Yasuní ist Leben, nicht Geld

Ökonomie hat das Primat vor Ökologie. Dieses Grundmuster der kapitalistischen Produktionsweise sollte mit dem Modell Yasuní nach dem Motto „Es geht auch anders“ durchbrochen werden. Ecuadors Regierung hatte angeboten, gegen eine Teilentschädigung der internationalen Gemeinschaft darauf zu verzichten, im Yasuní-Nationalpark Öl zu fördern. Die immense Artenvielfalt des Regenwaldes und die ihn bewohnenden indigenen Völker sollten dafür unangetastet bleiben. Dieses Modell ist fürs Erste gescheitert; es kam nicht genug Geld zusammen. Mitte August verkündete Ecuadors Präsident Correa das Aus. „Die Welt hat uns im Stich gelassen“, erklärte der Staatschef und sprach von einer „der härtesten Entscheidungen meiner Amtszeit“. Seither wird die Entscheidung weltweit diskutiert, vor allem in Ecuador. Der Ball liegt dort nun beim Parlament, denn laut Verfassung ist die Ausbeutung von Ressourcen in geschützten Gebieten wie dem Yasuní-Nationalpark eigentlich ohnehin verboten. Doch mit ihrer Dreiviertelmehrheit im Parlament kann die Regierungspartei Alianza PAÍS jede „Ausnahme“ genehmigen.

Das Parlament könnte auch eine Volksbefragung anordnen. Schließlich zeigen Umfragen in Ecuador, dass eine Mehrheit der Bevölkerung trotz mangelnder internationaler Entschädigung keine Ölausbeutung will. Die fortschrittliche Verfassung gibt für ein Referendum breiten Raum. Präsident Correa hat erklärt, dass er das Ergebnis einer Volksbefragung respektieren würde.

Fast alles spricht für den Königsweg Volksabstimmung. Zigtausende sind gegen die Ölförderung auf die Straße gegangen, sowohl Gegner_innen und Anhänger_innen der Regierung Correa und vor allem Jugendliche. Sie fordern: Das Öl bleibt im Yasuní. Die Biodiversität ist unser Reichtum. Das Öl ist es nicht.

Die Gegner_innen der Ölförderung verweisen auf die Erfahrungen in Ecuador selbst: Der nördliche Amazonaswald ist bereits zerstört worden, viele indigene Gruppen sind bereits vertrieben worden und für immer verschwunden. Alle Gegenden, in denen Öl gefördert wurde, sind bitterarm – bis heute. Statt Wohlstand zu bringen, zerstörte das Öl die Natur und die Gemeinden. Die Protestbewegung fordert, dass dem Nationalpark dieses Schicksal erspart bleibt. Yasuní ist Leben, nicht Geld – ist einer der häufigsten Slogans auf den Demonstrationen.

Doch Präsident Correa spricht sich gegen die Volksabstimmung aus. Er hat in den vergangenen Tagen unmissverständlich klar gemacht, dass er seinen Machtapparat einzusetzen gedenkt, um eine Volksabstimmung zu verhindern und um die Mehrheiten zu drehen. Er setzt darauf, dass er bei einer Polarisierung gewinnt.

In Ecuador steht viel auf dem Spiel: Ecuador ist das einzige Land der Welt, das die Natur in der Verfassung als Subjekt mit eigenen Rechten definiert. Dahinter steht ein Lernprozess, der viel länger zurückreicht als das Modell Yasuní und die Regierung Correa – er geht auf die Indigenenbewegung und Umweltgruppen zurück, die in den letzten 30 Jahren gegen den Neoliberalismus und die Ölförderung gekämpft haben. Sie haben das Bewusstsein für die Rechte der Natur geschaffen.

Es geht bei Yasuní nicht um Vorteile oder um Hilfe für ein armes Land, sondern um eine historische Schuld. Yasuní war eine Chance für Länder wie Deutschland, die seit der industriellen Revolution die Rohstoffe der Welt verbraucht und die Atmosphäre zerstört haben, globale Verantwortung zu übernehmen. Sie haben diese Chance kläglich vergeben, indem sie sich der Teilentschädigung verweigert haben. Das freilich hindert die Ecuadorianer_innen nicht daran, ihre eigenen Lebensgrundlagen weiter zu verteidigen – gegen die Ölfirmen und wenn es sein muss auch gegen die eigene Regierung. Denn Yasuní ist mehr als Geld: Es ist Leben.

