Erwachen in Chile

© Felipe Morgado MAFI

„Chile ist aufgewacht“ schreien Aktivist*innen nachdem Chile sich für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung gestimmt hat. Sie schwenken Flaggen: die chilenische, die der Mapuche und die Wiphala-Flagge. Die Mehrheit der chilenischen Bevölkerung hat sich gerade entschieden, eine historische Veränderung auf den Weg zu bringen. Doch dass eine neue Verfassung kein punktuelles Event ist, wird klar, wenn man sich die Dokumentation Oasis von Tamara Uribe und Felipe Morgado ansieht. Die angebliche „Oase“ Lateinamerikas, wie Chile wegen seiner lange Zeit relativ stabilen wirtschaftlichen Lage genannt wurde, wurde deswegen jahrelang von heftigen Protesten und Diskussionen erschüttert.

Der Film beginnt mit den Protesten gegen die Fahrpreiserhöhung für U-Bahn-Tickets in der Hauptstadt Santiago. Durch die rasant steigenden Preise angeheizt, schwappen sie von dort bis auf die Straßen Chiles. Die Reaktion des Präsidenten Piñera ist harsch: Erstmals seit der Diktatur Pinochets lässt er das Militär wieder patrouillieren. Es kommt zu vielen Toten und Verletzten. Doch durch die wochenlangen Proteste ist das Undenkbare plötzlich möglich: Ein Referendum für oder gegen eine neuen Verfassung findet statt. Und Chile stimmt dafür.

Oasis folgt diesen Prozessen kommentarlos, lässt Bilder und Akteur*innen für sich selbst sprechen. Auch im bittersten Moment für die Demonstrant*innen: Als die neue Verfassung endlich ausgearbeitet ist, stimmt Chile nochmals ab, über das Inkrafttreten der neuen Gesetzgebung. Die Diskussionen schlagen erneut hoch, Angst und Ungewissheit sind genauso wie Freude und Hoffnung groß. Schließlich wird die neue Verfassung von einer knappen Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt. Ihre Einführung ist damit vorerst verhindert.

Tamara Uribe und Felipe Morgado nehmen die Zuschauer*innen in Oasis mit mit auf eine Reise über den Zeitraum von drei Jahren, von den Protesten in Santiago 2019 bis zum Scheitern der neuen Verfassung 2022. Sie dokumentieren die Bewegungen in den Metropolen und aus der Peripherie, berichten von feministischen und indigenen bis hin zu konservativen und militanten Kämpfen. Eine Reise, die aus Momentaufnahmen entsteht, so nah, so ungefiltert, so harsch und doch so weich. Die Personen werden porträtiert ohne sie zu protagonisieren. Und gerade wenn man denkt, einen festen Gedanken gefasst zu haben, kommt schon der nächste Moment, die nächste Aufnahme, die sprachlos macht. Manchmal sind es Landschaftsaufnahmen, an anderen Stellen ist es Gewalt. Es gibt keine*n Sprecher*in zur Einordnung, doch trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – erzählen die für sich stehenden Bilder überzeugend ihre eigene Geschichte.

So zeichnet Oasis ein eindrückliches Bild von den Gesichtern des Aktivismus, den Emotionen des Protests, der Gespaltenheit und Verbundenheit innerhalb eines Landes. Und davon, wie ungewiss die Zukunft, die wir zu gestalten versuchen, ist – in Chile und überall.

LN-Bewertung: 5/5 Lamas

“Die Revolution und die Sterne”

Quilapayún live in concert Eduardo Carrasco ist seit 1969 musikalischer Leiter der Gruppe (Foto: Johann Lopez)

Warum habt Ihr Euch damals den Namen Quilapayún gegeben?
Der Name kommt aus dem Mapudungun, der Sprache der chilenischen Indigenen. Wir haben versucht damit eine Verbindung mit den Wurzeln unseres Volkes zu schaffen. Den Namen haben wir in einem Wörterbuch gefunden. Wir suchten die Worte „drei“ („quila“) und „bärtige“ („payún“), weil die drei, die wir damals waren, Bärte trugen. Daher kommt der gutklingende und schöne Name Quilapayún.

Wie veränderte sich im Laufe der Jahrzehnte Eure Rolle als politisch engagierte Musiker?
Das hat mit der politischen Entwicklung zu tun, nicht nur der Gruppe, sondern der Welt. Was mit dem real existierenden Sozialismus geschah, der Fall der Mauer, die Niederlage, die wir in Chile erlitten hatten, 15 Jahre Exil in Frankreich – all das hat uns verändert. Wir waren immer aufrichtig und versuchten unsere Gedanken auf die Bühne zu bringen. Die Welt hatte sich verändert. Wir hatten in den 1960er Jahren angefangen, als die Volks-, Gewerkschafts- und Studierendenbewegung in Chile auf ihrem Höhepunkt war. Wir waren Teil dieser Bewegungen. Es herrschte der Kalte Krieg und der wirkte sich auf alle Länder aus. In Chile gab es Diskussionen über den bewaffneten Kampf sowie Salvador Allendes demokratischen und friedlichen Weg zum Sozialismus. Wir bezogen Position in Form unserer Lieder. Sie waren Agitation, sehr militant und wir standen einer politischen Partei sehr nahe. Dann kamen die Niederlage, Exil und Pinochet. Das änderte unsere Orientierung. Wir entdeckten den revolutionären Wert in der Kunst an sich und sahen die Kunst nicht mehr nur als Instrument einer Revolution, die vor allem eine sozioökonomische war. Die Kunst selbst war revolutionär, ein Faktor des Wandels. Einfach auf die Bühne zu steigen und mit dem Publikum Gemeinschaft zu erleben hatte einen revolutionären Wert. Für uns war eine neue Zeit angebrochen und wir nannten sie Die Revolution und die Sterne. Die Revolution war nicht nur ökonomisch, nicht nur Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Sie war komplexer. Viel mehr Forderungen spielten eine Rolle. Diese Einsicht hatten wir im Exil. Wir befanden uns in einem Land, das nicht nach unserem Rhythmus tanzte. Gleichzeitig war die politische Situation in Chile unter Pinochet sehr unüberschaubar. Wir verloren etwas den Kontakt, aber wir machten irgendwie weiter. Nach dem Ende der Diktatur hatten wir auf einmal das Problem, dass nicht alle Mitglieder der Gruppe aus dem Exil zurückkehren wollten. Einige blieben aus familiären Gründen in Frankreich. Es gab dann eine Zeit mit weniger Aufführungen. 2003 kam es dann in Chile zu einer Wiederbelebung von Quilapayún. Wir nahmen unseren Platz wieder ein. Unsere Lieder hatten wieder eine Verbindung zum Publikum und unsere Botschaften wurden viel besser verstanden. Seitdem haben wir eine umfangreiche Arbeit geleistet, um an der Idee der Revolution und der Sterne anzuknüpfen und uns einen Weg zu bahnen als professionelle Künstler, in Chile und Lateinamerika, ohne dabei die Dinge aufzugeben, die wir in Europa vor allem in Frankreich und Spanien entwickelt haben. Dort ist unsere Musikgruppe anerkannt und hat einen festen Platz in der Erinnerung vieler Menschen.

Wie erlebte die Gruppe das Exil in Frankreich, wie war es dort Lieder zu schreiben, weit weg von dem, was in Chile geschah?
Das war ein schwieriger Prozess, denn wir waren weit weg von unserer Heimat. Wir lebten in einem Land, wo unsere Sprache nicht gesprochen wurde. Also mussten wir Künstler werden, die attraktiv für das dortige Publikum waren. Zu dieser Zeit reisten wir viel nach Deutschland, wir tourten durch die Niederlande, Belgien, Italien und vor allem nach Spanien. In dieser Phase legte die Gruppe viel mehr Wert auf das Künstlerische, weniger Agitation. Das Publikum war sehr anspruchsvoll. Solidarität allein reichte nicht aus, wir mussten etwas spielen, was die Menschen bewegte und interessierte. Wir komponierten viele verschiedene Lieder, immer mit der Erinnerung an Chile und der Solidarität, wir mussten aber unterhaltsam, interessant und einfallsreich sein. Poesie war immer wichtig für uns. So gut wir konnten übersetzten wir sie in die Sprachen der Länder, wo wir auftraten. Auch in Deutschland hatten wir ein sehr schönes Konzert im Berliner Ensemble. Wir waren geleitet von unserer Idee der Revolution und der Sterne und verbanden unseren Auftritt mit Elementen des Theaters. Das war witzig und gefiel den Leuten. Da gab es Affenpuppen, die Pinochet und seine Frauen darstellen sollten. Wir hatten sie mitten ins Publikum gesetzt und machten Scherze mit ihnen. Es war eine kreative Zeit, die uns aber gleichzeitig ein bisschen von Chile entfernte.

Hattet Ihr sehr großes Heimweh zu dieser Zeit?
Nicht so viel. Chile war wie der Mond, unendlich weit weg, denn uns war die Einreise verboten. Und wir hatten unsere Familien, Kinder und unser Leben in Frankreich, deshalb übertrug sich das Heimweh auf Frankreich. Als wir in Japan tourten dachten wir an den Champs Elysée und den Eiffelturm. Das macht das Exil mit einem. Wir lernten Frankreich und Europa lieben. Wir stellten uns dem Leben dort in diesem Moment.

Was bedeutet der Jahrestag des Putschs von Pinochet für Euch und wie wird er in Chile begangen?
Für uns ist der Jahrestag des Putsches etwas Essenzielles in unserem Leben, denn wir sind als Musikgruppe tief mit dieser Geschichte verbunden. Wir werden im Präsidialpalast in Santiago, der Moneda, singen, nach Frankreich reisen, wo wir zu einer Hommage für Salvador Allende im Rathaus von Paris auftreten. Außerdem fahren wir nach Österreich, Spanien und auch in die Schweiz. Es finden viele Gedenkveran-staltungen statt. Auf der anderen Seite erlebt Chile eine eigenartige Phase, die wir selbst nicht richtig verstehen, eine Art Regression. Ein Wieder-aufleben des Pinochetismus. Die Leute wollen wieder eine harte Hand und eine starke Regierung, die mit der Kriminalität aufräumt. Die politischen Themen in Chile haben sich nach rechts verschoben, ohne dass man sagen kann, die Bevölkerung wäre rechts. Aber ohne Zweifel erfährt die Rechte in Chile zurzeit eine große Unterstützung.

Der Präsident ist links und das Parlament rechts.
Seit längerer Zeit haben wir ein Land, das etwas desorientiert ist. Nach einer linken Präsidentin Bachelet folgte Piñera – und dann wieder Bachelet und ein weiteres Mal Piñera. Mal gewinnt die Rechte in den Wahlen und dann wieder die Linke. Ein reines Durcheinander, es ist eine Art Maschinerie der Konfusion, getrieben von Enttäuschung über die Politik. Die Politik hat es nicht geschafft die wichtigsten Probleme der Leute zu lösen. Das bedeutet, dass wir uns in einer instabilen Zeit befinden. Man kann nicht sagen, nur weil die Rechte Wahlen gewonnen hat, dass alle Wähler rechts wären. Vor allem weil die Leute nicht mehr in den Kategorien rechts und links wählen. Sie wählen in Funktion ihrer unmittelbaren Interessen und deshalb fällt es plötzlich zu einer Seite und nach zwei Jahren zur anderen Seite. Diese Instabilität ist beunruhigend und ärgerlich. Es ist nicht angenehm in diesem Moment in Chile zu sein. Die Politik ist zurzeit keine Sache, die einen begeistert. Aber wir machen weiter und versuchen an Salvador Allende, Victor Jara, Pablo Neruda und das zu erinnern, was damals geschehen ist. Wir sind Linke, wir werden uns nicht ändern. Wir bewahren das historische Gedächtnis und vor allem wollen wir zeigen, dass in unseren Werten die wahre Zukunft unseres Landes liegt. Nicht in der Leugnung, das wäre verwerflich. Wir leben in einer verwirrenden Zeit, auch in den USA und Europa erstarken die Ultrarechten. Hoffen wir, dass bald eine verständnisvollere und positivere Zeit anbricht, ausgehend von den demokratischen und den Menschenrechten, welche uns antreiben.

Was wünschst Du Dir für Chile und Lateinamerika?
Mein Traum ist der gleiche, den Allende hatte, von einem demokratischen Sozialismus, der die Menschenrechte achtet, das Recht auf Gestaltung, Freiheit, die individuellen Rechte respektiert und außerdem in der Lage ist seinem Volk ein würdiges Leben zu geben mit einer soliden Wirtschaft, die sich nicht nur auf ausländische Investitionen stützt, sondern auch auf das, was wir kreieren und erfinden können mit dem, was wir an Ressourcen haben. Das würde ich mir wünschen.

Weisses Feuer

Zuerst waren die Lehrer*innen sichtbar. Seit dem 5. Juni gingen Lehrkräfte in der Provinz Jujuy in einen unbefristeten Streik, da ihre Gehälter kaum zum Leben reichen. Einer ihrer Slogans lautete „Rauf mit den Löhnen, nieder mit der Reform!“ Denn im Hintergrund bereitete der rechte Noch-Gouverneur Gerardo Morales eine Änderung der Verfassung der Provinz vor. In dieser waren drastische Einschränkungen des Demonstrationsrechts und Änderungen zur Regelung von Landbesitz vorgesehen.

Der undurchsichtige und undemokratische Prozess hinter dieser in wenigen Wochen durchgepeitschten Verfassungsänderung trieb viele weitere Menschen auf die Straßen. Gesundheitspersonal, Angestellte im öffentlichen Dienst, vor allem aber Mitglieder indigener Gemeinden schlossen sich dem Ruf der streikenden Lehrer*innen an: „Hoch mit den Wiphala, nieder mit der Reform!“ Die Wiphala, eine siebenfarbige Flagge, die viele indigene Gemeinschaften der Anden repräsentiert, flatterte an erste Linie in den Straßensperrungen. Eben diese Form des Protests soll in der neuen Verfassung explizit verboten werden. Die Antwort von Morales war ebenso kompromisslos wie seine Verfassungsänderung. Er ließ die Provinzpolizei mit Tränengas und Gummigeschossen auf die Demonstrierenden losgehen.

Jujuy, eine der ärmsten Provinzen Argentiniens, ist ein Teil des sogenannten Lithium-Dreiecks, das das Land mit Bolivien und Chile bildet. Hier sollen sich ungefähr 65 Prozent der weltweiten Lithiumvorkommen befinden. Das Leichtmetall Lithium, auch weißes Gold genannt, wird bei der Herstellung von Akkus benötigt und ist im Rahmen der Elektromobilität ein zentraler Rohstoff der „Energiewende“ des Globalen Nordens. Besonders der hohe Wasserverbrauch der Lithiumgewinnung ruft in einer bereits stark von Wasserknappheit betroffenen Region große Besorgnis hervor.

Trotz der entschlossenen Proteste wurde die Verfassung am 20. Juni von den anwesenden Abgeordneten einstimmig verabschiedet. Zwei der am meisten kritisierten Artikel der Verfassung waren kurz zuvor aus dem Entwurf herausgenommen worden. Diese schwammig formulierten Artikel hätten es erleichtert, Personen, die keinen Besitzanspruch auf das von ihnen bewohnte Land vorweisen können, zu vertreiben. Armando Quispe, Sprecher der indigenen Gemeinschaft Kolla gibt gegenüber der argentinischen Zeitung Página 12 an, dass nur zwölf Prozent der über 400 indigenen Gemeinden Titel über ihren Grundbesitz haben. Angesichts der drastischen Einschränkungen ihrer Rechte erklärten sie den dritten Malón de Paz. Das aus aus dem Mapudungun entlehnte Wort Malón bezeichnete Überraschungsangriffe von Indigenen Gruppen auf Kolonialsiedlungen. Wie bereits 1946 zum ersten friedlichen Malón reisten auch diesmal Vertreter*innen indigener Gemeiden nach Buenos Aires.

Gouverneur Morales will sich mit Härte profilieren

Geblieben sind Artikel zur Bewahrung des sozialen Friedens, die die Teilnahme an Straßenblockaden sowie das Besetzen öffentlicher Gebäude unter Strafe stellen. Und die Repression setzt sich fort: Mitte Juli wurden gegen 40 Personen wegen des Vorwurfes des Aufruhrs Haftbefehle ausgestellt und ihre Wohnungen durchsucht. Die Menschenrechtsorganisation CELS wies darauf hin, dass davon vor allem Aktivist*innen von sozialen, indigenen, politischen Organisationen und Gewerkschaften betroffen waren. Auch mehrere Anwält*innen wurden festgenommen.

Die Unterdrückung sozialer Bewegungen durch Gerardo Morales ist dabei nichts Neues. Bereits mit seinem Amtsantritt 2015 kündigte er an, entschlossen gegen soziale Organisationen vorzugehen. 2016 wurde die Aktivistin Milagro Sala der Organisation Túpac Amaru nach einem dubiosen Prozess zu drei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Dabei wurde ihr auch das Engagement in sozialen Organisationen verboten (siehe LN 512). Sala wurde 2019 erneut verurteilt und sitzt bis heute im Gefängnis.

Die Härte, die Morales an den Tag legt, hängt auch mit seinen politischen Ambitionen zusammen. Gemeinsam mit dem Bürgermeister von Buenos Aires, Horacio Rodríguez Larreta, möchte Morales für die oppositionelle Koalition Juntos por el Cambio als Kandidat für die Vizepräsidentschaft antreten. Larreta und Morales gelten noch als moderates Duo gegen Patricia Bullrich, Macris berüchtigte Sicherheitsministerin und ihren Vize Luis Petro. Dieser bezeichnete Morales‘ Umgang mit den Protesten als „zu weich“. Dabei äußerte die interamerikanische Menschenrechtsorganisation CIDH bereits am 20. Juni Besorgnis über die Situation in Jujuy.

