Die Zärtlichkeit des Volkes

Die erste Tränengasgranate des Tages explodiert kurz nach sieben Uhr morgens. Abgeschossen wird sie von irgendeinem Bundespolizisten, der sich mit tausenden seinesgleichen hinter einer dreieinhalb Meter hohen Metallmauer verschanzt, die sich um das Parlamentsgebäude zieht. Die Demonstrant_innen, denen die Granate gilt, antworten mit einer Intensivierung der Molotowcocktail- und Steinwürfe, einige bespritzen die Polizist_innen durch die Gitterfenster in der Metallwand hindurch mit Farbe und Brandbeschleunigern. Die meisten Besitzer_innen der Verkaufsstände auf dem umkämpften Gelände ziehen es hingegen vor, sich in die Tunnel des nahegelegenen Busterminals zu retten. Fünf oder sechs Gasgranaten später tue ich es ihnen gleich, flüchte zwischen tränenüberströmten, röchelnden Reisenden zu einem Nebenausgang und von dort zurück auf eine kleine Anhöhe, wo sich auch der autonome Block wieder sammelt. „Compañeros, das hier ist nur ein taktischer Rückzug, wir müssen uns jetzt koordinieren! Wir haben Kampferfahrung, aber die können wir nur einbringen, wenn wir gemeinsam kämpfen“, tönt es vom Lautsprecherwagen der Sektion 22 der Lehrer_innengewerkschaft aus Oaxaca, welche die dortigen Proteste im Jahr 2006 angeführt hat. Aber da bereiten jene, denen der Appell gilt, schon die zweite Angriffswelle vor: „Die Jungs da riskieren ihren Kragen, die kämpfen völlig alleine!“, ruft ein Mann mit Sturmhaube und Fahrradhelm. Tatsächlich: 200 Meter entfernt werfen fünf Jugendliche Steine gegen die Metallwand. 50 andere brechen aus dem Demozug aus, um sie zu unterstützen. Diesmal schießt die Polizei ein bisschen mehr Gas in die Menge als beim ersten Angriff, und sie schießt es auch ein bisschen weiter. Die Lehrer_innen der Sektion 22 weichen noch ein Stück weiter zurück, die Stimme vom Lautsprecherwagen erklärt hörbar genervt, dass man sich nach der „Provokation der Kids“ nun wieder ordnen müsse. Derweil klopft der vermummte Teil der Demo Brocken aus Bürgersteigen und füllt Flaschen mit Zucker und Benzin. Es ist der 1. Dezember, der erste Tag der Präsidentschaft von EPN, der erste Tag der Rückkehr der PRI an die Spitze des Staates – und es ist noch nicht einmal acht Uhr morgens.
Dass die Proteste gegen die PRI, EPN und den umstrittenen Wahlverlauf kein Spaziergang werden würden, war schon in den Tagen zuvor klar geworden. Bereits vor einer Woche wurde die Metallwand in weitem Umkreis um das Parlament errichtet, Straßen gesperrt, U-Bahn-Stationen geschlossen und Polizist_innen zusammengezogen. Die daraufhin entflammten Proteste von Anwohner_innen und Beobachter_innen zeitigten einen symbolträchtigen Teilsieg: Der Verlauf der Absperrung musste geändert und die U-Bahn-Stationen mussten geöffnet werden. Aber der Ton für den ersten Dezember war vorgegeben: Der mexikanische Staatsapparat würde zu allem bereit sein, um sich gegen die Bevölkerung zur Wehr zu setzen.
Das Bild, das sich nun am Stichtag um vier Uhr morgens am Protestcamp von #YoSoy132 am Revolutionsdenkmal bietet, lässt keinen Zweifel daran, dass der hier anwesende Teil von Mexikos Jugend ebenso wenig bereit ist, die Ausschließung kampflos hinzunehmen. Es sieht ein wenig so aus, als ob eine postapokalyptische Version von Mittelerde in die Schlacht zöge: Bogenschützen, die einen Köcher voll mit wattebespickten Pfeilen und Schilder aus blechernen Mülltonnendeckeln tragen, drängen sich zwischen mit Glasflaschen und Benzinkanistern randvollen Einkaufswagen; eine moderne Reinkarnation des aztekischen Jaguarkämpfers, von den Stiefeln bis zum verspiegelten Motorradhelm goldgelb und schwarz getupft, reckt seinen Holzknüppel in die Nachtluft; wer hier keine Sturmhaube, Gas- oder Lucha-libre-Maske trägt und weder ein Schild noch Baseballschläger oder Metallrohre schultert, kommt sich schnell underdressed vor.
Klirrend und rasselnd setzt sich der Zug in Bewegung zum Parlamentsgebäude in San Lázaro. Wir sind weniger als 200 Menschen, machen aber Lärm wie 2.000. Keine Minute vergeht, ohne dass die Stille der frühen Morgenstunden durch Chöre zerrissen wird, die EPN ein baldiges Ende prophezeien, die studentischen Kämpfe Lateinamerikas hochhalten oder Mexikos große Universitäten besingen. Und immer wieder, beinahe als wäre es ein Mantra: „México, ¡sin PRI!“ („Mexiko, ohne PRI!“) – bis der Zug am Parlamentsgebäude ankommt.
Während der nächsten vier Stunden wird sich weder am Frontverlauf noch an der Taktik beider Parteien etwas ändern. Die Demonstrant_innen werfen sich aufopferungsvoll gegen die Metallwand. Manchmal gelingt es ihnen, ein Teilstück umzureißen. Dann stürmen die hinter der Wand verschanzten Bundespolizist_innen los, prügeln mit ihren langen Schlagstöcken auf jeden und jede im Umkreis von zwanzig Metern ein, feuern erst Tränengas, dann Gummigeschosse und Pfeffergaskartuschen, richten das Teilstück wieder auf und ziehen sich zurück. Wir sind viele hundert Meter vom Parlamentsgebäude entfernt und nähern uns im Laufe des Tages keinen einzigen Meter davon an. Diese Tatsache lässt den ungebrochenen Willen der Demonstrant_innen, ihr Leben in diesem ungleichen Kampf aufs Spiel zu setzen, noch heroischer erscheinen, oder noch kopfloser, oder beides zugleich. Auf der Anhöhe stehen einige Gewerkschafter_innen, die das Geschehen teils interessiert, teils besorgt verfolgen. „Das sind doch bloß dumme Provokationen“, erregen sich zwei Frauen auf meine Nachfrage hin. Eine Gruppe von Lehrer_innen aus Oaxaca gibt sich toleranter und meint, jede Organisation habe halt ihre Methoden und man müsse das akzeptieren. Ich laufe die Erhebung hinunter, zwischen Demonstrant_innen, die sich ausruhen oder die nächste Attacke vorbereiten und unzähligen anderen, die warten, ohne zu wissen, worauf. Es herrscht eine seltsame Stille, die Explosionen der Granaten scheinen plötzlich meilenweit entfernt. Einzig die Sirenen der herannahenden Krankenwagen schrecken die Menschen auf. Erst einer, dann zwei, dann kommen sie beinahe im Minutentakt und verladen blutende Protestierende, die von anderen auf aus Absperrgittern improvisierten Bahren herangetragen werden. Auf der Straße stehen Frauen und Männer jeden Alters in kleinen Gruppen in der Sonne, sitzen auf den Bürgersteigen oder auf den Bänken eines kleinen anliegenden Parks. Was auch immer sie für heute geplant hatten, ist untergegangen in diesem Sumpf aus Blut und brennendem Benzin auf der anderen Seite des Hügels. Sie sind Tausende, die die ganze Nacht in drittklassigen Überlandbussen auf Mexikos Landstraßen und Autobahnen verbracht haben, und morgen wird keine Zeitung sie auch nur erwähnen. Und sie wissen das.
Gegen elf Uhr morgens beginnt die Veranstaltung sich aufzulösen. Auf der anderen Seite des Metallzauns wurde Peña Nieto die Präsidentenbinde von seinem Vorgänger übergeben. Jetzt rauscht er zum Nationalpalast, um seine Antrittsrede zu halten. Ich hingegen laufe vorbei an zerstörten Bushaltestellen und zertretenen Blumenbeeten, verärgert dreinblickenden Nachbar_innen in Morgenmänteln und neugierigen Kindern. Da steht es also, das Volk, das heute so oft angerufen wurde und in dessen Namen wir kämpfen. Es sieht nicht so aus, als ob es die Opfer, die wir ihm bringen, zu würdigen wüsste. „Wir wollen eine breite Plattform aufbauen, permanente Versammlungen in den Stadtvierteln schaffen und so die Mehrheit der Bevölkerung einbinden“, hatte N. mir am Vortag im Protestcamp von #YoSoy132 erklärt. „Aber das ist schwierig“, klinkte sich A. in die Unterhaltung ein. „Wir sind jung, Studenten und Schüler und im Grunde ohne jede Organisationserfahrung – in den Stadtvierteln und von den Bewegungen können wir unglaublich viel lernen, aber natürlich begegnen die uns erst mal mit Misstrauen. Wir fangen gerade erst an, das zu überwinden“. Die beiden sind seit fünf Monaten im Camp aktiv und leben die meiste Zeit dort, in unzähligen Diskussionen, meetings und sit-ins, in tagtäglicher unbezahlter Kleinarbeit haben sie Plakate gebastelt, Texte geschrieben und Netzwerke zwischen der studentischen Bewegung, Stadtteilinitiativen und anderen Organisationen geknüpft. Während ich über das zersplitterte Glas von Werbetafeln springe, frage ich mich, was von all dem noch übrig bleiben wird, nach diesem 1. Dezember. #YoSoy132 hat als Organisation stets pazifistische Weisen des Protests befürwortet und auch an diesem Tag distanziert sie sich schon früh von dem gewalttätigen Widerstand. Aber dass dies nicht das Bild ist, das Televisa, TV Azteca und die großen Zeitungen verbreiten werden, ist allen klar. Sie porträtieren den studentischen Protest per se als gewalttätig und kriminell, entfremden ihn so von anderen Bewegungen und rechtfertigen jede Repression. Genau um dies zu erreichen, hat der mexikanische Staatsapparat erwiesenermaßen agents provocateurs auf der Demonstration eingesetzt und Menschen dafür bezahlt, dass sie für ein Höchstmaß an Zerstörung sorgen. Die PRI ist zurückgekehrt, mit allem, was das bedeutet: Stimmenkauf, Repression und parapolizeiliche Operationen.
Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Der Diskurs, mit dem die mexikanischen Aktivist_innen derzeit die Polizeigewalt und willkürliche Festnahmen anprangern, kennt nur friedliebende Demonstrant_innen, hinterhältige Infiltrierte und brutale Sicherheitskräfte. Strategisch ist das nachvollziehbar, allerdings werden auf diese Weise einige der komplizierteren Fragen verschwiegen, welche der 1. Dezember aufgeworfen hat. So ist es erwähnenswert, dass ich während einem unserer „taktischen Rückzüge“ N. aus dem Protestcamp von #YoSoy132 treffe. Komplett in olivgrün gekleidet, die Kapuze seiner Jacke zugezogen und schwarz maskiert begrüßt er mich, wir plaudern kurz, dann sagt er mir, er müsse sich nun um die Erneuerung der „Bewaffnung“ kümmern. Warum riskiert N., der so viel Zeit und Energie für den Aufbau der Strukturen seiner Organisation aufgewendet hat, dass all seine Arbeit in ein paar Stunden zunichte gemacht wird? In einem Kampf gegen eine Metallwand, in dem es nichts zu gewinnen gibt? Es ist mit Sicherheit keine Naivität; N. ist ein strategisch und politisch denkender Mensch: „Als #YoSoy132 agieren wir pazifistisch“, hatte er mir in unserem Interview erklärt. „Aber wir koordinieren uns mit anderen Gruppen, die direkte Aktionen machen – was ja auch legitim ist –, um uns gegenseitig zu unterstützen, aber auch, um Distanz zu wahren.“ Genau diese Koordinierung zwischen Organisationen aber war am 1. Dezember nicht vorhanden. Die Gewalt des Staates war kalkuliert und strategisch, die der Demonstrant_innen hingegen war nicht mehr als eine spontane, undurchdachte und selbstzerstörerische Explosion aufgestauter Frustration. „Wem nützt die Gewalt?“ fragen die Aktivist_innen in diesen Tagen und suggerieren, dass, da die Regierung der einzige Nutznießer ist, sie auch die Schuld tragen müsse. Aber die Frage ist falsch gestellt, denn nur ein Teil der Gewalt (die der Polizei und der Infiltrierten) war überhaupt nutzenorientiert. Die andere Gewalt, die Gewalt der Opposition, hat andere Gründe, und die zu klären ist eine der dringenden Aufgaben der mexikanischen Linken.
Eine Erklärung beginnt damit, dass Mexiko ein Land im Krieg ist. Ein guter Teil der jugendlichen Demonstrant_innen wurde unter der Regierung von Felipe Calderón (2006-2012) politisch sozialisiert. Im Laufe seiner Amtszeit starben täglich etwa 30 Menschen im „Drogenkrieg“. Der mexikanische Staat verabschiedet sich sukzessive von seinen sozialen Funktionen, gleichzeitig wächst der Polizei- und Militärapparat unaufhaltsam an. Zudem sind die von Betrugsverdacht überschatteten Wahlen von 2006 und 2012 für viele ein Beweis dafür, dass das politische System sich hermetisch abgeschottet hat und ihm auf parlamentarischem Wege nicht beizukommen ist. Wo jede politische Selbstorganisation kriminalisiert wird und Wahlen eine Farce sind, was bleibt da noch? Auf einem der Brückenpfeiler, vor der dunklen Metallwand in San Lázaro, hat jemand in weißer Farbe geschrieben: „Wir sind keine Guerilleros, aber bald werden wir es sein“.
Vor meiner Haustür, wenige Straßen vom Zócalo entfernt, schleppen Aufstandsbekämpfungseinheiten 30 oder 40 Kästen Tränengasgranaten an mir vorbei, zwei Hundertschaften formieren sich vor meinem Fenster. Es dauert nur Minuten, dann sind alle Straßen gesperrt und ich bin vom Rest des Geschehens abgeschlossen. Ein paar Häuserblocks entfernt werden Starbucks, das Sheraton und ein paar Banken ihrer Glitzerfassaden entkleidet. Da hier keine Metallwand mehr die Kontrahenten trennt, herrscht offener Straßenkampf. Die Polizei geht brutal und unterschiedslos gegen Demonstrant_innen vor, über hundert Menschen werden festgenommen, 69 kommen vorläufig in Haft (55 von ihnen werden eine Woche später frei gelassen werden). #YoSoy132 erklärt ihre Teilnahme an den Protesten für beendet und distanziert sich erneut von den Ausschreitungen – dennoch wird die Bewegung die Befreiung der Gefangenen noch am selben Tag zu ihrem wichtigsten Anliegen erklären und schon zwei Tage später die erste Demonstration organisieren. Das ist eine konsequente Entscheidung, die aber letztlich nur das Unvermeidliche anerkennt: Das Schicksal der Bewegung ist nun untrennbar mit dem #1Dmx (1. Dez. 2012) verbunden.
Als ich am Abend über die Alameda Central schlendere, wo sich nach San Lázaro die heftigsten Kämpfe zugetragen haben, komme ich an einem Regierungsgebäude vorbei, dessen Scheiben bis hoch zum dritten Stock eingeworfen sind. „Peña: Die Zärtlichkeit des Volkes, das dich gewählt hat“, steht an der Fassade. Pärchen fotografieren sich und ihre Kinder vor dem Schriftzug und zwischen zersplitterten Schaufensterscheiben, Arbeiter_innen fegen Scherben zusammen. In zwei, drei Tagen wird es hier aussehen als sei alles wie zuvor. Aber die Zärtlichkeit des Volkes wird so bald nicht erlöschen.

„Diese Kandidatur wurde uns aufgezwungen”

