“BEWEGUNGSPARTEI STATT BEWAFFNETEM KAMPF”

Foto: David Graaff

Durch die Verwandlung in eine politische Partei, die sich mehr als 1000 Delegierte umfassend Ende August in einem großen Kongresszentrum der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá vollzog, schickt sich die ehemals größte und älteste Guerilla Lateinamerikas nun an, ihren Kampf für ein „Neues Kolumbien“ ohne Waffen fortzuführen.

Die Parteigründung ist Teil der Friedensvereinbarungen von Havanna, in denen die „farianos“ mit der Regierung Juan Manuel Santos das Ende des bewaffneten Konflikts ausgehandelt hatten. Nun geht es, nachdem die FARC ihre Waffen an die Vereinten Nationen übergeben haben, mit deren Umsetzung weiter, worunter die vereinbarten Maßnahmen zur Landreform ebenso fallen, wie die Schaffung des Systems der Sonderjustiz, in dem die von beiden Seiten begangenen Verbrechen des bewaffneten Konflikts aufgearbeitet werden sollen. „Wir haben das Feuer eingestellt, wir haben uns in den Übergangszonen versammelt, wir haben eine vollständige Waffenniederlegung vollzogen, ein Inventar unserer Kriegsökonomie angefertigt und damit begonnen, alle unsere Besitztümer zu übergeben. Ich wünschte, der kolumbianische Staat hätte bei der Erfüllung seiner Verpflichtungen die gleiche Sorgfalt gezeigt“, sagte der ehemalige Oberkommandierende der FARC und neue Parteivorsitzende Rodrigo Londoño, der besser unter seinem Pseudonym „Timoleón Jiménez“ bzw. „Timochenko“ bekannt ist, als er vor tausenden Menschen auf der Plaza Bolivar sprach und Scheinwerfer das neue FARC-Logo, eine rote Rose, auf die umliegenden Gebäude, darunter das Kapitol, projizierte. Damit spielte er nicht nur auf die zähe Verabschiedung der entsprechenden Gesetze und Normen im Kongress an, sondern auch auf die zunehmende Zahl von getöteten Aktivist*innen.

Laut einer Mitte August veröffentlichten Studie der NGO „Somos Defensores“ wurden seit Jahresbeginn 51 Aktivist*innen ermordet und zunehmend scheinen auch ehemalige FARC-Kämpfer*innen und ihre Familienangehörige ins Visier zu rücken. Hinter den Taten vermuten Analyst*innen des Forschungsinstituts INDEPAZ einen paramilitärischen Komplex, der aus bewaffneten Organisationen mit Interessen an illegalen Geschäften wie Drogenhandel und Bergbau besteht, zu dem aber auch lokale Eliten oder anti-subversive Einzelakteure innerhalb staatlicher Institutionen wie dem Militär oder dem Geheimdienst gehören. Die derzeit mächtigste bewaffnete Organisation, die Gaitanistischen Selbstverteidigungsgruppen Kolumbiens (AGC), erklärte Anfang September ihre Bereitschaft, in Verhandlungen mit der Regierung treten zu wollen. Schon seit längerem haben AGC-Vertreter*innen die Nähe zu Kongressabgeordneten und der internationalen Vertreten gesucht und laut der spanischen Zeitung El Mundo gab es bereits Wochen zuvor erste Gespräche zwischen AGC-Vertreter*innen und Regierungsmitgliedern.

Unabhängig aber von den gesamtpolitischen Entwicklungen ging es für die FARC in Bogotá darum, sich als Organisation neu aufzustellen.