Repression erinnert an die Diktatur

Die Repression rief vielfach Erinnerungen an die Militärdiktatur (1976-83) hervor. So wurden etwa während Festnahmen, die eher Entführungen ähnelten, Menschen von nicht gekennzeichneten bewaffneten Sicherheitskräften auf zivile Pick-ups gezerrt. Festgenommene verschwanden zunächst, vielen wurde das Recht auf anwaltliche Vertretung verweigert. Videos auf den sozialen Medien zeigen, wie Personen mit deutlichen Missbrauchsspuren aus der U-Haft entlassen werden. Wie die chilenischen Carabineros schoss auch die argentinische Polizei mit Gummigeschossen auf Augenhöhe, mindestens drei Demonstrierende verloren dadurch die Sehkraft auf einem Auge.

Um sein Vorgehen zu rechtfertigen, veröffentlichte Morales auf seinem Twitter-Account interne juristische Dokumente, aus denen die Vorstrafen der Festgenommenen ersichtlich werden sollen. Zudem sollen Ausschreitungen und Plünderungen nach der Verabschiedung des Verfassungsentwurfes durch Sicherheitskräfte inszeniert worden seien. Nur gegenüber den Polizeikräften, die unrechtmäßig in die Universität von Jujuy eindrangen, kündigte Morales Konsequenzen an.

In einem Essay in der Onlinezeitung Revista Anfíbia weist die Anthropologin Rita Segato auf koloniale Kontinuitäten hin. Sie sieht in Morales’ Handeln eine Fortführung der Aneigungsbestrebungen, in der er selbst zum Kolonialherren wird. Und betont die Rolle der vor allem indigenen Frauen, die einen Kampf anführen, der nicht erst seit ein paar Monaten, sondern seit über 500 Jahren geführt wird.

Für den 20. Juli rufen Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften, sowie Abgeordnete zu einer landesweiten Demonstration für Jujuy auf. Das Datum hat historischen Bezug: 1976, in Zeiten der Militärdiktatur, wurde in der Noche del Apagón (Nacht des Blackouts) ein Stromausfall provoziert, um unauffälliger Personen verschwinden lassen zu können. Trotzdem oder gerade deswegen wird kräftig für den 20. Juli mobilisiert. Das dritte Malón de Paz kündigte an, die Straßenblockaden aufrecht zu erhalten, bis die Verfassungsreform zurückgenommen wird und indigene Rechte respektiert werden. So hat Morales auf seinem rücksichtslosen Weg zur Ausbeutung des weißen Goldes ein weißes Feuer entfacht, das große Teile der Bevölkerung Jujuys im Kampf vereint.

Der Süden lehnt sich auf

(Foto: Victor Hübotter)

Nur wenige Meter von den jahrtausendealten Mayatempeln im mexikanischen Biosphärenreservat Calakmul entfernt entsteht ein riesiger Komplex für Tourist*innen. Das Sekretariat für Nationale Verteidigung schützt die Bauarbeiten und verwaltet das bis heute nicht genehmigte Projekt. 1989 wurde Calakmul zum Naturschutzgebiet, die Maya im Schatten der Pyramiden ihrer Ahnen wurden vertrieben. Dabei lebten diese im Einklang mit dem Wald. Das neue Massentourismushotel steht für das Gegenteil und die Reservatsbildung offenbart sich als kolonialer Landraub.

Dieser ist Teil einer „territorialen Neuordnung” im gesamten Südosten des Landes, den die aktuelle Regierung des Präsidenten López Obrador durch zwei Infrastrukturprojekte vorantreibt: Den „interozeanischen Korridor” im Isthmus von Tehuantepec und das seitens der Regierung als „Maya-Zug“ bezeichnete Projekt, das durch die gesamte Yucatánhalbinsel bis nach Chiapas führt. Die beiden Projekte sind miteinander verbunden und öffnen den gesamten Südosten Mexikos für einen „Fortschritt“, der nur Wenigen dient: Über die großen Häfen an beiden Ozeanen, die ausgebaut und gekoppelt werden, und neue Straßen, (Güter-) Zugstrecken und Flughäfen vernetzen sich große Industrieparks mit Fabriken und Raffinerien, Monokulturen und Energieparks, Massentourismus und -tierhaltung. Dort, wo dutzende indigene Gruppen bis heute einige der artenreichsten Ökosysteme der Welt schützen.

An einem Aprilmorgen dieses Jahres versammeln sich hunderte Menschen auf einem besetzten rancho bei Pijijiapan und brechen auf zur Karawane „Der Süden widersteht”: An der geplanten Strecke der beiden Megaprojekte entlang, durch die Bundesstaaten Chiapas, Oaxaca, Veracruz, Tabasco, Campeche, Yucatán und Quintana Roo, teilen sie ihren Schmerz über die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen – und die Hoffnung ihres Widerstands.

Den Fracking- und Gaspipelines stellt sich der Consejo Autónomo in El Progreso entgegen. In Oaxaca organisiert sich der Ort Puente Madera, um einen der fünf geplanten Industrieparks des interozeanischen Korridors zu stoppen, der den heiligen, ertragreichen cierro Pitayal in eine Asphalt- und Fabrikwüste verwandeln würde. Hunderte Menschen aus zahlreichen Gemeinden versammeln sich hier, um Erfahrungen und Strategien auszutauschen: gegen die Windparkanlagen, die der indigenen Bevölkerung in einem perfiden Beispiel des Kolonialismus im „grünen Kapitalismus“ ihr Land stehlen, um anschließend Billigstrom an die großen Fabriken der Textil- oder Lebensmittelindustrie zu liefern, während die Gemeinden kein Licht haben; zerstörerischen Bergbau; Pipelines; Monokulturen; die Zerstörung des Chimapala-Regenwaldes; wasserstehlende Staudämme und die Verschmutzung der letzten gesunden Flüsse, Seen und Meere.

Die kapitalistische Erschließung des Territoriums geht mit einer massiven Militarisierung und der extremen Zunahme organisierter Kriminalität einher, denn in den neuerschlossenen Gebieten spielen Drogen-, Menschen-, Waffen- und Tierhandel plötzlich eine Rolle. Beide Akteure gehen zudem mit entmenschlichender Brutalität gegen die Migrant*innen vor, die vor Leid und Zerstörung aus der Karibik, Süd- und Mittelamerika fliehen und dieses umkämpfte Gebiet zum größten Migrationskorridor der Welt machen. Für sie bedeuten die Großprojekte der Armee einen rassistischen Filter. Manche werden aufgehalten, andere eingesperrt, andere ermordet und wieder andere als Billigarbeitskräfte auf den Baustellen ausgebeutet, genauso wie die indigene Bevölkerung, die in den Hotels putzen soll, während man ihre Kultur den Tourist*innen tot in den alten Pyramiden präsentiert.

In Oteapan im Bundesstaat Veracruz wehren sich die Menschen gegen Minen, riesige Müllhalden, die Lager hochgiftiger Restbestände der Ölraffinerien auf ihrem Land, die Privatisierung ihres Wassers und weitere Industrieparks. In der Gemeinde El Bosque am Golf von Mexiko hat der Klimawandel das kleine Fischerdorf bereits verschluckt, doch der Widerstand der Menschen ist nicht untergegangen. Sie sind Zeug*innen der (Klima-)Ungerechtigkeit. Hier haben sie am wenigsten zum Anstieg des Meeresspiegels beigetragen, sind aber vor allen anderen die Opfer der in ihre ehemaligen Wohnzimmer, Schulen und Kirchen schwappenden Wellen. Wir reden von dem von Hurricanes und Überschwemmungen heimgesuchten Küstenabschnitt, an dem im Zuge des interozeanischen Korridors und des „Maya-Zugs“ neue Ölplattformen und Hotelanlagen im Meer oder wenige Meter vor dem Meer entstehen sollen.

„Wir steigen auf diesen Zug des Fortschritts nicht auf“

Der Südosten Mexikos ist begehrt als neuer Knotenpunkt der Weltwirtschaft: Die Deutsche Bahn, die sich selbst als „Deutschlands schnellster Klimaschützer“ bezeichnet, beteiligt sich am „Maya-Zug“. Der französische Konzern Alstom („Mobility by Nature“) baut die Wagons, Bundespräsident Steinmeier bittet um Flüssiggas, deutsche Konzerne beliefern die Raffinerien, kanadische Konzerne graben die Landschaft um, spanische Ingenieur*innen planen die Zerschneidung des Regenwaldes, italienische Konzerne bauen die Häfen aus, chinesische wie US-amerikanische Unternehmen verbinden die Strecken.

Die deutsche Bundesregierung und die Deutsche Bahn geben auf Nachfrage an, dass Bedenken bezüglich Umweltzerstörung und Menschenrechtsverletzungen im Falle des „Maya-Zugs“ aufgrund der Einbindung zahlreicher UN-Institutionen in das Projekt unbegründet seien. Doch genau jene Institutionen, unter ihnen das Hochkommissariat für Menschenrechte, kritisieren den „Maya-Zug“, insbesondere die mangelhafte Umsetzung der geforderten Konsultationen der indigenen Gemeinden.

Andere der angeführten UN-Abteilungen sind derweil in Korruptionsskandale verstrickt, da sie für Geld von der Umweltverträglichkeit des „Maya-Zugs“ sprechen. Sie sind mitverantwortlich für einen Ökozid. Die Megaprojekte bedrohen die letzten großen Regenwälder Amerikas, das zweitgrößte Korallenriff der Welt, die Mangroven und das größte Süßwasservorkommen des Landes – Territorien mit der höchsten Artenvielfalt Mexikos, dem Land mit der fünftgrößten Biodiversität des Planeten, Territorien, bewohnt und beschützt von indigenen Gemeinschaften, den Vorkämpfer*innen für Artenvielfalt und gegen die Klimakatastrophe.

Und diese wehren sich: „Wir steigen auf diesen Zug des Fortschritts nicht auf, weil wir wissen, dass seine Stationen Dekadenz, Krieg, Zerstörung und seine Endstation die Katastrophe sind“, verkünden Delegierte des nationalen indigenen Kongresses auf der Abschlusskundgebung der Karawane in Palenque, zurück in Chiapas, dort, wo der „Maya-Zug“ beginnen soll.

Die Katastrophe trifft viele dann, wenn sie sich gegen ebendiese aufzulehnen versuchen. Die Karawane hört vom unschuldig inhaftierten und gefolterten Zapatista Manuel Vasquez, der nun bereits seinen 21. und 22. Geburtstag im Gefängnis verbringen musste. Die Gesandten aus Guerrero berichteten von vierzig Ermordeten und zwanzig Verschwundenen in den letzten Jahren, während die indigenen Tzeltal aktuelle Folter und vergangene, unbestrafte Massaker verurteilen. Dutzende Teilnehmende des „Südens, der widersteht“ erhalten Morddrohungen oder werden mit ungerechtfertigten Haftbefehlen gesucht. Im Protestcamp „Tierra y Libertad“ gedachte die Karawane dem Mord an Bety Cariño und dem sie begleitenden Menschenrechtsbeobachter Jyri Jaakkola. Nur wenige Stunden nach diesem Besuch stürmten schwer bewaffnete und vermummte Einheiten von Militär, Nationalgarde und Polizei diesen Ort indigener Selbstverwaltung. Die Antwort auf die Schläge, Verwüstung und die Verschleppung von sechs compas war eine Welle der nationalen und internationalen Solidarität, die zur Freilassung der Festgenommenen führte.

Die Blockade des interozeanischen Korridors ist nicht nur Verteidigung gegen lokalen Landraub, Militarisierung und Umweltzerstörung. Es ist das Auflehnen gegen ein System, welches, den Abgrund bereits vor Augen, noch einmal schneller auf diesen zufährt. Es ist unsere Pflicht, als die, die im Schatten der verantwortlichen Konzernzentralen leben, Teil dieser Auflehnung zu sein, statt von Vereinigung von „Wohlstand und Klimaschutz“ oder „grünem Kapitalismus“ zu reden, während El Bosque (und Italien, und das Ahrtal…) im Wasser versinkt, anderswo das Wasser verschwindet, und diejenigen, die bereits jetzt ihre Lebensgrundlage verloren haben, im Wasser ermordet und sterben gelassen werden.

BLUMEN FÜR DEN ZUGANG ZUM EIGENEN LAND

Fotos: Pedro Ramos/LAVACA

Es war um 11:52 Uhr am Montag, dem 20. September, als ein Traktor zu brummen begann und sich der Himmel eines grauen Tages in Buenos Aires allmählich grün färbte: Hunderte von Händen reckten Salate, Mangold, Spinat, Rote Bete und Radieschen in die Höhe. Die Landarbeiter*innengewerkschaft UTT hatte die biologischen Lebensmittel aus kooperativer Landwirtschaft für einen verdurazo (also eine Protestaktion mit Gemüse, das in Massen aufgefahren und später verschenkt wird) bereitgestellt, der das zweitägige Protestcamp vor dem argentinischen Kongress einläuten sollte.

Unter Gesängen von Alerta, alerta, alerta que camina / la lucha campesina por América Latina („Achtung, Achtung, der bäuerliche Kampf zieht durch Lateinamerika“) zog der Traktor einmal um jenes Gebäude, in dem das Gesetzesprojekt für das Ley de Acceso a la Tierra verhandelt werden soll. Das Gesetzesvorhaben wurde dem Kongress bereits drei Mal vorgelegt. Es geht dabei nicht etwa um eine Landwirtschaftsreform, vielmehr sieht das Vorhaben die Schaffung eines Treuhandfonds vor, um bäuerlichen Familien einfacher Kredite gewähren zu können. Diese könnten die Mittel nutzen, um eigenes Land zu kaufen, ihre Wohnhäuser zu renovieren oder ihre Infrastruktur zu verbessern. Das Projekt sieht außerdem vor, dass ungenutzte landwirtschaftliche Flächen, die sich im Staatsbesitz befinden, für die Produktion von Lebensmitteln aus biologischer Landwirtschaft bestimmt werden, so wie es bereits in unterschiedlichen Landkreisen des argentinischen Staates gang und gäbe ist.

Während des Spaziergangs erzählt Agustín Suárez, einer der Vertreter*innen von 20.000 bäuerlichen Familien, warum das Projekt so wichtig ist: „Das Gesetz ist sehr simpel und so konzipiert, dass es ohne große Diskussionen angenommen werden kann. Es sieht einen Mechanismus vor, der auf einen Zuwachs hinauswill – einen ländlichen Zuwachs. Kleinproduzenten, Bauern und Kooperativen können so Kredite für den Kauf von Land und anderen Mitteln, ihre Infrastruktur und die Verbesserung ihrer Produktion aufnehmen. Außerdem stellt das Gesetz die Gebiete in Frage, die dem Staat gehören. Viele von ihnen werden gar nicht genutzt. Mit dem Gesetz sollen sie der biologischen Landwirtschaft für die Gründung neuer Siedlungen zugewiesen werden.“

Wie die UTT erklärt, wurde das Vorhaben dem Kongress im Oktober 2020 bereits zum dritten Mal vorgelegt, nachdem es schon zwei Mal von der parlamentarischen Tagesordnung gerutscht war. Im Mai berieten die Kommissionen für Landwirtschaft und rechtliche Belange zwar darüber, kamen jedoch zu keinem Ergebnis.

„Wir müssen sie wachrütteln“, so formuliert es Rosalía Pellegrini, eine der Gründer*innen der Landarbeiter*innengewerkschaft. „Bei dem Gesetz geht es um einen strategischen Gedanken wie eben den Zugang zu Lebensmitteln mitten in einer Welt in einer Pandemie. Wir müssen jetzt ein Modell für die Industrie zur Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte entwickeln, das uns wirklich mit Essen versorgt. Jetzt ist der Moment, und es muss mit diesem Kongress geschehen. Auch wenn es nur die Vorwahlen waren, so haben wir doch gesehen, dass ein politischer Sektor an Kraft gewinnt, der Gesetzesprojekte wie dieses nicht mehr unterstützen wird (siehe Artikel auf Seite 6). Außerdem fühlen wir uns betrogen, denn alle politischen Kräfte erzählen dir, wie gerecht es doch sei. Aber am Ende eines jeden Jahres entwickelt es sich dann in eine Richtung, die den Errungenschaften der Menschen schadet. Also: Jetzt ist der Moment und es ist dringend.“

Nachdem die Menschenmenge gemeinsam mit dem Traktor das Kongressgebäude umrundet hat, folgt am ersten Tag des Protestcamps ein verdurazo und ein yerbatazo, bei dem verschiedenste Kräuter aufgefahren, verkauft oder verschenkt werden. Während Hunderte Kisten mit Gemüse ausgeladen werden, bildet sich am Camp eine lange Schlange. An Holztischen gibt es biologische Produkte aus kooperativer Landwirtschaft zu kaufen: Gebäck, Oliven, Dulce de Leche und Matetee für 360 Peso (etwa 3,15 Euro das Kilo) – der Renner des Tages. Verschiedene Gruppen halten ihre Versammlungen ab, das Consultorio Técnico Popu-lar, eine technikversierte Gruppe von Landarbeiter*innen, gibt einen Gemüsegarten-Workshop.

Am folgenden Tag organisiert das Protestcamp für Besucher*innen eine offene Radiosendung, wieder Unmengen von Gemüse und ein Meer aus Blumen zum Frühlingsanfang am 21. September. Verschiedene Netzwerke und Plattformen bieten Workshops und Diskussionsveranstaltungen über Ernährung und genveränderte Weizensorten an. Zum Abschluss des Protestcamps gibt es Kunst und Musik.

„In Argentinien sind nur 13 Prozent des Landes in den Händen kleiner Produzenten. Die produzieren aber trotzdem mehr als 60 Prozent der Lebensmittel für den internen Markt. Währenddessen kontrolliert nur ein Prozent der Landwirtschaftsunternehmen ganze 36 Prozent des Kulturlandes“, heißt es in einem Text der UTT, der auf dem Camp zirkuliert.

