 65 Jahren liegt. Die Zügel fast aller Sektoren der FA halten nach wie vor Männer fest in der Hand, die ihre ersten politischen Erfahrungen Anfang der 60er Jahre gemacht haben.
Nur die Kommunistische Partei wird von einer Frau angeführt. Die PCU-Vorsitzende Marina Arismendi, die Tochter des legendären Parteiführers Rodney Arismendi, übernimmt in der neuen Regierung das wichtige, neu geschaffene Ministerium für Soziale Entwicklung und Partizipation und ist auch für die Umsetzung des Sozialen Notstandsplanes PANES (Plan de Atención Nacional de la Emergencia Social) zuständig, einem Schlüsselprogramm der linken Regierung. Mit Azucena Berutti übernimmt eine ausgewiesene Menschenrechtsexpertin das Verteidigungsministerium, was schon bei der Amtsübernahme unter den noch immer in der Armeeführung präsenten „ewig gestrigen“ Generälen Widerspruch auslöste. Neben den SozialistInnen, die mit vier MinisterInnen vertreten sind (neben der Verteidigungs- stellen sie den Außen- und den InnenministerIn sowie den Kabinettschef), besetzt die MPP, das von den Tupamaros angeführte Bündnis, mit Mujica als Minister für Landwirtschaft, Viehzucht und Fischerei und dem Minister für Arbeit und Soziale Sicherheit zwei Schlüsselministerien besetzt.

Compañero Presidente

Vom neuen Regierungsstil, den der „Compañero Presidente“, wie sich Tabaré Vázquez selbst bezeichnet, versprochen hat, profitiert auch ein Teil der Opposition. Während sich die Colorados, die mit Jorge Batlle in den letzten fünf Jahren den Präsidenten stellten, jeder Zusammenarbeit mit der Linken verweigern, sind die Blancos, die moderatere der beiden „traditionellen“ Rechtsparteien, zum Dialog bereit. Sie gingen auf das Angebot von Vázquez ein, bei der Besetzung von Staatsämtern und Leitungsfunktionen in den staatlichen Unternehmen beteiligt zu werden. Etwas, was beide rechte Parteien den Linken niemals zugestanden hatten. Sie teilten die Macht grundsätzlich immer unter sich auf.
Nun soll die Bevölkerung stärker an der Macht beteiligt und die Dezentralisierung vorangetrieben werden. Ganz im Sinne des Offenbarungseides des „Genossen Präsidenten“ sollen etwa beim Sozialen Notstandsplan laut Ministerin Arismendi „alle sozialen Organisationen, die Kirchen, die Gewerkschaften, alle, die während der Krise, die das Land zerrüttet hat, aktiv geworden sind und die wissen was zu tun ist, einbezogen werden.“ Mit dem Plan sollen die UruguayerInnen unterstützt werden, deren Einkünfte unter der Armutsgrenze liegen. Aktuell liegt diese Grenze unterhalb von 1033 Pesos in Montevideo (rund 35 Euro im Monat). Besonders Jugendliche, Arbeitslose, Alleinerziehende und Behinderte sollen unterstützt werden. In Zusammenarbeit mit anderen Ministerien sollen „würdige“ Arbeitsplätze geschaffen werden, um den Betroffenen, deren Zahl auf etwa 150.000 geschätzt wird, eine dauerhafte Perspektive zu bieten. Das Programm ist von vornherein begrenzt: „Nicht mehr als zwei oder zweieinhalb Jahre. Dann müssen wir den Ausweg aus der Not geschafft haben“, so die Ministerin.

Die Schulden bezahlen oder nicht?

Die wichtigste Schlacht im Streit um die zukünftige Regierungspolitik wird zwischen Agrarminister José Mujica und dem eher liberal eingestellten Wirtschafts- und Finanzminister Danilo Astori geschlagen werden. Welche Richtung letztlich eingeschlagen wird, ob die zukünftige Linksregierung die bestehende Wirtschafts-, Gesellschafts- und Sozialordnung nur verbessern und reformieren will oder die Weichen für ein grundlegend neues System, dass die Ungerechtigkeiten des Neoliberalismus und Kapitalismus beseitigen will, neu stellen wird, entscheidet sich auch am Einfluss und Zusammenspiel der beiden Lager, für die Mujica und Astori stehen. Was ähnlich wie in Argentinien und Brasilien auch der neuen uruguayischen Regierung Sorgen bereitet, ist die extrem hohe Schuldenlast. Gut 13,42 Milliarden US-Dollar Staatsverschuldung lassen nur einen sehr engen Handlungsspielraum zu.
Um das Defizit zu verringern, die Schulden zu bezahlen, die Finanzierung des Notstandsplans zu sichern und die anstehenden Reformen zu finanzieren, gibt es für Astori nur eine Lösung: Wachstum. „Ohne Wachstum wird nichts möglich sein und Wachstum bedeutet Investitionen und dafür braucht es eine stabile Ökonomie mit klaren Regeln und das bedeutet eine strenge Haushalts- und Finanzpolitik.“ Astori, der innerhalb der Frente mit seiner Wirtschaftspolitik kaum Unterstützung findet und sich schon vor seinem Amtsantritt herbe Kritik anhören musste, andererseits aber auch mit seinem Programm das bürgerliche Lager integriert und die internationalen Finanzinstitutionen nicht verstimmt, räumt jedoch ebenfalls dem Notstandsplan absoluten Vorrang ein: „Das ist eine der Prioritäten und er wird ohne jede Probleme finanziert werden“, so Astori.