Unabhängig aber von den gesamtpolitischen Entwicklungen ging es für die FARC in Bogotá darum, sich als Organisation neu aufzustellen. Aus dem ehemaligen 31 Mitglieder umfassenden Generalstab wurde ein aus mit 111 Mitgliedern recht großes neues Führungsorgan, der Nationalrat der Kommunen. Dieser bestimmte einen 15-köpfigen Politischen Rat, an dessen Spitze Timochenko steht. Personell gibt es damit wenig Erneuerung, was angesichts der straffen, horizontalen Organisationsstruktur der FARC als Guerilla wenig überraschend scheint. Die Delegierten stimmten, nicht nur was den Namen betrifft, für Kontinuität. Die Mitglieder des Sekretariats, des alten Führungsorgans der FARC, finden sich auch in der neuen Parteiführung wieder und im Nationalrat stehen neben ihnen vor allem verdiente Kommandanten und hochbetagte ehemalige Sekretariatsmitglieder, die zum Teil noch die Gründung der FARC anno 1964 miterlebt haben. Die FARC, die nach der Trennung von ihrer „Mutterorganisation“, der Kommunistischen Partei Kolumbiens (PCC) Anfang der 1990er-Jahre militärische und politische Führung im Sekretariat gebündelt hatten, bleiben damit ein von Männern dominierter Verein, dessen Mitglieder ihre Position vor allem militärischen Erfolgen verdanken.

Bislang, möglicherweise auch aus Sicherheitsgründen, finden sich nur einige wenige soziale Aktivist*innen aus den der FARC nahstehenden zivilgesellschaftlichen Organisationen im Nationalrat und mit dem Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Jairo Estrada, der als Mitglied der Gruppe Voces de Paz seit Monaten die Verabschiedung der Vereinbarungen im Parlament begleitet, steht nur eine Person im Führungsgremium der Partei, die noch nie ein Gewehr für die revolutionäre Sache abgefeuert hat. Zudem sind lediglich 24 der 111 Nationalratsmitglieder Frauen. Vier von ihnen, Sandra Ramírez, Erika Montero, Victoria Sandino und Liliana Castellanos, die zum Teil bereits bei den Gesprächen von Havanna teilgenommen hatten und einen Geschlechterschwerpunkt in die Vereinbarungen hineinverhandelt hatten, schafften es in die Parteispitze. Auf sie geht auch zurück, dass sich die FARC, deren politische, am Marxismus-Leninismus orientierte politische Ideologie in der Vergangenheit oft als holzschnittartig und nicht mehr zeitgemäß beschrieben worden war, nun unter anderem als anti-patriarchale Partei bezeichnen und in der Geschlechterfragen keinen Nebenwiderspruch mehr zu sehen scheinen.

Welche langfristig die politischen Ziele der FARC sein werden, muss sich noch zeigen. In seiner Eröffnungsrede zu Beginn des Parteikongresses hatte Iván Márquez betont, die FARC wolle Teil eines historisch-gesellschaftlichen Prozesses sein, „der den Aufbau einer alternativen Gesellschaft ermöglicht, in der soziale Gerechtigkeit, wirkliche und fortgeschrittene Demokratie“ herrsche, „wirtschaftliche, soziale, ethnische, religiöse und geschlechtliche Diskriminierung und Ausgrenzung überwunden“ seien und ein würdevolles Leben in einer „neuen Art gesellschaftlicher Beziehungen in Kooperation, Brüderlichkeit und Solidarität“ garantiert werde. Die Vereinbarungen von Havanna, in denen es unter anderem um eine gerechtere Verteilung von Landbesitz geht, seien lediglich die Grundlage für weiterführende gesellschaftliche Veränderungen.

Wie genau dieses „Neue Kolumbien“ aussehen und erreicht werden soll, darüber kam es zu teils heftigen Debatten.

Wie genau dieses „Neue Kolumbien“ aussehen und erreicht werden soll, darüber kam es, wie Delegierte berichteten, während des dreitägigen Kongresses, auf denen Arbeitsgruppen ein erstes Eckpunkteprogramm der neuen Partei erarbeiteten, zu teils heftigen Debatten. Das verwundert wenig, trafen doch in Bogotá erstmals FARC-Mitglieder aufeinander, deren Realität während des Konflikts sehr unterschiedlich war. Es trafen Kader aus den Kerngebieten der FARC im Süden Kolumbiens auf Mitglieder der städtischen Milizen, kleinbäuerlich Geprägte und vom Krieg Gebeutelte auf an Universitäten geschulte und vom urbanen Alltagsleben geprägte Aktivisten. So wurde unter anderem lange darüber diskutiert, ob im Parteistatut auf „das Werk und das politische Handeln von Marx und Lenin“ verwiesen werden solle. Ein Disput, den letztlich jener Flügel um den Parteivorsitzenden Timochenko gewann, der zumindest nach außen hin eine politisch-ideologische Erneuerung der FARC anstrebt und sich von alten Dogmen lösen will. „Einige scheinen nicht verstanden zu haben, dass wir an einem neuen Punkt unserer Geschichte angekommen sind und hier nun auch einen Sprung machen müssen. Viele in unserer Organisation behandeln den Marxismus-Leninismus, als wäre er eine Religion“, sagte der Schriftsteller Gabriel Angel, der FARC-Chef Timochenko nahe steht im Gespräch mit den LN am Rande des Kongresses.