Maduro siegt, Opposition gewinnt

Gerade einmal knapp 225.000 Stimmen trennten die beiden Kontrahenten. Der Sozialist Nicolás Maduro erreichte bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 14. April 50,61 Prozent der abgegebenen Stimmen. Der Oppositionskandidat Henrique Capriles kam auf 49,12 Prozent. Fünf Wochen zuvor war der erst am 7. Oktober 2012 wieder gewählte Präsident Hugo Chávez Frías nach einer langen Krebserkrankung verstorben. Bereits im Dezember letzten Jahres hatte er seiner Partei, der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV), als Nachfolger den Vizepräsidenten und zuvor langjährigen Außenminister des Landes, Nicolás Maduro, empfohlen. Der Tod von Hugo Chávez markiert gleichzeitig die besondere Bedeutung dieses Wahlgangs. In Wahlgängen, bei denen er nicht persönlich als Kandidat angetreten war, fielen sowohl die Wahlbeteiligung als auch die Erfolge der bolivarianischen Bewegung stets deutlich geringer aus. Dies ging sogar soweit, dass die Opposition bei den Parlamentswahlen 2010 und beim Referendum über die Verfassungsänderung im Jahr 2007 mit leichtem Vorsprung gewann.
Gemessen an diesen Ergebnissen erzielte Nicolás Maduro ein gutes Resultat. In absoluten Zahlen erhielt er fast 7, 6 Millionen Stimmen und damit das zweitbeste Ergebnis der bolivarianischen Bewegung. Während er allerdings einen Verlust von 600.000 Stimmen gegenüber dem Ergebnis von Hugo Chávez im Oktober 2012 zu verzeichnen hatte, gewann die Opposition noch einmal 760.000 hinzu. Damit näherten sich die Kontrahenten auf weniger als zwei Prozent an – ein knappes und für alle Beobachter_innen überraschendes Ergebnis. Bei einer leicht höheren Wahlbeteiligung – sie lag aktuell bei 79,7 Prozent – hatte der Vorsprung von Hugo Chávez im Oktober letzten Jahres noch 1,6 Millionen Stimmen beziehungsweise knapp elf Prozent ausgemacht.
Eine Besonderheit historischen Ausmaßes liegt im Verlauf der Prognosen vor diesem Wahlgang. Am 17. Februar veröffentlichte das private Institut Hinterlaces erstmals ein Ergebnis, nach dem Maduro mit 14 Prozent deutlich vor dem Herausforderer lag. In den folgenden Wochen schienen sich seine Aussichten sogar noch zu verbessern: Zwischen 17 und 23 Prozent lag der Übergangspräsident angeblich in Führung. Bei den Wahlen im Oktober 2012 hatten einige private, der Opposition nahe stehende Institute versucht, den Herausforderer Capriles systematisch überzubewerten, um seinen Anhänger_innen eine reale Aussicht auf eine erfolgreiche Stimmabgabe zu suggerieren. Vor dem aktuellen Wahlgang verhielt es sich genau umgekehrt. Während die Aussichten von Nicolás Maduro weitgehend richtig mit 50 Prozent oder mehr angegeben wurden, unterschätzten die Meinungsforscher Henrique Capriles mit 34 bis maximal 44 Prozent durchgehend deutlich. Eine denkbare Auswirkung auf das Verhalten der Wähler_innen wäre, dass diese Zahlen einen mobilisierenden Einfluss auf die Opposition und einen demobilisierenden Effekt auf diejenigen Unterstützer_innen der Regierung hatten, welche den Sieg bereits sicher glaubten.