Vor dem Kongress führt Lucas Tedesco, Lebensmittelproduzent und UTT-Mitglied, aus: „Dieses Modell führt dazu, dass wir in den Gemüseladen, die Bäckerei oder das Lebensmittelgeschäft gehen und die Preise sehen, die es heute gibt. Wir haben immer weniger Fläche, um Lebensmittel zu produzieren. (…) Und wenn es etwas gibt, was sich in diesen Jahren verstärkt hat, dann ist es das landwirtschaftlich-industrielle Modell. Es ist das gleiche, wie mit dir zu diskutieren, ob Giftstoffe über einer Schule versprüht werden dürfen, während die Kinder im Klassenzimmer sitzen. Wir sind hier, um innerhalb der Vorschriften des Kapitalismus darum zu bitten, einfach nur einen zugänglichen Kredit abbezahlen zu können. Deswegen wollen wir den Menschen bewusst machen, dass dieses Gesetz allen nützt: Verbrauchern und Produzenten.“

Die Landreform als Schreckgespenst der Rechten

Der Artikel 1 des Gesetzesprojektes schlägt die Schaffung eines öffentlichen Treuhandfonds für die familiäre Landwirtschaft vor, der von der staatlichen Banco Nación verwaltet werden soll. Es wäre der Anfang einer Politik für den ländlichen Raum, die das Recht auf Wohnraum, eine würdige Wohnumgebung und die wirtschaftliche und soziale Entwicklung stärkt.

Der Gewerkschafter Suárez betont, dass das Gesetz keine Landwirtschaftsreform vorsieht. Denn letztere ist ein Schreckgespenst, vor dem der gesamte Wirtschaftssektor Angst hat. „Davon sind wir weit entfernt. Niemand kann gegen das Gesetz sein, denn es ist ein Mechanismus, der Kredite für den Sektor schafft. Einzig beim Thema der Anbauflächen im staatlichen Besitz könnte es Diskussionen geben. Aber bereits heute werden staatliche Flächen zu landwirtschaftlichen Zwecken genutzt. Und wir können zeigen, dass es funktioniert, dass es ein würdiges Leben und gesunde Lebensmittel für die Menschen ermöglicht. Wenn wir die Produktion verbessern, können wir den Menschen noch mehr gesunde Lebensmittel anbieten“, so Suárez.

„Hier gibt es viel Land in wenigen Händen“

Zu den Auswirkungen des Gesetzes meint der Gewerkschafter: „90 Prozent des bäuerlichen Sektors und der Kleinproduzenten produzieren die Gemüsesorten, die hier zu sehen sind. Und mehr als 90 Prozent von ihnen hat kein eigenes Land. Das Gesetz hätte darauf große Auswirkungen. Wie groß genau, wissen wir noch nicht, weil es vom Fonds abhängt, aber es wäre sehr symbolisch für den Sektor. Das ist in Argentinien etwas Strukturelles: Hier gibt es viel Land in wenigen Händen. Und nun gibt es die Aussicht auf Umverteilung und darauf, dass die staatlichen Flächen für kooperative Landwirtschaft genutzt statt verkauft werden könnten.“

Rosalía Pellegrini deutet auf einen weiteren Aspekt hin: „All diese Familien zahlen monatlich 15.000 Pesos (ca. 130 Euro) pro Hektar. Stell dir vor, was es für sie heißt, Zugang zu eigenem Land zu haben, etwas riskieren zu können, ein würdiges Zuhause aus gutem Material bauen zu können. Heute leben sie sehr schlecht, in prekären Behausungen. Und das, obwohl wir Familien sind, die biologische Lebensmittel zu fairen Preisen produzieren! Wir sind mehr als 20.000 Familien, die sich organisiert und gezeigt haben, dass es möglich ist. Und trotzdem gibt es keine Politik, die etwas verspricht und es auch ernst meint.“

Pellegrini gibt ein Beispiel: „Um die Preise zu besprechen, treffen sie sich nur mit den Großen. Und das Einzige, was sie machen, ist, Vereinbarungen mit den Supermärkten zu treffen, damit die für ein paar Tage die Preise einzelner Produkte senken und anschließend wieder erhöhen.“

Es gebe viele Gründe dafür, warum die Bearbeitung des Gesetzes sich immer weiter verzögert, so heißt es: Covid-19, die Wahlen, die aktuelle politische und institutionelle Krise im Land. UTT-Gründerin Pellegrini meint: „Wir erleben eine schwere Krise der politischen Repression. Es erscheint uns, als wäre die Politik auf der anderen Seite. (…) Auf eine gewisse Weise muss man doch zuhören. Genau diese Möglichkeit gibt uns die Demokratie: Dass den Menschen zugehört werden kann. Heute geht der Großteil eines Lohns fürs Tanken, die Mobilität und fürs Essen drauf – super wichtige Dinge. Die Frage der Lebensmittelpreise zu lösen bedeutet, das Modell der Lebensmittelindustrie infrage zu stellen: Zugang zum eigenen Land, nachhaltige Landwirtschaft, Finanzierung von Kooperativen, die Entwicklung einer sozialverträglichen Wirtschaft in den Lebensmittelgeschäften, im direkten Verkauf und auf Märkten. Alles, was in der Politik über Ernährungssouveränität geredet wird, ist Quatsch, denn damit sind nicht die Familien gemeint, die direkt verkaufen, was sie produzieren.“

HAITIS ZIVILGESELLSCHAFT LÄSST NICHT LOCKER

Proteste in Port-au-Prince Erst auf starken Druck hin hat Präsident Moïse Parlamentswahlen angesetzt (Foto: Aljazeera via Wikimedia Commons CC BY-SA 4.0)

Haitis Präsident Jovenel Moïse hat eine exklusive Sicht auf die Dinge: „Der Demokratie geht es gut in Haiti.“ Dieses Bild versuchte er bei seiner Rede vor dem Weltsicherheitsrat in New York zu vermitteln, wo er am 22. Februar zum Rapport antreten musste. Dabei musste er sich unangenehme Kritik anhören: „Die Verantwortlichen für die Massaker von La Saline und Bel Air müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Ich stelle auch fest, dass die Ermittlungen zur Ermordung von Monferrier Dorval (Präsident der Anwaltskammer von Port-au-Prince, Anm. d. Red.) nicht vorankommen. Der Kampf gegen die Straflosigkeit muss die Priorität der Behörden sein“, brachte die UN-Botschafterin Frankreichs, Nathalie Broadhurst, ihren Unmut über die Entwicklung in der ehemaligen Kolonie zum Ausdruck. Die Massaker in La Saline am 13. November 2019 und in Bel Air am 1. September 2020 mit mehr als 70 Toten sind die traurigen Höhepunkte der Repression in der Amtszeit von Präsident Jovenel Moïse, gegen den seit Mitte 2018 immer wieder Massenproteste stattfinden. Sie richten sich gegen Korruption und Straflosigkeit, aber auch gegen die zunehmende Gewalt im Land und die Einmischung von außen.

Seit einem Jahr regiert Moïse per Dekret, denn das Parlament ist seit dem 13. Januar 2020 nicht mehr funktionsfähig – die Neuwahlen stehen seit 2018 aus. Für die Opposition ist Moïses Amtszeit am 7. Februar abgelaufen. Sie beruft sich dabei auf die Verfassung, die eine fünfjährige Amtszeit vorsieht – und im Februar 2016 gab Präsident Michel Martelly die Amtsgeschäfte ab. Martellys Gefolgsmann Moïse rechnet anders und datiert den Beginn seiner Amtszeit auf den Zeitpunkt seiner Vereidigung im Februar 2017. Moïse hat vor dem Weltsicherheitsrat nochmals bekundet, dass er die Regierung an den Gewinner der Wahlen im Oktober 2021 übergeben und nicht zurücktreten werde, bis seine Amtszeit im Februar 2022 ausläuft. Sekundiert wird Moïse von der US-Regierung unter dem neuen Präsidenten Joe Biden. Die Administration in Washington sagte, dass ein neu gewählter Präsident Moïse nachfolgen sollte, „wenn seine Amtszeit am 7. Februar 2022 endet.“

Es sind vor allem junge Leute, die heute auf die Straße gehen

Der 7. Februar war in Haiti ein weiteres Mal geschichtsträchtig. An jenem Tag endete 1986 durch die Flucht von Jean-Claude „Baby Doc“ Duvalier ins französische Exil die Duvalier-Diktatur; sie hatte 1957 durch einen Militärputsch begonnen, der „Baby Docs“ Vater François Duvalier an die Macht brachte. Genau 35 Jahre später überschlugen sich die Ereignisse: Seit jenem Sonntag hat Haiti zwei Präsidenten. Neben dem 52-jährigen Jovenel Moïse, den 72-jährigen Richter Joseph Mécène. Er ist der älteste Richter am Obersten Gerichtshof, der von der Opposition unterstützt, aber von der internationalen Gemeinschaft ignoriert wird. Er legte den Amtseid allein in einem Raum ab, der mit der haitianischen Flagge geschmückt war. Dokumentiert wurde die Zeremonie über sein Facebook-Konto.

Verschanzt in seiner Residenz in Kenscoff, in den kühlen Bergen hoch über Port-au-Prince, sprach Moïse per Videobotschaft von einem Staatsstreich, ließ vermeintliche Verschwörer festnehmen und erklärte, eine Gruppe von Oligarchen wolle die Macht übernehmen. Laut Regierung wurden 23 Verdächtigein Haitis Hauptstadt Port-au-Prince verhaftet. Sie sollen geplant haben, Moïse umzubringen und die Regierung zu stürzen.

Pays lòk, blockiertes Land – so wird die Lage in Haiti auf den Punkt gebracht

Auf den Straßen ging die Polizei derweil mit Tränengas gegen Demonstrant*innen vor, die den Rücktritt von Moïse forderten. In der ersten Februarwoche hatten die Gewerkschaften zu einem Generalstreik aufgerufen, Port-au-Prince war teilweise völlig lahmgelegt. Pays lòk, blockiertes Land – so wird die Lage in Haiti oft auf den Punkt gebracht. Die Haitianer*innen protestierten gegen die dauerhaft angespannte Sicherheitslage. Sogar Schulen bleiben teilweise geschlossen. Nicht wegen der Corona-Pandemie, sondern um Lehrkräfte und Schüler*innen vor möglichen Entführungen zu schützen. Die haitianische Menschenrechtsorganisation Défenseurs Plus hat rund 1000 Entführungen allein im vergangenen Jahr registriert. Moïse werden enge Verbindungen zu kriminellen Banden vorgeworfen.
Für die 2018 abgesagten Parlamentswahlen hatte Moïse lange keinen neuen Termin angesetzt. Angesichts des zunehmenden Drucks der Opposition hat er im Januar schließlich die Termine für die nächsten Präsidenten- und Parlamentswahlen verkündet. Im September und November soll nun gewählt werden.

Zuvor soll jedoch am 25. April ein Verfassungsreferendum abgehalten werden. Moïse strebt eine Stärkung der Position des Präsidenten einschließlich der Möglichkeit einer zweiten Amtszeit an, auf die er selbst, wie er hochheilig versichert hat, aber verzichten wolle. Das Amt des Ministerpräsidenten soll zudem abgeschafft werden. Bis jetzt ähnelt Haitis politisches System in dieser Beziehung dem System Frankreichs. Die Opposition hält das Referendum für verfassungswidrig, weil gemäß der Verfassung von 1987 Änderungen nicht per Plebiszit, sondern über Parlament und Senat in die Wege geleitet werden müssten.

Die Wut der Haitianer*innen richtet sich nicht nur gegen Moïse


Es sind vor allem junge Leute, die heute auf die Straße gehen mit Forderungen nach einer Verfassunggebenden Versammlung, nach einem neuen, gesellschaftlichen Konsens. „80 Prozent der Bevölkerung wollen nicht nur einen Regierungswechsel, sondern eine grundlegende Reform von Staat und Gesellschaft“, sagte Wirtschaftsprofessor Alrich Nicolas von der Universität in Port-au-Prince den Lateinamerika Nachrichten. Die sogenannte Core Group unterstütze die Forderungen der Zivilgesellschaft nicht. Dabei seien die Forderungen ja nicht revolutionär, sondern klassisch: Zugang zu öffentlichen Gütern, freie Wahlen, Sicherheit.

Die ehemalige Besatzungsmacht USA betrachtet den neoliberalen Unternehmer Jovenel Moïse als Garantie dafür, dass in Haiti keine linken Experimente stattfinden. So ist der Totalprivatisierung, die der Bauernführer Jean-Baptiste Chavanne befürchtet, Tür und Tor geöffnet: „Die vergangenen Regierungen haben schon privatisiert. Nun gibt es den Plan der totalen Privatisierung, bis hin zum Gesundheits- und Bildungssektor.“

Die Wut der Haitianer*innen richtet sich daher nicht nur gegen Moïse, sondern ist gemischt mit einer bitteren Enttäuschung über die internationale Gemeinschaft. „Die Haitianer fragen sich, warum das, was in fast aller Welt gilt, nicht auch für sie gilt“, analysiert Alrich Nicolas. Eine Antwort der „Core Group“ steht aus.

PANDEMIE, PROTESTE UND POLIZEIGEWALT

Die Unzufriedenheit in Kolumbien äußert sich in Protesten, Foto: Medios Libres Cali, Kolumbienkampagne

Am 9. September gingen Bilder durchs Land, die zeigen, wie zwei Polizisten der städtischen Polizei in Bogotá einen Mann brutal zusammenschlagen. Das Flehen des am Boden Liegenden, sie mögen aufhören, hielt sie nicht davon ab, ihn weiter mit Elektroschocks zu traktieren. Das Opfer, Javier Ordoñez, wurde danach in eine Einsatzstation der Polizei gebracht, von wo aus er am Donnerstag, den 10. September, in ein Krankenhaus überführt wurde. Die Autopsie ergab, dass Javier bereits ohne Lebenszeichen in die Klinik eingeliefert wurde.

Die Demonstrationen ließen nicht lange auf sich warten. Bürger*innen protestierten vor verschiedenen Einsatzstationen und brannten 17 davon komplett nieder. Die Polizei reagierte mit beispielloser Härte. Bei Zusammenstößen wurden in den ersten beiden Tagen 13 Zivilist*innen durch Schusswaffen getötet, 209 verwundet und 194 Polizist*innen verletzt. Diese Zahlen scheinen eher zu einem Bürgerkrieg als zu einer Protestwelle zu passen. Auch in den sozialen Netzwerken kursieren zahlreiche Videos von Polizist*innen, die wahllos in Menschenmengen schießen, auf Passant*innen einprügeln oder Fenster von Häusern und Autos einschlagen.

Die jüngsten Ausschreitungen sind eine Fortführung der Protestaktionen, die mit dem landesweiten Streik am 21. November 2019 begannen. Die Corona-Pandemie, der Gesundheitsnotstand, und strikte Isolationsmaßnahmen haben Proteste für die letzten sieben Monate nahezu unmöglich gemacht. Doch eine politische Strategie, um dem Rückgang des stark informell geprägten Arbeitsmarktes zu begegnen, fehlt weiterhin. Betroffen davon ist vor allem die junge Bevölkerung, die auch die momentanen Proteste anführt.

Familien, denen es an Grundlegendem mangelt, hängen rote Tücher in die Fenster

In den Randbezirken Bogotás gab es schon vor den Geschehnissen vom 9. und 10. September Blockaden und Demonstrationen. Familien, denen es an Grundlegendem mangelt, hängen rote Tücher in die Fenster, um die Nachbarschaft und die Gesellschaft im Allgemeinen auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Durch die Pandemie erreichte die Arbeitslosenquote mit 21 Prozent im Mai ein neues Hoch, laut Nationalem Statistikinstitut DANE verloren 43 Prozent der Arbeitslosen ihren Job durch die Pandemie. Hunderte Familien mussten ihre Wohnungen verlassen, Unterstützung durch die Bezirksverwaltung gibt es kaum.

Fernab der Hauptstadt, in den ländlichen Gebieten, sieht es noch düsterer aus. Seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens im Jahr 2016 wurden unter der Regierung von Präsident Duque bis zum 21. August 2020 1.000 Anführer*innen und 153 ehemalige Kämpfer*innen der FARC getötet. Der exponentielle Anstieg von Morden an ehemaligen FARC-Mitgliedern sowie Massakern an der Zivilbevölkerung zeigt eine deutliche Verschärfung des bewaffneten Konflikts. Allein in den ersten neun Monaten dieses Jahres sind 56 Massaker an der Zivilbevölkerung verübt worden, häufig in Regionen, die durch Kämpfe zwischen bewaffneten Gruppen, den Drogenhandel, ein hohes Maß multidimensionaler Armut und die schlechte Umsetzung des Friedensabkommens gekennzeichnet sind.

Nach dem jüngsten Bericht des Kroc-Instituts der University of Notre Dame, das mit der Überwachung der Umsetzung des Friedensabkommens beauftragt ist, hat sich diese Umsetzung in den letzten Monaten immer mehr verzögert. Das fällt mit dem Beginn der Regierung Duques zusammen, der eine Politik des „Friedens mit Legalität“ proklamiert, ein Ansatz, der dem Geist des Abkommens entgegenläuft und eine militarisierte Präsenz des Staates in den Regionen forciert. In den Verwaltungsbezirken Antioquia, Putumayo, Tumaco, Cauca und in der Region Catatumbo an der Grenze zu Venezuela lebt die Zivilbevölkerung im Kreuzfeuer, doch die Regierung beschränkt sich darauf, die Massaker mit Euphemismen wie „kollektive Morde“ zu bezeichnen.