Dieser „Tendenz“, wie Angel sie bezeichnet, gegenüber steht eine Gruppe um den ehemaligen Verhandlungsführer von Havanna Iván Márquez und dem ihm nahestehenden Jesús Santrích, die das historische Erbe eines mehr als fünf Jahrzehnte dauernden Kampfes bewahren wollen. Besonders Santrích gilt dabei als wenig kompromissbereiter Traditionalist, dessen Vertrauen wie bei nicht wenigen FARC-Kämpfer*innen darin, dass der legale Kampf für die politischen Ziele der FARC möglich wird, gering ausgeprägt ist. Der Genozid an den Mitgliedern der 1985 gegründeten Linkspartei Unión Patriótica ist ihnen dabei ebenso ein mahnendes Beispiel wie die ansteigende Zahl der Morde und die Fortexistenz paramilitärischer Gruppen.

Iván Marquez wird es aller Voraussicht nach sein, der die Senatsliste der FARC 2018 anführen wird. Laut der Vereinbarungen von Havanna stehen ihr in den kommenden zwei Legislaturperioden je fünf Sitze im Senat und Repräsentantenhaus zu, unabhängig davon wie die FARC-Kandidat*innen beim Urnengang abschneiden. Einen eigenen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl wenige Monate später wird man wohl nicht aufstellen, sondern stattdessen Stimmen zur Bildung einer Übergangsregierung und dessen Kandidaten beitragen wollen, der für die Umsetzung der Vereinbarung von Havanna eintritt. Es muss sich zeigen, ob es der neuen FARC-Partei einerseits gelingt, nicht nur in ihren Kerngebieten Stimmen einzusammeln, sondern gerade die Menschen in den Städten mit einem modernen Programm zu überzeugen. Ein Bestreben, das sich bereits an einem Diskurs abzeichnet, der sich an alle Unzufriedenen und unter dem neoliberalen Wirtschaftsmodell leidenden Bevölkerungsteile richtet. Andererseits muss sich nun zeigen, wie tief die FARC wirklich in der Zivilgesellschaft und in denen von ihr teils über Jahrzehnte kontrollierten Territorien verankert ist. Ein Aspekt, der ihnen in der Vergangenheit von anderen linken und revolutionären Kräften, darunter auch der Nationale Befreiungsarmee (ELN), oft abgesprochen wurde. Dass gesellschaftlicher Wandel nicht ausschließlich innerhalb der staatlichen Institutionen erkämpft werden kann, scheint der FARC, folgt man den Worten Iván Márquez, klar zu sein. Man sei Teil der politischen und sozialen Bewegung, die „mittels ihrer vielfältigen Kämpfe des Alltags neue Ausdrucksformen der gesellschaftlichen Macht hervorbringt und die Formen der Organisation der Staatsgewalt de facto ignoriert und überwindet“, sagte er vor den Delegierten des Parteikongresses und fügte hinzu: „Wir verstehen uns als Bewegungs-Partei“.