Im Süden von Mexiko-Stadt, nahe der Autonomen Nationalen Universität UNAM, zeigt die Medienaktivistin Laura Reyes einer Gruppe zentralamerikanischer Journalist_innen das Studio von Radio Zapote, das als freies oder Community Radio weder ein kommerzielles noch öffentlich-rechtliches Medium ist. Radio Zapote sendet wie viele kleine Radios ohne Lizenz, zu hoch sind die bürokratischen Hürden und Kosten für die Zulassung in Mexiko. Bis zu zwei Millionen Menschen kann Zapote mit seinem UKW-Sender theoretisch erreichen, in der Praxis ist es aber nur ein Bruchteil davon. Daneben wird das Programm im Internet gesendet.
Die Journalist_innen wollen von Laura Reyes vor allem wissen, wie sie den neuen Präsidenten Enrique Peña Nieto und die Rolle der Massenmedien bei dessen Kandidatur einschätzt. Der TV-Sender Televisa habe eine fundamentale Rolle bei der Erschaffung des Images Peña Nietos gespielt, erläutert die 30-Jährige. Die Gruppe Televisa kontrolliert nicht nur Fernsehkanäle, Radiostationen und Zeitungen, sondern verlegt auch Herz-Schmerz-Blätter. In diesen Zeitschriften werde ganz offen Webung für Peña Nieto gemacht und das bereits jahrelang. „Da werden seine Frau, die ja Schauspielerin ist, und die Familie porträtiert, da wird geschrieben, wie gut Peña Nieto frisiert und gekleidet ist”, weiß Reyes. Politische und wirtschaftliche Konzepte des Kandidaten würden ausgeblendet und dunkle Seiten, zum Beispiel, dass er seine Frau schlagen soll, sogar positiv umgedeutet.
Die beiden privaten Medienkonzerne Televisa und TV Azteca, die zusammen gut 90 Prozent der Fernseh- und Radiosender und einen Großteil des Zeitungsmarktes in Mexiko kontrollieren, haben Peña Nieto schon während seiner Zeit als Gouverneur zum Präsidentschaftskandidaten der PRI hochgeschrieben. Eine Mischung aus Kandidatenhype, Unterschlagung negativer Meldungen und einer gänzlich fehlenden Programmanalyse. Dabei entspreche Peña Nieto als autoritärer Politiker offensichtlich ganz den Vorstellungen der privaten Massenmedien, wie der Fall Atenco aus dem Jahr 2006 belege. Peña Nieto war Gouverneur des Staates Mexiko, ein Bundesstaat, der an die Hauptstadt Mexiko-Stadt grenzt. 2006 wollte die Regierung dort Bäuerinnen und Bauern von ihrem Land vertreiben, um einen neuen Großflughafen zu bauen. Als Gouverneur hat Peña Nieto den Einsatz gegen die Gemeinde angeordnet, in dessen Folge 200 Menschen verhaftet und mehr als 40 Frauen vergewaltigt wurden. Laura erinnert: „Die zwei privaten Fernsehkanäle Televisa und TV Azteca haben immer wieder dieselbe Luftaufnahme gesendet, in der Bewohner von Atenco sich gegen die Polizeigewalt verteidigen. Mit diesen Bildern haben sie eine Hetzkampagne gemacht, dass die Bewohner gewalttätig seien und der Staat hier für Ordnung sorgen müsse.”
Eine Alternative zu den traditionellen Massenmedien ist auch der Fernsehsender Rompeviento.tv, der seit Anfang Juni über das Internet sendet. Der Kanal will aus Sicht der sozialen Bewegungen über das informieren, was Televisa und Co systematisch verschweigen. Sein Sitz liegt im Zentrum von Mexiko-Stadt, in der Colonia Juárez unweit der Prachtstraße Reforma. Mit dabei sind renommierte Persönlichkeiten: Programmchef ist der Wissenschaftler und Aktivist Ernesto Ledesma. Jenaro Villamil und Jesusa Cervantes, beide von der politischen Wochenzeitung Proceso, machen gemeinsam eine Sendung. Die Menschenrechtsorganisation SERAPAZ und die Student_innenbewegung #YoSoy132 gestalten wöchentliche Programme. Von Amnesty International engagieren sich der Analyst Héctor Javier Sánchez und die Feministin Lulú Barrera. Auch die Pressefreiheitsorganisation Artículo 19 soll demnächst im Sender mitarbeiten.
Der Produzent Jesús Taylor erklärt, warum Rompeviento.tv wichtig ist, auch wenn es nur im Internet sendet. Die Regierung versuche, mithilfe der Massenmedien so zu tun, als wäre alles ruhig und in Ordnung, auch wenn die Probleme im Land immer schlimmer werden. „Selbst wir hier im Sender haben viel gelernt, zum Beispiel vom Programm von Serapaz. Oder von den Frauen von Fundem, die ein paar Meter von hier auf der Avenida Reforma demonstriert und über ihre Toten und Verschwundenen geweint haben.” Die Massenmedien würden über solche Themen entweder gar nicht oder nur einige Sekunden berichten. Der großen Mehrheit im Land fehle jeder Zugang zu unabhängiger Information, sie sehe nur die Version der Regierung oder der Massenmedien und beide seien manipuliert. „Wir geben den Organisationen Sendeplätze, damit die Leute sehen, was tatsächlich in diesem Land vor sich geht”, erklärt Taylor.
Die Aufmachung aus professionell produzierten Jingles und Teasern von Rompeviento.tv wirkt wie richtiges Qualitätsfernsehen, auch wenn die Moderationen und Gesprächsrunden oft noch ein wenig träge sind. Aber man will ja auch nicht so glitzernd inhaltslos daherkommen wie die übermächtige Konkurrenz. Die Ablehnung der von Televisa und TV Azteca vorangetriebenen Kandidatur Peña Nietos sei ein wesentlicher Grund für das Entstehen von Rompeviento.tv gewesen, sagt Jesús Taylor: „Wir meinen, dass uns diese Kandidatur aufgezwungen wurde, von den Massenmedien, von der Wirtschaftsoligarchie und verschiedenen Regierungskreisen.” Im Prinzip habe sich der gleiche Betrug wiederholt, durch den schon vor sechs Jahren Felipe Calderón zum Präsidenten gemacht wurde. Und dagegen protestiere Rompeviento.tv entschieden.
Erfolgreicher medialer Widerstand in Mexiko wird jedoch nicht durch Namen, sondern durch eine Zahl symbolisiert: 132. Dahinter steht die größte und quirligste Student_innenbewegung der letzten zwanzig Jahre. Als im Mai dieses Jahres Peña Nieto an der privaten Universidad Iberoamericana sprechen sollte, kam es zu Protesten. Die Massenmedien disqualifizierten die Protestierenden als uniferne, bezahlte linke Chaot_innen. Daraufhin identifizierten sich 131 Anwesende als eingeschriebene Student_innen der Iberoamericana und in den Tagen danach tausende an anderen Universitäten als der oder die 132. Studierende. Bis zum Wahltag organisierte die schnell wachsende Bewegung landesweit Demonstrationen gegen Peña Nieto und die ihn unterstützende Medienmacht. Sie bloggte und twitterte, was das Zeug hielt, erstritt sich sogar Sendezeit bei Televisa, organisierte eine landesweite Wahlbeobachtung am 1. Juli und sendet bis heute in alternativen Medien wie Radio Zapote oder Rompeviento.tv.
Die Amtseinsetzung Peña Nietos konnte die Bewegung dennoch nicht verhindern. Nicht nur bei Deborah, Mitglied des Medienkollektivs von #YoSoy132, löste das Katerstimmung aus: „Nach dem Wahlabend gab es natürlich Frustration. Wie mächtig das System ist, das ist uns erst nach dem Wahlabend richtig bewusst geworden. Wenn du sechs Wochen lang kaum geschlafen hast, wenn du unglaublich viel Arbeit reingesteckt hast und dennoch das Ziel nicht erreichen konntest, dann ist das einfach deprimierend.” Hinzu kam, dass die politischen Gegner_innen sich aktiv wehrten: Televisa kaufte Aktivist_innen von YoSoy132 ein, die PRI-Wahlmaschinerie bot eine ganze Schar bezahlter Blogger_innen auf, die Peña Nieto in ein gutes und seine Kritiker_innen in ein schlechtes Licht rücken sollten.
Seither hat die Bewegung etwas an Kraft verloren. Vielen ist mit dem Wahlausgang die Motivation abhanden gekommen, andere ducken sich weg aus Angst vor dem, was ab dem 1. Dezember kommen mag. Auch Jesús Taylor von Rompeviento.tv befürchtet Unterdrückungsmaßnahmen, wenn Peña Nieto erst einmal Präsident ist. Für ihn ist klar, dass die Regierung Peña Nieto repressiv sein wird. Das habe der Fall Atenco überdeutlich gezeigt. Die Massenmedien versuchten, das zu kaschieren und das Bild einer Regierung der Versöhnung zu zeichnen. „Medien, die nicht auf Regierungslinie sind, müssen mit Repressionen rechnen und natürlich herrscht Angst. Wir sind schon jetzt eines der gefährlichsten Länder für Journalist_innen, wir werden zum Schweigen gebracht, nicht nur von den Narcos, auch von der Regierung. Und man muss sehen, was nach dem Regierungswechsel passiert”, sagt er.
Laura Reyes von Radio Zapote zieht dagegen eher die positive Bilanz, dass der Widerstand gegen die Kandidatur Peña Nietos einiges in Bewegung gebracht habe – und das hoffentlich weit über die Amtseinführung hinaus: „Die jungen Leute haben heute viele Werkzeuge an der Hand, oft mehr, als ihnen selbst klar ist. Zum Beispiel konnte die Bewegung #YoSoy132 sehr viel übers Netz mobilisieren und der Logik der Massenmedien einiges entgegensetzen. Es ist nicht verboten, sich der Kommunikation zu widmen. Es gibt ein Recht auf Information und Kommunikation, es geht darum, dieses Recht auch in Anspruch zu nehmen.”
Und so mag auch Ranyoz vom Medienkollektiv von #YoSoy132 nicht von einer Niederlage sprechen: „Ich glaube nicht, dass es eine Niederlage war, sondern eine Erfahrung. Wichtig an der Bewegung ist, dass wir gezeigt haben, was passiert; nämlich, dass alle Wahlinstitutionen gekauft sind, dass die Medienkonzerne Präsidenten produzieren können. Wir wussten, dass uns da ein Präsident aufgezwungen wird. Es ist ja nicht so, dass es das erste Mal wäre. Die haben über Jahre die Wahl Peña Nietos vorbereitet. Uns ist es gelungen zu zeigen, dass unsere Demokratie eine Farce ist. Ja, in der Bewegung sind viele demoralisiert, aber auf der anderen Seite konnten und können wir auch nicht erwarten, dass man einen so bedeutenden Wandel in wenigen Monaten erreichen kann.”

Gute Minen oder böses Spiel

In den Wochen vor dem Machtwechsel vervielfältigen sich die sozialen Auseinandersetzungen um Großprojekte. Am massivsten sind die Angriffe auf die Gegner_innen von Großprojekten im Bergbau und dem eng verknüpften Energiesektor. Allein im Oktober kam es in diesem Zusammenhang zu Auseinandersetzungen in den Bundesstaaten Oaxaca und Durango sowie zu einem tödlichen Anschlag auf einen Aktivisten samt seiner Ehefrau in Chihuahua. In Puebla demonstrierten Anwohner_innen gegen ein Minenprojekt des Telekommunikations-Magnaten Carlos Slim. In Mexiko-Stadt errichteten Aktivist_innen vor der kanadischen Botschaft am Totengedenktag einen Altar für die Opfer von Bergbaubetrieben, die kanadischen Mutterkonzernen zugehören.
Unter der Präsidentschaft von Felipe Calderón vervielfachte sich die Konzessionsvergabe zur Erschließung von Land: Für rund ein Viertel des gesamten Territoriums wurden Explorationsrechte vergeben. Im Durchschnitt kosten die Lizenzen weniger als einen US-Dollar pro Hektar. Erweist sich die Ausbeutung als lohnenswert, kann sofort zum Abbau übergegangen werden. Denn im Unterschied zur früheren Rechtslage sieht das reformierte Minengesetz in diesem Fall keine Zusatzbewilligung vor. Die Wasservorräte der lizenzierten Fläche gibt es gratis obendrauf. Für die Bergbau-Investoren ist Mexiko aktuell der viertgrößte Standort. Laut Branchenangaben beschäftigt der boomende Bergbausektor inzwischen 332.000 Personen.
Gleich zwei politische Skandale verdeutlichten jüngst den Einfluss der Minenunternehmen: Bei den Arbeitsrechten strichen die Minenbosse einen Artikel zum Schutz der unter gefährlichen Bedingungen schuftenden Minenarbeiter_innen. Diese Streichung erfolgte nicht, wie das die Industrielobby in anderen „Demokratien“ zu tun pflegt, in einer vorbereitenden Lesung, sondern erst nachdem die Reform in der großen Parlamentskammer unter Führung der PRI unter lautem Protest der linken Parteien in einer chaotischen Sitzung durchgepeitscht worden war. Erst auf dem Weg in den Senat ist der Schutzartikel auf mysteriöse Weise abhanden gekommen. Nur wenige Medien kritisierten diese „unakzeptable faktische Macht“ der Minenindustrie. Die Tageszeitung La Jornada kam zu dem Schluss, dass sich mit der angestrebten Arbeitsrechtsreform „die Straflosigkeit wichtiger Bergbau-Unternehmer zuspitzen wird, für die das Gesetz ein bloßer Formalismus ist, der nicht nur verletzt, sondern sogar ausradiert werden kann“. Für mehr Wirbel sorgte der zweite Skandal, der eng mit dem ersten verknüpft ist. In dem „verlorenen“ Gesetzesartikel war auch ein Verbot von Kohleabbau in Stollen von weniger als 100 Metern Tiefe festgelegt. Das betrifft insbesondere die Kohleindustrie im Bundesstaat Coahuila, wo Hunderte von Kleinstollen, die sogenannten pocitos, betrieben werden. In Hinterhöfen graben Arbeiter_innen auf halsbrecherische Weise Kleinstollen ohne Schutzmaßnahmen und in bis zu 15-stündigen Schichten. Ihren Abnehmer findet die Kohle in der Drogenbande Los Zetas, die sie günstig an Betriebe weiterverkauft, um so Drogengelder zu waschen. Endabnehmer ist letztlich die staatliche Energiekommission. Publik wurden die Machenschaften durch den ehemaligen Gouverneur und PRI-Parteipräsident Humberto Moreira Medial. Nachdem das Kartell tödliche Rache an seinem Sohn genommen hatte, verkündete der hemdsärmlige Politiker den Medien, die Zetas übten ihre Machenschaften auch im Kohlesektor aus. Auch der jüngst in einer Schießerei ums Leben gekommene Chef der Zetas, El Lazca, sei „pocito“-Unternehmer in Coahuila gewesen. „Seltsam, dass er uns das erst jetzt erzählt“, kommentierte die investigative Journalistin Sanjuana Martin sarkastisch. Normalerweise ist „in diesem Teil von Coahuila, der wichtigsten Kohlegegend von Mexiko, die Trennlinie zwischen Zetas, Kohleunternehmern und PRIistas nicht vorhanden“.
Das Minengeschäft blüht, legal oder illegal, unter PAN, PRI und sogenannten linken lokalen Regierungen. Mittlerweile geht es nicht nur um fehlende Mitbestimmung, Korruption, zunehmende soziale Konflikte und Gewalt, die durch die Präsenz der Megaprojekte hervorgerufen wurden. Vielmehr ist die Lebensgrundlage der Dörfer – Wasser, Boden und Territorium – direkt in Gefahr. Insbesondere in Oaxaca steht die Verteidigung der Territorien auf der Tagesordnung der sozialen Organisationen. Für Mitte November ist die Entsendung einer internationalen Beobachtungsmission nach San José del Progreso geplant. Im Januar lädt die Gemeinde Capulalpam de Méndez zusammen mit dem „Oaxaca-Kollektiv zur Verteidigung der Territorien“ zum mesoamerikanischen Treffen „Ja zum Leben – Nein zum Bergbau“ ein, um mit Aktivist_innen und Betroffenen von Zentralamerika bis Kanada Strategien des Widerstands zu entwerfen (siehe Kasten).

Infokasten:

Spendenaufruf: „Ja zum leben, nein zum Bergbau“

Vom 18. bis 23. Januar 2013 werden sich von Minenprojekten betroffene Gemeinden aus ganz Mexiko und Zentralamerika in Capulalpam de Méndez in Oaxaca treffen. Der Austausch von Widerstandserfahrungen findet unter der Parole „Ja zum Leben – Nein zum Bergbau“ statt. In den letzten Jahren haben transnationale Bergbaukonzerne ihre Operationen in Lateinamerika massiv vorangetrieben. Neben Umweltzerstörungen wurden auch zahlreiche Menschenrechtsverletzungen begangen. In Mexiko wurden allein in diesem Jahr vier Anti-Bergbauaktivist_innen ermordet und zahlreiche weitere verletzt. Das Forum organisiert die widerständige Gemeinde Capulalpam de Méndez zusammen mit dem „Oaxaca-Kollektiv für die Verteidigung der Territorien“, einer Allianz aus sozialen Organisationen. Es werden rund 300 Teilnehmer_innen aus verschiedenen Ländern erwartet. Zur Deckung der Kosten für Anfahrt, Unterkunft, Verpflegung und Materialien fehlen noch 8.000 Euro. Die Organisator_innen bitten um internationale Unterstützung zur Deckung dieser Kosten. Bitte überweist Eure Spende bis spätestens Ende 2012. Besten Dank für eure Solidarität!
Bankverbindung:
CAREA e.V. / Konto-Nr. 753671607 / Postbank Frankfurt / BLZ 500 100 60 /Stichwort: „Oaxaca“