Der im März bekanntgewordene Skandal um den Stimmenkauf des amtierenden Präsidenten Iván Duque in Zusammenarbeit mit dem Drogenhändler José Guillermo „Ñeñe“ Hernández (siehe LN 550) enthüllte ein offenes Geheimnis: die enge Beziehung zwischen der organisierten Kriminalität und dem politischen System. Doch die Ermittlungen wurden systematisch behindert und verschleppt, die beteiligten Ermittler*innen entlassen und die eigentlich unabhängigen Kontrollgremien des Staates, wie die Procuraduría, der Rechnungshof und der Ombudsrat, gingen an Beamte, die den politisch Machthabenden nahestehen. Vor diesem Hintergrund war klar, dass nach der Aufhebung der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung die Proteste wieder aufflammen würden. Die Ermordung von Javier Ordóñez war so gesehen ein Moment, der die allgemeine Unzufriedenheit katalysierte und die Demonstrationen reaktivierte.

Der bewaffnete Konflikt hat zu einer Unschärfe zwischen den Aufgaben von Polizei und Armee geführt

Die Ereignisse vom 9. und 10. September haben einige gravierende Probleme erneut sehr deutlich gemacht. So ist die kolumbianische Polizei nicht dem Innen- oder Justizministerium unterstellt, sondern dem Verteidigungsministerium. Die Verbrechen, derer Polizeibeamt*innen beschuldigt werden, werden demnach in der Militärjustiz untersucht und bestraft. Das wirft Fragen hinsichtlich der Unparteilichkeit auf, denn die Richter*innen sind gleichzeitig Angehörige des Militärs. Und das, obwohl die Polizei in Verfassung und Strafgesetzbuch als zivile Einheit definiert ist.

Laut Artikel 315 der Verfassung haben die Bürgermeister*innen die höchste Autorität über die Polizei, sie bestimmen über den ordnungspolitischen Rahmen und die Anwendung der Polizeivorschriften in ihren Städten. Allerdings kollidiert das mit Artikel 218, der besagt, dass die Polizei in der Hierarchie auf nationaler Ebene steht. Das Polizeipräsidium untersteht dem Verteidigungsministerium, das seinerseits die Befehle der Landesregierung befolgt. Diese Konstellation macht es den Bürgermeister*innen unmöglich, die Handlungen der Polizei zu kontrollieren – was sie allerdings nicht von der politischen Verantwortung der begangenen Straftaten entbindet.

Schließlich gibt es auch keine klaren Vorgaben hinsichtlich Kontrolle, Sanktionierung und Ausbildung der Polizei im Bereich der Menschenrechte. Bisher beschränkt sich die Diskussion über die Polizei auf eine Reform ihrer institutionellen Ausgestaltung, wobei ihre Unterstellung unter das Innen- oder Justizministerium vermutlich auch das Festlegen solcher Vorgaben erleichtern würde.

Die Dauer des bewaffneten Konflikts in Kolumbien hat die Streitkräfte dazu gezwungen, sich nahezu ausschließlich der inneren Sicherheit des Landes zu widmen. Das hat zu einer Unschärfe der Aufgaben von Polizei und Armee geführt und die militärische Autonomie bei der Verwaltung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik gefördert. Die Proteste vom 21. September fordern aber nicht nur eine Polizeireform, sondern dass Kolumbien endlich die Gewalt, Ungleichheit und Korruption im Land überwindet. Forscher*innen des Centro de Investigación y Educación Popular / Programa por la Paz (Cinep/PPP, Zentrum für Forschung und Allgemeinbildung/ Programm für den Frieden) analysierten es folgendermaßen: „Die Demonstrationen, die nach dem Mordfall Javier Ordóñez losgingen, sind ein Zeichen der Unzufriedenheit, die in unserer Gesellschaft gärt und die durch Armut, Ungleichheit, Chancenlosigkeit, die Verschärfung des Konflikts und die Unfähigkeit der gegenwärtigen Regierung, mit Dissens umzugehen, hervorgerufen wird.“

Der Umgang des Präsidenten mit dieser heiklen Situation hat durchscheinen lassen, wie viel Macht die extreme Rechte mittlerweile hat. So hat Duque zum Beispiel nicht am symbolischen Versöhnungsakt für die Opfer des 9. September teilgenommen. Stattdessen besuchte er in Polizeiuniform eine der Einsatzstationen und schüttelte dort Hände. Zwar bedauere er die „schmerzhafte Situation“, die Javier Ordoñez widerfahren war, verurteilte aber die Gewalt beider Seiten und betonte das „noble Verhalten“ der Polizei, die versuche, die Umstände des Todesfalls aufzuklären. Er behauptete überdies, dass die Proteste von der Nationalen Befreiungsarmee (ELN) und FARC-Dissident*innen infiltriert worden seien. Hierauf wurden einige mutmaßliche Randalierer*innen festgenommen, bei denen es sich mit Sicherheit um falsos positivos der Justiz handelt, also um Fälle, in denen unschuldigen Bürger*innen Gewalttaten angelastet werden. Eine staatliche Taktik, um einen Sündenbock zu finden, was normalerweise Angehörige von Organisationen oder Bewegungen der politischen Opposition trifft. Die Antwort der Regierung Duque auf die Gewalt im September und die sozialen Protest im Allgemeinen sind brutale Repression und eine Unterstützung der Staatsgewalt; wahrlich faschistische Praktiken.

DIE FRAGE NACH DER HÖCHSTEN DRINGLICHKEIT

Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl

Unter anderem eine Fehleinschätzung führte zum dramatischen Anstieg der Fallzahlen von COVID-19: Ende April hatte die Regierung deren Entwicklung als „stagnierend“ eingeschätzt, begann über eine „sichere Rückkehr“ der Bürger*innen zur Arbeit nachzudenken und beriet sich mit Wirtschaftsführer*innen über eine Normalisierung der wirtschaftlichen Aktivitäten. Dann stieg die Zahl der Infektionen innerhalb weniger Tage dramatisch an. Auf schrittweise in mehreren Kommunen Santiagos verhängte Beschränkungen folgte erst am 13. Mai eine generelle Quarantäne, nachdem sich das Infektionsgeschehen vom wohlhabenden Osten der Stadt bereits in die bevölkerungsreicheren, ärmeren Teile ausgebreitet hatte.

Anfang Juni gab der damalige Gesundheitsminister Jaime Mañalich fast unbeachtet zu, dass die Strategie der Regierung versagt hatte. Diese beruhte entscheidend auf zwei Faktoren: einer deutlichen Reduzierung der Mobilität sowie einer effizienten Nachverfolgung der Fälle. Aber der mittels Handydaten geschätzte Umfang der innerstädtischen Reisen ging aufgrund relativ großzügig vergebener Passierscheine anstatt auf laut Expert*innen notwendige 35 Prozent nur auf 70 Prozent zurück, gleichzeitig konnten nur 60 Prozent der Infizierten nachverfolgt werden. Auch eine Verzehnfachung des Personals im Kontaktzentrum konnte die Lage nicht mehr ändern.

Erfolgreich war die Regierung hingegen dabei, die Anzahl der Tests und Intensivbetten mit Beatmungsgeräten zu erhöhen. Mittlerweile sind in Chile über 1 Million PCR-Tests durchgeführt worden, relativ zur Bevölkerung die höchste Zahl in Lateinamerika. Die Anzahl von Beatmungsgeräten konnte von etwa 1.000 Geräten Anfang April bis heute mehr als verdreifacht werden.

Unsolidarität mit tödlichen Folgen

Bei den Intensivbetten selbst hat die Regierung jedoch nur auf die öffentlichen Krankenhäuser direkten Einfluss. Während diese die Zahl ihrer Intensivbetten zum Teil deutlich ausbauten, erhöhte sich die Bettenkapazität privater Kliniken nur wenig. Der Grund: diese verzeichnen aufgrund einer gesetzlich festgelegten Abrechnungspauschale Umsatzeinbußen, wenn sie COVID-19-Patient*innen ohne private Krankenversicherung übernehmen. Daraufhin wurden die Privatkliniken unter Androhung von Sanktionen zum Ausbau weiterer Intensivplätze verpflichtet.

Dass die Privatkliniken ein wirtschaftliches Interesse haben, dem Gesundheitssystem gegenüber unsolidarisch zu sein, wirkt sich indirekt auf das Überleben der Menschen in den ärmeren Kommunen aus. Die Sterberate in den staatlichen Krankenhäusern ist durchschnittlich doppelt so hoch wie in den privaten. Mauricio Toro, stellvertretender Leiter des Krankenhauses Padre Hurtado, das mit 25 Prozent die höchste Sterberate in Santiago hat, erklärte schon im Juni gegenüber dem Medium CIPER Chile, dass in die staatlichen Krankenhäuser nur die schwersten Fälle kämen. „Wir arbeiten seit Wochen am Limit. Wir müssen festlegen, wen wir an ein Beatmungsgerät anschließen und wen nicht. Wir entscheiden uns für diejenigen mit den besseren Überlebenschancen.” Zu solchen Situationen kam es in vielen Krankenhäusern.

Mancherorts werden Menschen mangels Betten in der Notaufnahme beatmet, auch mit umfunktionierten Narkosegeräten. Zur bestmöglichen Nutzung freier Betten versucht eine zentrale Bettenkoordinationsstelle (UGCC) im Gesundheitsministerium die Patient*innen landesweit auf freie Intensivbetten zu verteilen. Nicht alle Patient*innen sind jedoch áusreichend transportfähig, andere werden häufig irrtümlich in bereits volle Krankenhäuser gebracht, da die UGCC nicht in Echtzeit arbeitet.

Die aktuelle Situation legt nahe, dass mehr Tests und Beatmungsgeräte allein das Problem nicht lösen. Das neoliberale Gesundheitssystem Chiles wird in Kombination mit dem Missmanagement der Regierung vermutlich Menschenleben gekostet haben. Der Radioreporter Carlos Escobar von Radio Plaza de la Dignidad formuliert es gegenüber LN so: „Das Gesundheitssystem legt die sozialen Unterschiede bloß und obwohl die Krise es erfordert, die staatlichen und privaten Systeme für die Behandlung zusammenzuführen, sind die Ansteckungen und Todesfälle in den ärmeren Bevölkerungsschichten anteilig höher.“

Alltag in Zeiten der Pandemie Auch im Lockdown bleibt Santiagos Metro nie leer (Fotos: Diego Reyes Vielma)

Eine ärmere Bevölkerungsgruppe, die auch während der Pandemie besonders benachteiligt ist, hat nun an den Staat appelliert: Eine Versammlung von Vertreter*innen verschiedener indigener Gruppen Chiles (ASODEPLU) weist in einem Aufruf darauf hin, dass es in ihren Gebieten oft an medizinischer Versorgung und Verkehrsmitteln mangele, keine Daten zur Verbreitung von COVID-19 in der indigenen Bevölkerung erhoben würden und bei den Pandemiemaßnahmen keinerlei Rücksicht auf ihre kulturellen Belange genommen werde. Die Aktivitäten der großen Unternehmen in ihren Gebieten wie der Bergbau, Forstwirtschaft oder die Lachszucht gingen jedoch weiter und würden teilweise während der Pandemie noch gezielt verstärkt.

Andere Benachteiligte sind zahlreicher und bereiten den regierenden Konservativen im Hinblick auf die kommenden Wahlen und das Verfassungsreferendum daher mehr Sorgen. Die Wirtschaft leidet in der Krise, die große Fluglinie LATAM hat Insolvenz angemeldet und die Arbeitslosigkeit mit über elf Prozent ihr Zehnjahreshoch erreicht. Die Rückkehr zu Präsenzunterricht an den Schulen ist auch nach vier Monaten noch nicht absehbar. Präsident Piñeras Zustimmungsrate war während der Pandemie noch nie so niedrig. Der Druck, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, ist also hoch. Die Regierung hat daher beschlossen, erneut Millionen von Lebensmittelkisten an von der Krise wirtschaftlich bedrohte Menschen zu verteilen. Gesundheitsminister Enrique Paris spricht derzeit von einer „leichten Besserung“ bei den Infektionszahlen, ein Beratergremium hat Kriterien für künftige Lockerungen ausgearbeitet.

Mehreren Abgeordneten der Regierungsparteien Nationale Erneuerung (RN) und Unabhängige Demokratische Union (UDI) war das noch nicht genug, sie verhalfen nun im Abgeordnetenhaus einer von der Opposition eingebrachten Verfassungsänderung zum Erfolg, die die Auszahlung von 10 Prozent der Pensionsanlagen aus dem System der privaten Rentenkassen AFP erlauben soll. Dieses wird seit langem dafür kritisiert, mit den Einlagen der Bevölkerung Investorengeschäfte zu betreiben, dafür aber nur eine mickrige Rente zu gewährleisten. Ein zeitgleich zur Abstimmung gestellter Solidarfonds, der die ausgezahlten Mittel ersetzen soll, verfehlte jedoch die nötige Mehrheit. Viele rechte Politiker*innen erklärten, dass die Verfassungsänderung künftig zu geringen Renten führen würde. Der Abgeordnete Gastón Saavedra entgegnete: „Es ist nicht wahr, dass die Renten nun wegen dieser 10 Prozent armselig werden. Die Leute sind ohnehin schon dazu verurteilt, schlechte Renten zu haben.“

Für Einwohner*innen der 64 Kommunen Chiles, die noch immer unter Quarantäne stehen, darunter die gesamte Hauptstadtregion, mögen diese politischen Entwicklungen nur ein kleiner Hoffnungsschimmer sein. Menschen mit nicht-systemrelevanten Berufen können dort nur zweimal wöchentlich mit einem online beantragten Passierschein der Carabineros ihr Haus verlassen. Diese werden zwar relativ großzügig vergeben, sind aber zeitlich begrenzt und nur für bestimmte Tätigkeiten gültig._In der Praxis sei das kaum mit der Lebensrealität vieler vereinbar, meint Carlos Escobar: „Für die Menschen, die darauf angewiesen sind, jeden Tag in prekären und informellen Arbeitsverhältnissen ihre Existenz zu sichern, ist es unmöglich, zu Hause zu bleiben und die Quarantäne einzuhalten“. Trotzdem setzt die Regierung auf harte Strafen bei Verstößen. Mitte Juni trat eine Regelung in Kraft, die zwischen drei und fünf Jahre Haft und Geldstrafen von bis zu 12,5 Millionen Pesos (etwa 14.000 Euro) für die Nichteinhaltung der Beschränkungen vorsieht. Seit der Ausrufung des Katastrophenzustands Mitte März hat es bis Mitte Juli laut Informationen des Innenministeriums beinahe 120.000 Festnahmen unter dem Vorwurf solcher „Straftaten gegen die öffentliche Gesundheit“ gegeben.

Protest in Zeiten der Pandemie Auch mit Maske droht staatliche Repression

Zur Sicherung der öffentlichen Ordnung ist auch das Militär noch immer auf den Straßen – die Verlängerung des Ausnahmezustands bis Mitte September gibt auch weiterhin die Befugnis dazu. Im Mai waren so über 70.000 staatliche Sicherheitskräfte auf den Straßen im Einsatz. Die 33.000 Militärs unter ihnen dürfen bisher nur für den Schutz sogenannter kritischer Infrastruktur – etwa das Stromnetzwerk oder Krankenhäuser – eingesetzt werden. Das will die Regierung aber durch eine Reform des Gesetzes für kritische Infrastruktur ändern. Viele befürchten eine Militarisierung der öffentlichen Sicherheit, sollte das Vorhaben es in bisheriger Form durch die Verhandlungen im Abgeordnetenhaus schaffen.

Auch die harten Strafen und die Präsenz des Militärs auf den Straßen konnten manche nicht davon abschrecken, auf die Straßen zu gehen. Mehrfach hatten Menschen aus den poblaciones bereits in den letzten Wochen gegen die Maßnahmen der Regierung und die unzureichende staatliche Versorgung während der Pandemie protestiert. „Wenn uns der Virus nicht tötet, dann tötet uns der Hunger“, hieß es bei den Protesten in Santiagos Außenbezirken. Waren diese Aktionen Ausdruck unmittelbarer Not, blieben andere Proteste eher ruhig oder fanden online statt. Außer beim Gedenken an die Streiks am 2. und 3. Juli 1986, bei denen große Teile der Arbeiter*innen als Zeichen des Protests gegen die Diktatur ihre Arbeit nieder- und das Land lahmgelegt hatten. In Santiago kam es zu Zusammenstößen mit den Carabineros, die Protestierenden zündeten Busse an und errichteten Barrikaden. In der Stadt Melipilla südwestlich der Metropolregion kam ein 21-Jähriger bei den Protesten ums Leben. Der zuständige General der Carabineros, Enrique Monraz, erklärte gegenüber der Presse, der junge Mann sei durch Schüsse der Demonstrierenden getötet worden, die polizeilichen Ermittlungen laufen. Viele Protestaktionen blieben derzeit von einer breiteren medialen Öffentlichkeit fast unbeachtet. „Die großen Fernsehsender sind zu Sprechern der kriminellen Regierung geworden, deswegen sind Community-Medien hier jetzt die wahre Informationsquelle“, meint Carlos Escobar. Die Arbeit kleiner und alternativer Medien wurde aber zuletzt immer schwerer. Escobar erklärt: „Mit der neuesten Regelung der Regierung wird eine rechtliche und steuerliche Unternehmensform auch für diese Medien vorausgesetzt. Für die meisten ist das nicht möglich, erst recht nicht während einer Gesundheitskrise“.