„DIE MODELLE, DIE WIR VERTEIDIGEN, HABEN SICH ERSCHÖPFT“

Luiza Erundina will Politik neu denken (Foto: Circuito Fora do Eixo)
Luiza Erundina will Politik neu denken (Foto: Circuito Fora do Eixo)

CartaCapital: Der Interimspräsident des Abgeordnetenhauses, Waldir Maranhão, annullierte die Abstimmung des Amtsenthebungsverfahrens zunächst, machte dann allerdings einen Rückzieher. Glauben Sie, dass das von Cunha angeleitete Verfahren in Wirklichkeit auf Besessenheit basiert?
Luiza Erundina: Seitdem er den Vorsitz des Abgeordnetenhauses angetreten hat, nutzte Cunha seine Vormachtstellung zum eigenen Vorteil. Das schließt die Behinderung des gegen ihn im ­Ethi­­krat laufenden Prozesses ein. Das gleiche Verhalten legte er während des Amtsenthebungsverfahrens gegen Dilma Rousseff und auch während anderer Abstimmungen im Abgeordnetenhaus an den Tag. Als er die Gesetzesinitiative zur Reduzierung der Strafmündigkeit auf die Agenda setzte, ließ er zwei Abstimmungen an unterschiedlichen Tagen durchführen, bis das gewünschte Ergebnis erzielt wurde. Das Amtsenthebungsverfahren war gekennzeichnet durch seine Versuche, die Geschäftsordnung und geltenden Bestimmungen bei einer solch schwerwiegenden Angelegenheit zu umgehen. Mittels einer von ihm verursachten Debatte zwischen den zwei politischen Lagern im Abgeordnetenhaus mit anschließender geheimer Abstimmung versuchte er, Einfluss auf die Amtsenthebungskommission zu nehmen. Dies wurde letztlich durch den Obersten Gerichtshof (STF) unterbunden. Daraufhin zögerte er die Errichtung der ständigen Kommissionen hinaus und brachte sie in Bezug auf das Amtsenthebungsverfahren auf seine Linie. Er handelte immer sehr paternalistisch, so, wie es ihm eben beliebte.

Wie konnte Cunha so viel Macht im Parlament erlangen?
Er ließ sich mit bedeutender Mehrheit zum Präsidenten des Abgeordnetenhauses wählen und wird massiv von den evangelikalen Abgeordneten unterstützt. Bereits vor der Amtsübernahme führte und beeinflusste er Abstimmungen im Interesse dieser Gruppierung, dem zahlenmäßig größten der im Haus vertretenen politischen Lager. Tatsächlich übt er enormen Einfluss auf die Mehrheit der Konservativen aus, der sogenannten BBB-Fraktion, also bíblia, boi e bala (Bibel, Bullen und Blei, Anm.d.Red.).
Ein Abgeordneter aus São Paulo, ich würde seinen Namen lieber nicht nennen, erzählte einmal im Vertrauen, dass er im Morgengrauen Anrufe erhalten habe, in denen Cunha seine Vorstellung zu Ergebnissen für am darauffolgenden Tag angesetzte Abstimmungen mitteilte. Er kontrollierte akribisch jeden einzelnen Abgeordneten, der ihm seine Stimme gegeben hatte. Wir haben eineinhalb Jahre des demokratischen Lebens unseres Landes verloren, dies inmitten einer vielschichtigen, wirtschaftlichen, politischen, sozialen und ethischen Krise. Diese Situation hat zu einer enormen Verdrossenheit in der Bevölkerung und zu einer schwerwiegenden Diskreditierung der Demokratie geführt.

Was ist der Ursprung dieser gravierenden politischen Krise?
Wir sind nur an diesem Punkt angelangt, weil wir notwendige politische Reformen versäumt haben. Dabei beziehe ich mich nicht ausschließlich auf das Wahlsystem. Es ist notwendig, das politische System, den Staat und den föderalen Pakt als Ganzes, neu zu denken. Es gibt ein enormes Ungleichgewicht in Bezug auf die Verteilung der Ressourcen und der Gewalten zwischen der Union, den Bundesstaaten und den Gemeinden. Einen großen Teil der Last muss die lokale Ebene tragen.
Wir haben eine fortschrittliche Verfassung verabschiedet, aber ein beträchtlicher Teil ihrer Artikel wurde nicht umgesetzt. Heute hat die Exekutive die Macht, mit provisorischen Mitteln Gesetze zu erlassen. Durch Missachtung der Legislative trifft inzwischen auch die Judikative Entscheidungen, die eigentlich im Kompetenzbereich des Kongresses lägen. Ein Jahr vor jeder Wahl werden neue Wahlregeln verabschiedet, die das bestehende Geflecht aus gesetzlichen Regelungen weiter schwächen.