Belohnung für Angriffe

Fast scheint es so, als sollte mit einem erneuten Übergriff der Jahrestag des letzten begangen werden. Am Morgen des 6. September begann eine bewaffnete Gruppe, Ackerland der zapatistischen Neuen Siedlung Comandante Abel im Autonomen Landkreis La Dignidad (Nördliche Zone von Chiapas) zu besetzen und ein Camp aufzubauen. Im Laufe des Tages feuerte sie mehrere Schüsse ab. Am Tag darauf war die Zahl der Belagerer von 55 auf 150 angestiegen. Als einer der Zapatisten sein Haus verließ, um die Besetzer zu beobachten, wurde er unter anderem mit einem Gewehr des Typs AR-15 beschossen. Kurze Zeit später umstellte die Gruppe das Dorf. Der 8. September begann für die Zapatist_innen ebenfalls mit Schüssen, so dass sich eine Gruppe von Frauen, Kindern und Älteren in die Berge und von dort in ein Nachbardorf aufmachte, um sich in Sicherheit zu bringen.
Die Siedlung war zu diesem Zeitpunkt knapp ein halbes Jahr alt, ihre Bewohner_innen waren zuvor aus der Gemeinde San Patricio weggezogen, nachdem dort die Einschüchterungen und Übergriffe durch eine andere bewaffnete Gruppe nicht aufzuhören schienen. Diese erste Belagerung am 10. September 2011 hatte auf ähnliche Weise begonnen wie in diesem Jahr. Zeitgleich zu den Bewohner_innen der Neuen Siedlung Comandante Abel verließ eine Gruppe von Zapatist_innen in der nahegelegenen Gemeinde Unión Hidalgo ebenfalls ihr Hab und Gut, nachdem sie von ihren Nachbar_innen mehrere Male mit dem Tode bedroht worden waren.
Der zuständige Rat der Guten Regierung von Roberto Barrios, Organ der regionalen autonomen zapatistischen Selbstverwaltung, sah sich genötigt, innerhalb von drei Wochen dreimal öffentliche Erklärungen über das Schicksal der von den Übergriffen betroffenen Zapatist_innen und die Situation in den betroffenen Dörfern abzugeben. Doch auch die anderen vier Räte der Guten Regierung mussten in den letzten Monaten mindestens einmal zur Feder greifen, um Vorfälle aus ihrer Region bekannt zu machen. Die Zunahme von Konflikten zwischen der zivilen Basis der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) und anderen Gruppierungen geht einher mit anderen aufflammenden Konflikten in Chiapas. Dass dies mit dem Ende der Regierungszeit des chiapanekischen Gouverneurs Juan Sabines und des Präsidenten Felipe Calderón zusammenfällt, ist allerdings nicht verwunderlich, denn es kam in Mexiko häufig vor, dass in der Periode zwischen der Wahl und dem Amtsantritt eines Regierungschefs Konflikte zunahmen beziehungsweise durch die staatlichen Kräfte gewaltsam gelöst wurden.
Dennoch ist die aktuelle Situation in Chiapas und vor allem die der zapatistischen Basis so angespannt wie schon seit Jahren nicht mehr, wenn man die Anzahl der Meldungen der Räte der Guten Regierung sowie deren Inhalte als Maßstab nimmt. In der Region der Cañadas, die am Rande des Lakandonischen Urwalds liegt, schwelen seit mehr als einem Jahr die Streitigkeiten zwischen Zapatist_innen und der Organisation Landwirtschaftlicher Kaffeepflanzer von Ocosingo (ORCAO). Auch hier geht es um Land, allerdings mit gemeinsamer Vergangenheit. Im Zuge des zapatistischen Aufstands 1994 wurden nämlich in dieser Region Ländereien sowohl von der Zapatistischen Nationalen Befreiungsarmee (EZLN) als auch von kleinbäuerlichen Organisationen wie der ORCAO und der Ländlichen Vereinigung kollektiver Interessen (ARIC) besetzt, mitunter sogar gemeinsam. Dass es nun zu Konflikten zwischen der EZLN und diesen Organisationen kommt, hat mehrere Gründe: Zum Einen wird Ackerland immer knapper und dieses ist immer noch die Lebensgrundlage für die indigene Bevölkerung auf dem Land. Die Organisation, die ihren Mitgliedern Land anbieten kann, sichert sich damit die Unterstützung ihrer Basis. Zum Anderen treibt die Regierung weiterhin das Programm zur Zertifizierung und Privatisierung von Gemeindeland voran, das mit der Verfassungsreform von 1992 begann. Sie ermöglichte den Verkauf von Gemeinschaftsland, der vorher verboten war. Diese Reform des Agrarregimes war einer der Gründe für den Zulauf zur EZLN und den darauf folgenden Aufstand. Jedoch haben es die Regierungen seitdem gut verstanden mit einem Mix aus Anreizen und Drohungen immer mehr Gemeinden dazu zu bringen, das Zertifizierungsprogramm mitzumachen.
Hinter den Konflikten stecken öfter Impulse von außen. So zum Beispiel im Fall der Meldung des Rates der Guten Regierung von La Realidad von Mitte August diesen Jahres. Sie berichtet von Drohungen und dem Versuch der Enteignung seitens Anhänger_innen der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) und der Grünen Ökologischen Partei Mexikos (PVEM) aus dem Dorf Veracruz. Bei dem Streitobjekt handelt es sich um eine Lagerhalle, die die Zapatist_innen der Region von La Realidad zur Lagerung von Kaffee und zum Verkauf nutzen. Der Rat der Guten Regierung schildert, dass zwei Männer aus dem Dorf zu ihnen kamen und „sagten, ihre Gruppe wolle die Lagerhalle benutzen, denn die Regierung würde ihnen zwei Projekte geben und sie bräuchten das Gebäude, um mit den Projekten zu beginnen“. Dabei geht es häufig um Regierungsgelder für landwirtschaftliche oder kommunale Zwecke, die den Gemeinden zur Verfügung gestellt werden; Geld, dass die größtenteils von Subsistenzwirtschaft lebenden indigenen Kleinbäuerinnen und -bauern aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation gut gebrauchen können. Die Folge dieser Regierungspolitik ist jedoch eine Zunahme der Spannungen und Konflikte in den Gemeinden mit zapatistischer Präsenz, die von der Regierung zumindest in Kauf genommen wird, wenn nicht sogar gewollt ist.
Die Häufung der Vorfälle in den letzten Monaten und die Art des Vorgehens der Gruppen, die die Zapatist_innen einschüchtern, hat dazu geführt, dass einige, mit der EZLN solidarische Kollektive die Angreifer_innen als paramilitärische Gruppen bezeichnet haben. In der Zeit von 1995 bis 2000 waren in Regionen unter zapatistischem Einfluss mehrere solcher Gruppierungen aktiv, ihre Übergriffe, Morde und Vertreibungen sind von lokalen Menschenrechtsorganisationen dokumentiert worden. Jedoch sei, so Marina Pagès vom Internationalen Friedensdienst (SIPAZ), bei den aktuellen Konflikten Vorsicht angebracht, wenn es um die Bezeichnung der Angreifer_innen gehe. Pagès erklärte gegenüber den LN: „Jeder Konflikt muss in seinem Kontext analysiert werden. Dann wird oft klar, dass es sich um lokale Probleme mit spezifischen Ursachen handelt. Mitunter gehören zu der nicht-zapatistischen Gruppe in einem Konflikt Personen, die früher selbst in der EZLN organisiert waren.“ Nach einer von Menschenrechtsorganisationen gebrauchten Definition sind die Paramilitärs vom Staat aufgebaute, finanzierte und trainierte zivile bewaffnete Gruppen, die die Aufständischen durch Einschüchterungen, Drohungen und Gewalt in ihrem Wirken eindämmen sollen. Dies traf auf Gruppierungen in den 1990er Jahren zu, ist jedoch nach bisher bekannten Informationen bei den aktuellen Konflikten eher nicht zutreffend.
Auf der Suche nach Ursachen für die Häufung der Übergriffe auf zapatistische Gemeinden hat Marina Pagès eine weitere Erklärung parat. Die Koordinatorin von SIPAZ, der im Bereich der Beobachtung und Konfliktbearbeitung seit 1995 in den indigenen Gebieten von Chiapas arbeitet, verweist gegenüber LN auf die „Lösung“ anderer Landkonflikte in den letzten Jahren: „Im Fall von San Patricio 2011, sowie bei anderen Landstreitigkeiten hat die chiapanekische Regierung Verhandlungen mit den Angreifern geführt und diesen Landtitel gegeben. So wurden sie im Endeffekt für ihre Taten mit Land belohnt. Dies könnte dazu geführt haben, dass andere Gruppen in letzter Zeit mit der Aussicht auf eine solche Belohnung ebenso diese Strategie der Belagerung und Einschüchterungen für aussichtsreich gehalten haben.“ Pagès hält es auch für möglich, dass die Konflikte, deren Zunahme in den Zeitraum nach der Präsidentschafts- und Gouverneurswahl vom 1. Juli fällt, den verursachenden Gruppen Vorteile bei Verhandlungen verschaffen, da diese Demonstration der Stärke dazu führe, dass sie von der Regierung ernst genommen würden.
Weitere Nutznießerin der Konflikte ist die Regierung des scheidenden Gouverneurs Juan Sabines Guerrero (PRD). Seine Amtszeit endet am 7. Dezember. Indem er seinem Nachfolger Manuel Velasco Coello die Lösung der Konflikte zusätzlich zu einer Rekordverschuldung von fast 40 Milliarden mexikanischen Pesos hinterlässt, kann Sabines hoffen, vorerst von Untersuchungen verschont zu bleiben, die unter Umständen über mögliche Misswirtschaft, Korruption oder andere strafbare Vergehen während seiner Amtszeit angestellt werden könnten.
Die zunehmenden Konflikte zwischen Zapatist_innen und nicht-zapatistischen Gruppen sind Teil einer komplexen politischen Situation, in der Chiapas und Mexiko ein Regierungswechsel bevorsteht. Sie können, neben den oben aufgeführten Erklärungen, auch als Teil der andauernden Strategie der Aufstandsbekämpfung betrachtet werden. Sofern Manuel Velasco als Gouverneur eine ähnliche Politik verfolgen wird wie Juan Sabines – worauf Aussagen des gewählten Gouverneurs hindeuten – wird sich an dieser Situation in nächster Zeit nicht viel ändern. Offen ist zudem, wie sich mit Enrique Peña Nieto die Rückkehr der Partei der Insitutionalisierten Revolution (PRI) an die Macht auf Bundesebene auf die zapatistische Bewegung auswirken wird. Bisher hat er sich über den noch anhaltenden Konflikt in Chiapas nicht geäußert. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass er im Gegensatz zu seinen Vorgängern an einer Lösung interessiert sein wird. Vielmehr deutet die Ernennung des kolumbianischen Generals Oscar Naranjo – in seiner Heimat war er unter anderem an der Bekämpfung der kolumbianischen Guerilla FARC beteiligt – zum Sicherheitsberater des neuen Präsidenten eher auf eine Fortsetzung der Aufstandsbekämpfung als auf eine friedliche Beilegung hin.

„Welche Art von Demokratie ist das?“

„Asesino!“ – „Mörder!“ schallt es am 31. August über das Gelände des Bundeswahlgerichts (TEPJF) in Mexiko-Stadt. Die Demonstrant_innen werfen Videos der gewaltsamen Repression von Protesten in Atenco (siehe LN 384) und Bilder des damals verantwortlichen Gouverneurs Enrique Peña Nieto an die Wand des Gerichtsgebäudes. Wenige Stunden zuvor, während der Protestzug der Studierendenbewegung #YoSoy132 noch durch Mexiko-Stadt zog, wurde Peña Nieto hier offiziell zum rechtmäßig gewählten Präsidenten Mexikos ernannt. Um die 5.000 Studierende protestierten friedlich unter viel Zuspruch von Passant_innen gegen die Bestätigung des Wahlsieges Peña Nietos. Offiziell haben mehr als 19 Millionen Mexikaner_innen für den Kandidaten der PRI gestimmt, ein deutlicher Vorsprung von 6,6 Prozent zum Zweitplatzierten Andrés Manuel López Obrador von der Partei der Demokratischen Revolution (PRD).
Damit ist der Wahlprozess beendet. Doch soziale Bewegungen haben Widerstand gegen die „Einsetzung“ von Peña Nieto angekündigt, allen voran die immer stärker gewordene Bewegung #YoSoy132 (LN 457/458). In einer Erklärung formulierten die Studierenden offene Fragen: „Welche Art von Demokratie ist das, in der die Menschen auf ihre freie Stimmenabgabe verzichten, nur um einen Tag etwas zum Essen zu haben? Welche Art von Demokratie ist das, in der sieben durch die Parteien gewählte Richter über das Ergebnis der Wahl entscheiden?“ Darauf hatte Gonzales Oropeza, Richter des Bundeswahlgerichts, zuvor eine eigene Antwort gegeben: „Mexiko ist kein Land der caudillos mehr, sondern ein Land mit Institutionen. Wenn dieses Gericht weiter gegangen wäre und jede vage Denunziation statt nur die vorgelegten Beweise untersucht hätte, dann würde es den Rechtsstaat in eine Diktatur der Justiz verwandeln.“
Doch gerade mit dem Wahlsieg der PRI fürchten viele Mexikaner_innen die Rückkehr jener Repression, Korruption und den Missbrauch der Institutionen, mit der die ehemalige Staatspartei das Land 71 Jahre lang regierte. „Ich habe Angst, vor allem vor dem Fanatismus der Parteianhänger, die zu allem fähig sind“, so Rodrigo Serrano, einer der ersten Aktivisten von #YoSoy132. Daher hatten sowohl das linke Parteienbündnis um López Obrador, als auch die noch regierende konservative Partei der Nationalen Aktion (PAN) viel Aufwand betrieben, um das Ausmaß der Wahlmanipulation durch illegale Finanzierung und Stimmenkauf der PRI aufzudecken. Aus Sicht der linken Parteien müsste das Wahlergebnis für ungültig erklärt werden, da die Wahlen weder frei noch authentisch – wie in der Verfassung gefordert – gewesen seien. Aus Sicht des Bundeswahlgerichts wurden hingegen alle gesetzlichen Anforderungen zum Wahlablauf trotz etlicher „Unregelmäßigkeiten“ eingehalten. Formaljuristisch seien die Vorwürfe der Wahlfälschung nicht ausreichend nachweisbar.
Tatsächlich setzte die PRI anstatt technischer Manipulation bei der Stimmenauszählung nicht nur auf die mediale Dauerpräsenz ihres Kandidaten und die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Regierung Calderóns, sondern auch auf die Armut der ländlichen Bevölkerung. In den ärmsten Wahlbezirken ist die Wahlbeteiligung gegenüber der Wahl 2006 überdurchschnittlich gestiegen – zugunsten der PRI. Während beispielsweise im Bundesstaat Chiapas die Stimmenanteile für die anderen Parteien gleich blieben, konnte die PRI einen Zuwachs von 120 Prozent gegenüber 2006 verbuchen. Die Wahlbeteiligung stieg dort um 30 Prozent, für viele ein Indiz des massiven Stimmenkaufs durch die PRI.
Doch den Vorwurf der Verteilung von Geldkarten des Finanzdienstleisters Monex sahen die Richter_innen nicht belegt. Es gebe keine Beweise, dass diese unter der Bedingung für die PRI zu stimmen verteilt worden seien. Die PRI hatte die Existenz der Karten erst wochenlang dementiert und schließlich betont, die Karten nur an Parteimitglieder verteilt zu haben. Das Gleiche gilt für Geschenkgutscheine der Supermarktkette Soriana, die als Gegenleistung für eine Stimme zugunsten Peña Nietos verteilt worden seien. Die Karten waren in vielen Fällen nicht aufgeladen, was zu vereinzelten Protesten bei Soriana-Märkten geführt hatte. Die linken Parteien hatten tausende dieser Karten zusammen mit Zeugenaussagen beim Gericht eingereicht. Die Richter_innen befanden jedoch, dass dies keinen direkten Zusammenhang zwischen der Verteilung der Karten und der Stimmenabgabe beweise. „Im Schutz der geheimen Wahl ist es unmöglich zu beweisen, dass eine Stimme gekauft war“, sieht auch Arturo Nuñez Jiménez, gewählter Gouverneur des Bundesstaates Tabasco (PRD), die juristische Entscheidung ein. Die politische Legitimität der Präsidentschaft Peña Nietos bleibt unabhängig von der rechtlichen Lage umstritten. Denn nicht nur mit Geldkarten und Geschenken kaufte sich die PRI ihre Stimmen, auch Einschüchterungen und Gewaltandrohungen wurden angewandt. In den nördlichen Bundesstaaten haben laut Berichten des Magazins Proceso die hiesigen Drogenkartelle Wähler_innen zur Wahl der PRI gezwungen. In Chihuahua sollen Narcos hunderte Indigene der Rarámuri eingesperrt und gedroht haben, deren Häuser anzuzünden, wenn sie nicht für die PRI stimmen würden.
Am Anfang der neuen Regierungsperiode steht ein tiefer Konflikt. López Obrador erkennt Peña Nieto nicht als Präsidenten an und ruft zu zivilem Ungehorsam auf. Die PAN hingegen akzeptierte die Entscheidung des Bundeswahlgerichtes als „unangreifbar“. Peña Nieto zeigt sich zu Gesprächen mit López Obrador lediglich unter der Bedingung bereit, dass dieser die „durch die Mehrheit der Stimmen der mexikanischen Bevölkerung gewonnene Präsidentschaft“ anerkenne. Gleichzeitig zeigen Proteste wie die von #YoSoy132 die große Unzufriedenheit mit dem Wahlprozess und dem neuen Präsidenten. Die Art und Weise, wie die PRI die Wahlen für sich entscheiden konnte, hat den angeblichen demokratischen Wandel, den Peña Nieto seiner Partei zuschreibt, eindrucksvoll widerlegt. Angesichts dieser Situation sieht Consuelo Rodríguez Sánchez, Professorin der Lateinamerikastudien und Aktivistin bei #YoSoy132, drastischen Handlungsbedarf: „Wir müssen das System der politischen Parteien sowie der politischen Institutionen von Grund auf verändern.“

Die brillante Unmäßigkeit des Carlos Fuentes

Herr Volpi, Sie haben den gerade verstorbenen Carlos Fuentes gut gekannt. War er für Sie auch literarisch ein Vorbild?
Als ich 16 Jahre alt war, las ich Fuentes‘ großen Roman Terra Nostra. Diese Lektüre hat meinen Begriff davon, was Literatur ist, drastisch verändert. Sicher, ich habe später andere Autoren gelesen, die noch mehr riskieren, James Joyce zum Beispiel. Aber ich glaube, es liegt an Terra Nostra, dass ich Schriftsteller geworden bin.

Was hat Sie daran so fasziniert?
Fuentes bringt mehrere Epochen, die unterschiedlichsten Personen und Figuren und alle möglichen Orte zusammen und macht daraus einen irrsinnigen Text, der mir eine exzellente Darstellung unseres rasenden, zyklopenhaften Lateinamerika zu sein scheint. Fuentes hat einmal gesagt, er habe eigentlich nur einen einzigen Roman geschrieben, La edad del tiempo, der sich wie ein Sternbild aus all seinen publizierten Büchern zusammensetzt. Das begreife ich als sein Erbe für mich: die enormen, abgründigen Welten, die er erfand. Und sicherlich nicht nur er, sondern auch die anderen Autoren der Boom-Generation, die mich übrigens auch heute noch begeistern. Dennoch sind es dann wieder einzelne Werke, die mir besonders wichtig waren. Neben der brillanten Unmäßigkeit von Terra Nostra war es vor allem die Erzählung Aura, die mit ihren nur 62 Seiten ein absolut perfekter Text ist.

Aura erschien 1962, Terra Nostra 1975. Haben Sie die späteren Romane von Fuentes nicht mehr so überzeugt?
Es ist wie mit vielen Boom-Autoren: Die frühen Werke sind ihre besten. In den späteren Werken hat Fuentes nicht mehr so viel riskiert, und es wird wohl so sein, dass die Bücher, die ich erwähnt habe, oder auch Romane wie Landschaft in klarem Licht oder Der Tod des Artemio Cruz auf lange Sicht am meisten geschätzt werden.

Was den Schreibstil anbelangt, ist Fuentes ziemlich weit von Ihnen entfernt. Vor allem in seinen frühen Werken ist er mit der Sprache sehr experimentell umgegangen. Ihre Romane scheinen da konventioneller erzählt.
Wie viele Autoren der Gegenwart schreibe ich weniger avantgardistisch, das stimmt. Gerade meine längeren und bekannteren Romane sind vergleichsweise linear erzählt, und es wird an der Oberfläche nicht so sichtbar, wie ich mit der Sprache experimentiere. Für andere Bücher gilt das nicht, beispielsweise für Oscuro bosque oscuro, ein Roman, der in Versform geschrieben ist. Das ist eines der Bücher, die ich selbst besonders mag. Aber er ist schwieriger zu lesen. Sicher ist das ein Grund dafür, dass er nicht ins Deutsche übersetzt wurde.

In Ihren literarischen Werken stellen Sie häufig reale Personen ins Zentrum, in Das Klingsor-Paradox etwa eine Reihe von Atomphysikern der vierziger, fünfziger Jahre, insbesondere Werner Heisenberg. Warum?
Zunächst einmal sind das Stoffe, die mir mehr oder weniger zufällig begegnen und die mich interessieren. Und ich glaube, mit dem fiktionalen Schreiben bieten sich einem auch Möglichkeiten, mit ganz realen Sachverhalten umzugehen. Man formt sie im Roman um und deutet sie zugleich – und das ist genauso viel wert, wie wenn wir das in der Wirklichkeit tun.

In den Kritiken über Das Klingsor-Paradox wurden Sie heftig dafür angegriffen, dass Heisenberg überhaupt nicht so ein Nazi war, wie Sie das im Roman darstellen.
In Buchbesprechungen, die in Mexiko und den USA erschienen, stand gerade das Gegenteil: dass Heisenberg bei mir viel weniger Nazi ist, als er das in Wirklichkeit war. Das zeigt doch, dass auch eine historische Persönlichkeit gar nicht so genau fixiert werden kann.

Aber hätten Sie nicht viel mehr Freiheit, wenn Sie sich von den realen Gestalten lösen würden? Warum riskieren Sie so viel Konflikt?
Weil mich die konkrete Person, zum Beispiel Heisenberg, wirklich interessiert. Der Roman ist eine bessere Form, sich einer Person zu nähern, als eine Biographie oder eine historische Darstellung. Und zwar gerade wegen der Möglichkeit, sich vorzustellen, wie diese Person gewesen sein könnte oder müsste. Das kann man nur in einem fiktionalen Text.