Anti-Riot Ausrüstung aus Europa

Für Unmut sorgten mitten in der Pandemie außerdem Berichte über Investitionen in Anti-Riot-Ausrüstung. So auch die auf ZEIT ONLINE veröffentlichte Recherche über die Kooperation deutscher und chilenischer Polizei sowie den Export deutscher Impulslöschpistolen nach Chile. Sieben Löschpistolen der Firma IFEX aus Niedersachsen hat die chilenische Polizei im Januar gekauft. Es gibt Hinweise darauf, dass die für die Brandbekämpfung entwickelten Pistolen gegen Protestierende eingesetzt wurden. Ende Juni bestätigte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags, dass die Geräte unter den Geltungsbereich der EU-Anti-Folter-Verordnung fallen und ihr Verkauf demnach von der Bundesregierung hätte kontrolliert werden müssen. Mitte Juni machten Angestellte im Hafen von San Antonio über Twitter außerdem die Ankunft eines neuen Wasserwerfers der österreichischen Firma Rosenbauer publik, auch das Onlinemedium El Desconcierto berichtete darüber. Laut einem Sprecher des Innenministeriums sei der Kauf bereits im vergangenen Jahr getätigt worden, die Lieferung habe sich jedoch verzögert und gleiche lediglich den Verschleiß an Ausrüstung seit Beginn der Proteste im Oktober 2019 aus.

Im Zuge der „Agenda für Sicherheit und sozialen Frieden“ treibt die Regierung nun außerdem die Reform des Geheimdienstgesetzes voran, die Präsident Piñera und Verteidigungsminister Alberto Espina schon vor der Coronakrise vorgelegt hatten. Seit Mitte März hat Piñera dem Projekt zur Modernisierung des staatlichen Sicherheitssystems und des Geheimdienstes ANI bereits elf Mal suma urgencia, „höchste Dringlichkeit“, zugesprochen – somit sind die Kammern des Parlaments gezwungen, innerhalb von 15 Tagen über das Projekt zu beraten.

„Wir Chilenen werden besser vor den internen und externen Bedrohungen geschützt sein“, kündigte Espina an. Schon früher hatte die Regierung Piñera in Pinochet-Manier gesellschaftliche Proteste als „Feind aus dem Inneren“ bezeichnet. Die Reform sieht die Schaffung eines neuen Rats vor, der den Präsidenten in Sicherheitsfragen beraten soll. Über den Haushalt des chilenischen Geheimdienstes ANI, im Jahr 2020 umgerechnet ca. 7,9 Mio. Euro, sollen zukünftig nur noch vier Personen – ANI-Direktor*in, Innen- sowie Verteidigungsminister*in und Präsident*in – in geheimen Sitzungen entscheiden. Dieses intransparente Verfahren ließe anderen staatlichen Stellen keine Kon-*trollmöglichkeiten. Außerdem sollen die Befugnisse der Behörden in Sachen Überwachung erweitert und verdeckte Ermittler*innen, auch Nicht-Angehörige von Polizei und Militär, eingesetzt werden dürfen.

Derzeit werden mögliche Änderungen an der Reform vom Verteidigungsausschuss des Abgeordnetenhauses ausgehandelt. Dessen bisheriger Präsident Jorge Brito, Abgeordneter der linken Revolución Democrática (RD) und Kritiker der Reform, wurde Anfang Juli in einem Misstrauensvotum abgesetzt. Die entscheidende Stimme im von zwei UDI-Politikern initiierten Verfahren kam ausgerechnet von der Vertreterin einer Mitte-Links-Partei: Loreto Carvajal, Abgeordnete der Partei für die Demokratie (PPD).

Kritiker*innen bemängeln vor allem autoritäre Züge der Reform, die „den Weg für eine Sicherheitspolitik freimacht, die sich auf die Unterdrückung und Neutralisierung sozialer Proteste richtet“, wie die Chilenische Menschenrechtskommission konstatiert. Auch Amnesty International Chile meint, das Geheimdienstgesetz decke schon in seiner bisherigen Form Menschenrechtsverletzungen wie die Unterdrückung und Überwachung von Mapuche-Aktivist*innen während der Operation Huracán (siehe LN 526). Die Organisation zeigte sich besorgt darüber, dass der derzeitige Entwurf die Macht bei der Exekutive konzentriert. Bei El Desconcierto warnen Expert*innen vor einer „Politisierung der Streitkräfte und der öffentlichen Ordnung“.

Auch das Tempo, mit dem Präsident Piñera die Sicherheitsreformen vorantreibt, stößt auf Kritik. Amnesty International Chile betont, derartige Gesetzesprojekte bräuchten langfristige und gründliche Überlegungen. Der Journalist Roberto Sáez drückt es im Nachrichtenportal der Universidad de Chile drastischer aus: „Der Druck, den die Regierung anwendet, um dieses Gesetz mitten in der Wirtschafts- und Gesundheitskrise zu verabschieden, offenbart die Verzweiflung einer Regierung, deren Tage gezählt sind und die versucht, sich mit dunkelsten Methoden an der Macht zu halten”.

HISTORISCH, ABER NICHT VORBEI

Die Maskerade des Ausnahmezustands

Neuer Anstrich Die Erinnerungen an den Aufstand werden aus dem Stadtbild entfernt (Foto: Martin Yebra)

Die Spuren der fünfmonatigen Proteste wurden auf der Plaza de la Dignidad bereits beseitigt: Kein Mensch ist auf dem eingezäunten Platz unterwegs, die Statue des Militärchefs Manuel Baquedano wurde geputzt, neu angestrichen und die Denkmäler der Mapuche entfernt. All dies geschah am 19. März, lediglich Stunden nach Beginn des von Präsident Sebastián Piñera – eigentlich zur Bekämpfung der Corona-Pandemie – verhängten landesweiten Ausnahmezustands. Es symbolisiert nur allzu gut, welchen Effekt die Ausbreitung des Virus in Chile gerade hat.

Drei Wochen zuvor, als bereits die ersten Fälle der Lungenkrankheit Covid-19 im Land Schlagzeilen machten, gaben sich die Protestierenden noch gelassen. „Der wahre Virus heißt Piñera“, hieß es auf den Massendemonstrationen der ersten Märzhälfte. Inzwischen ist diese laxe Haltung bei den meisten der Vorsicht gewichen.

Vielen geht die Ausrufung des Ausnahmezustands inklusive des Versammlungsverbots und der Schließung von Einkaufszentren nicht weit genug. „Denkst du, der Staat will uns so schützen? Bleib‘ zu Hause!“, lautete die Antwort eines protestierenden Schülers auf die unzureichenden Maßnahmen der Regierung zur Eindämmung des Virus – die Botschaft hinterließ er auf einem Schild auf der leeren Plaza de la Dignidad und postete ein Bild davon auf Twitter.

„Der wahre Virus heißt Piñera“

Mit diesem Aufruf blieb er nicht allein. Die Forderung nach der Einschränkung breiter Teile des öffentlichen Lebens kam von unten – teilweise auch von denen, die seit Monaten auf den Straßen protestierten. Viele von ihnen haben Angst vor dem drohenden Zusammenbruch des privatisierten Gesundheitssystems.

Insbesondere wegen der Unfähigkeit des chilenischen Gesundheitsministers Jaime Mañalich haben die Menschen geringes Vertrauen in den Umgang der Regierung mit der Pandemie (siehe LN 550). Auch in den Krankenhäusern wurde Kritik an den wenig zielführenden Maßnahmen der Regierung laut: „Wir müssen gesund sein, um unsere Patienten versorgen zu können. Quarantäne jetzt!“ und „Weniger Wasserwerfer und Panzer, mehr Beatmungsgeräte!“, hieß es auf den Transparenten, die Angestellte der Klinik San José in Santiago an den Eingängen des Krankenhauses befestigten.

Die nur langsam angelaufenen Maßnahmen der Regierung trotz sich häufender bestätigter Fälle von Covid-19 im Land sorgten auch in den chilenischen Gefängnissen, in denen bereits mehrere Infizierte gemeldet sind, für Protest. In zwei Haftanstalten in Santiago kam es zu Tumulten mit Verletzten, Gefangene legten Brände und forderten lautstark bessere Hygienemaßnahmen.

Amnesty International hat in einem offenen Brief an die chilenische Regierung Besorgnis über die Haftbedingungen in chilenischen Gefängnissen geäußert: Fast die Hälfte der Anstalten sei überfüllt, elf davon in kritischem Maße, die Gefangenen hätten außerdem keinen ständigen Zugang zu Wasser und notwendiger Hygiene. Dennoch sitzen derzeit auch 13 Angeklagte der primera línea (der ersten Reihe der Protestierenden), die bei den Protesten der letzten Monate festgenommen worden waren, in Untersuchungshaft.

Von unten verordnete Quarantäne

Der Präsident des Obersten Gerichtshofs, Guillermo Silva, hatte gegenüber Radio Biobío betont: „Teil der ersten Reihe zu sein ist keine Straftat an sich.“ Ein Berufungsgericht entschied nun trotzdem, die Haft nicht durch Hausarrest zu ersetzen.

Die Coronakrise hat die Proteste zwar in ihrer bisherigen Form unmöglich gemacht, trotzdem herrscht weiter Unzufriedenheit über die Regierung. Und obwohl die Forderungen nach Ausgangssperren und physischer Distanzierung nicht aus der politischen Führungsriege kommen, profitiert gerade die von den nun möglich gewordenen Einschränkungen bürgerlicher Rechte.

Seit dem Eintritt des Katastrophenzustands und der nächtlichen Ausgangssperre im ganzen Land sind die Handlungsspielräume der Protestierenden begrenzt. Das Versammlungsverbot, der Einsatz des Militärs auf den Straßen – all das kommt Piñera nicht nur zur Eindämmung der Pandemie, sondern auch der Proteste gelegen. In einigen Kommunen des Landes gelten komplette Ausgangssperren – nur, wer einen Passierschein zum Einkaufen oder für den Arbeitsweg vorweisen kann, darf überhaupt die Wohnung verlassen.

Demonstrationen oder die Sitzungen der cabildos und asambleas – hunderte Bürger*innenversammlungen haben sich seit Oktober zusammengefunden – sind wegen der Ansteckungsgefahr im ganzen Land verboten. Manche finden trotzdem statt: in WhatsApp-Gruppen oder Videokonferenzen.

Ohne Abstand Als Demonstrationen und Proteste noch erlaubt waren (Foto: Martin Yebra)

Dabei war die breite gesellschaftliche Mobilisierung gegen Piñera unmittelbar vor der Coronakrise wieder stärker geworden: Den Sommer über mit dem Slogan „Wenn erst der März kommt“ angekündigt, kochten die Proteste zum Schul- und Unibeginn erneut hoch. Schon am ersten Tag des Monats waren im ganzen Land cacerolazos zu hören.

Als „März ohne Angst“ bezeichneten die Protestierenden das neue Kapitel der Bewegung – allen voran die in die Städte zurückgekehrten Schüler*innen. Wie schon im Oktober machten sie den Anfang, indem sie Schulen und Metrostationen in Santiago besetzten. Die Vereinigung der Sekundärschüler*innen ACES sprach von 30 besetzten Schulen im ganzen Land, an 150 Institutionen gab es dauerhaften Protest.

Das war nur der Vorgeschmack auf die Mobilisierung, die das ganze Land eine Woche später erfahren sollte. Zum Internationalen Frauentag gingen am 8. März so viele Menschen auf die Straße wie noch nie: Allein in Santiago waren es zwei Millionen – vor allem Frauen und Queers – die gegen Feminizide und machistische Gewalt, ungleiche Lebens- und Arbeitsverhältnisse und für mehr Rechte protestierten.

Ein historischer März

Históricas, „historisch“, stand es zwischen dem Menschenmeer auf der Plaza de la Dignidad in großen weißen Lettern, die bis heute zu sehen sind. Auch den 9. März nutzten Frauen zum Protest: Angestellte des Gesundheits- und Bildungssektors streikten, ihr Demonstrationszug zog auch am Präsidentenpalast La Moneda vorbei.

Erst Tage zuvor hatte eine unsägliche Äußerung von Präsident Piñera die Wut der feministischen Bewegung neu angefacht: In seiner Rede zur Verabschiedung des Ley Gabriela zur Erweiterung des Tatbestands Feminizid im Strafregister hatte er gesagt, es sei „manchmal nicht nur der Wille der Männer, zu missbrauchen, sondern auch die Rolle der Frauen, missbraucht zu werden“.

Gleichzeitig machen seit Monaten Berichte über die politisch motivierte sexualisierte Gewalt der Carabineros die Runde. Das chilenische Menschenrechtsinstitut INDH zählt in seinem Bericht vom 18. März bereits mehr als 200 Fälle sexualisierter Gewalt durch Angehörige der Sicherheitsbehörden, die seit Mitte Oktober 2019 zur Anzeige gebracht worden sind.

Feministischer Protest Am 8. und 9. März gingen so viele Menschen wie noch nie auf die Straße (Foto: Martin Yebra)

Kurze Zeit später, zum zweiten Jahrestag von Piñeras Amtsantritt am 11. März, protestierten vor allem junge Menschen im Zentrum von Santiago und brachten dort mit Molotowcocktails und Barrikaden den öffentlichen Verkehr weitestgehend zum Erliegen, wie Bio Bio Chile berichtete. Die Demonstration gegen Piñera war eine der letzten großen Protestveranstaltungen vor Beginn der Einschränkungen durch das Coronavirus.

Die Coronakrise überschattet die gesellschaftlichen Themen, die die Protestbewegung in den letzten Monaten vorgebracht hat. Auch der Prozess hin zu einer neuen Verfassung ist vorerst auf Eis gelegt. Das Abgeordnetenhaus hat das Plebiszit über die Ausarbeitung einer neuen Magna Charta auf den 25. Oktober verschoben. Noch Anfang März war der verfassungsgebende Prozess konkreter geworden: Beide Kammern einigten sich über eine Regelung, um die Geschlechterparität in der verfassungsgebenden Versammlung zu gewährleisten. Die Einigung sieht bei ungleicher Verteilung der Geschlechter einen Ausgleich vor.

„Wir werden Millionen sein“

Ganz ersticken konnten die Beschränkungen der Coronakrise die Proteste jedoch nicht. Zum 29. März, dem Día del Joven Combatiente, an dem nun zum 35. Mal mit Protesten Opfern der Diktatur gedacht wird, gingen Menschen in Santiago und anderen Städten des Landes auf die Straßen. Mitten in der Ausgangssperre traten die Protestierenden den Carabineros entgegen und entzündeten Barrikaden, zwei Carabineros wurden verletzt. Andere begingen den Gedenktag mit einer Videokonferenz sowie Livestreams unter dem Motto „Auf dass das Gedenken die Quarantäne erleuchtet“.

Es gibt unterschiedliche Vorstellungen davon, wie der Protest in Zeiten der Krise weiterzuführen ist. Im Vordergrund steht jetzt die gegenseitige Unterstützung und Solidarität während der Pandemie sowie die Entwicklung klarer politischer Forderungen, wie sie etwa die feministische Koordinationsgruppe 8M in ihrer Notstandserklärung festgehalten hat: Nachbarschaftsstrukturen, die vor allem Frauen* und Kinder unter die Arme greifen; die Entwicklung von Strategien gegen die Zunahme häuslicher Gewalt in der Quarantäne; die Bestreikung nicht-systemrelevanter Arbeit und die Forderung nach ausreichender medizinischer Versorgung für alle.

Das Coronavirus hat die Proteste zwar eingeschränkt, sie jedoch keineswegs beendet, wie die Regierung es sich vielleicht erhofft hat. Die cacerolazos finden nun an den Fenstern und Balkonen der Städte statt, die Mobilisierung wird aus der Isolation heraus online weitergeführt. Unter #LaMarchaVirtual („Die virtuelle Demo“) teilen Nutzer*innen in den digitalen Netzwerken derzeit Fotos von den Demonstrationen der letzten Monate. Auf dem neu gestrichenen Denkmal auf der Plaza de la Dignidad prangt unterdessen ein neues Graffiti. In blauer Schrift steht dort: „Ich komme zurück und wir werden Millionen sein!“

MIT CACEROLAZOS AUS DEM TIEFSCHLAF

Foto: Yesid Sandoval

Laut und kreativ war der Protest, als die Menschen sich für den Auftakt des Generalstreiks in Bogotá versammelten. Im Takt des Trommelwirbels tanzten Jung und Alt vor der nationalen Universität, im Simón Bolivar Park und vor der Casa Nariño, dem Regierungssitz, mitten in der Hauptstadt. „Ich will in einem Land in Frieden und ohne Angst leben“, „Unsere Kinder sind kein militärisches Ziel“ oder „Basta ya“ („Es reicht“), stand auf den Plakaten der Demonstrant*innen, die ihren Unmut gegen die Regierung von Präsident Iván Duque zum Ausdruck brachten.

Damit war es allerdings vorbei, als am frühen Nachmittag Polizist*innen der Aufstandsbekämpfungseinheit (ESMAD) mit Tränengas den gewaltlosen Protestzug, der zum Flughafen führen sollte, unterbrachen. „Ich habe mich in die Enge getrieben gefühlt. Wir waren Tausende, die versuchten in irgendeiner Ecke Schutz zu finden. Einige rannten los, andere stellten sich der ESMAD entgegen, wieder andere versuchten über das Geschehen zu berichten. Ich habe gesehen, wie die Wut und Angst nicht mehr zu bändigen waren“, schildert Daniela Quintero, Journalistin der Stiftung für Frieden und Versöhnung, die Eskalation der Proteste.

Auch die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Vermummten und der mobilen Einheit zur Aufstandsbekämpfung (ESMAD) in Bogotá und Cali überschatteten die friedliche Stimmung und die vielfältigen Forderungen der Protestierenden. Vermummte warfen Steine auf Busstationen des öffentlichen Nahverkehrs und Molotov-Cocktails auf Polizist*innen. In beiden Städten wurde eine nächtliche Ausgangssperre verhängt.

Die Polizei verbreitete eine Warnung vor Raubzügen von Kriminellen – die aber nie eintrafen

Die Polizei reagierte mit brutaler Härte. Militärs und Polizist*innen patrouillierten entlang der Straßen der ärmeren Bezirke Bogotás und Calis und warfen Steine auf Häuser und umliegende Gebäude, während die Bewohner*innen von drinnen die Ausschreitungen filmten und ins Internet hochluden. Als die Polizei in der Nacht zum 22. November die falsche Warnung von massenhaften Raubzügen durch Gated Communities verbreitete, bewaffneten sich einige Anwohner*innen mit Pistolen, Messern und Besen, um sich gegen die Kriminellen zu verteidigen, die aber nie eintrafen.