Es bringt nichts, Probleme lediglich punktuell lösen zu wollen.
Punktuelle Veränderungen machen das System noch dysfunktionaler. Wir müssen uns mit dieser strukturellen Frage auseinandersetzen, mit dem politischen System im weiteren Sinne des Wortes. Tun wir das nicht, dann werden wir die politischen Verwerfungen während der Wahlkämpfe, in Ausübung der Macht und in der Beziehung zwischen dem Volk und der Regierung, nicht korrigieren können. Vor kurzer Zeit entschied sich das STF für ein Verbot von Wahlkampffinanzierungen durch Unternehmen. Es wurden jedoch keine neuen Mechanismen zur Kontrolle und Überwachung eingeführt. Wie kann denn so die Praxis unkontrollierter Wahlkampffinanzierungen unterbunden werden?

Wie bewerten Sie das Verhalten der rechten Opposition in diesem Prozess? Gab es Gesinnungslumperei in dieser informellen Allianz mit Cunha?
Ich habe keinen Zweifel daran, dass es sich hier um einen reinen Machtkampf handelt. Der Vizepräsident Michel Temer hat diesen gesamten Prozess eingefädelt und den Aufbau der Ministerien antizipiert, als ob er bereits das Ruder in der Hand hätte. Die PSDB und ihre Unterstützer haben das Ergebnis der Wahlurnen von Beginn an nicht akzeptiert. Cunha nutzte seine Macht aus, über die Annahme von Anträgen zu Amtsenthebungsverfahren entscheiden zu können, indem er den gegen ihn angestrengten Prozess der Ethikkommission verzögerte.
Diese Gruppen haben sich gegenseitig und zu Lasten des Rechtsstaats ausgenutzt. Sie konnten mit der Unterstützung bestimmter Medien rechnen, die die öffentliche Meinung in die vorgegebene Richtung manipulieren, ihnen geht es schließlich auch um ein politisches Projekt.
Sie nahmen übliche finanzpolitische Praktiken des Regierens zum Anlass, bei denen es sich genau genommen um Haushaltstricksereien („pedaladas fiscais“) handelt, um Dilma aus der Regierung zu entfernen. Aus guten Gründen habe ich selbst Kritik an der Regierung geübt, aber ich kann kein Amtsenthebungsverfahren ohne Feststellung eines Amtsmissbrauchs unterstützen. Wenn es möglich ist, dass eine nicht in die Regierungsverantwortung gewählte Gruppe im Kongress die Mechanismen des demokratischen Systems zum eigenen Vorteil aushebeln kann, wird eine permanente Instabilität geschaffen.

Glauben Sie, dass Dilma Rousseff als erste gewählte Präsidentin der Republik auch sexistischer Intoleranz zum Opfer fiel?
Wenn wir die Debatte um ihre Regierungsarbeit einmal außer Acht lassen, ist kaum zu verhehlen, dass der Genderaspekt eine Rolle spielt. Abgesehen von lobenswerten Ausnahmen glaubt die Mehrheit der Männer nicht daran, dass sich Frauen als Führungspersonen mit Regierungsverantwortung eignen. Noch nicht einmal zehn Prozent der Sitze im Abgeordnetenhaus werden von Frauen besetzt, obwohl 52 Prozent aller Wähler Frauen sind. Seit der Einführung des Frauenwahlrechts haben wir 78 Jahre gebraucht, um eine Frau zur Präsidentin der Republik zu wählen. Die simple Tatsache, dass Dilma an die Macht gekommen ist und darüber hinaus noch aus dem linken Spektrum kommt, ist ursächlich für die mangelnde Bereitschaft, mit ihr kooperieren zu wollen. Öffentlich würde das allerdings niemand zugeben.