Kommen wir noch einmal auf Carlos Fuentes zu sprechen. Über ihn wurde einmal gesagt, er habe Mexiko für die Welt geöffnet und die Welt für Mexiko. Sie hingegen lassen Ihre Romane häufig außerhalb von Mexiko spielen. Setzen Sie Fuentes‘ Anliegen sozusagen spiegelbildlich fort?
Das weiß ich nicht. Jedenfalls mache ich das nicht bewusst. Ich habe immer über die Themen geschrieben, die mich interessieren – warum das so oft außermexikanische Themen sind, ist mir selbst nicht klar. Aber übrigens sind es auch nur meine fiktionalen Texte, die in Europa oder den USA spielen. Meine Essays beschäftigen sich hingegen mit Lateinamerika und Mexiko.

Auch Fuentes war nicht nur Schriftsteller, sondern auch ein sehr einflussreicher Essayist. Aber man hat ihn in Mexiko in den vergangenen Jahren immer wieder kritisiert, weil er nicht mehr genügend im Lande verankert gewesen sei. Können Sie das teilen?
Nein. Fuentes hat zwar die eine Hälfte des Jahres in London gelebt, die andere aber in Mexiko. Er war voller Neugier und bestens über alles informiert, was in Mexiko vor sich ging. Was allerdings stimmt: Generell hat die Bedeutung der Intellektuellen für die öffentlichen Diskurse in Mexiko nachgelassen. Die Auffassung, dass die politische Meinung eines Schriftstellers sehr wichtig ist – zu nennen wären auch Octavio Paz, Carlos Monsiváis oder Elena Poniatowska –, hat sich verflüchtigt. Hierfür ist die Abwahl des PRI-Regimes von 2000 von großer Bedeutung gewesen. Die Gesellschaft ist seither viel offener geworden, es gibt jetzt viel mehr Persönlichkeiten, deren Stimme wahrgenommen wird: Politologen, Historiker, Leute aus dem Medienbereich. Wir Schriftsteller können zu den öffentlichen Debatten nur noch ganz wenig beitragen.

Kasten:

Jorge Volpi

geboren 1968 in Mexiko-Stadt, ist einer der bekanntesten und produktivsten Schriftsteller Mexikos. Ende der 1980er Jahre gründete er mit Ignacio Padilla, Pedro Ángel Palou und anderen die literarische Gruppe „Generación Crack“.
Der Durchbruch gelang Volpi 1999 mit dem Roman En busca de Klingsor, der mittlerweile in fünfundzwanzig Sprachen übersetzt wurde. Er erschien 2001 bei Klett-Cotta unter dem Titel Das Klingsor-Paradox.
Im selben Verlag liegen vor: Der Würgeengel (2002) und Zeit der Asche (2009). Vier Jahre lang leitete Jorge Volpi den mexikanischen Kultur-Fernsehkanal Canal 22.

Wahltag ist Zahltag

Noch in der Wahlnacht am 1. Juli waren sich Mexikos Massenmedien sicher. Und nicht nur diese: Von Spiegel Online bis zur taz meldeten fast alle deutschen Medien den Wahlsieg von Enrique Peña Nieto von der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI). Zu Beginn der ersten Juliwoche gingen Gratulationen von Staats- und Regierungschefs aus der ganzen Welt bei dem Kandidaten der ehemaligen Staatspartei ein, die Mexiko über sieben Jahrzehnte lang autoritär beherrscht hatte, vor zwölf Jahren den Präsidentensessel aber zugunsten der rechtskonservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN) räumen musste. Glückwünsche kamen nicht nur aus den USA, sondern auch von Dilma Rousseff aus Brasilien, Cristina Kirchner aus Argentien und Angela Merkel. Das Problem: Zu diesem Zeitpunkt gab es nicht einmal ein vorläufiges Endergebnis, die Gratulant_innen aus Medien und Politik formulierten ihre besten Wünsche auf Grundlage einer ersten Hochrechnung. Hinzu kommt, dass der Wahltag von Vorwürfen des Stimmenkaufs und Wahlbetrugs überschattet war.
Bestätigt wurde der Wahlsieg Peña Nietos am 6. Juli dann aber erneut vom Bundeswahlinstitut IFE; auch nach der Neuauszählung etwa der Hälfte der Stimmen. Mit rund 6,6 Prozentpunkten führt der 45-jährige Anwalt (38,2 Prozent) derzeit vor Andrés Manuel López Obrador (31,6 Prozent), dem Kandidaten der moderat linken Partei der Demokratischen Revolution (PRD). Die Kandidatin der regierenden PAN, Josefina Vázquez Mota, landete mit 25,4 Prozent abgeschlagen auf Platz drei und erklärte ihre Niederlage überraschenderweise sehr früh am Wahlsonntag, bevor auch nur die offizielle Prognose veröffentlicht wurde.
Das vorläufige Ergebnis scheint keinen Zweifel an dem Wahlsieger zu lassen, dennoch entspricht dies keineswegs dem Empfinden eines großen Teils der mexikanischen Bevölkerung. „Wir erleben einen tiefen Betrug am mexikanischen Volk“, sagte Enrique Ortiz von der Menschenrechtsorganisation HIC-AL gegenüber den Lateinamerika Nachrichten. So sieht das auch López Obrador, der die Wahl anfechten wird. Dafür nannte er vor allem drei Gründe: Erstens habe Peña Nieto die gesetzlich gedeckelten Wahlkampfausgaben um ein Vielfaches überschritten und dabei auch Steuergelder aus PRI-regierten Bundesländern illegal in seine Kampagne und in den Stimmenkauf fließen lassen. Zweitens bezieht sich López Obrador auf die vom britischen Guardian angestoßene Berichterstattung über Absprachen zwischen dem Aufsichtsrat des Medienkonzerns Televisa und der PRI-Führung. Bereits seit 2005 sollen dessen Medien den PRI-Kandidaten bevorzugt behandelt und dessen Kandidatur unterstützt haben. Dazu sollen insgesamt mehr als eine Milliarde US-Dollar geflossen sein. Und schließlich sei es am Wahltag und der Stimmenauszählung zu massiven Unregelmäßigkeiten gekommen. Der PRD-Politiker sprach davon, dass aus 113.000 der insgesamt gut 140.000 Wahllokale Unregelmäßigkeiten gemeldet wurden.
Indizien und Belege für zahlreiche dieser Vorwürfe gibt es bereits heute, aber seine Unterstützer_innen in der vor gut zwei Jahren gegründeten und heute nach eigenen Angaben mehr als vier Millionen Mitglieder zählenden Bewegung zur Erneuerung Mexikos (Morena) sammeln weiter Beweise. Unabhängig von diesen sind vor allem Jugendliche in Mexiko und dem Rest der Welt aktiv, die Wahlergebnisse in Eigenorganisation auf anderem Wege zu überprüfen: Auf Anregung der Studierendenbewegung #YoSoy132 haben sie Fotos von den Plakaten mit den Ergebnissen fast aller Wahllokale Mexikos gemacht – die Ergebnisse werden nach dem Wahlgesetz nach Abschluss der Zählung ausgehängt – und tragen diese nun in einer internetbasierten Datenbank ein, um sie mit den offiziellen Resultaten abzugleichen.
„Von einer geregelten Wahl kann keine Rede sein, denn es gab am Wahltag Schießereien in verschiedenen Landesteilen, dabei kamen wenigstens drei Menschen ums Leben, es gab bewaffnete Überfälle auf Wahllokale und Urnen wurden gestohlen“, sagte Paloma Saiz von Morena. Und natürlich ist der Stimmenkauf, vor allem durch die PRI, ein Thema. Mitglieder der PRD und der scheidenden Regierungspartei PAN präsentierten bereits vor der Wahl zahlreiche Beispiele dafür. Neben Lebensmittelpaketen mit Werbematerial und Pesoscheinen, Telefonkarten mit dem Konterfei von PRI-Kandidat_innen, sorgen vor allem der Einsatz von 10.000 mit Guthaben versehene Geldkarten des Monex-Finanzdienstleisters und mehr als zwei Millionen Geschenkgutscheine der Supermarkt-Kette Soriana für Wirbel. Trotz der von der PAN vorgelegten Indizien sah das IFE sich nicht genötigt, die mit der PRI in Verbindung gebrachten Monex-Konten vor der Wahl zumindest einzufrieren. In den Tagen nach der Wahl kam es in Soriana-Märkten zu Tumulten, da offenbar die Furcht herrschte, die von der PRI „verschenkten“ Gutscheine könnten ungültig gemacht werden. Die von der PRD gestellte Regierung von Mexiko-Stadt schloss deshalb aus Sicherheitsgründen zeitweilig einige dieser Supermärkte. Die PRI weist den Vorwurf des Stimmenkaufs indes zurück.
Dennoch gibt es Berichte von Stimmenkauf und Druck bei der Stimmabgabe aus allen Teilen des Landes. Die Berichte der in der Mehrzahl der Bundesstaaten aktiven Organisation Bürgerliche Allianz, die sich seit den ebenfalls umstrittenen Wahlen 1994 für Demokratisierung in Mexiko engagiert, sind nur ein Beispiel. Neben Stimmenkauf, Erpressung und bewaffneter Bedrohung in den Wahllokalen sollen von der PRI auch Kinder zur Wahlfälschung eingesetzt worden sein. Diese sogenannten „Falkenkinder“ im Alter von acht bis zehn Jahren, wurden laut Berichten dazu missbraucht, Wähler_innen beim Urnengang zu begleiten, um danach einem Mittelsmann von deren Votum zu berichten. Der Preis für eine Stimme soll hier bei nicht mehr als 100 bis 200 mexikanischen Pesos (umgerechnet 6 bis12 Euro) gelegen haben.
Doch nicht nur die PRI wird dieser Praktiken angeklagt. „Fraglos kann die PRI das am besten, aber auch andere beteiligen sich daran“, sagte der Autor und Anthropologe Héctor Díaz Polanco. Im Bundesstaat Veracruz habe es zum Beispiel eine gezielte Intervention von Verwaltungsangestellten der PAN-Staatsregierung gegeben, diese hätten das staatliche Hilfsprogramm „Oportunidades“ für Stimmenkauf genutzt, berichten Aktivist_innen des Zivilien Netzes Veracruz. Einer von ihnen ist Francisco Dominguez: „Uns wurde von Verwaltungsangestellten berichtet, welche die Dorfbevölkerung auf öffentlichen Plätzen zusammenriefen und ihnen einen 90-minütigen Propagandafilm mit dem Titel „Warum López Obrador eine Gefahr für Mexiko darstellt“ vorführten. Die Hilfsprogramme werden auf allen Ebenen für Klientelismus und Stimmenkauf missbraucht. Aus anderen Landesteilen gibt es Berichte, dass auch PRD-Regierungen Stimmenkauf betrieben haben sollen, insbesondere dort, wo die PRD-Politiker_innen ehemalige PRI-Mitglieder sind.
Andrés Manuel López Obrador, der bereits bei den letzten Wahlen 2006 von Betrug gesprochen hat, hat Recht, wenn er die nicht vorhandene Chancengleichheit im Wahlkampf beklagt. Die Masse von elektronischen und Print-Medien intervenierte offen zugunsten von Enrique Peña Nieto und das Überschreiten des Limits für Wahlkampfausgaben wird zumindest für ein ganzes Jahr überhaupt keine Folgen haben. „Aber ich befürchte, es hat dieses Mal gar keinen technischen Betrug wie 1988 und 2006 gegeben“, sagte Héctor Díaz Polanco, Autor des Buches zum mutmaßlichen Wahlbetrug 2006 „Die Küche des Teufels“: „Und wenn sich jetzt herausstellt, dass es keinen technischen oder kybernetischen Betrug gab, dann hat die Linke in Mexiko ein echtes Problem. Denn dann wird sie es sehr schwer haben, gegen das korporatistische System der PRI zu bestehen und irgendwann einmal eine Mehrheit zu gewinnen.“
Die Indizien für einen technischen oder kybernetischen Betrug waren bei Redaktionsschluss indes nicht widerlegt. Offenbar gab es in vielen Fällen bei der Übermittlung der Daten aus den Wahllokalen an die zentrale Datenbank des IFE zahlreiche „Tippfehler“. Sollte das tatsächlich ein größeres Problem sein, so dürfte das die Zivilgesellschaft bei ihrem unabhängigen Stimmennachzählen belegen können. Die kommenden Wochen versprechen also spannend zu bleiben. Erst im September wird das IFE das offizielle Endergebnis der Wahlen verkünden, am 1. Dezember soll dann der neue Präsident vereidigt werden.
Herausgefordert von einer breiten Protestbewegung zeigt sich Peña Nieto indes versöhnlich und moderat. Er „respektiere andere Meinungen“ und werde für „alle Mexikaner“ regieren, zudem kündigte er an, in seine Regierung auch Vertreter_innen der Oppositionsparteien einladen zu wollen. Der Politikanalyst Francisco Pérez Arce hält das für ein falsches Bild: „Peña Nieto hat nach außen eine anderes Gesicht, aber er vertritt die alte PRI. Das sah man deutlich bei seinem Patzer am 11. Mai, als er die Repression von Atenco verteidigte und damit die Initialzündung für die Gründung der Studierendenbewegung #YoSoy132 gab“.
Gleichzeitig blickt Pérez Arce optimistisch in die Zukunft: „Wir erleben eine Gesellschaft in Bewegung und eine Bewegung im Aufbau. In seiner Wahlkampagne bekam López Obrador so viel Zuspruch wie nie zuvor. Und ich rede nicht nur von 1,5 Millionen Menschen auf der Abschlusskundgebung in der linken Hochburg Mexiko-Stadt. In Monterrey sprach er stets vor vollen Plätzen und dort gab es bisher keine merkliche Präsenz der progressiven Kräfte. Und heute stellt diese neue Bewegung den Sieg von Peña Nieto in Frage.“
Dennoch scheint es heute wenig realistisch, dass die Wahlen vom 1. Juli etwa durch Beschwerden annulliert werden könnten. „Aber mit Morena haben wir ein politisches Mittel, um die sogenannten Reformen von Peña Nieto zu stoppen“, sagte die Morena-Aktivistin Paloma Saiz. Morena solle sich mit #YoSoy132 verbinden und gemeinsam für mehr Demokratie und Transparenz streiten. Als gemeinsame Ziele sieht Saiz die Abwehr der „Energiereform“, zu der auch die Privatisierung des staatlichen Erdölkonzerns PEMEX gehört, die „Arbeitsreform“, welche auf die Reduzierung der Arbeitsrechte zielt sowie das Fiskalpaket. Letzteres sieht nicht nur eine generelle Mehrwertsteuererhöhung vor, sondern auch die Einführung der Mehrwertsteuer auf Medikamente und Lebensmittel. Hinzu komme die Abwehr der „Bildungsreform“, welche das bereits am Boden liegende öffentliche Schulsystem weiter zugunsten von Privatschulen ausbluten lassen solle. „Für diese Ziele müssen sich Linke und soziale Bewegung jetzt organisieren“, fordert Paloma Saiz.
Mit Blick auf Wählerstimmen haben sie dafür viel Zeit. Erst im Jahr 2018 bietet sich wieder die Chance für die Linke, erstmals die Bundesregierung zu erobern. Falls das per Wahl in Mexiko überhaupt möglich ist.

„Innerhalb des Systems intelligent agieren“

Die Bewegung #YoSoy132 umfasst mehr als 131. Wie viele haben sich bislang der Bewegung angeschlossen?
Eine genaue Zahl zu nennen ist schwierig, da man sich uns über seine Schule oder Universität anschließt. Momentan sind das etwa 150 im ganzen Land. Ich würde sagen, die Zahl der Aktivisten lässt sich auch anhand unserer Popularität in den sozialen Netzwerken definieren. Das betrifft auch viele Menschen im Ausland (auf Facebook zum Beispiel sind es derzeit ca. 158.000 „likes“, Anm. d. Red.). Eine andere Idee von unserer Größe bekommt man über die Teilnehmerzahlen bei den Demonstrationen.

Wie ist die Bewegung intern organisiert und wie trefft ihr Entscheidungen?
Das höchste Entscheidungsorgan sind die Generalversammlungen, die jeweils an einer Universität stattfinden. Von jeder Schule oder Universität sind dort zwei Sprecher eingeladen, die vorher auf eigenen Versammlungen autorisiert wurden. Auf der Generalversammlung selbst wird ein Gremium gewählt, das diese eine Versammlung koordiniert. Dort werden auch die Vereinbarungen diskutiert, die auf den lokalen Versammlungen geschlossen wurden. Diese sind bei ihren Entscheidungen autonom, solange sie nicht gegen die Grundprinzipien der Bewegung verstoßen. Zudem kann auch jede lokale Versammlung selbst entscheiden, ob sich nur Leute aus der eigenen Schule oder Universität beteiligen können oder auch aus der übrigen Gesellschaft.

Arbeitet ihr mit anderen Bewegungen oder Organisationen zusammen?
Es gibt Diskussionen, ob wir mit anderen Organisationen zusammenarbeiten sollen, aber momentan machen wir das nicht. Es geht darum, die Bewegung frei von Einflüssen zu halten, da diese manchmal auch kontraproduktiv sein können. Auf Demonstrationen oder anderen Veranstaltungen schließen sich bisweilen andere Organisationen an, wie die SME (Mexikanische Elektriker_innengewerkschaft, Anm. d. Red.), die compañeros von Atenco oder andere, die wir willkommen heißen. Definitiv ausgeschlossen sind Organisationen, die eine Partei oder einen Kandidaten unterstützen. Falls Peña Nieto gewinnt, würden wir allerdings eine direktere Zusammenarbeit mit anderen Bewegungen suchen.

Warum ausgerechnet dann?
Es ist bereits ein Treffen mit anderen Organisationen in Planung, von dem ich aber noch nicht viel verraten kann. Klar ist aber, dass wir im Falle eines Sieges Peña Nietos ein deutlich breiteres und stärkeres Bündnis brauchen – angesichts der großen Bedrohung, die ein Sieg dieses Kandidaten bedeuten würde.

Was sind momentan die zentralen Forderungen und Ziele von #YoSoy132?
Es gibt eine Arbeitsagenda für die Zeit nach den Wahlen. Doch momentan geht es uns um die Wahrhaftigkeit und Unparteilichkeit aller Medien, vor allem aber von Televisa. Wir wollen saubere und transparente Wahlen. Die Leute sollen zur Wahl gehen, aber mit Verstand und informiert. Wir selbst haben keine offzielle Präferenz und geben keine Wahlempfehlung zugunsten eines bestimmten Kandidaten ab.

Aber ihr seid doch gegen Peña Nieto, oder?
Eben habe ich mich auf die Bewegung als Ganzes bezogen. Wie gesagt kann aber jede lokale Versammlung eigene Forderungen aufnehmen, solange diese nicht gegen die Grundprinzipien verstoßen. Aber klar, auch wenn dieser Punkt viel Streit provoziert hat, wurde beschlossen, dass wir gegen Peña Nieto sind. Immerhin hat er unsere Bewegung erst ausgelöst.