Andere Bürger*innen ließen sich währenddessen ihr Recht auf Protest nicht verbieten. Viele schlugen von ihren Wohnungen und Balkonen aus auf Töpfe und trotz der nächtlichen Ausgangssperre versammelten sich die Bogotaner*innen auf den Straßen und tanzten dort zum Takt der ersten landesweiten cacerolazos (Protestform, bei der durch Schlagen auf Kochtöpfe Krach gemacht wird). Sogar vor dem Haus des Präsidenten im Norden der Hauptstadt schlugen Hunderte auf ihre Kochtöpfe, während drinnen Iván Duque eine Fernsehansprache hielt. „Heute haben die Kolumbianer*innen gesprochen, wir hören ihnen zu. Der soziale Dialog war schon immer ein Aushängeschild dieser Regierung und wir müssen ihn mit allen Sektoren der Gesellschaft vertiefen“, sagt der Präsident, der bis jetzt keinen ernstzunehmenden Dialog mit dem Streikkomitee eingegangen ist. „Das kolumbianische Volk kann sicher sein, dass wir es nicht erlauben werden, dass Vandalen und Gewaltbereite die Gesellschaft erschrecken und vor allem die Möglichkeiten uns auszudrücken einschränken“, erklärte Duque weitergehend.

Es war dann aber die ESMAD, die den Protest blutig niederschlug und mit Wasserwerfern und Tränengas auflöste. Die Gewalt eskalierte, als am Samstag, dem 23. November in Bogotá ein Polizist dem 18-jährigen Dilan Cruz aus einer Entfernung von zehn Metern mit illegaler Munition den Kopf zertrümmerte. Aufgrund des Schädelbruchs wurde er sofort ohnmächtig. Drei Tage später erlag Cruz in einem Krankenhaus in Bogotá seinen Verletzungen, dem Tag seines offiziellen Schulabschlusses. Seitdem wird bei den Protestaktionen immer wieder betont: Dilan ist nicht gestorben, er wurde von der Polizei ermordet.


Mit Töpfen gegen die Regierung Im November fanden das erste Mal Cacerolazos in Kolumbien statt (Foto: Kolumbienkampagne Berlin)

Diese wird jedoch, wie zu erwarten, von der Politik in Schutz genommen. Unter dem Hashtag #NoPudieron schrieb die Innenministerin Nancy Patricia Gutiérrez, die 2011 wegen Vorteilsgewährung zu Hausarrest verurteilt wurde, auf Twitter: „Die Polizei wurde attackiert, damit sie reagiert und ihr später vorgeworfen werden kann, dass sie Menschenrechtsverletzungen begeht.“ Mitglieder der rechtsgerichteten Partei Demokratisches Zentrum (CD) gingen noch weiter und nahmen den ermordeten Schüler ins Visier: „Es wurde festgestellt, dass Dilan Cruz ein Randalierer war“, behauptete die Senatorin Paloma Valencia in einem Interview der Zeitschrift Semana. In der ersten Woche des Streiks wurden 769 Menschen (darunter 397 Polizist*innen) verletzt und 914 Menschen willkürlich verhaftet.

Dass ausgerechnet ein Reformpaket der Regierung das Fass zum Überlaufen brachte, mag zunächst verwunderlich klingen. Doch seine zum Teil gravierenden Folgen für die Lebensbedingungen der Kolumbianer*innen erklären, warum so viele unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche dem Aufruf der Gewerkschaften folgten. Es wird zu Recht befürchtet, dass damit ein System weiter gefestigt wird, das Wachstum und Wirtschaftsinteressen vor die Arbeitsrechte der Bürger*innen stellt.

Trotz andauernder Proteste gegen die Reformvorschläge der Regierung wurde deren paquetazo (Gesetzespaket) in Windeseile im Senat durchgewunken. Ein Teil dessen ist die Steuerreform, die am 4. Dezember von der ersten Kammer des Senats ratifiziert wurde und die steuerliche Ungerechtigkeit in Kolumbien weiter vertiefen wird. Die darin enthaltene Steuersenkung von umgerechnet 264 Millionen Euro bei Megainvestitionen und der Steuererlass beim Kauf von Immobilien über 230.000 Euro sind ein sattes Weihnachtsgeschenk für Unternehmen und Superreiche. Populistisch ist dagegen der versprochene Erlass der Mehrwertsteuer an drei Tagen im Jahr, den Duque vorschlug, als die Proteste auf den Straßen über sieben Tage andauerten.

„Dilan ist nicht gestorben, er wurde von der Polizei ermordet“

Besonders groß ist die Ablehnung gegenüber der von der Regierung vorgeschlagenen Arbeits- und Rentenreform, welche die informelle Arbeit, die steigende Arbeitslosigkeit und Altersarmut bekämpfen soll. Stundenverträge statt unbefristeter Verträge, so lautet die Zauberformel der Regierung, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Diese Flexibilisierung wird allerdings zu einer Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse bei gleichzeitigem Verlust von Arbeitsrechten führen. Denn die sozialen Leistungen werden infolgedessen gekürzt, die Sozialversicherungs­beiträge nach Stunden berechnet und die gesundheitlichen und sicherheitsrelevanten Arbeitsnormen gesenkt.

Auch die geplante Fusion der privaten und staatlichen Rentenunternehmen bereitet große Sorgen. Um zwölf Prozent soll das Budget des neuen Rentensystems wachsen. Bis jetzt ist allerdings noch nicht klar, wie die Integration privater und staatlicher Rentenkassen funktionieren soll. Dazu ist es sehr wahrscheinlich, dass zu wenige Menschen von dem erhöhten Budget profitieren. Vor allem wenn man beachtet, dass nur zwei von zehn Kolumbianer*innen überhaupt rentenberechtigt sind.

Trotz lautstarker Kritik von den Gewerkschaften und Akademiker*innen, beharrt die zuständige Ministerin Duques auf einen positiven Effekt dieser Arbeits- und Rentenreform. Denn für diese taube Regierung sind die Prioritäten klar: „Das wichtigste ist, dass das wirtschaftliche Wachstum und die Produktivität erhöht wird“, behauptete die Arbeitsministerin Alicia Arango (CD) im Interview mit der Wirtschaftszeitung El Portafolio.
Ursprünglich beinhaltete die von der Regierungspartei vorgeschlagenen Arbeitsreform eine Kürzung des Mindestlohns auf 160 Euro statt bisher 208 Euro für Menschen unter 25 Jahren. Der sogenannte differenzierte Mindestlohn sollte die Arbeitgeber entlasten und einen Anreiz darstellen, Menschen mit weniger Arbeitserfahrung einzustellen. Angesichts des lautstarken Protests von Studierenden, die ohnehin schon schwindelerregende Semestergebühren für das Studium bezahlen müssen, wurde der Vorschlag zurückgezogen. Ob es dabei bleibt, ist noch offen. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Regierung entgegen ihrer Versprechungen handelt.

Währenddessen schmieren Duques Zustimmungswerte bei der Bevölkerung weiter ab. Nach 15 Monaten im Amt ist die Unbeliebtheit des Präsidenten mit 69 Prozent höher als die aller seiner Vorgänger. Von Beginn seiner Regierungszeit an wurde Duque als eine Marionette seines politischen Vaters, Alvaro Uribe Vélez, verlacht. Mit 19 Auslandsreisen in seinem ersten Jahr als Präsident wird Duque als ein abwesendes und dazu sehr ungeschicktes Staatsoberhaupt wahrgenommen, das die Realität des Landes verkennt. Er erklärte den „breiten gesellschaftlichen Dialog“ zum Ziel seiner Regierung, brach dann aber Anfang 2019 die Verhandlungen mit der nationalen Befreiungsarmee (ELN) ab und ließ als „Strategie“ schlicht internationale Haftbefehle auf ihre Anführer ausstellen.

Indem Duque die Friedensverhandlungen mit der ELN von der bedingungslosen einseitigen Waffenruhe abhängig machte, verspielte er die historische Chance auf ein Kolumbien ohne Aufständische. Der Abbruch der Friedensverhandlungen hat zu einem Erstarken der nun ältesten aktiven Guerilla des Kontinents geführt.

Nach der Entwaffnung der revolutionären bewaffneten Streitkräfte Kolumbiens – Volksarmee (FARC-EP) war zu befürchten, dass das Machtvakuum in den ländlichen Regionen von der ELN und paramilitärischen Gruppierungen gefüllt wird. Und da es offensichtlich keine Ambitionen gab, die Situation weiterzudenken, löste dies einen regelrechten Kokain-Boom in Kolumbien aus, der zu einem neuen Rekord in der Produktion des weißen Pulvers führte. Laut den Vereinten Nationen wird derzeit 70 Prozent des weltweit verkauften Kokains in Kolumbien hergestellt. Doch anstatt Programme zur freiwilligen Vernichtung der Koka-Plantagen zu stärken, beharrt die Regierung auf die Zwangsvernichtung der Plantagen durch eine Sondereinheit der Armee. Im Krieg gegen die Drogen 3.0 wurde das Land nun wieder weiter militarisiert, mit einer Armee, die den Befehl hat, im Zweifel auch zu schießen (siehe S. 18-20).

Obwohl eigentlich der Kampf gegen die grassierende Korruption angesagt wäre, sah Präsident Duque unbeteiligt zu, als seine Partei ein Gesetz zur Korruptionsbekämpfung im Senat immer wieder verhinderte und schließlich endgültig zum Scheitern zwang. Das im November 2016 unterzeichnete Friedensabkommen mit den bewaffneten Streitkräften Kolumbiens (FARC) wurde zu einer Zielscheibe von Uribes CD-Partei. Aufgrund von mangelndem politischen Willen wurde die integrale Zusammensetzung der Vereinbarungen torpediert und ihre Umsetzung bewusst verlangsamt.
„Was wir heute erleben, ist etwas, das es noch nie in der kolumbianischen Geschichte gab: die Cacerolazos, die empörten Leute auf der Straße, die Menschen, die immer noch von der Regierung klare Lösungen und Antworten fordern“, sagt Alejandro Palacio Restrepo, Mitglied des kolumbianischen Verbandes der Studierendenvertreter*innen (Acrees). Die andauernden Aktionen mit der Beteiligung von Aktivist*innen, Künstler*innen und Musiker*innen sind ein noch nie dagewesener Impuls für einen übergreifenden sozialen Dialog über Ungerechtigkeiten und Privilegien. Und dieser historische Moment wäre ohne die Unterzeichnung des Friedensabkommens mit der FARC-Guerilla vor drei Jahren und ihrer darauf folgenden Entwaffnung nicht möglich.

Dass Frieden in Kolumbien dennoch weiter eine gedachte Größe bleibt, die nur auf dem Papier gilt, ist ein Affront gegenüber den Opfern des bewaffneten Konflikts, den entwaffneten Guerillerxs und einer Zivilgesellschaft, die nach dem Nein im Referendum zum Friedensabkommen wach geworden ist. Die Welle willkürlicher Tötungen von Zivilist*innen, gezielter Ermordungen von Menschenrechtsaktivist*innen und entwaffneten FARC-Guerillerxs können im heutigen Kolumbien nicht mehr versteckt und geleugnet werden. Zum ersten Mal schaut die entpolitisierte kolumbianische Gesellschaft nicht mehr weg, sondern versöhnt sich mit der eigenen Geschichte voller Vertreibungen, Entführungen und Tod.

// AUFGEWACHT

Nicht zum ersten Mal sagen die Chilen*innen derzeit laut und deutlich, dass das herrschende System sich ändern soll: Im Oktober 1988 stimmte die Mehrheit in einem Plebiszit gegen die Fortführung der Diktatur Pinochets. Das Land bekam danach eine gewählte Regierung, in wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht änderte sich jedoch fast nichts. Patricio Bañados, damals Fernsehsprecher der NO-Kampagne, bilanzierte daher im Jahr 2007: „Es haben mehr Leute mit ‚Nein‘ gestimmt, aber gewonnen hat das ‚Ja‘.“ Ähnliches hatten auch die Redakteur*innen der Lateinamerika Nachrichten bereits im Editorial vom Oktober 1988 prognostiziert (siehe hier). Heute fühlen sich viele der seit Wochen in Massen auf der Straße protestierenden Chilen*innen an die Atmosphäre nach dem Sieg des „NO“ erinnert, an das Gefühl, dass der bleierne Ballast vieler Jahre von ihren Schultern abgefallen ist: „Chile Despertó“, Chile ist aufgewacht – endlich!

Abgefallen scheint selbst die Angst vor den Militärs, die bis in Führungspositionen hinein immer noch die Folterknechte der Diktatur schützen und während der Proteste nun erneut im Verdacht stehen, zu foltern. Ganz anders dagegen die Privilegierten. In einem geleakten Audio eines Gesprächs mit einer Freundin sagte die Präsidentengattin nach Beginn der breiten Proteste: „Wir sind total überfordert, es ist wie eine Invasion Außerirdischer (…). Wir werden wohl auf einen Teil unserer Privilegien verzichten und mit den anderen teilen müssen.“

Eine ganze Generation von Reichen und Mächtigen hat sich in Chile daran gewöhnt, dass das Land ihnen gehört. Strom, Wasser, Gesundheit, Rente, Universitäten, Rohstoffe, Presse, Fernsehen und mehr: fast alles ist heute in den Händen weniger superreicher Familien sowie ausländischer Konzerne. Pinochet hatte die meisten Staatsbetriebe nach dem Sieg des „NO“ noch schnell zu einem Bruchteil ihres Wertes verkauft – an Freund*innen seines Regimes. Unter den Profiteur*innen dieses unverfrorenen Diebstahls von Staatsvermögen: der heutige Präsident Piñera, dem lange ein Fernsehkanal und die nationale Fluglinie gehörten. Der heutige Vorstandsvorsitzende und Mehrheitsaktionär der Firma Soquimich, die die umfangreichen Lithiumvorräte Chiles kontrolliert, war sogar Pinochets Schwiegersohn.

Pinochets Verfassung sorgt dafür, dass diese Umverteilung auf Kosten der Chilen*innen bis heute Bestand hat: dass der Staat kaum die Mittel hat, seiner Verpflichtung zur Daseinsfürsorge nachzukommen, selbst wenn er es denn wollte; dass nur der Profit zählt, nicht aber das Wohl der Menschen; dass Unternehmen beispielweise Anwohner*innen vergiften oder ihnen das Trinkwasser zugunsten von Plantagen wegnehmen dürfen, während die Menschen sich verschulden müssen, um U-Bahn-Fahrkarten und Stromrechnung zu bezahlen. Kein Wunder also, dass sich die Protestierenden heute nicht von ein paar Euro mehr Mindestlohn und Rente abspeisen lassen und eine verfassunggebende Versammlung einfordern.

Die rechte Regierung wird trotz geringfügiger Zugeständnisse alles tun, um das neoliberale System zu retten. Protegiert durch die Diktatur, begannen wichtige Politiker*innen der Regierungsparteien ihre Karrieren und haben sich, wie Piñera selbst, durch die Privatisierungen bereichert. Jaime Guzmán, Gründer der ultrarechten Partei Unabhängige Demokratische Union (UDI), galt sogar als Architekt der aus der Diktatur stammenden Verfassung, seine Gefolgsleute sind bis heute einflussreich.

Die Protestierenden werden also noch einen langen Atem brauchen. Dafür verdienen sie alle Unterstützung. Dass Deutschlands öffentlich-rechtliche Medien bisher ähnlich unausgewogen wie die chilenische Presse über die Proteste berichteten, beschämt uns daher. Und die Bundesregierung wäre gut beraten, in Chile nicht wie bisher nur einen Lieferanten für wichtige Rohstoffe und Freihandel zu sehen, sondern sich auch dann für Menschenrechte und Demokratie einzusetzen, wenn es ihren wirtschaftlichen Interessen zuwiderläuft.

 

DIE HÜGEL ORGANISIEREN SICH WIEDER

Laut und riesig Demonstrationszug vom benachbarten Viña del Mar nach Valparaíso (Foto: Vania Berríos)

„Ich fühle mich wie am Tag nach dem NO, glücklich“, bemerkt ein Nachbar in einem kleinen Laden im Viertel Cerro Bellavista. Der Tag nach der bislang größten Demonstration Chiles mit über sechs Millionen Teilnehmenden im ganzen Land fühlt sich für ihn und viele andere befreiend an. Nach der Aufhebung der Ausgangssperre ist die Stimmung zum ersten Mal lockerer, der Wind weht Musikfetzen durch die Straßen, es herrscht Wochenendtreiben in den Hügeln. Inzwischen macht sich das Gefühl breit, dass die erste Seite eines neuen Kapitels aufgeschlagen wurde. Wie damals vor 31 Jahren, als die Mehrheit der Bevölkerung gegen ein Verbleiben an der Macht des Diktators Augusto Pinochet für weitere acht Jahre stimmte.
Die letzten Wochen waren voller vielseitiger Gefühle. Das Bewusstsein, einen historischen Moment mitzuerleben, ihn mit zu gestalten. Die Mühe, zu verstehen, was gerade geschieht. Die Ungläubigkeit über die Ausmaße der Proteste. Die riesige Hoffnung, wirklich etwas ändern zu können. Aber auch die Wut und der Schrecken angesichts der Toten, der Verschwundenen, der Gefolterten, der sexualisierten Gewalt… es wiederholt sich. Viele Bewohner*innen von Valparaíso sehen Parallelen zu den siebziger Jahren. Auch jetzt singt die Bevölkerung wieder El pueblo, unido, jamás será vencido („Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden“) , die Polizei und das Militär reagieren mit Gewalt und agieren, als gäbe es keine Menschenrechte zu wahren, als ob es 30 Jahre Demokratie nie gegeben hätte.