Was waren die größten Fehler der PT als regierende Partei?
Die PT-Regierungen haben keine wirklich demokratische Politik für die Zivilgesellschaft gemacht. Sie nutzten den durch die Koalition gestützten Präsidentialismus und schufen eine breite politisch-ideologische Allianz, missachteten jedoch ihre historisch gewachsene Verantwortung. Ebenso missachteten sie die Eigenständigkeit von sozialen Bewegungen und Gewerkschaften.
Es kam hier meines Erachtens zu einer gewissen Einverleibung. Zum Beispiel ist es Lula gelungen, oppositionelle Arbeiterorganisationen aufzulösen. Zehn Prozent der Gewerkschaftssteuer gingen nur noch an Dachgewerkschaften, wodurch eine von ihrer Basis distanzierte Gewerkschaftselite geschaffen wurde. Anstatt das Volk zu mobilisieren, machte sich die Regierung von einer klar definierbaren, parlamentarischen und klientelistischen Basis abhängig.

Die Basis, die sich gegen Dilma gerichtet hat.
In Wahrheit hat die PT bereits vor der Wahl Lulas kapituliert, wie die Veröffentlichung des Briefes an die Brasilianer und die darin enthaltenen Informationen zu den mit dem Internationalen Währungsfonds eingegangenen wirtschaftspolitischen Verpflichtungen zeigen. Wir haben nach wie vor ein regressives Steuersystem, das sich lediglich auf die Besteuerung des Einkommens und des Konsums konzentriert, während Gewinne und Dividenden weiterhin steuerfrei oder niedrig besteuert bleiben. Bedauerlicherweise fehlte es diesen Regierungen an politischem Willen oder schlichtweg an Mut, um die von ihnen erhofften Veränderungen durchzusetzen.

Was ist von der Regierung Temer zu erwarten?
Es wird eine Radikalisierung finanzpolitischer Sparmaßnahmen sowie extreme Neuregelungen in anderen Bereichen geben. Temer hat angekündigt, geplante Ausgaben für den Gesundheits- und Bildungsbereich im aktuellen Haushalt als optional deklarieren zu wollen und die Entscheidungsgewalt darüber der aktuell in der Regierungsverantwortung stehenden Person überlassen zu wollen. Die PMDB plant eine Reform der sozialen Vorsorge, ohne sich dazu verpflichtet zu fühlen, bisherige Errungenschaften beizubehalten.
Außerdem sollen manche Rechte eingeschränkt werden. Die Logik entspricht derjenigen der Haushaltsanpassungen: Die Rechnung der Krise wird auf die Arbeiter abgewälzt. Man spricht von Privatisierungen im großen Stil, das Erbe des Landes wird preisgegeben. Dialogbereitschaft oder eine Beachtung der Bedürfnisse der Bevölkerung wird es bei der neuen Regierung nicht geben.

Trifft die Krise der PT die Linke als Ganze?
Auf der ganzen Welt werden linke Strategien in Schach gehalten. Aber sie werden neu gestaltet, aktualisiert. Neue Parteien entstehen in Europa, beispielsweise Podemos in Spanien oder auch Syriza in Griechenland. Neue Paradigmen werden gesucht, die auf einem radikalen Verständnis von Demokratie, auf einem Bruch mit der Parteienbürokratie und auf einem Ende der durch politische Galionsfiguren geschaffen Hierarchie aufbauen. Die Krise der PT könnte diesen Prozess verzögern.
Meiner Einschätzung nach erleben wir das Ende eines historischen und sozialen Zyklus. Die Übergangsphase ist immer schmerzhaft, weil man nicht mit Klarheit erkennen kann, was sich an ihrem Ende befindet. Es ist an der Zeit, die politische Kultur zu überdenken, sie offener und pluralistischer zu gestalten. Wir müssen die Art und Weise, wie wir um Macht ringen und diese ausüben, neu bewerten. Wir müssen Paradigmen neu denken, das verlangt viel Bescheidenheit und Selbstkritik. Die Modelle, die wir einst verteidigten, haben sich erschöpft.
Wir müssen außerdem unsere Beziehung zur Umwelt neu bewerten. Es ist nicht mehr tragbar, ein räuberisches Entwicklungsmodell beizubehalten. Das ist es, was uns zur Gründung der neuen Partei Raiz inspiriert. Ich besitze eine mehr als 40-jährige politische Erfahrung und sehe mich in der Pflicht, alles neu zu erlernen.

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