Die PAN-Kandidatin Josefina Vásquez Mota war Bildungsministerin. Wäre sie angesichts der katastrophalen Situation im Bildungswesen nicht für viele Studierende oder Schüler_innen die größere Zielscheibe gewesen?
Auch wenn wir mit vielen Politikern nicht einverstanden sind – das drückt sich auch in verschiedenen Formen wie Plakaten aus – so konzentrieren wir uns darauf, Peña Nieto anzugreifen.

Ihr habt eine Kandidat_innendebatte organisiert, an der außer Peña Nieto alle Kandidat_innen teilgenommen haben. Wodurch unterschied sich diese von den Debatten, die von den Fernsehstationen organisiert wurden?
Durch den Inhalt. Ich denke, dass die Kenntnis über die Themen und die soziale Realität bei den Studierenden und Professoren der Universitäten deutlich größer ist als bei den Personen, die die verschiedenen Formen von Macht ausüben. Die Vorbereitung und die Diskussion über die Themen, die behandelt werden sollten, waren sehr gut. Allerdings ähnelte die Debatte selbst aufgrund der Zeitbegrenzung und des Formats doch etwas den bekannten. Schließlich haben alle Kandidaten „schön” geantwortet, um gut dazustehen, auch wenn sie nicht ehrlich waren. Ein wichtiges Merkmal war aber, dass die Gesellschaft als Ganzes partizipieren konnte und dass die Studierenden die Fragen sehr akademisch aufbereitet haben.

Wahlprozesse in Mexiko sind sehr fragwürdig. Verleiht ihr mit eurer selbst organisierten Kandidat_innendebatte den Wahlen beziehungsweise dem_der Wahlsieger_in nicht auch eine gewisse Legitimation?
Das kann sein, wir haben sogar mit dem IFE (Bundeswahlinstitut, Anm. d. Red.) zusammengearbeitet. Wir haben beschlossen, das IFE momentan nicht zu diskreditieren, sondern stattdessen am Wahltag als Beobachter und alternative Stimmauszähler mitzuarbeiten. In einem offiziellen Dokument haben wir dem IFE eine „letzte” Chance gegeben, seinen Aufgaben ordentlich nachzukommen. Daran lässt sich ablesen, dass wir durchaus nicht glauben, dass es dies immer tut. Aber in bestimmter Weise erwarten wir, dass sich das IFE am Wahltag unparteiisch verhält. Falls nicht, müssen wir unsere Haltung ändern.

Wie kann man nach der höchst umstrittenen Rolle des IFE bei den Wahlen 2006 noch so viel Vertrauen haben?
Weder ich noch viele andere Aktivisten der Bewegung haben das. Doch als Gesamtbewegung haben wir vereinbart, intelligent innerhalb des Systems zu agieren anstatt radikal anzutreten. Derzeit gilt es, Misstrauen zu vermeiden und Akzeptanz sowie Unterstützung seitens der Gesellschaft und sogar der Massenmedien zu erhalten.

Wie wollt ihr verhindern, dass eure Bewegung nach den Wahlen die Aufmerksamkeit der Leute verliert oder gar zerfällt?
Es gibt bereits ein breites Themenfeld jenseits der Wahlen, für das wir kämpfen wollen. Dazu gehören die Verteidigung der Rechte der indigenen Völker, nationale Wirtschaftsthemen, Sicherheit, Bildung und andere. Zudem wollen wir unabhängig vom Wahlsieger dessen Politik überwachen. Dafür gibt es schon eine eigene Kommission. Die meisten von uns sind überzeugt, dass unsere Bewegung bestehen bleibt.

Wie könnte denn die Macht der großen Fernsehstationen eingegrenzt werden?
Zum einen über den gesetzlichen Weg. Es soll Raum für mehr Konkurrenten geben, um das Duopol von Televisa und TV Azteca zu eliminieren. Zum anderen, und das wäre mein Ideal, durch mehr Bildung für alle Menschen, unabhängig von ihrem Alter oder ihren finanziellen Möglichkeiten. Auf diese Weise verlieren die großen TV-Stationen automatisch ihre Macht, die sie dazu ausnutzen, die Ignoranz in Mexiko zu verwalten. Als dritten Punkt setzen wir auf das Internet und die sozialen Netzwerke, die die Macht der TV-Stationen immer mehr schmälern. Das zeigt die Entwicklung unserer Bewegung.

Kasten:

Die Bewegung #YoSoy132 entstand als Konsequenz eines Wahlkampfauftritts von Enrique Peña Nieto an der Iberoamerikanischen Universität in Mexiko-Stadt am 11. Mai. Der Kandidat der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) wurde dabei für den brutalen Polizeieinsatz in Atenco im Jahr 2006 kritisiert, den er als damaliger Gouverneur des Bundesstaates Estado de México zu verantworten hatte. Die Polizei erschoss damals zwei Demonstranten, folterte und vergewaltige viele Festgenommene, darunter mehrere Studentinnen (siehe LN 385). Da Peña Nieto jegliche Kritik von sich wies, musste er unter „Mörder“-Rufen durch den Hinterausgang fliehen. Später behaupteten PRI-Politiker_innen, bei den Protestierenden handele es sich nicht um Studierende, sondern um bezahlte Anhänger_innen anderer Parteien. In einem Youtube-Video bewiesen 131 Studierende anhand ihrer Universitätsausweise das Gegenteil. Über soziale Netzwerke und andere Internetseiten solidarisierten sich daraufhin zahlreiche Unterstützer unter dem Motto „YoSoy132“ („Ich bin 132“) mit den Studierenden. Die Bewegung war geboren.
Am 23. Mai verabschiedeten die Aktivist_innen ihr Manifest. Eine zentrale Forderung ist die Einschränkung der Macht der zwei großen Fernsehsender Televisa und TV Azteca. Besonders Televisa hatte im Wahlkampf eindeutig den PRI-Kandidaten unterstützt. Des Weiteren tritt die Bewegung für einen sauberen Wahlprozess ein, ein Dauerthema in Mexiko. Wie ernst die Bewegung innerhalb kürzester Zeit von der etablierten Politik genommen wurde, zeigt sich daran, dass mit Ausnahme von Peña Nieto alle Präsidentschaftskandidat_innen an der Debatte teilnahmen, die #YoSoy132 am 7. Juni veranstaltete. Zwar verweigerten sich die großen TV-Stationen, doch kleinere Sender sowie mehrere Internetportale übertrugen die Debatte, bei der die Bürger_innen zuvor Fragen einreichen konnten.
Mehr Information: http://yosoy132.mx

Zwischen Autonomie und Manipulation

Indigene Autonomie ist ein heißes Thema in Oaxaca, seit im Sommer 2010 die Vier-Parteien-Allianz von Gabino Cué die Gouverneurswahlen gewonnen hat und viele Schlüsselfiguren aus der Indigenenbewegung in die neue Landesregierung gewechselt sind. So ist der ehemalige Chef der Indigenenorganisation Ser Mixe, Adelfo Regino, neuer Minister für Indigene Angelegenheiten. Für die Zapatist_innen war er in den 1990er Jahren als Berater in den Verhandlungen mit Vertreter_innen des mexikanischen Staates über eine Verfassungsänderung tätig. Der Gesetzesentwurf scheiterte zwar 2001 am Widerstand der Parteien PAN, PRI und PRD im Kongress, aber zehn Jahre später bemühen sich in Oaxaca einige der ursprünglichen Protagonist_innen um eine Umsetzung auf Länderebene.

Im südlichen Bundesstaat Oaxaca erklärt sich die Hälfte seiner Bewohner_innen einer der 17 verschiedenen indigenen Ethnien zugehörig. Zudem ist der knapp vier Millionen Einwohner_innen zählende Staat einer der ärmsten Mexikos. In starkem Kontrast hierzu steht der Reichtum an Bodenschätzen und natürlichen Ressourcen, die sich zumeist auf den Territorien der indigenen Bevölkerung befinden – doch bei der Ausbeutung werden die dort lebenden Menschen noch immer nicht konsultiert oder am Gewinn beteiligt.

Aufgrund seiner unzugänglichen Geographie und einer Geschichte hartnäckigen Widerstands gegen Besatzer_innen hat sich gerade in Oaxaca eine große Vielfalt an indigenen Sprachen und kulturellen Praktiken entwickelt. Heute noch sind es die Selbstversorger_innen-Gemeinden von Zapoteken, Mixes, Mixteken, Triquis, Chinanteken und Chontales, wo die Usos y Costumbres, ein „Gewohnheitsrecht“, das Zusammenleben in der Dorfgemeinschaft organisiert. Dieses Gewohnheitsrecht ist nicht einheitlich, doch sind einige Elemente besonders charakteristisch: das Cargo-System, die Asamblea, Tequio und Gozona, sowie eine auf Opfer-und-Täter-Ausgleich basierende Justiz.

Das Cargo-System stellt eine Hierarchie politischer und religiöser Ämter dar. Jugendliche in der Pubertät übernehmen Boten- und Polizeiaufgaben und erst in fortgeschrittenem Alter werden Posten wie Agente (Gemeindevorstand) und Alcalde (Richter) übernommen. Die wichtigen Ämter werden meist jährlich durch die Gemeindeversammlung bestimmt, in der volljährige Gemeindemitglieder, aber oft nur jene mit eigenem Landtitel, eine Stimme haben. Sämtliche Amtsinhaber_innen in durch Usos y Costumbres verwalteten Gemeinden verrichten ihren Dienst an der Gemeinschaft ohne Bezahlung und können jederzeit von der Gemeindeversammlung abberufen werden. Trotz der basisdemokratischen Elemente sind Frauen sowohl als Stimmberechtigte als auch als Amtsinhaberinnen eine Seltenheit. Eine Ausnahme bilden zumeist Witwen oder jene wachsende Zahl Frauen, deren Männer in die USA oder den Norden Mexikos migriert sind.

Tequio ist ein unentgeltlicher Dienst der an Wochenenden gemeinsam verrichtet wird. Dies kann die Instandhaltung der Gemeindegrenze oder die Reparatur einer durchs Dorf führenden Straße sein. Gozona hingegen ist eine Arbeitsleistung für Verwandte oder Nachbar_innen, beispielsweise bei der Ernte, die bei Gelegenheit durch eine entsprechende Gegenleistung entgolten wird.

Die Rechtsprechung nach Usos y Costumbres ist von allen beschriebenen Elementen des Gewohnheitsrechts von größter Relevanz für die Beziehung zwischen Staat und indigenen Völkern, da sie die staatliche Rechtsprechung ersetzt. Entsprechend ist sie integraler Bestandteil jeglicher Forderungen nach indigener Autonomie in Mexiko. Auf vermeintliche Normenverstöße folgt in der Regel ein 24-stündiger Aufenthalt des Delinquenten im Dorfgefängnis. Die Gerichtsverhandlung vor einem Gremium aus Dorfautoritäten findet am folgenden Abend in Anwesenheit des Opfers statt und zielt auf eine Entschädigung ab, die künftige Konflikte und Racheakte zu vermeiden sucht.

Obwohl die Ursprünge des indigenen Gewohnheitsrechts weit vor der Eroberung durch die Spanier liegen, entstammen viele seiner Elemente der Kolonialzeit. Weitere kamen mit den Verwaltungsstrukturen für kollektiven Landbesitz hinzu, die sich mit der Landreform im Zuge der Mexikanischen Revolution etablierten.

In den 1970er Jahren begann sich republikweit ein indigenes Selbstbewusstsein zu artikulieren, das sich in Oaxaca mit der Gründung von Basisorganisationen und Piratenradios manifestierte, die in indigenen Sprachen sendeten. Der eigentliche Durchbruch kam erst 1994 mit dem Zapatistenaufstand. Motiviert durch die landesweiten Kampagnen der indigenen Rebell_innen und die Medienaufmerksamkeit, entstanden überall neue Strukturen indigener Selbstorganisation. Interne Debatten darüber, wie indigene Autonomie in Mexiko konkret aussehen könne, wurden auch außerhalb von Chiapas auf großen multiethnischen Zusammenkünften wie dem Congreso Nacional Indígena geführt und entsprechende Forderungen formuliert.

Der Staatsapparat reagierte darauf mit Repression und jenen Strategien der Vereinnahmung, die der PRI über viele Jahrzehnte die Kontrolle über die ländliche Peripherie gesichert hatten. In Oaxaca wurden so Mitte und Ende der 1990er Jahre von den PRI-Regierungen Diódoro Carrascos und José Murats Gesetze verabschiedet, die den indigenen Gruppen Oaxacas weitergehende Autonomierechte einräumten als irgendwo sonst in der Republik. Zeitgleich und beauftragt durch dieselben Regierungen wurde indigene Selbstorganisation durch Bespitzelung, politische Morde und den Einsatz von Polizei und Militär unterdrückt und zerschlagen.

Vor allem die Gesetzesnovellen zum Wahlrecht führten zu drastischen Veränderungen der Praxis in den 570 municipios von Oaxaca, von denen inzwischen 418 nicht mehr über das Parteiensystem, sondern mittels Usos y Costumbres ihre Verwaltung bestimmen. Was auf den ersten Blick wie ein Erfolg indigener Selbstorganisation aussieht, gestaltet sich bei genauerem Hinsehen ambivalent. So hatte die PRI in den Wahlen vor der Gesetzesänderung auf dem Land viele Stimmen an Oppositionsparteien verloren und die Initiative mutet an wie ein geschickter Schachzug, mit dem Ziel, den selben Cliquen die Macht zu erhalten, die auch schon mit Hilfe der PRI staatliche Gelder und Land unter ihrer Kontrolle hatten. Zudem laufen gewohnheitsrechtliche Abstimmungen trotz ihrer basisdemokratischen Elemente oft Prinzipien der Gleichberechtigung zuwider, wenn nur etablierten Familienvätern mit Landtiteln ein Stimmrecht eingeräumt wird. Ein weiterer kritischer Punkt liegt in der Möglichkeit der Staatsregierung, bei Konflikten innerhalb der Gemeinde die gewählten Autoritäten abzuberufen (desaparición de poderes) und eine_n Verwalter_in einzusetzen, die in der Regel der stärksten Partei im Landesparlament angehört – in Oaxaca immer noch die PRI. Die Präsenz eines_r externen Verwalter_in verstärkt in der Regel jedoch existierende Spannungen zwischen den Interessengruppen, die mit gewohnheitsrechtlichen Praktiken eventuell hätten gelöst werden können. De facto hat die durch die Einführung der Usos y Costumbres erzeugte Rechtsunsicherheit bei gleichzeitiger willkürlicher Eingriffsmöglichkeit des Staates Konfliktherde geschaffen, die langfristig eine indigene Autonomie in Oaxaca eher verhindern.

Im Sommer 2010 erschütterte ein politisches Erdbeben Oaxaca, als der Kandidat der Oppositionsallianz aus sozialdemokratischer PRD, Convergencia (Mitte-links), PT (links) und konservativ-katholischer PAN, Gabino Cué, die Gouverneurswahlen gegen Eviel Pérez von der PRI gewann. Der neue Gouverneur hatte bei seinem Amtsantritt den Rückhalt weiter Teile der sozialen Bewegung und sorgte dafür, dass viele ihrer erfahrensten Leute in die Regierung übernommen wurden. Allerdings wurden die progressivsten Köpfe nicht auf die einflussreichsten Ministerien verteilt, sondern nahmen vor allem in den Bereichen Menschenrechte, Frauen und indigene Angelegenheiten ihre Arbeit auf.

Das Ministerium für Indigene Angelegenheiten (SAI) wurde zum Sammelbecken ehemaliger Vorkämpfer_innen für indigene Rechte. Eines ihrer erklärten Ziele ist die Umsetzung des Ley Indígena (Indigenengesetz), das zwar bereits 1998 in die Verfassung von Oaxaca aufgenommenen wurde, seither aber – ohne entsprechende Sekundärgesetze – unwirksam blieb und dessen Existenz weiten Teilen der Bevölkerung noch unbekannt ist. Gemeinsam mit den meisten indigenen Organisationen in Mexiko, hat die neue Belegschaft der SAI das Ziel, im Ley Indígena von 1998 nur teilweise enthaltene Rechte in der Sekundärgesetzgebung von Oaxaca zu verankern. Diese beinhalten die Autonomie indigener Bevölkerungsgruppen, samt Rechtssystemen und Territorien.

Dabei werden mit Territorium nicht nur das Land, Bodenschätze und natürliche Ressourcen bezeichnet, sondern auch die auf dem entsprechenden Gebiet vorhandene Kultur, inklusive Sprachen, Anbaumethoden, Cargo-System, Rechtsnormen etc. Die in der Landeshauptstadt ansässige Allianz indigener und Menschenrechts-NGO Colectivo Oaxaqueo en Defensa de los Territorios (Oaxaquenisches Kollektiv zur Verteidigung der Territorien), die seit 2009 existiert und momentan den Widerstand gegen den Bergbau im Tal von Ocotlán begleitet, ist beispielhaft für die Weiterentwicklung und Publikmachung dieses Territorienkonzepts.

Vor der konkreten Umsetzung des Ley Indígena steht eine breit angelegte Informationskampagne, bei der die SAI sich auf ihre Kontakte zu einer Reihe indigener NGOs und deren Basisgemeinden stützt. Allerdings gestalten sich eineinhalb Jahre nach dem Regierungswechsel diese Beziehungen nicht immer einfach, weil die Erwartungen der Basis nach raschen Veränderungen in weiten Teilen unerfüllt geblieben sind. Dies hat seine Ursache vor allem in den völlig anders gelagerten Interessen jener Teile der Regierung, die über Macht und Ressourcen verfügen und die Ministerien für Wirtschaft und innere Sicherheit kontrollieren. Ihnen sind die Interessen ausländischer Großinvestor_innen wichtiger als die der ehemaligen Basis ihrer Kolleg_innen aus der SAI. So hat sich der Gouverneur Cué kurz nach seinem Amtsantritt auf Seiten ausländischer Bergbauunternehmen positioniert, deren Präsenz in Regionen lukrativer Erzvorkommen in den vergangenen Monaten in Oaxaca zu Toten und Verletzten geführt hat. Im Januar und März wurden beispielsweise zwei Aktivisten ermordet, die in der zapotekischen Gemeinde San José Progreso den Widerstand gegen den kanadischen Konzern Fortuna Silver organisierten.