Zwischen Demonstrationen, Polizeigewalt, Plünderungen und kreisenden Militärhubschraubern versuchen die Menschen, ihr tägliches (Über-)Leben zu sichern

Zwischen Demonstrationen, Polizeigewalt, Plünderungen und kreisenden Militärhubschraubern versuchen die Menschen, ihr tägliches (Über-)Leben zu sichern. Valparaíso hat dabei wie immer zwei Gesichter: Hektik in der Ebene, Ruhe in den Hügeln. In der Ebene, dem Stadtzentrum, gehen tagsüber die Demonstrationen weiter. „Das Volk, das Volk, das Volk, wo ist es? Es ist auf den Straßen und fordert Würde!“, rufen die Protestierenden seit drei Wochen. Genau darum geht es seit Beginn der Proteste: die Würde zurück zu erlangen, die Bedingungen für ein Leben in Würde zu erkämpfen. Vor der Regionalverwaltung und auf den zentralen Plätzen sammeln sich Menschen, halten dort die Stellung oder versuchen, bis zum Kongress zu marschieren. Dabei sind vor allem Studierende und Aktivist*innen sozialer Bewegungen, zunehmend auch Gewerkschafter*innen und Familien. Die Demonstrant*innen schlagen auf ihre Kochtöpfe, die mit anderen Instrumenten zusammen spontane Protestorchester entstehen lassen.
Viele sind demonstrationserprobt, stellen sich Wasserwerfern und Tränengas fröhlich und ohne Angst entgegen. Solidarisch wird allen, die etwas abbekommen haben, eine Lösung aus Wasser und Backpulver ins Gesicht gespritzt. Tanzende Comparsas (Karnevalsgruppen) und Clowns lockern die Stimmung auf. Die Momente, in denen die Polizei mit Gummigeschossen ausrückt, sind gefürchtet, aber die Demonstrierenden lassen nicht locker. Am Rande wird Demozubehör angeboten: Mundschutz für 100 Pesos (umgerechnet 12 Cent) und Zitronen, um den Effekt des Tränengases abzumildern. „Es erstaunt mich immer wieder, wie die Chilenen es selbst unter den widrigsten Bedingungen schaffen, Kleinstunternehmen zu errichten“, bemerkt eine Demonstrantin. Auf dem Weg nach Hause geht sie noch einen Kaffee trinken, auch wenn es schwierig ist, ein offenes Café zu finden.
Denn ein Großteil der Geschäfte ist geschlossen, viele wurden geplündert und in Brand gesteckt. In den ersten drei Tagen herrschte ein reger Verkehr zwischen Stadtzentrum und Hügeln. Menschen schleppten Taschen voller Lebensmittel und Kleidung hoch, Großbildfernseher, später Fahrräder, Zelte und ganze Vitrinen voller Brillen. Autos aller Art, von Klapperkiste bis SUV, fuhren vollgepackt bis ans Dach nach oben. Im Laufe der Protesttage tauchen immer mehr Videos in den sozialen Netzwerken auf, die zeigen, wie den Demonstrant*innen mit erheblicher Gewalt begegnet wird. Bei Plünderungen zeigten sich Polizei und Militär jedoch anfangs völlig überfordert – oder, wie sich in den folgenden Tagen herausstellt, nicht immer willig, diese überhaupt zu stoppen.
So konnte ich beobachten, wie sich die Carabineros von der Plünderung einer Apotheke zurückzogen. Erst als die Apotheke ausgeraubt und in Brand gesteckt worden war, waren sie wieder vor Ort. Videos zeigen außerdem Situationen, in denen Plündernde mit Polizei und Militär verhandeln, um Zugang zu einem Supermarkt zu bekommen. Erfolgreich, denn letztlich dürfen sie den Laden aufbrechen, die Polizei zieht sich zurück und rückt kurz darauf wieder an, um einige Leute festzunehmen.

Ist die Zerstörung der Stadt politisch gewollt?

Ausgehend von Geschehnissen wie diesen, die sich rasant über soziale Netzwerke verbreiten, besteht der Verdacht, die konservative und von der Nationalregierung ernannte Regionalverwaltung ziele darauf ab, die Wirtschaft der Stadt zu zerstören. Bislang wurden 90 Geschäfte geplündert und 15 Gebäude in Brand gesteckt – Grundlage für eine Wirtschaftskrise in der Hafenstadt. Die hiesige Polizei untersteht der Regionalverwaltung, die auf Befehl von Admiral Juan Andrés de la Maza handelt, während des Ausnahmezustands zuständiger Oberbefehlshaber der Region Valparaíso. Die Zerstörung der Stadt könnte politisch gewollt sein, denn nächstes Jahr stehen Kommunalwahlen an. Der bislang erfolgreiche und beliebte linke Bürgermeister Jorge Sharp ist dem konservativen Regionalchef Jorge Martínez schon lange ein Dorn im Auge. Der Verdacht erhärtet sich, als einige Tage später von dem rechten Politiker José Antonio Kast die Twitterkampagne #fuerasharp („Hau ab, Sharp“) angezettelt wird. Die politische Einmischung rechtskonservativer Politiker*innen, die nicht in Valparaíso leben und normalerweise wenig Interesse am lokalen Geschehen zeigen, ist auffällig.
Der Bürgermeister und die Gemeindeverwaltung halten dagegen. „Wir fordern die Bürger auf, sich nicht an den Plünderungen zu beteiligen. Die Zerstörung unserer Stadt ist kein Teil der legitimen sozialen Proteste. Ebenso appellieren wir an die Behörde, der die Sicherheitskräfte unterstehen, keine weiteren Plünderungen zuzulassen. Die Bürger dieser Stadt brauchen Sicherheit“, so das offizielle Statement. Gegen die Zerstörung der Stadt trommelt der Bürgermeister eine Allianz aus Besitzer*innen kleiner Geschäfte, Tourismusbetreibenden, Kleinfischer*innen und Vertreter*innen sozialer Organisationen zusammen. Es gibt öffentliche und live gestreamte Versammlungen, in dem kleinen Fischerhafen Caleta Membrillo und zuletzt im Gymnasium Matilde Brandau de Ross, wo alle zusammen Erfahrungen und Strategien besprechen.
Zunehmend und oft erfolgreich stellen Demonstrant*innen sich den Plünderungen von kleinen Läden entgegen. Selbst bislang unpolitische Leute halten etwa auf der zentralen Plaza Victoria eine Reihe Vermummter davon ab, Parkuhren zu zerstören. „Das zeigt, dass der gesunde Menschenverstand glücklicherweise weiterhin existiert, dass die Leute hier verstehen, worum es bei den Protesten geht“, so Alejandro, ein Demonstrant, der die Szene genau wie ich beobachtet.

Solidarität und Basisorganisation

Eine völlig andere Realität herrscht währenddessen in den Hügeln, wo die Menschen versuchen, ihr Alltagsleben aufrechtzuerhalten. Die öffentlichen Plätze allerdings sehen anders aus als sonst, wenn nur zu bestimmten Zeiten Kinder und Hunde hier toben. Dieser Tage herrscht ein emsiges Treiben. Viele, die nicht an den Demos teilnehmen können oder wollen, treffen sich, analysieren das Geschehen, teilen ihre Anspannung, Ungewissheit, Schrecken und Freude. An einigen Tagen wird gemeinsam gekocht, Musik gemacht, abends werden alle Anwesenden zusammengerufen, um das Tagesgeschehen und weitere Aktivitäten zu besprechen. Pünktlich zum abendlichen Beginn der Ausgangsperre entsteht ein spontanes Konzert, auf Plätzen und aus den Fenstern erklingen Kochtöpfe, Instrumente und in voller Lautstärke El derecho de vivir en paz von Víctor Jara. Über vierzig Jahre neoliberaler Politik haben es nicht vollbracht, die Erinnerungen an Solidarität und Basisorganisation bei den Menschen auszulöschen.
Auf der Plaza Yungay nutzen die Nachbar*innen und Aktivist*innen des Gemeinschaftsgartens den Ansturm für Workshops über Selbstversorgung, städtische Landwirtschaft und Mülltrennung. Ein erstes Beet mit Salat wird angelegt. „Unser Ziel ist es, uns langfristig mit Obst und Gemüse selbst zu versorgen“, so Paola, eine der Aktivist*innen. Die Absicht stößt auf mehr Interesse als sonst, erst einige Tage zuvor hielten die Plünderungen der Supermärkte und die mediale Panikkampagne über drohende Nahrungs­­­mittelengpässe die Bevölkerung in Atem. Dagegen standen die zuverlässigen Versorgungsstrukturen an der Basis, Selbstversorgerprojekte wie dieses, die kleinen Tante-Emma-Läden in den Stadtvierteln und natürlich die Märkte, die problemlos funktionierten. Im Gemeinschafts­garten Yungay ist auch Kompost willkommen, das freut viele, denn die Müllabfuhr kommt schon seit Anfang der Proteste nicht mehr. Die Gemeindeverwaltung schickt allerdings eigene kleine Lastwagen, um den Müllbergen in den Straßen entgegen zu treten und das Chaos ein bisschen zu ordnen. Die öffentlichen Gesundheitszentren und die von der Gemeindeverwaltung betriebenen Apotheken sind geöffnet, ebenso wie teilweise die Schulen, damit die Schüler*innen ihre Mahlzeit bekommen.
Präsident Piñera hat zwar oberflächliche Veränderungen angekündigt, die Protestierenden im ganzen Land wollen jedoch nicht ruhen, ehe er selbst zurücktritt und eine verfassungsgebende Versammlung einberufen wird. Darauf konzentriert sich jetzt auch die politische Basisarbeit in den Hügeln Valparaísos. Unterstützt durch den Aufruf der Gemeindeverwaltung, wird der Schwung der Proteste zur Stärkung der Stadtteilorganisation genutzt. Die Bevölkerung trifft sich in sogenannten cabildos (Bürger*innenversammlungen), diskutiert und erarbeitet Vorschläge für eine neue Verfassung. Denn alle wissen, dass jetzt der entscheidende Moment ist, um damit zu beginnen, diesem System der institutionellen Ungleichheit gemeinsam ein Ende zu setzen.
Einige Tage nach der Megademonstration beendet Präsident Piñera den Ausnahmezustand, Menschenrechtsbeobachter*innen von Amnesty International und den Vereinten Nationen treffen ein, die Regierung setzt auf Normalisierung.
„Aber ist es ‚normal‘, nach dem was geschehen ist und geschieht, zur Normalität zurückzukehren?“, fragt ein Plakat am streikenden Gymnasium Eduardo de la Barra – dort, wo einst Salvador Allende zur Schule ging, bevor er Arzt und später Präsident von Chile wurde. Wie damals gibt es auch heute wieder Hoffnung für tiefgreifende strukturelle Veränderungen. Damit dem Neoliberalismus Grenzen gesetzt werden und ein Leben in Würde wieder möglich wird.

 

EIN TAUZIEHEN

(Foto: Fluxus Foto)

Am Abend des 13. Oktober hatte sich die Regierung Moreno dann doch auf Verhandlungen mit den Indigenen eingelassen. Im Ergebnis der Gespräche, die live übertragen wurden, zog die Regierung das umstrittene Dekret 883 zurück und kündigte an, in einer Kommission mit Protestvertreter*innen an einem Ersatzdekret arbeiten zu wollen. Daraufhin endeten die Proteste, bald strömten die Einwohner*innen von Quito zu einer großen minga (kommunitäre Gemeinschaftsarbeit) zusammen, um die Spuren der Zerstörung zu beseitigen. Bands gaben spontane Konzerte, während in ausgelassener Stimmung aufgeräumt, repariert und gefegt wurde.

Mindestens elf Tote sowie Tausende Verletzte und Inhaftierte nach zehn Tagen Protest

Nach zehn Tagen Protest bilanziert der Ombudsmann mindestens elf Tote sowie Tausende Verletzte und Inhaftierte. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission ist derzeit vor Ort, um Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen. Der Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten, Luis Almagro, lobte hingegen bei einer regionalen Sicherheitskonferenz die Regierung für ihre Dialogbereitschaft und Umsicht während der Krise.

Die Regierung um Präsident Lenín Moreno ist seitdem nicht nur bemüht, den Protest systematisch zu kriminalisieren und zu delegitimieren; sie rüstet für künftige Protestwellen militärisch, polizeilich und geheimdienstlich auf. Mehrere prominente Anhänger*innen von Expräsident Rafael Correa wurden verhaftet oder baten in Botschaften um politisches Asyl. Scharfgemacht von Verteidigungsminister Oswaldo Jarrín spricht man nicht mehr nur von einer Verschwörung der Anhänger*innen Correas und einem gescheiterten, aus Venezuela und Kuba gesteuerten Putschversuch, sondern von einer ganzen Reihe bewaffneter Gruppen, die eingeschleust worden seien und neue Antiterrormaßnahmen notwendig machten. Für die tatsächliche Anwesenheit solcher Gruppen gibt es wenige Indizien, auch während des Aufstands war lediglich improvisierte, meist defensive Bewaffnung zu beobachten.

Die sozialen Netzwerke quillen über von rassistischen Kommentaren

Leonidas Iza, Präsident der Indigenen Organisationen der Provinz Cotopaxi, sieht in den Behauptungen der Regierung einen Vorwand, um die heftige Reaktion der Bevölkerung auf eine verfehlte Wirtschaftspolitik kleinzureden: „Es ging ausschließlich um wirtschaftliche Forderungen. Wenn dahinter eine politische Absicht oder gar eine politische Manipulation aus dem Ausland gestanden hätte, hätten die Leute nach dem Rückzug des Dekrets weiter protestiert“. Die Mobilisierung und dahinterstehende Logistik sei spontan und selbstorganisiert gewesen.

Derweil wird die Legitimität der indigenen Anführer, die seit der Ausstrahlung des Dialogs recht bekannt sind, medial und politisch untergraben. Gegen viele von ihnen wurde Anklage erhoben, etwa wegen Entführung von Polizist*innen. Auch wurden Recherchen über angebliche Reichtümer der indigenen Autoritäten veröffentlicht – diese hätten „sogar Kleinflugzeuge“, obwohl es für indigene Gemeinschaften im Amazonasgebiet lebensnotwendig ist, kollektiv Zugang zu diesem oft einzig möglichen Verkehrsmittel zu haben, dessen hohe Kosten die Mobilität auf ein Minimum beschränken.

Die Diskussion um Subventionen für Treibstoffe wird auf das gesamte Wirtschaftsmodell ausgeweitet

Die sozialen Netzwerke quillen unterdessen von rassistischen Kommentaren einer weißen und mestizischen Mittelschicht über, die vorgibt, eine Demokratie gepachtet zu haben, die den Frieden der Privilegierten und die systematische und allgegenwärtige Diskriminierung von Schwarzen und Indigenen bedeutet. Regionalzeitungen veröffentlichen mitunter Stimmen, die offen zur Gewalt gegen Indigene aufrufen. Die Klassenfrage ist neben dem Wiederaufflammen des Rassismus heute so aktuell wie lange nicht mehr.

Die Indigenen weiten die Diskussion um Subventionen für Treibstoffe auf das gesamte Wirtschaftsmodell aus und thematisieren vor allem die Verteidigung und Anerkennung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft. „70 Prozent der in Ecuador konsumierten Lebensmittel werden von Kleinbäuer*innen produziert. Die Agrarunternehmen, die die Bewässerung und das Land auf sich konzentrieren, ernähren uns nicht, die produzieren für den Weltmarkt“, so Leonidas Iza.

Die indigene Konföderation CONAIE berief Ende Oktober alle sozialen Organisationen ein „Parlament des Volkes“ ein. Gewerkschaften, Studierende, Akademiker*innen, Frauenorganisationen und Umweltschützer*innen arbeiteten dort zusammen an Vorschlägen für eine zukünftige Wirtschaftspolitik. Als das Dokument Ende Oktober offiziell der Regierung übergeben wurde, hieß es herablassend, man werde den Vorschlag genauso berücksichtigen wie 60 andere, die man schon erhalten habe. Wurden die Indigenen beim Dialog am 13. Oktober noch als legitime Repräsentant*innen der Bevölkerung behandelt, so degradieren Regierung und rechte Presse sie nun wieder zu unbequemen Hinterwäldler*innen.
Der erarbeitete Vorschlag beansprucht eine tiefgreifende Veränderung. „Es ist uns bewusst, dass die Diskussion um Treibstoffsubventionen in eine langfristige Strategie der Energiewende eingebettet sein muss, um in einer postextraktivistischen Gesellschaft der globalen Erwärmung entgegenzuwirken“, heißt es etwa. Um die Staatskassen zahlungsfähig zu halten und gleichzeitig den im Land produzierten Reichtum gerecht zu verteilen, schlägt man eine progressive Einkommenssteuer vor, die für die 270 größten Unternehmensgruppen im Land um vier Prozent erhöht werden soll, sowie eine Vermögenssteuer von einem Prozent bei gleichzeitiger Senkung der Mehrwertsteuer. Für einen „zivilisatorischen Perspektivwechsel“ soll unter anderem die Gemeinschaftsökonomie gestärkt werden. Alle Bergbaukonzessionen sollen einem Audit unterzogen und die Großkonzessionen zurückgenommen werden. Auch die Ausweitung der Ölförderung im Amazonasgebiet soll gestoppt werden. Neben der Förderung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft und der traditionellen Fischerei soll auch der Tourismus ausgebaut werden, jedoch umwelt- und sozialverträglich. Zuletzt wird eine Offenlegung der Vereinbarungen mit dem IWF gefordert.