Eine Mammutaufgabe: Heraus aus der Krise

Auf den Notstandsplan hat Tabaré Vázquez alle seine MinisterInnen eingeschworen. Neben dem Sozialplan PANES sollen vor allem die Einkommensmöglichkeiten der kleinen AgrarproduzentInnen auf dem Land verbessert, eine aktive Arbeitsmarktpolitik eingeführt, die Schulen in Stand gesetzt, die Gehälter der LehrerInnen erhöht und mit neuen Wohnungsbauprojekten für die rund zehn Prozent der uruguayischen Bevölkerung, die heute in Elendsvierteln leben, begonnen werden. Die Reform des 1972 von Julio María Sanguinetti unter dem Diktat der Militärs verfassten Erziehungsgesetzes steht ebenfalls auf der Prioritätenliste. Das Gesetz unterbindet jegliche Mitbestimmung der Gewerkschaften und der Gremien an der Bildungs- und Erziehungspolitik und hat bis heute Gültigkeit. Weitere Programmpunkte sind die Bildung eines Nationalen Wirtschaftsrates und die Stärkung der Gewerkschaftsrechte. In der Steuerpolitik soll die heute bei 23 Prozent liegende Mehrwertsteuer gesenkt und eine progressive Einkommenssteuer eingeführt werden.
Nach 20 Jahren neoliberalen Raubbaus, der allerdings in Uruguay immer wieder durch die von der Mehrheit des Volkes unterstützten Referenden gegen die Privatisierung der Staatsbetriebe an seine Grenzen stieß, steht die neue Regierung in allen Politikbereichen vor einem völligen Neuanfang. Auf der Agenda steht der Aufbau einer staatlichen Krankenversicherung für alle Bevölkerungsschichten, die Wiederbelebung der – mit Ausnahme der staatlichen Raffinerie ANCAP – völlig am Boden liegenden nationalen Industrie, der Neubau von Tausenden von Wohnungen unter Einbeziehung der traditionell starken Kooperativenbewegung im Land, die Reform des Renten- und des Justizsystems, die Verbesserung der unmenschlichen Bedingungen in den völlig überfüllten Gefängnissen, die Reform der Streitkräfte, die Ratifizierung der internationalen Abkommen, die die bisherige Regierung auf Eis gelegt hatte, die Aufarbeitung der Menschenrechte, vor allem in Hinblick auf die „Verschwundenen“ während der Militärdiktatur (im Gegensatz zu Argentinien und Chile hat die Aufklärung der Verbrechen noch nicht einmal begonnen), die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, die Reform des Instituts für Kolonisierung, das für die in Uruguay schon 1948 beschlossene Agrarreform zuständig ist, die Entschuldung der AgrarproduzentInnen, die Förderung der solidarischen Ökonomie; die Liste ist lang und die Erwartungen sind hoch.

Wiedereingliederung in den Mercosur

Für das Projekt einer neuen lateinamerikanischen Identität und einer Stärkung und Erweiterung der regionalen Bündnisse, für das neben Kirchner und Chávez auch der brasilianische Präsident „Lula“ da Silva steht, wird mit dem Abtreten von Ex-Präsident Jorge Batlle der letzte Stolperstein aus dem Weg geräumt. Der erklärte persönliche Freund George W. Bushs trat als Staatschef offensiv für das geplante Freihandelsabkommen ALCA ein und bremste im Interesse Washingtons die politische und strukturelle Weiterentwicklung des von Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay gegründeten Wirtschaftsbündnisses Mercosur bislang aus. Vázquez dagegen will sich offensiv für den Mercosur einsetzen, auch um Montevideo als Verwaltungssitz des Gemeinsamen Marktes zu stärken. Und auch das Verhältnis zu den USA wird sich verändern: Als ersten Schritt heraus aus der Abhängigkeit wird die neue Regierung am 1. März die diplomatischen Beziehungen mit Kuba wieder aufnehmen, die Batlle nach einem persönlichen Streit mit Fidel Castro im April 2002 abgebrochen hatte.
Die Kraft der Frente Amplio und des gesamten Wahlbündnisses liegt in ihrer für eine linke Koalition einmaligen Konsensfähigkeit und Dialogbereitschaft. Seit die „Breite Front“ 1971 gegründet wurde, hat sie sich immer mehr erweitert und verbreitert. Alle internen Konflikte wurden gelöst, ohne dass Kritiker ausgeschlossen wurden. Ganz im Gegensatz zur brasilianischen Arbeiterpartei PT. Bauen kann die neue Regierung dabei auf die im lateinamerikanischen Vergleich stark organisierte und politisierte Bevölkerung in dem 3,24 Millionen EinwohnerInnen zählenden Land. In welcher Form die Bevölkerung in das Projekt linke Regierung eingebunden werden wird, welche der vorhandenen Instrumente sie aktiv nutzt (Volksabstimmungen), welche sie neu schafft (Nachbarschaftsräte, partizipative Budgets nach dem Vorbilds Porto Alegres etc.), wie die Einheit der Linkskoalition aus über 30 Parteien, Organisationen und Bewegungen auch unter den neuen Vorzeichen, d.h. als bestimmende politische Kraft durchgehalten wird, daran entscheidet sich die Zukunft des ganz speziellen „uruguayischen Weges“. Tabaré Vázquez ist sich sehr wohl bewusst, dass die Frente Amplio, die eher eine Bewegung als ein Zusammenschluss von Parteien ist, ohne die aktive Partizipation der Menschen nichts erreichen wird.
Der nächste Wahlkampf hat schon begonnen. Am 8. Mai werden die Regionalregierungen in den 19 Provinzen gewählt. Und die Frente Amplio hat gute Chancen, neben Montevideo, wo sie seit 1990 den Bürgermeister stellt, auch in den wichtigsten Provinzen zu gewinnen. Für das Gelingen vieler Regierungsprojekte wäre das unbedingt notwendig.

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