 

(Download des gesamten Dossiers)

 

// Neue Fratze im alten Sumpf

Das politische Elend Mexikos hat ein Gesicht: Enrique Peña Nieto. Der Kandidat der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) verschaffte seiner Partei bei den Präsidentschaftswahlen das ersehnte Comeback, nachdem sie im Jahr 2000 nach 71 Jahren an der Macht abgewählt worden war. Dafür bedurfte es angesichts dürftiger Konkurrenz nicht viel: Die PRI präsentierte sich weitgehend programmfrei, indes mit einem hübsch anzusehenden Kandidaten, einer großangelegten Medienoffensive und einer Menge Zuckerbrot und Peitsche für das überwiegend arme Wahlvolk. Das Kalkül ist aufgegangen: Peña Nieto, als ehemaliger Gouverneur des Bundesstaates Estado de México direkt verantwortlich für die brutale Repression und die schweren Menschenrechtsverletzungen gegen die Bevölkerung von Atenco im Jahr 2006, wird neuer Präsident Mexikos. Das spricht für sich.

Keine Frage: Wahlen in Mexiko ohne Wahlbetrug sind weiter undenkbar. Wieder einmal konnte oder wollte das Bundeswahlinstitut, das eine der bestfinanzierten Behörden seiner Art weltweit ist, nicht für einen Ablauf sorgen, der dem Resultat weitgehende Legitimität verschafft. So ist es kaum verwunderlich, dass der Zweitplatzierte Andrés Manuel López Obrador von der sozialdemokratisch orientierten PRD Einspruch eingelegt hat und Gegner_innen der PRI in vielen Städten Protestdemonstrationen durchführen. López Obradors Niederlage 2006 gegen Felipe Calderón beruhte weithin unumstritten auf Wahlbetrug. Praktiken des Wahlbetrugs sind allerdings keiner der großen mexikanischen Parteien fremd. Es ist eher die Dimension, die den Unterschied macht. Die PRI ist dabei unerreicht. Der Sieg der PRI zeugt fraglos nicht nur von einem immensen Willen zur Macht, sondern auch von einer beachtlichen ökonomischen und politischen Kapazität. Zählt man die unverhohlene Parteinahme des Fernsehduopols von Televisa und TV Azteca für Enrique Peña Nieto hinzu, kann man den Klagen über die unfairen und unfreien Wahlen nur beipflichten.

Dennoch: Der reflexhafte Aufschrei der parlamentarisch orientierten Linken, die Wahlbetrug und Medienmanipulation als Ursachen ihrer Niederlage ausmachen, greift nicht nur als Erklärung zu kurz, sondern lenkt auch von den eigenen Unzulänglichkeiten ab. Tatsächlich ist es López Obrador und seiner PRD zu keinem Zeitpunkt gelungen, sich als ernsthafte bundesweite politische Alternative zu dem Sumpf aus Korruption und Gewalt zu etablieren, der Mexikos Politik ausmacht. Das liegt nicht nur daran, dass die PRD auf das Spiel der PRI eingegangen ist und ebenfalls einen oft sinnentleerten, auf ihren Kandidaten zentrierten Wahlkampf geführt hat. Es liegt vor allem daran, dass die PRD mit Skandalen um gefälschte parteiinterne Wahlen, der Fortsetzung der repressiven Politik ihrer Vorgänger dort, wo sie regiert sowie einer mehr als fragwürdigen Bündnispolitik mit der rechtskonservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN) in verschiedenen Bundesstaaten auf sich aufmerkam gemacht hat. Sie hat sich damit noch deutlicher als das entlarvt, was sie in den Augen der zapatistischen „Anderen Kampagne“ von 2006 schon immer war: ein weiterer Akteur im selben Zirkus.

Der Zirkus vermag schon lange keine Begeisterung mehr zu wecken. Lag im Wahljahr 2006 angesichts des sicher geglaubten Sieges von López Obrador, der zapatistischen „Anderen Kampagne“ oder des Volksaufstandes im Bundesstaat Oaxaca eine gewisse Aufbruchstimmung in der Luft, war dieses Mal die Sehnsucht der meisten Menschen nach der Vergangenheit spürbar. Die über 60.000 Ermordeten der letzten sechs Jahre im Rahmen des sogenannten Drogenkrieges zeugen von dem Abwärtsstrudel der entgrenzten Gewalt, in dem Mexiko sich befindet. So haben sich anscheinend die meisten Wähler_innen für die Partei entschieden, der sie am ehesten zutrauen, die Drogenkartelle mit weniger tödlichen Kollateralschäden in das schmuddelige mexikanische System zu integrieren. Und das ist die, die es erschaffen hat: die PRI.

Kandidat_innen ohne Konzepte

Der 11. Mai 2012 wird bereits jetzt als „schwarzer Freitag“ für den in Umfragen weiterhin führenden Präsidentschaftskandidaten der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI), Enrique Peña Nieto, bezeichnet. Bei einem Wahlkampfauftritt an der Iberoamerikanischen Universität in Mexiko-Stadt rechtfertigte er einen verheerenden Polizeieinsatz in Atenco von 2006 während seiner Amtszeit als Gouverneur des Bundesstaates Mexiko, bei dem Protestierende und Unbeteiligte angegriffen, zwei Jugendliche erschossen, unzählige Personen verletzt und sogar vergewaltigt wurden. Als er daraufhin vor erbosten Studierenden, die ihn als Mörder bezeichneten, durch einen Hintereingang regelrecht fliehen musste, warf er den Protestierenden vor, bezahlte Mitglieder anderer Parteien zu sein. 131 Studierende wiesen den Vorwurf umgehend in einem Youtube-Video zurück. Unter dem Twitter-Slogan „#YoSoy132“ (etwa: Ich bin die Nummer 132) folgten in Anlehnung an die 131 Studierenden ein Protestmarsch in Mexiko-Stadt mit über 15.000 Teilnehmer_innen. Die Bewegung fordert eine Demokratisierung der mexikanischen Medien, das Recht auf freie Information und eine unvoreingenommene Wahlberichterstattung, stellt sich jedoch explizit nicht hinter eine bestimmte Partei oder deren Kandidat_innen. Welche Auswirkungen „#YoSoy132“ auf den Ausgang der Wahl haben wird, kann zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingeschätzt werden. Einen Erfolg konnte die Bewegung aber bereits verbuchen: Neben TV Azteca hat auch der größte Fernsehsender Televisa der Forderung nachgegeben, die zweite Fernsehdebatte der Kandidat_innen am 10. Juni auf den Kanälen mit den höchsten Einschaltquoten zu übertragen.
Im Schatten dieser Ereignisse droht den mexikanischen Streitkräften der größte Korruptionsskandal und die schwerste Krise ihrer jüngeren Geschichte. Mitte Mai wurden die ehemaligen Generäle Tomás Ángeles Dauahare, vor wenigen Jahren noch stellvertretender Verteidigungsminister, Ricardo Escorcia Varga, der aktive Brigadegeneral Roberto Dawe González sowie der Oberstleutnant a.D. Silvio Isidro de Jesús Hernández Soto festgenommen und eine 40-tägige Untersuchungshaft gegen sie verhängt. Ihnen werden Verbindungen zum Organisierten Verbrechen vorgeworfen. Nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft sind weitere Festnahmen nicht ausgeschlossen, gegen mehrere Militärs sowie Beamte der Bundespolizei wird wohl ermittelt.
Vor allem die Festnahme von Ángeles Dauahare hat einige Beobachter_innen überrascht. Er gilt als einer der einflussreichsten Militärs der letzten Jahrzehnte. Der heute 70-Jährige war Militärattaché der mexikanischen Botschaft in Washington, persönlicher Sekretär von Verteidigungsminister Enrique Cervantes Aguirre (1994 – 2000) und in dieser Eigenschaft Repräsentant der Streitkräfte bei den „Friedensgesprächen“ von San Andrés zwischen Regierung und der Zapatistischen Befreiungsarmee (EZLN). Ángeles Dauahare war 1997 aktiv an der Verhaftung und Verurteilung des Generals Jesús Gutiérrez Rebollo beteiligt, dem damaligen Antidrogen-Zar, der in Wahrheit aber für Amado Carrillo Fuentes arbeitete, den legendären Gründer des Juárez-Kartells, der wegen seiner Luftflotte, die Drogen in die USA transportierte, auch „El Señor de los cielos“ (Herr der Lüfte) genannt wurde. Zudem wirkte er an der später annullierten Verurteilung von General Mario Arturo Acosta Chaparro wegen Verbindungen zum Drogenhandel mit. Acosta Chaparro, einer der Hauptverantwortlichen des sogenannten „schmutzigen Krieges“ gegen die linke Opposition in den 1970er Jahren, dem zahlreiche Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, für die er nie belangt wurde, war Ende April am helllichten Tage in Mexiko-Stadt erschossen worden. Bisher wurde niemand wegen der Tat festgenommen.
Ángeles Dauahare war zuletzt am 9. Mai auf einem von der PRI-nahen Colosio-Stiftung veranstalteten Forum zu Nationaler Sicherheit & Recht in San Luís Potosí aufgetreten, bei dem Peña Nieto anwesend war. Der General kritisierte dort öffentlich die Strategie von Präsident Felipe Calderón im „Krieg gegen die Drogen“. Es fehlten konkrete Zielsetzungen. Auch trat er für die Schaffung eines neuen Polizeikörpers oder einer nationalen Gendarmerie ein, eine Idee, die auch Peña Nieto vertritt. In der mexikanischen Presse wurde spekuliert, Ángeles Dauahares Festnahme könnte ein Versuch sein, den Kandidaten der PRI zu diskreditieren. Die Generalstaatsanwaltschaft dementierte dies. Die Festnahmen „haben keinen politischen Hintergrund, noch besteht irgendeine Beziehung zum laufenden Wahlkampf oder den beteiligten Kandidaten“.
Die genauen Vorwürfe hat die Generalstaatsanwaltschaft bisher noch nicht veröffentlicht. Auch wurde bisher noch nicht formal Anklage erhoben. So bleibt vieles spekulativ. Die juristische Figur der Untersuchungshaft von 40 Tagen erlaubt es den Behörden, die Beschuldigten solange festzuhalten ohne Beweise vorlegen zu müssen oder Anklage zu erheben, wie die Untersuchungen andauern.
Einige Beobachter_innen und der Präsident selbst versuchen, die Inhaftierung der Generäle als Erfolg im Kampf gegen die Kartelle zu verkaufen. Man gehe gegen Korruption vor. Doch angesichts der Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft in der Vergangenheit oft Delikte „erfunden“, Verdächtige „fabriziert“ und Recht und Gesetz mehr als einmal als Instrument gegen politische Gegner eingesetzt hat, erscheint es keineswegs sicher, dass Anschuldigungen auch wirklich Substanz haben. Zu oft wurden in der Vergangenheit spektakuläre Festnahmen inszeniert, nach denen es danach nicht einmal bis zum Prozess kam oder die Prozesse verloren wurden.
Wie man es auch dreht, entweder wird die Staatsanwaltschaft wieder politisch instrumentalisiert, oder die Beschuldigungen erweisen sich als stichhaltig, was beweisen würde, dass auch die Streitkräfte bis in höchste Stellen unterwandert sind. Angesichts der Schlüsselrolle, die die Armee in Calderóns Drogenkrieg einnimmt, wären das fatale Aussichten. Der Präsident verteidigte hingegen die Armee und würdigte ihre „Anstrengung und patriotische Aufgabe im Kampf gegen die Drogenkartelle. Ohne die Präsenz der mexikanischen Streitkräfte wäre das Land wahrscheinlich schon in die Hände der Kriminellen gefallen“, versucht Calderón ein optimistisches Bild seiner Amtszeit zu zeichnen.
Verlautbarungen, nach denen ein Rückgang der Gewalt zu verzeichnen sei, erscheinen angesichts der Realität aber fast zynisch. Vielmehr hat seit dem offiziellen Beginn des Wahlkampfes vor zwei Monaten die Gewalt erneut zugenommen. Bei Schießereien zwischen Drogenbanden in Sinaloa gab es mehr als 30 Tote, Massaker in Tamaulipas, Jalisco und Nuevo León in den vergangenen Wochen kosteten mehr als 100 Menschenleben; hinzu kommen die Morde an vier Journalisten in Veracruz. Mexiko ist heute ein bedeutend unsichereres Land als zu Calderóns Amtsantritt; der institutionelle Zerfall, vor allem von Polizei und Justiz, und die soziale Auflösung der mexikanischen Gesellschaft sind in den vergangenen fünfeinhalb Jahren vorangeschritten. Die Armee als zentrales Element im Kampf gegen die Drogenkartelle übernimmt dabei Aufgaben, für die sie weder vorgesehen, noch ausgebildet ist. Auch verstößt ihr Einsatz in Teilen gegen die Verfassung; immer wieder kommt es zu Gesetzesüberschreitungen, Missbrauch und Menschenrechtsverletzungen. Erst Ende Mai beklagte der Jahresbericht des US-Außenministeriums, das keineswegs verdächtig ist, ein besonderer Kritiker repressiver Maßnahmen gegen die Drogenkartelle zu sein, das dritte Jahr in Folge ein Klima der Straflosigkeit durch das „Verschwinden“ von Personen, außergerichtliche Exekutionen, Folter und brutale Maßnahmen gegen Zivilpersonen durch die mexikanische Armee.
Man müsste meinen, dass angesichts der Situation die Frage um die zukünftige Sicherheitsstrategie einen zentralen Platz im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf einnimmt. Doch andere Themen dominieren. Von den Kandidaten, die sich um die Nachfolge Calderóns streiten, gibt es bisher allenfalls vage Versprechungen, die Gewalt „einzudämmen“ und das Land zu „befrieden“. Wie das geschehen soll, bleibt unklar.
Keiner der Bewerber_innen glaubt, die gegen die Kartelle eingesetzte Armee bald in die Kasernen zurückbeordern zu können. Peña Nieto, der die PRI nach zwölf Jahren zurück an die Macht führen soll, die sie mehr als 70 Jahre uneingeschränkt inne hatte – in gewisser Weise ist die Macht der Drogenkartelle ein historisches Erbe seiner Partei – will das Militär weiter in den gewalttätigsten Regionen des Landes einsetzen und zur Unterstützung eine militarisierte Polizei unter ziviler Führung schaffen. Zudem soll die Bundespolizei aufgestockt, die Polizeiausbildung verbessert, sowie das Justizsystem und die Gefängnisse modernisiert werden. Die an den Plan Colombia angelehnte Mérida-Initiative, über die US-Militärhilfe in Millionenhöhe ins Land fließt, will Peña Nieto fortsetzen. Der Schlüssel, um der Gewalt Einhalt zu gebieten, sei aber „wirtschaftliches Wachstum, um Arbeitsplätze zu schaffen“, so der PRI-Kandidat.
Die Kandidatin der regierenden konservativ-katholischen PAN, Josefina Vázquez Mota, unterstützt Präsident Calderón in seinem Feldzug gegen die Kartelle. Doch damit gewinnt man in Mexiko, das die Gewalt leid ist, keine Wahl. Sie wirkt verloren zwischen Ankündigungen, die Politik von Calderón weiterzuführen oder damit zu brechen. Eine klare Strategie hat auch sie nicht. Vázquez Mota bekräftigt immer wieder, nicht mit dem Organisierten Verbrechen zu „paktieren“; mehr als einmal hat sie angedeutet, dass die PRI genau dies getan habe, als sie noch an der Regierung war. Sie will die Armee weiter in den Straßen belassen, da eine „vertrauenswürdige“ Polizei fehlt. Parallel soll eine nationale Polizei mit 150.000 Einsatzkräften geschaffen werden. Ganztagsschulen sollen die soziale Gefüge stärken und die 32 Polizeikörperschaften der einzelnen Bundesstaaten unter einem einzigen Kommando vereinigt werden. Auch müsse die US-Regierung mehr Verantwortung übernehmen und den Drogenkonsum in ihrem Land reduzieren, so die Kandidatin der PAN.
Mit einer versöhnenden Botschaft wartet Andrés Manuel López Obrador, genannt AMLO, von der sozialdemokratischen PRD auf. Er wolle „mehr Umarmungen und weniger Kugeln“. Man müsse bei den sozialen Ursachen ansetzen, mehr Arbeitsplätze schaffen. Zudem sprach er sich für eine Legalisierung auch harter Drogen aus, wenn dies „Frieden garantiere“, eine Position, die in Lateinamerika in den vergangenen Monaten an Raum gewonnen hat. Auch er will die Armee in den Straßen belassen, solange die Polizei nicht in der Lage ist für Sicherheit zu sorgen, da bei einem Rückzug die Bevölkerung „schutzlos“ allein gelassen würde.
Alle drei Kandidat_innen wollen die endemische Korruption und Vetternwirtschaft, die als Nährboden für die Drogenbanden gilt, bekämpfen. Wie genau das geschehen soll, deuten sie nur an. AMLO beispielsweise hat vorgeschlagen, ein Ministerium für Ehrlichkeit zu schaffen. Die astronomischen Gehälter der Politiker_innen in Mexiko will er drastisch kürzen und die Einsparungen für Sozialprogramme und höhere Mindestlöhne verwenden. Der Eindruck bleibt, dass alle drei ein wenig hilflos vor dem vom aktuellen Amtsinhaber losgetretenen „Krieg gegen die Drogen“ und der überbordenden Gewalt stehen. Die Bevölkerung dringt auf mehr Sicherheit. Dafür aber sind mehr als nur gute Vorsätze nötig.