Ein Maßnahmenpaket der Regierung für die Förderung ländlicher Gebiete kritisierte die CONAIE als „unglaublich“. Viele dieser Maßnahmen hätten sie bereits vor zwei Jahren in einem Dialogprozess gefordert, heißt es in einer Presseerklärung. Das Paket sieht u.a. neue Kreditlinien für Bäuer*innen, die landesweite Direktvermarktung landwirtschaftlicher Produkte, die Registrierung von Fahrzeugen, die der Landwirtschaft und dem Personentransport dienen, sowie die Wiedereröffnung von 500 ländlichen Schulen vor. Auch hat Moreno dem Parlament einen Gesetzentwurf für die „Transparenz der staatlichen Haushaltspolitik“ vorgelegt. Eine Gruppe von Wirtschaftsexpert*innen äußerte in einem Manifest ihre Sorge darüber, dass dieses Gesetz genau den vom IWF gestellten Bedingungen entspricht und gleichzeitig die wirtschaftliche Stabilität und die Dollarisierung gefährdet – in Ecuador ist seit der Bankenkrise 1999 der US-Dollar Landeswährung. Moreno möchte die Stabilitätsauflagen für private Banken lockern und so ihren Einfluss auf die staatliche Finanzpolitik und die Zentralbank stärken.

Wie es scheint, hat die Moreno-Regierung aus dem Aufstand nur „gelernt“, dass sie beim nächsten Mal besser vorbereitet sein will. So nimmt sie offenbar auch ein Wiederaufflammen der Proteste in Kauf. Bisher ist das Tauziehen um die künftige wirtschaftspolitische Ausrichtung Ecuadors noch in vollem Gang, genauso wie das um Legitimität in der Öffentlichkeit.

 

42 TOTE BEI PROTESTEN

Seit dem 16. September ist die Lage in Haiti angespannt: Fast täglich finden Demonstrationen oder Straßenblockaden statt, um den Rücktritt des Präsidenten Jovenel Moïse zu fordern. Die geschäftlichen Aktivitäten sowie das öffentliche Leben in der Hauptstadt Port-au-Prince sind fast vollständig zum Stillstand gekommen. Am Dienstag, den 29. Oktober hatten unter anderem die Lehrer*innengewerkschaften zu einem Generalstreik aufgerufen. Die Straßenblockaden erschweren die Verteilung von Wasser und den ohnehin knappen Nahrungsmitteln. Während der Proteste wurden bisher 42 Tote registriert, von denen die meisten durch Schussverletzungen starben. Das UNO-Menschenrechtsbüro teilte mit, dass weitere 86 Personen verletzt wurden.

Der Präsident weigert sich abzutreten

Die Sprecherin des Büros, Marta Hurtado, erklärte, dass 19 der Todesopfer durch Verschulden von Sicherheitskräften starben. Zudem bestätigte sie, dass unter den Toten auch ein Journalist sei und neun der Verletzten über die Antiregierungsproteste berichtet hätten. Die UNO sei „zutiefst besorgt“ über die Situation des Karibikstaates. Die Sprecherin empfahl den Behörden und Konfliktparteien, „Maßnahmen zu ergreifen, um friedliche Lösungen für die vielen Forderungen zu finden, die die Haitianer*innen auf die Straße treiben“.

Währenddessen weigert sich Präsident Moïse abzutreten, um das Land nicht „bewaffneten Banden und Drogendealern“ zu überlassen. Er besteht darauf, die Situation im friedlichen Dialog mit der Opposition zu klären. Diese hat den Vorschlag einer Verhandlungsrunde allerdings mehrfach abgelehnt, da sie ihn für ungeeignet hält, die Probleme des Landes zu lösen.

Die aktuelle Protestwelle wurde durch einen Treibstoffmangel ausgelöst. Bereits im Frühjahr 2019 kam es zu einer Protestwelle gegen den Präsidenten, die sich an der Empörung über die Erhöhung der Treibstoffpreise entzündet hatte (siehe LN 538).

Eine Lösung der Krise ist nicht in Sicht

Vor dem Hintergrund der schwierigen wirtschaftlichen und politischen Situation fordert die Bevölkerung nun weiterhin den Rücktritt von Präsident Moïse. Neben extremer Armut, einer hohen Inflationsrate, Arbeitslosigkeit und sozialer Ungleichheit hat der Karibikstaat auch mit Korruption zu kämpfen. Das betrifft unter anderem Beamt*innen der öffentlichen Verwaltung. Aber auch Moïse selbst steht unter Verdacht, in Korruptionsfälle im Rahmen des venezolanisch-karibischen Abkommens Petrocaribe verwickelt zu sein, mit dem Haiti vergünstigte Erdöllieferungen aus Venezuela erhalten hatte. Ein Bericht des haitianischen Rechnungshofes, der im Juni veröffentlicht wurde, skizziert zahlreiche Fälle von Geldwäsche und Korruption, in die neben dem Präsidenten und ehemaligen Regierungsmitgliedern auch private Unternehmer*innen involviert sein sollen.

Die Situation verschlimmert sich weiter durch einen möglichen Kollaps der nationalen Energieversorgung. Die Firma Sogener, einer der wichtigsten Energieversorger des Landes, warnt seit Ende Oktober vor diesem Szenario, da der Treibstoff knapp werde und die Firma ihren in Auftrag gegebenen Öl-Import über 30.000 Fass nicht bezahlen könne, solange die Regierung nicht die entsprechenden Rechnungen begleiche. Das Pressebüro der Regierung hatte am 23. Oktober angekündigt, die Zahlungen an die großen Energieversorgungsfirmen des Landes auszusetzen. Die Regierung ließ außerdem verlauten, dass alle staatlichen Elektrizitätszentralen unter die Verwaltung des Ministeriums für Justiz und öffentliche Sicherheit gestellt und die Verträge mit den Energieversorgungsunternehmen auf Eis gelegt werden. Darüber hinaus wolle man gegen „alle Schuldigen der Verschwendung öffentlicher Gelder” vorgehen, die im Zuge von Verträgen mit Energieversorgungsfirmen geschehen sei, und verlangt von diesen Firmen Geldsummen zurück, die dem Staat angeblich zu viel in Rechnung gestellt wurden. Von Sogener fordert die Regierung beispielsweise 123 Millionen Dollar.

Die Energieversorgung droht zusammenzubrechen

Das Unternehmen kündigte indessen drastische Kürzungen der Elektrizität in Port-au-Prince an und stellte ebenfalls eine Zahlungsforderung: Rund 200 Millionen Dollar sei der Staat der Firma in den vergangenen Jahren für seine Energielieferungen schuldig geblieben. Die Streitigkeiten um Schulden und Verträge zwischen Regierung und Energieversorgern erscheinen wie ein Ablenkungsmanöver von der politischen Krise und den Protesten auf der Straße.

Wie wird es weitergehen? Zur Lösung der Krise schlagen oppositionelle politische und soziale Organisationen vor, eine*n Oberste*n Richter*in zu ernennen und einen Staatsrat einzurichten, der die Aktivitäten der Regierung überwachen soll. Gleichzeitig fordern knapp vier Dutzend Bürgermeister*innen, dass die politischen Akteur*innen eine gemeinsame Erklärung unterzeichnen, um die politischen Ziele zu definieren, mit denen die politische Stabilität des Landes wiederhergestellt werden kann.

Moïse ließ währenddessen eine Erhöhung des Mindestlohns zum 1. November verlauten. Gewerkschaften kritisierten jedoch, dass die Erhöhungen zu gering seien und der Präsident nur versuche, die Protestierenden zu beschwichtigen. Die Krise in Haiti geht weiter – weitestgehend unbeachtet von internationalen Medien und ohne, dass eine Lösung in Sicht wäre.

 

ECUADORS INDIGENE MELDEN SICH ZURÜCK

Brennende Barrikaden Straßenproteste in Ecuadors Hauptstadt Quito // Foto: Miriam Lang

Die Übereinstimmung der Zahlen ist frappierend: Einen Kredit von vier Milliarden und 200 Millionen Dollar will die ecuadorianische Regierung unter Lenín Moreno vom Internationalen Währungsfonds. Um den zu bekommen, muss sie bestimmte Strukturanpassungsmaßnahmen durchführen: Unter anderem die staatlichen Subventionen für Treibstoffe streichen und die Diesel- und Benzinpreise dem Weltmarktniveau anpassen; aber auch Arbeitnehmer*innenrechte zurücknehmen, um den Arbeitsmarkt zu flexibilisieren. Soziale Organisationen haben errechnet, dass es genau vier Milliarden und 295 Millionen Dollar sind, die Lenín Moreno in den vergangenen Jahren Banken und großen Unternehmen an Steuerzahlungen erlassen hat. Es handelt sich also, so wird argumentiert, um eine eindeutige Umverteilungsmaßnahme von unten nach oben.
Die breite Bevölkerung muss zahlen, damit die Eliten noch reicher werden. 554 Millionen Dollar Profit sollen die Banken allein 2018 gemacht haben, während nun die Gehälter von Staatsangestellten mit Gelegenheitsverträgen pauschal um 20 Prozent gekürzt werden sollen. Zehntausende werden aus dem Staatsapparat entlassen, in eine Ökonomie, die stagniert und kaum Arbeitsplätze zu bieten hat.
Eine Erhöhung der Benzin- und vor allem Dieselpreise bedeutet eine unmittelbare Verteuerung der allgemeinen Lebenshaltungskosten. Die Busfahrkarten im öffentlichen Nahverkehr werden um zehn Cent teurer, aber auch Lebensmittel und Dienstleistungen. Nicht nur, weil die Transportkosten aufgrund des zunächst um 123 Prozent verteuerten Treibstoffs tatsächlich steigen, sondern weil Transportunternehmen und Zwischenhändler*innen obendrein die Gelegenheit nutzen, ihre Gewinnspanne zu erhöhen. Das ist der Hauptgrund für die massiven Proteste, die seit dem 3. Oktober in Ecuador ausgebrochen sind und das Land lahmgelegt haben.
Es geht nicht etwa um eine umweltfreundliche Politik, die die Menschen von der privaten PKW-Nutzung auf öffentliche Verkehrsmittel umlenken soll – dafür müsste in einen sauberen öffentlichen Nahverkehr investiert werden, um eine reale Alternative zu schaffen. Der Effekt wird vielmehr eine weitere Vertiefung der Ungleichheit sein in einem Land, in dem die Ökonomie bereits stark monopolisiert ist. Auch die Ökologiebewegung hat sich den Protesten angeschlossen. Eine konsequente Umwelt- und Klimapolitik, so die Organisation Acción Ecológica, würde eine Rücknahme der vielfachen Subventionen und Steuerausnahmen für Erdölfirmen, Bergbau- und Palmölunternehmen erfordern, die jedoch ihre zerstörerischen Tätigkeiten im Land immer mehr ausweiten.
Seit Beginn der Proteste brennen in allen Teilen des Landes Barrikaden, die wichtigsten Verkehrsadern sind blockiert, Zehntausende Menschen sind auf den Straßen und mehrere Präfekturen besetzt. Einige Tage lang waren auch drei der wichtigsten Ölfelder im Amazonasgebiet lahmgelegt, was den Staat an seiner empfindlichsten Stelle trifft. Während Taxifahrer*innen und Transportarbeiter*innen mit den Protesten begonnen hatten, führt nun die indigene Bewegung den Aufstand an, mit Unterstützung der Gewerkschaften und einiger Sektoren der Mittelschichten. Als Antwort auf den von der Regierung für 60 Tage ausgerufenen Ausnahmezustand, der Tausende von Soldat*innen und schweres Gerät auf die Straßen brachte, rief auch die Konföderation der Indigenen Völker Ecuadors (CONAIE) in ihren Territorien den Ausnahmezustand aus und kündigte an, Polizist*innen und Soldat*innen festzunehmen, die diese ohne Erlaubnis betreten. Dies geschah dann auch prompt in der Provinz Chimborazo in den Anden, wo knapp 50 Uniformierte für mehrere Tage festgesetzt wurden.

Zum ersten Mal in zwölf Jahren hebt die Bevölkerung wieder den Kopf


Die größten Demonstrationen von bis zu 40.000 Menschen gibt es in der Hauptstadt Quito. Lastwagenweise kommen Indigene sowie Bauern und Bäuerinnen aus den umliegenden Provinzen und schlagen ihr Lager im zentralen Parque el Arbolito und in Universitäten auf. Die Bevölkerung der Hauptstadt heißt sie mit Decken, warmer Kleidung, Lebensmittel- und Medikamentenspenden willkommen, Großküchen werden spontan eingerichtet, um die Ernährung der Landbevölkerung solidarisch zu gewährleisten. Die massiven Protestmärsche wurden von heftigen Krawallen begleitet, an denen sich vor allem Studierende und andere junge urbane Männer beteiligen und von denen die indigenen Protestteilnehmer*innen sich deutlich distanzieren. Polizei und Armee antworten mit einem Niveau an Repression, wie sie das kleine Andenland bisher kaum kannte, inklusive Angriffe auf Krankenhäuser und Unis. Bis Redaktionsschluss bilanzierte der ecuadorianische Ombudsmann landesweit fünf Tote, über 1000 Festnahmen und über 800 Verletzte. Eine Lösung des Konflikts ist nicht in Sicht. Es geht heute in Ecuador nicht nur darum, eine Regierung zu zwingen, ein vom IWF aufgezwungenes neoliberales Maßnahmenpaket rückgängig zu machen oder sie zu stürzen. Zum ersten Mal seit zwölf Jahren hebt die Bevölkerung Ecuadors wieder den Kopf und zieht mit Massenmobilisierungen gegenüber den Mächtigen und der Oligarchie eine rote Linie. „Einmal mehr gibt die indigene Bewegung uns unsere Würde zurück“, bewertet der Intellektuelle Jaime Breilh die Situation.

Zehntausende auf den Straßen Die indigene Bewegung führt den Aufstand an // Foto: Miriam Lang

Anders als in einigen ausländischen Medien behauptet, drücken die Proteste im Oktober 2019 keineswegs den Wunsch der Bevölkerung aus, den Expräsidenten Rafael Correa (2007-2017) an die Regierung zurückzuholen. Dessen Partei wurde vielmehr bei den Regionalwahlen im März 2019 deutlich abgestraft und gewann lediglich zwei von 23 Präfekturen. Ein harter Kern von Correa-Anhängern und der Expräsident selbst, der sich nach wie vor im belgischen Exil befindet und aufgrund mehrerer Strafverfahren nicht nach Ecuador zurückkehren kann, versuchten jedoch schnell, den Protest politisch für sich zu instrumentalisieren. Während ihre Kritik an der Vertiefung neoliberaler Politik durch die Moreno-Regierung zutreffend ist, vertuschen sie systematisch, dass sie selbst den Weg für diese Politik bereitet und ihre ersten Stadien bereits umgesetzt hatten, beispielsweise durch die Unterzeichnung des Freihandelsabkommens mit der Europäischen Union. Die CONAIE distanzierte sich denn auch deutlich von den correistischen Vereinnahmungsversuchen, während diese der Moreno-Regierung einen willkommenen Vorwand lieferten, um zu behaupten, der Oktober-Aufstand sei lediglich eine von den Correisten aus dem Ausland gesteuerte Verschwörung, und kein Ausdruck echten Unmuts in der Bevölkerung.
Auffällig ist, dass keine der offiziellen Verlautbarungen der CONAIE den Rücktritt von Präsident Moreno fordert, sondern lediglich den seiner Innenministerin María Paula Romo und seines Verteidigungsministers Oswaldo Jarrín. Politischen Analysen zufolge sieht die Moreno-Regierung sich als eine Übergangsregierung, die der expliziten Rechten um den Christdemokraten Jaime Nebot den Weg ebnen soll. Dies hat eine Entsprechung in einem deutlichen Rechtsruck in offiziellen Medien und sozialen Netzen, wo die protestierenden Indigenen und Arbeiter*innen vielfach klassistisch und rassistisch diskriminiert werden. Ein Rücktritt Morenos könnte den Aufstieg der Rechten katalysieren, während der Verbleib dieses relativ schwachen Präsidenten im Amt den Organisationen die Chance gibt, sich wieder stärker in die gesellschaftliche Debatte um die Zukunft des Landes einzumischen.
Hierbei ist es wichtig zu betonen, dass es den Indigenen mehrheitlich um ganz andere Dinge geht als Wahl- und Parteipolitik. Im Vordergrund steht nicht nur die Rücknahme des IWF-Pakets, sondern auch die Abkehr vom Extraktivismus, der rücksichtslosen Ausbeutung von Rohstoffen mit Billigung der Politik. Diese Praxis dringt immer weiter in ihre Territorien vor und bedroht ihre nackte Existenz, sowohl in materieller als auch in kultureller Hinsicht. Wie die Indigenen aus Chimborazo in einer Erklärung darlegten, verlangen sie Reparation für die seit der Kolonialzeit erlittene Ausplünderung. Und zwar nicht etwa in barer Münze, sondern in Form einer radikal anderen Agrarpolitik, die nicht auf die Ausrottung der Kleinbauern- und bäuerinnen und der kommunitären Subsistenzökonomie abzielt, sondern sie stärkt: Der Zugang zu Bewässerung, nicht patentiertem Saatgut und fruchtbarem Land im Kollektivbesitz stehen dabei im Vordergrund, sowie eine systematische Förderung ökologischer Anbaumethoden anstelle von korporativen Saatgut-Kunstdünger-Pestizid-Kits, die die Bauern und Bäuerinnen in die Abhängigkeit des transnationalen Kapitals zwingen. Plurinationalität, seit den 90er Jahren die zentrale Forderung der Indigenen, meint außerdem territoriale Selbstregierung mit eigenen Justiz-, Erziehungs- und Gesundheitssystemen, aber vor allem auch eigenen Formen der Versammlungsdemokratie. Das Recht auf eine Lebensweise, die nicht vom globalen Kapitalismus diktiert wird und von der Moderne nur das nimmt, was die Gemeinschaft souverän entscheidet, das ist es, worum Ecuadors indigene Bewegung im Grunde kämpft.

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