Startschuss für den Eiertanz

Der Wahlkampf hat offiziell begonnen. In den Wochen um Ostern hatten sich die drei aussichtsreichsten Kandidat_innen für die Präsidentschaftswahlen Chiapas ausgesucht, um ihre Kampagnen zu starten. Enrique Peña Nieto, Kandidat der Allianz zwischen der Partei der Institutionellen Revolution PRI und der Grünen Ökologischen Partei Mexikos PVEM, versammelte seine Anhänger_innen in der PRI-Hochburg San Juan Chamula und später in Comitán, nahe der Grenze zu Guatemala. Josefina Vázquéz Mota, die für die Partei der Nationalen Aktion PAN antritt, wählte die Grenzstadt Tapachula aus, um für sich zu werben. Und Andrés Manuel López Obrador – auch AMLO genannt –, der zum zweiten Mal nach 2006 für die Wahlallianz zwischen der Partei der Demokratischen Revolution PRD, der Partei der Arbeit PT und der Bürgerbewegung MC ins Rennen geht, trat vor der Kathedrale im Herzen von San Cristóbal de Las Casas auf.
Während Vázquez Mota in Chiapas vor allem mit Unternehmer_innen sprach, war bei den Auftritten von Peña Nieto und AMLO mehrheitlich die indigene Wähler_innenschaft präsent. Dass beide sich dementsprechend für Respekt gegenüber den indigenen Traditionen und Gebräuchen aussprachen, verwunderte nicht wirklich. Lediglich López Obrador erwähnte in seiner Rede die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung EZLN, der er nach eigenen Worten „die Hand zur Versöhnung und Zusammenarbeit“ ausstrecke. Eine Antwort der Zapatist_innen ließ bisher auf sich warten. Wer für die Region nach Unterschieden in den Vorschlägen der Anwärter_innen auf das höchste mexikanische Amt suchte, wurde enttäuscht. Denn alle versprachen Investitionen in die Infrastruktur in Chiapas und mehr oder weniger ähnliche Maßnahmen zum Ankurbeln der Wirtschaft, um den Lebensstandard der vor allem auf dem Land sehr armen und marginalisierten Bevölkerung zu verbessern.
Für die beiden derzeit wichtigsten Politikfelder in Mexiko, die Sicherheits- und die Wirtschaftspoliti gilt – mit ein paar Ausnahmen — dasselbe. Peña Nieto und AMLO haben angekündigt, die aktuelle Sicherheitsstrategie überprüfen zu wollen, bevor sie Änderungen daran vornehmen. Und Vázquez Mota sprach sich für die Fortführung der Politik von Calderón in diesem Bereich aus. Somit ist nicht zu erwarten, dass die mexikanische Armee und Marine bald von den Straßen in die Kasernen zurückkehren. Momentan haben sie Polizeiaufgaben übernommen.
Im Bereich der Wirtschaftspolitik unterscheiden sich die drei Kandidat_innen in ihren Wahlversprechen vor allem im Umgang mit dem staatlichen Ölunternehmen PEMEX. Die Kandidatin der PAN und der Kandidat der PRI sprachen sich für Investitionen aus der Privatwirtschaft in den Konzern aus. López Obrador dagegen erklärte, PEMEX würde unter einer von ihm geführten Regierung komplett in staatlicher Hand bleiben. Am erstaunlichsten in Bezug auf Wirtschaftsfragen ist, dass López Obrador auf den Unternehmer_innensektor zugegangen ist, obwohl dieser noch vor sechs Jahren eine öffentliche Kampagne gegen ihn geführt hatte. Anfang März traf er sich mit Vertreter_innen des mexikanischen Unternehmer_innenverbandes Coparmex, um ihnen seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen zu erläutern. Auch wenn die mexikanische Presse das Treffen als eher kühl beschrieb, erklärte López Obrador, man sei auf der Suche nach „Versöhnung, die die Umstände erfordern, denn um vorwärts zu kommen, braucht das Land Einigkeit“.
Über allen Fragen schwebt aber der Drogenkrieg. Zum einen ist da die Gewalt zwischen den verschiedenen Kartellen. Diese hat sich seit Beginn der Amtszeit von Felipe Calderón vor fast sechs Jahren aufgrund seines „Krieges gegen den Drogenhandel“ so sehr verstärkt, dass manche Beobachter_innen davon ausgehen, dass sie die Durchführung und den Ausgang der Wahlen mit beeinflussen wird. Wozu die Narcos fähig sind, haben sie im Juni 2010 bewiesen, als sie den PRI-Kandidaten für die Gouverneurswahl in Tamaulipas ermordeten. So hat der mexikanische Verteidigungsminister Guillermo Galván Galván im Februar erklärt, dass in manchen Regionen des Landes das organisierte Verbrechen „den Staat verdrängt hat“. Ob sich in diesen von Gewalt geplagten, vor allem im Norden des Landes gelegenen Gebieten der Gang zu den Urnen entsprechend demokratischen Kriterien durchführen lässt, kann man durchaus in Frage stellen. Andererseits wird schon seit einer Weile öffentlich über die Verbindungen von Teilen der politischen Klasse zu im Drogenhandel tätigen Kreisen diskutiert. Dabei geht es um personelle Verbindungen, aber auch um die Finanzierung von Wahlkampagnen, die normalerweise ohne Konsequenzen bleibt. Fälle wie der von Gregorio Sánchez, der 2010 als Kandidat der PRD für das Gouverneursamt in Quintana Roo durch Kronzeugen der Bestechung durch den Drogenhandel beschuldigt und daraufhin inhaftiert wurde, sind eher die Ausnahme. Die Bundeswahlbehörde IFE erklärte, es gebe Mechanismen, um die Herkunft von Spendengeldern an die Parteien und Kandidat_innen aufzuklären. Jedoch hat Mexiko im Vergleich zu anderen Ländern in der Region kaum eine umfassende Gesetzgebung gegen Geldwäsche. So bleiben Zweifel, ob die Kampagnen ausschließlich mit „sauberem” Geld finanziert werden.
Zwei Monate vor den Wahlen ist noch relativ unklar, wie sich die sozialen Bewegungen zu den Kandidat_innen positionieren. Die Bewegung für Frieden in Gerechtigkeit und Würde, die sich im April 2011 um den Schriftsteller Javier Sicilia gebildet hatte und seitdem für einen Strategiewechsel in der Sicherheitspolitik kämpft, war in den letzten Wochen hauptsächlich mit internen Prozessen beschäftigt. Sie versteht sich vor allem als Sammelbecken für Familienangehörige von Opfern eben der Gewalt, die der Einsatz des Militärs in der Bekämpfung des organisierten Verbrechens hervorgerufen hat. Daher kann man eine einheitliche Position zu den verschiedenen Präsidentschaftsanwärter_innen nicht unbedingt erwarten. Dennoch erklärte Sicilia jüngst, dass Peña Nieto „der Schlimmste von allen“ sei, da er „die Rückkehr zur Geringschätzung der Bürger“ und „eine Legalisierung des Verbrechens im weiteren Sinne“ bedeute. AMLO sei „der Beste“ und Josefina Vázquez Mota „eine gute Frau, eine ehrliche Frau“. Das Problem seien jedoch die Strukturen hinter den Kandidat_innen. Denn solange „nicht konsequent an der Transformation der staatlichen Strukturen gearbeitet wird“, werde Mexiko nicht aus dieser Krise der Korruption und Gewalt herauskommen.
In Chiapas, wo der Wahlkampf offiziell noch gar nicht begonnen hat, laufen dennoch die Kampagnen schon seit einiger Zeit auf Hochtouren. Vom Kandidaten mit den besten Aussichten auf das Gouverneursamt, Manuel Velasco Coello von der PVEM, kann sogar behauptet werden, dass er die letzten fünf Jahre bereits Werbung für sich gemacht hat. Der erst 32-jährige Senator hat in dieser Zeit fast jeden Tag eine bezahlte Anzeige in den Lokalzeitungen geschaltet. Diese kamen als ausschließlich positive Berichterstattung über seine politischen Aktivitäten und Meinung zu aktuellen Fragen daher. Als Anzeigen muss das für ‚normale‘ Zeitungsleser_innen nicht unbedingt ersichtlich sein, doch diese Methode ist eine mittlerweile gängige Praxis in den Printmedien. Selbst in der überregionalen linken Tageszeitung La Jornada hat sie Einzug gehalten, und auch die chiapanekische Regierung von Juan Sabines Guerrero hat sich ihrer ausführlich bedient.
„Güero“ Velasco, wie der junge Senator auch genannt wird, gilt als Sabines‘ Wunschkandidat. Es ist ein offenes Geheimnis, dass letzterer zu Beginn seiner Amtszeit die wichtigsten Medien des Bundesstaats mit Geschenken und Geld bedacht hat, um deren Berichterstattung zu beeinflussen und kritische Meldungen zu unterbinden. Insofern wäre die Medienkampagne von Velasco Coello gegen den Willen des amtierenden Gouverneurs gar nicht denkbar gewesen. Sabines hatte zwar versucht, seinen politischen Ziehsohn Yassir Vázquez bei der PRD als Kandidaten durchzusetzen, war damit aber gescheitert.
Dass der „Güero“ für die PVEM antritt und das mit Wohlwollen des amtierenden Gouverneurs, hat mit der chiapanekischen Eigenheit zu tun, dass hier die Parteizugehörigkeit eigentlich keine Rolle spielt. Sabines hatte bis kurz vor den Gouverneurswahlen 2006, für die er im Namen der PRD kandidierte, als Bürgermeister der chiapanekischen Hauptstadt Tuxtla Gutiérrez ein Parteibuch der PRI. Ähnlich wie damals bestimmte diesmal maßgeblich der politische Zirkel der Bundeshauptstadt die Kandidat_innen-Kür der PRD. Die Wahl fiel auf María Elena Orantes. Die ehemalige PRI-Senatorin hatte vergeblich darauf gesetzt, von ihrer Partei nominiert zu werden. Die PRI ließ jedoch aufgrund der Allianz zwischen PRI und PVEM Velasco Coello den Vortritt. So trat Orantes kurz darauf aus jener Partei aus. Weitere potentielle Anwärter_innen der PRI oder solche, die sich Chancen ausgerechnet hatten, begnügten sich letztlich mit einer Kandidatur für den Senat bzw. das Bundesparlament. Bei der PAN ist noch nicht entschieden, wer im Wettkampf um die Stimmzettel antritt. Da die Partei abgesehen von einigen sehr wenigen Bastionen aber keine Basis in Chiapas hat, wäre ein Sieg der PAN bei den Gouverneurswahlen wohl eine große Überraschung. Sowohl Velasco Coello als auch María Elena Orantes waren bei den eingangs erwähnten Veranstaltungen „ihrer“ Präsidentschaftskandidat_innen anwesend, durften aber aufgrund rechtlicher Bestimmungen keine Wahlwerbung in eigener Sache betreiben.
Doch wofür steht nun eigentlich Manuel Velasco? Abgesehen von allgemeinen Versprechen wie z.B. mehr Unterstützung für alleinstehende Mütter war von ihm bisher nicht viel zu hören. Wahrscheinlich ist aber, dass er die Politik von Juan Sabines fortsetzt, der vor allem Infrastrukturprojekte und den Ausbau des Tourismus-Sektors sowie die Entstehung von so genannten „Ländlichen Städten” gefördert hat. Dies meist ohne Rücksicht auf die Interessen der lokalen Bevölkerung; Protest und Widerstand wurde in den letzten Jahren entweder kooptiert oder unterdrückt. Die verschlechterte Situation von Menschenrechtsverteidiger_innen im Bundesstaat ist dafür nicht das einzige Zeichen, wenn auch das deutlichste. Insofern ist nach den Wahlen in Chiapas keine große Veränderung der Politik zu erwarten, die Frage ist eher, ob es schlimmer oder nicht ganz so schlimm wird wie unter dem amtierenden Gouverneur wird.
Bei den Präsidentschaftskandidat_innen führt derzeit Peña Nieto die Umfragen vor Vázquez Mota an, an dritter Stelle kommt López Obrador. Viele Beobachter_innen gehen davon aus, dass PRI-Kandidat tatsächlich der nächste Präsident wird. Obwohl eine Rückkehr zum alten PRI-Regime, das im Jahr 2000 nach 70 Jahren die Macht abgeben musste, unwahrscheinlich ist, kann man doch einen populistischen und zugleich autoritären Regierungsstil erwarten, wie er bei Peña Nieto in seiner Zeit als Gouverneur des Bundesstaates Mexiko zu sehen war. Absehbar ist zudem die Fortsetzung einer neoliberalen Politik, wie sie schon unter den Regierungen ab 1982 praktiziert wurde, als mit der Privatisierung von Staatsbetrieben begonnen wurde und Mexiko den Vorgaben supranationaler Institutionen wie dem Internationalen Währungsfond (IWF) und der Weltbank zu folgen begann. Wie lange aber die mexikanische Gesellschaft die Verschärfung sozialer Ungleichheit als Folge dieser Politik – die Militarisierung zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens – sowie die Repression von Protesten und Widerstand aushalten wird, ist fraglich.

Mord mit Ankündigung

Die Attentäter_innen lauerten in einem Hinterhalt. Bernardo Vásquez Sánchez befand sich am 15. März auf der Rückreise von Oaxaca-Stadt, als Unbekannte seinen Wagen abpassten und ihn mit Schüssen in den Rücken töteten. Zwei Mitreisende wurden schwer verletzt. Der 32-jährige Vásquez hatte als Sprecher der Koordination der Dörfer des Tales von Ocotlán (COPUVO) mächtige Feinde. Seine Organisation kämpft gegen die Ausbeutung der Silbermine in der Gemeinde San José del Progreso im südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca, da sie negative Auswirkungen auf die Wasserversorgung und andere Umweltschäden befürchten. Hinzu kam, dass das Projekt des kanadischen Konzerns Fortuna Silver ohne vorherige Konsultation der lokalen, meist indigenen Bevölkerung begonnen wurde. Seither war die Gemeinde in Befürworter_innen und Gegner_innen gespalten, die gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen den Gruppen eskalierten immer weiter (siehe LN 453).
Hingegen befürwortet die gesamte politische Klasse Oaxacas die Ausbeutung der Mine. Der lokale Bürgermeister von der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) ließ im Januar gar private Pistoleros und Polizei auf protestierende Minengegner_innen schießen. Dabei wurde der 52-jährige Bernardo Méndez Vásquez tödlich verletzt, bei ihm handelte es sich um den Onkel des nun erschossenen Bernardo Vásquez. Letzterer hatte damals gegenüber lokalen Alternativmedien geäußert, sein Onkel sei das Opfer einer Verwechslung gewesen, die Schüsse hätten eigentlich ihm gegolten. Die ortsfremden Pistoleros hätten auf die Ansage „Jetzt kommt Bernardo“ das Feuer auf seinen Onkel eröffnet, bis ihre Magazine leer waren.
Vásquez‘ Tod war ein Mord mit Ankündigung. Bereits vor einigen Wochen hatte der Aktivist ein Video mit Morddrohungen erhalten, auf Graffitis in der Gemeinde wurde mit seiner Ermordung gedroht. Dies reiht sich ein in die Gewaltspirale um den Minenkonflikt: Innerhalb von knapp zwei Jahren wurden vier Leute getötet und vier weitere schwer verletzt. Die Entwicklung in San José del Progreso ist symptomatisch für den ganzen Bundesstaat; innerhalb der letzten drei Monate wurde ein halbes Dutzend Aktivist_innen sozialer Organisationen in Oaxaca ermordet. Meistens werden lokale Polizisten oder Bürgermeister als Täter oder Anstifter der Gewalt vermutet. Menschenrechtsaktivist_innen äußerten zudem, die Verantwortlichen der Verbrechen seien „von der Minengesellschaft bezahlte weiße Garden”, die mit den lokalen und bundesstaatlichen Behörden verbandelt seien.
Der Mord an Bernardo löste eine neue Protestwelle gegen die Mine aus. So wurden am 22. März die diplomatischen Vertretungen von Kanada in Oaxaca und Mexiko-Stadt durch Demonstrationen belagert. Auch in Kanada selbst regt sich Protest und Entrüstung über die Konsequenzen der kanadischen Minenfirmen, die ihre Gewinne in vielen Ländern zum Preis von schweren Menschenrechtsverletzungen machen. Der Fernsehsender CTV berichtete über die jüngsten Ereignisse. Ende März wird im kanadischen Parlament der Gesetzesvorschlag C-323 diskutiert. Ziel dieser Initiative ist, kanadische Firmen für die Verbrechen im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit im Ausland verantwortlich zu machen. Fortuna Silver streitet jegliche Verantwortung für die Toten von San José del Progreso ab.

Das Wasser abgegraben

Die Bilanz, die die Bewohner_innen der Gemeinde im südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca ziehen, ist traurig. „Seit die Minenfirma ohne das Einverständnis der Bevölkerung ihre Tätigkeit aufgenommen hat, haben drei Menschen ihr Leben verloren“, berichten die Aktivist_innen, die gegen die Ausbeutung der örtlichen Silbermine durch das kanadische Unternehmen Fortuna Silver protestieren. Der letzte große Gewaltausbruch in dem lange andauernden sozialen und politische Konflikt in San José del Progreso ereignete sich am 18. Januar. An diesem Tag wollten die Behörden mit dem Bau einer Wasserleitung für die Mine auf dem Boden von Minengegner_innen beginnen. Auf die protestierende Lokalbevölkerung, die sich in dem Bündnis COPUVO organisert hat, eröffneten lokale Polizist_innen und private Pistoleros des Bürgermeisters der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) das Feuer. Die 25-jährige Abigail Vásquez Sánchez erlitt einen Beinschuss; den 57-jährigen Bernardo Méndez Vásquez verletzten sie so schwer, dass er tags darauf verstarb.
Im September 2011 begannen Fortuna Silver und ihr mexikanischer Ableger Cuzcatlán mit der Ausbeutung der umstrittenen Mine, die 40 km südlich der Hauptstadt Oaxaca-Stadt in der indigenen zapotekischen Region Ocotlán liegt. Der Ort San José del Progreso ist seit 2009, als die Vorbereitungen zur Inbetriebnahme der Mine bereits liefen, in regelmäßigen Abständen Schauplatz von Auseinandersetzungen von Befürworter_innen und Gegner_innen, die sich zahlenmäßig die Waage halten. So blockierten Gegner_innen im Mai 2009 den Bau der neuen Förderanlage auf dem Gelände des historischen Bergwerks, worauf 800 Polizist_innen die Blockade gewaltsam räumten. Im Juni 2010 eskalierte dann erstmals die Gewalt unter den Anwohner_innen selbst: Der PRI-Gemeindevorsitzende und ein Gemeinderatsmitglied kamen dabei ums Leben. Als Racheakt entführten Minenbefürworter_innen den Priester des Dorfes, den sie als Verantwortlichen der Gewalt beschuldigten, und übergaben ihn schwer verletzt der Polizei. Der Protest gegen die Mine sieht sich zudem Einschüchterungsversuchen ausgesetzt. So wurden lokale Minengegner_innen und das Bündnis Kollektiv Oaxacas zur Verteidigung der Territorien massiv bedroht, als sie im November 2011 ein Forum über die Folgen der Minentätigkeit organisierten. Das Forum, an dem 200 Personen aus zahlreichen Gemeinden teilnahmen, musste unter dem Schutz der Bundespolizei stattfinden. Nur so hielten die Pistoleros des Bürgermeisters Abstand.
Aufgrund der andauernden Konfrontation fordern diverse soziale Organisationen Oaxacas, darunter die einflussreiche Lehrer_innengewerkschaft Sektion 22, die Schließung der Mine. Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, demonstrierten Ende Januar auch Minengegner_innen aus verschiedenen Bundesstaaten vor der kanadischen Botschaft in Mexiko-Stadt. Diese Protestaktion reiht sich ein in die zunehmende Opposition gegen die Minentätigkeiten hauptsächlich kanadischer Firmen in einem guten Dutzend mexikanischer Bundesstaaten. Die Diplomat_innen Kanadas verweigerten jedoch einen Dialog mit den Protestierenden. Seit Monaten ist die Botschaft mit Besuchen bei Regierung und Nicht-Regierungsorganisationen in Oaxaca präsent und bemüht sich, die Investition von Fortuna Silver in ein günstiges Licht zu stellen. Mit einigen karitativen Projekten sowie der Instandsetzung der dörflichen Abwasserreinigungsanlage versuchte das Minenunternehmen die Zustimmung der indigenen Landbevölkerung zu erkaufen. Eine Befragung über das Großprojekt fand hingegen nie statt.
Bemerkenswert ist, dass die umstrittene Mine von der ganzen parteipolitischen Klasse Oaxacas, also sowohl von der PRI als auch von der Anti-PRI-Koalition des neuen Gouverneurs Gabino Cué, bedingungslos unterstützt wird. Für Cué zählt die Schaffung von 400 lokalen Arbeitsplätzen mehr als alles andere.
Anlässlich der neuen Eskalation sah sich die Regierung Cué genötigt, die Konfrontation umgehend als „internen Machtkampf um die politische Kontrolle“ des Dorfes zu bezeichnen. Der „tragische Vorfall“ habe deshalb rein gar nichts mit der Mine zu tun. Dieses Argument nahm die Fortuna Silver dankend in ihrer Stellungnahme auf, mit der sie auf kritische Berichte in der kanadischen Presse reagierte. Sie bezeichnete die Vorfälle vom 18. Januar als „sinnlose Gewalt“, mit der sie nichts zu tun habe. „Einige lokale Gruppen“ seien „interessiert daran, uns damit in Verbindung zu bringen“, um sich selbst zu profilieren. Das Bündnis der Minengegner_innen widerspricht dieser Version vehement. Wasser ist in der Region eine äußerst knapp bemessene Ressource, und das Minenunternehmen versucht seit Monaten vergeblich, Wasserleitungen zu legen. Zwischenzeitlich angezapfte Wasservorräte und Tanklastwagen scheinen in der Trockenperiode definitiv nicht mehr auszureichen, um die Produktion aufrechtzuerhalten oder gar auszubauen. Fortuna Silver hatte laut Anwohner_innen auch schon verschiedene vergebliche Versuche gestartet, einen der kleinen Staudämme in der trockenen Region zu kaufen, die der Lokalbevölkerung zur Bewässerung der Felder dienen. Gleichzeitig preist sich das Unternehmen als für Investor_innen besonders attraktiv an, da die geringen Produktionskosten eine hohe Gewinnspanne versprechen. Nach den Angaben von Fortuna Silver erwartet die Firma einen Gewinn von rund 125 Millionen US-Dollar jährlich. Doch zur Realisierung dieser versprochenen Gewinne muss Wasser her, koste es, was es wolle.
In dieser angespannten Situation empfanden die Minengegner_innen die Grabungsarbeiten als gezielte Provokation von Seiten der Lokalbehörden. Im Nachhinein behauptete der PRI-Vorsitzende des Dorfes, der Anlass der Grabungen seien neue Trinkwasserleitungen im Ort gewesen. Seltsamerweise war das Wasser-Komitee des widerständigen Quartiers darüber aber nicht informiert worden.
Die Eskalation in San José del Progreso ist nur ein Beispiel für ein Entwicklungsmodell, welches zunehmend zur sozialen Konfrontation führt. Auch die Parteilinke Mexikos sieht bisher die Konsultation der Bevölkerung bei Großprojekten bloß in ihrem Diskurs vor, die Wirklichkeit der von ihr (mit-)regierten Bundesstaaten Chiapas, Oaxaca und Guerrero sieht anders aus. Unter der „progressiven“ und von der UNO als besonders menschenrechtskonform ausgezeichneten Regierung Cué starb Ende 2011 eine Person im Konflikt zwischen Befürworter_innen und Gegner_innen eines Windparkprojekts mit spanischem Kapital im Isthmus von Oaxaca. Eine andere Gemeinde an der Pazifikküste kämpft um die Verhinderung eines Windparks, dem der Gemeindevorsitzende ohne Erlaubnis der Gemeindeversammlung zustimmte.
„Friede und Fortschritt“ versprach Gabino Cué im Wahlkampf 2010, und schaffte damit nach 80 Jahren PRI-Herrschaft einen historischen Machtwechsel. Doch die Gemeinden, welche sich gegen die nicht mit ihnen abgesprochenen Großprojekte wie Minen, Windkraftparks oder Staudämme organisiert haben, sind nach einem guten Jahr Amtszeit von der neuen Regierung mehr als enttäuscht. Es scheint, dass unter „Entwicklung“ die privatwirtschaftliche Ausbeutung der Naturressourcen und unter „Friede“ Investitionssicherheit verstanden wird. Diese Vision von Fortschritt stößt mit dem Versuch eines großen Teils der indigenen Bevölkerung zusammen, ihr Territorium gegen diese Zugriffe zu verteidigen.
Es mehren sich die Anzeichen, dass 2012, das im Zeichen der Präsidentschaftswahlen am 1. Juli steht, die seit dem Volksaufstand von 2006 schwelende soziale Konfliktivität Oaxacas wieder voll ausbricht. Nur scheint Oaxaca heute, im Gegensatz zum Wahljahr 2006, nicht mehr die Ausnahme im Lande zu sein. „Unmut und Forderungen nach Gerechtigkeit blühen in weiten Teilen des Landes“, titelte die Tageszeitung Jornada am 28. Januar. Die offen ausbeuterische Tätigkeit des Bergbausektors, der von der konservativen Regierung Felipe Calderón ganze 25 Prozent der gesamten Landfläche Mexikos für bisweilen lächerliche 5 Pesos pro Hektar lizenziert bekam, ist dabei einer der sichtbarsten Angriffe auf die Rechte der mexikanischen Bevölkerung. Die Aushöhlung der Arbeitsrechte, die Privatisierung des Bildungssektors, die Repression gegen soziale Bewegungen im Schatten des Drogenkriegs oder die Zensurbemühungen im Internet sind Beispiele für weitere Konflikte, welche das Klima im Land zunehmend verschärfen.

Kasten:

Fortuna Silver: „Grüne Minen“?
„Wir verschmutzen kein Wasser, im Gegenteil, wir reinigen es“, äußern die Verantwortlichen der Fortuna Silver in einer pseudo-wissenschaftlichen Reportage auf der Seite www.mineweb.com. Damit meinen sie die Abwasserreinigungsanlage der Gemeinde San José del Progreso, die sie instand gesetzt haben. Politiker_innen und Unternehmer_innen stimmen in das Loblied auf die „Nachhaltigkeit“ und das ökologische Verantwortungsbewusstsein der Firma ein. Tatsächlich ist der in Oaxaca betriebene Unter-Tage-Bau auf den ersten Blick weniger umweltzerstörerisch als die Minentätigkeit unter freiem Himmel. Die Beeinträchtigungen und Gefahren für Mensch und Natur sind dennoch vielfältig. So sind die unterirdischen Dynamit-Explosionen inzwischen ein ständiger Begleiter der Gemeindebewohner_innen, auch nachts. Von den Gefahren für das Grundwasser und anderen mittel- und langfristigen Umweltschäden gar nicht zu reden. Zudem befürchten die Gegner_innen, dass die Mine sich von unten nach oben durch die Gesteinsschichten frisst, und letztlich doch ein offener Minenkegel entsteht. Die Mine ist ein Pilotprojekt in der Region, drei weitere, größere Minen sind in der näheren Umgebung in der Explorationsphase. Wenig vertrauensstiftend ist auch das Personal des Minenunternehmens.
Über die „grüne“ Vergangenheit des Aufsichtsratvorsitzenden von Fortuna Silver, Simon Ridgway, wissen die Bewohner_innen des Valle de Siria in Honduras Bescheid. Wie das lokale Anti-Minen-Komitee und die Organisation Rights Action berichten, wird der findige Geschäftsmann, der aktuell in der Geschäftsleitung von einem halben Dutzend Bergbauunternehmen sitzt, aufgrund von Umweltverbrechen von den Behörden in Honduras steckbrieflich gesucht.

Mexiko sucht den Superpräsidenten

Der Dinosaurier bereitet sich auf seine Auferstehung vor. Zwölf Jahre nachdem die Revolutionäre Institutionelle Partei (PRI) erstmals die Regierungsmacht verloren hat, schickt sie Enrique Peña Nieto ins Rennen, um das Präsidentenamt zurückzuerobern. Seit Jahren kann der stets penibel auf sein Äußeres bedachte 46-Jährige auf die Unterstützung der größten TV-Sendergruppe Televisa zählen. So inszenierte der Medienriese von Beginn an dessen Beziehung zu der Telenovela-Schauspielerin Angélica Rivera, mit der er inzwischen verheiratet ist. Schon lange vor seiner offiziellen Nominierung im letzten Dezember galt Peña Nieto in Umfragen als der bei weitem aussichtsreichste mögliche Präsidentschaftskandidat, wenn nicht schon gar als sicherer Präsident. Dabei fällt einer der schwersten staatlichen Gewaltexzesse der jüngeren Zeit in seine Amtszeit als Gouverneur des Bundesstaates Estado de México (2005 bis 2011). In der Gemeinde Atenco erfolgten 2006 im Anschluss an eine Protestaktion gegen die Räumung von Straßenhändler_innen brutale Polizeiübergriffe. Neben zwei Toten kam es zu willkürlichen Massenverhaftungen, Folter und Vergewaltigungen weiblicher Gefangener (siehe LN 384). Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International warf Peña Nieto vor, die Aufklärung der staatlichen Straftaten zu behindern. Doch angesichts der fehlenden Thematisierung der Rolle Peña Nietos in den großen Medien, konnte der Fall Atenco seiner Popularität keinen Abbruch tun.
In jüngster Zeit erhielt der scheinbar unaufhaltsame Höhenflug Peña Nietos und seiner Partei jedoch einige schwere Dämpfer. Anfang Dezember musste der Parteichef der PRI, Humberto Moreira, aufgrund deutlicher Korruptionsbeweise zurücktreten. Moreira hinterließ als Gouverneur des Bundesstaats Coahuila einen Schuldenberg von umgerechnet rund zwei Milliarden Euro, den er mit gefälschten Dokumenten erfolglos zu verbergen versuchte.
Peña Nieto selbst machte sich im Dezember gleich mehrmals zum Gespött der Öffentlichkeit. Auf dem Podium der Internationalen Buchmesse in Guadalajara konnte er auf die Frage, welche drei Bücher ihn am stärksten beeinflusst hätten, nur einen Titel nennen, allerdings mit dem falschen Autor. Das Video, das einen gut gegelten, sichtlich gequälten Peña Nieto minutenlang um eine Antwort ringend zeigt, ist ein Renner auf Youtube. Der Intellektuelle Carlos Fuentes äußerte öffentlich, dass ein derart Ungebildeter angesichts seiner Vorbildfunktion nicht Präsident werden solle. Zusätzlichen Schaden richtete Peña Nietos Tochter Paulina an, die über Twitter verbreitete: „Einen Gruß an den Haufen Deppen, die aus dem Proletariat kommen, und nur die kritisieren, die sie beneiden“. Angesichts der Welle der Empörung, die vor allem in sozialen Netzwerken losbrach, sah sich Peña Nieto zu einer Entschuldigung genötigt.
Große Ignoranz gegenüber dem Alltag des Großteils seiner Landsleute legte Peña Nieto wenig später in einem Interview mit der spanischen Zeitung El País an den Tag. So verschätzte er sich bei der Benennung des gesetzlichen Mindestlohnes um die Hälfte. Ebenso so gravierend falsch war seine Benennung des aktuellen Preises für ein Kilo Tortillas, letzteres verteidigte er mit den Worten „Ich bin doch keine Hausfrau.“ Kopfschütteln löste der PRI-Kandidat auch aus, als er (ebenso wie andere Parteikolleg_innen) öffentlich der Familie des erkrankten Ex-Präsidenten Miguel de la Madrid zu dessen Tod kondolierte, obwohl dieser bis heute unter den Lebenden weilt.
Schwerer als die „Fehler vom Dezember“, wie Moreiras und Peña Nietos Lachnummern vom PRI-Lager offiziell genannt werden, könnte für die PRI am Wahltag der Verlust eines wichtigen Bündnispartners werden. Am 20. Januar erklärte die PRI das beabsichtigte Wahlbündnis mit der Partei Neue Allianz (PANAL), dem parteipolitischen Arm der größten Lehrer_innengewerkschaft Mexikos SNTE, für beendet. Damit reagierte der Vorstand der PRI auf den Protest der eigenen Parteibasis, bei der Schacherei um aussichtsreiche Listenplätze und Posten mit Elba Esther Gordillo, der ewigen Patin des SNTE und der PANAL, zu große Zugeständnisse gemacht zu haben. Nach wie vor ist die PRI landesweit die am besten organisierte und inzwischen auch wieder wahltechnisch erfolgreichste Partei, viele Sektoren gilt es zu befriedigen.
Die Formulierung eines klaren politischen Programms steht der PRI bevor, in den meisten Bereichen ist sie über Schlagwörter wie „Sicherheit“ oder „Effizienz“ wenig hinausgekommen. Die mediale Inszenierung Peña Nietos als Gewinnertyp stand bisher deutlich im Vordergrund. Wirtschaftspolitisch nannte dieser bisher die Öffnung des mexikanischen Ölsektors für ausländisches Kapital als wichtigsten Punkt. Generell gilt Peña Nieto als Vertreter des unternehmerfreundlichen, wirtschaftsliberalen Flügels der PRI. Trotz aller Rückschläge der letzten Zeit liegen die PRI und ihr Kandidat in den Umfragen weiterhin klar vorn, allerdings mit leicht rückläufiger Tendenz.
Als Kandidat der sozialdemokratischen Partei der Demokratischen Revolution (PRD) wird wie bei den letzten Präsidentschaftswahlen Andrés Manuel López Obrador, „AMLO“ genannt, antreten. AMLO setzte sich bei den parteiinternen Vorwahlen Mitte November etwas überraschend gegen Marcelo Ebrard, den aktuellen Bürgermeister von Mexiko-Stadt, durch. Seine äußerst knappe und umstrittene Niederlage von 2006 hat AMLO bis heute nicht anerkannt und jegliche institutionelle Zusammenarbeit mit der Regierung verweigert (siehe LN 391). Stattdessen ließ er sich von Gefolgsleuten zum „legitimen Präsidenten“ ausrufen und besuchte in einer mehrjährigen Tour jede Gemeinde Mexikos, um ein Gegennetzwerk zur traditionellen Parteipolitik aufzubauen. Nach 2006 hatten sich viele Parteikolleg_innen und Anhänger_innen von der plötzlichen Radikalität des ehemaligen Bürgermeisters von Mexiko-Stadt abgewandt. Die PRD, seither eher ein Sammelbecken verschiedener Strömungen und Gruppen im Mitte-Links-Spektrum als eine gewachsene Partei, drohte an der Frage zu zerbrechen, ob oder inwieweit sie AMLOs Weg der weitgehenden Polarisierung, oft verbunden mit außerparlamentarischen Kampagnen, mitgehen solle. Eine Reihe von Wahlniederlagen verschärfte ihre Krise. Lange Zeit sah es so aus, als werde AMLO seine Karriere in einer der linken Splitterparteien fortsetzen, deren Nähe er suchte. Rechtzeitig zu den Wahlen haben sich die Parteireihen vorerst wieder geschlossen. Die PRD und López Obrador sind aufeinander angewiesen, um eine Siegchance zu haben.
Während er in den letzten Jahren mit hasserfüllten Tiraden gegen die Eliten Mexikos aufwartete, gibt sich der 58-jährige inzwischen deutlich zahmer. Die Schaffung einer „liebevollen Republik“ („república amorosa“) nennt er als sein oberstes politisches Ziel und sucht die Versöhnung mit den einflussreichen TV-Sendern sowie Großunternehmen, um eine Hetzkampagne gegen seine Person wie 2006 zu vermeiden. Sein neuer Kuschelkurs erklärt sich zudem dadurch, dass er nur eine Chance haben dürfte, wenn es ihm gelingt, linke PRI-Anhänger_innen und gemäßigte Unterstützer_innen der PAN-Partei auf seine Seite zu bringen. Ebenso buhlt er um die Sympathisant_innen der Friedensbewegung um den Dichter Javier Sicilia (siehe LN 445). Als einziger aussichtsreicher Kandidat hat AMLO sich deren Forderung nach einem vollständigen Rückzug der Armee aus dem „Drogenkrieg“ zu eigen gemacht. Dennoch haben Sicilia und dessen Mitstreiter Julián LeBarón AMLOs Angebot aussichtsreicher Listenplätze bislang abgelehnt. Der rhetorisch begabte PRD-Kandidat liegt jüngsten Umfragen des Meinungsforschungsunternehmens Mitofsky zufolge mit 17 Prozent deutlich hinter Peña Nieto (42 Prozent). Angesichts Peña Nietos Unfähigkeit, in unvorbereiteten Situationen angemessen zu reagieren, könnte AMLO in den Rededuellen der heißen Wahlkampfphase durchaus Boden gut machen.
Die derzeit regierende rechte Partei der Nationalen Aktion (PAN) konnte sich bislang noch nicht auf einen Kandidaten oder eine Kandidatin einigen. Der amtierende Präsident, Felipe Calderón, darf nicht noch einmal kandidieren. Die internen Vorwahlen der PAN finden am 5. Februar statt, drei Politiker_innen haben ihre Bereitschaft erklärt. Laut Meinungsumfragen kann sich Josefina Vázquez Mota die größten Hoffnungen machen. Die 51-Jährige war unter Präsident Calderón bis 2009 Bildungsministerin und bis September letzten Jahres Fraktionschefin der PAN im Parlament. Der 43-jährige Ökonom Ernesto Cordero gilt hingegen als Wunschkandidat von Calderón. In dessen Kabinett hat Cordero zuerst als Minister für Soziale Entwicklung und später als Finanzminister gedient. Der dritte mögliche Kandidat der PAN ist Santiago Creel, der unter der Regierung von Vicente Fox Innenminister war. Nachdem er bei den Wahlen 2006 Calderón den Vortritt lassen musste, war Creels wichtigster Posten der des Senatspräsidenten. Sollte sich die Favoritin Vázquez Mota parteiintern als Kandidatin durchsetzen, könnte sie bei den Präsidentschaftswahlen laut Mitofksky-Umfrage derzeit mit knapp 21 Prozent der Stimmen rechnen.
Allerdings sind langfristige Meinungsumfragen in Mexiko noch unzuverlässiger als anderswo. Am besten weiß das AMLO, der 2006 einen monatelangen Riesenvorsprung nicht so ins Ziel retten konnte, dass ein entscheidender Wahlbetrug für alle offensichtlich gewesen wäre. Traditionell geht es im Jahr der Präsidentschaftswahlen zur Sache, sozialen Zündstoff gibt es angesichts von Armut, Gewalt und Korruption reichlich. Alles andere als zeitlich geschickt gesetzte Enthüllungen über die „Machenschaften“ der verschiedenen Kandidat_innen im nächsten Halbjahr wäre eine Überraschung. Einen einflussreichen Faktor stellt zudem die Positionierung der verschiedenen Drogenkartelle dar, die inzwischen in vielen Teilen des Landes de facto das Sagen haben. Am einfachsten ist die Lage hingegen für die Anhänger_innen des Maya-Kalenders: Sie können sich zurücklehnen, denn im Dezember 2012 geht ein großer Zyklus zu Ende. Dagegen sind die Wahlen ein kleines Licht.

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