Neben dem üblichen politischen Schlagabtausch bestand eine zentrale Kontroverse im Vorfeld der Abstimmung im Verhältnis zum Nationalen Wahlrat (CNE). Wie schon bei den letzten Wahlen weigerte sich die oppositionelle Wahlallianz vorher eine Versicherung darüber abzugeben, dass sie das Ergebnis der Abstimmung anerkennen werde. Die Parteien der fünf unabhängigen Kandidat_innen und alle Parteien, die Maduro unterstützten, hatten eine entsprechende Erklärung des CNE unterzeichnet. Am Dienstag vor der Wahl erklärte der Vorsitzende der PSUV und Präsident der Nationalversammlung, Diosdado Cabello, er verfüge über Beweise von Plänen der Opposition, das Wahlergebnis im Falle einer Niederlage nicht anzuerkennen. Tatsächlich hatte es schon bei vergangenen Wahlen immer wieder Gerüchte über derartige Pläne gegeben. Am Nachmittag des Wahltages der letzten Präsidentschaftswahl, als erste Befragungen einen eindeutigen Sieg von Hugo Chávez vermuten ließen, hatte Henrique Capriles jedoch eine umstandslose Anerkennung zugesichert. Auf diesen Umstand bezog sich im Vorfeld der aktuellen Abstimmung auch die oppositionelle Abgeordnete María Corina Machado, als sie auf Vorhaltungen der internationalen Wahlbeobachter_innen antwortete, schlussendlich habe die Opposition bisher doch immer das Ergebnis anerkannt.
Genau das passierte nach den aktuellen Wahlen jedoch nicht: Bereits nach der Verkündung des Ergebnisses durch die Präsidentin des Nationalen Wahlrates blieb der Oppositionsvertreter im Direktorium, Vicente Díaz, auf seinem Stuhl und gab eine eigene Erklärung ab. Angesichts des knappen Ergebnisses und der politischen Polarisierung sei die Forderung der Opposition berechtigt, dass alle abgegebenen Stimmen nachgezählt würden. Am Nachmittag des folgenden Tages sprach Henrique Capriles erstmals von Wahlbetrug und rief seine Anhänger_innen dazu auf, „ihre Wut auf die Straße“ zu tragen. Während ein Großteil der Oppositionsanhänger_innen in Autokorsos mit Hupkonzerten in den von ihnen dominierten Oberschichtsstadtteilen demonstrierte, begannen Gruppen studentischer Jugendlicher zentrale Kreuzungen und Autobahnen zu besetzen, wobei es bereits zu ersten kleineren Konfrontationen mit der Nationalpolizei kam.
Die dramatischen Zusammenstöße begannen nach Einbruch der Dunkelheit. Gruppen von oppositionellen Aktivist_innen griffen Gebäude der sozialen Projekte, Regierungseinrichtungen, Parteibüros der PSUV und Gebäude des Nationalen Wahlrates an. Bereits ernster waren die Angriffe auf Privathäuser von Politiker_innen der PSUV, des Ölunternehmens PdVSA und des Nationalen Wahlrates. So belagerte in der Nacht eine größere Gruppe das Privathaus der Präsidentin des Wahlrates, Tibisay Lucena, bewarf es mit Steinen und hinterließ Parolen an den Wänden. Den Blutzoll zahlten allerdings die Basisaktivist_innen der bolivarianischen Bewegung, die in der Nacht den Aufrufen folgten, die Gebäude zu schützen. An mehreren Orten wurden sie von bisher nicht identifierten Täter_innen beschossen. Am Dienstag meldete die Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz insgesamt sieben Tote und 61 Verletzte. Weitere drei Personen verstarben in den folgenden Tagen an der Folgen ihrer Verletzungen.
Seit der Wahl versucht die Opposition, die Legitimät des Wahlergebnisses infrage zu stellen und Neuwahlen zu erreichen. Zunächst hatte Capriles angeführt, dass es über 3.000 Beschwerden über Unregelmäßigkeiten gebe. Allerdings handelte es sich bei dem größten Teil davon um Verstöße gegen die Wahlordnung, welche parteipolitische Werbung vor und während der Wahl verbietet. Gegen das Verbot der Wahlwerbung hatte Capriles selber den gravierendsten Verstoß geleistet, indem er noch am Tag vor der Wahl eine Pressekonferenz bei dem Nachrichtenkanal Globovisión durchführte. In 570 Fällen wollen Oppositionsanhänger_innen Fälle beobachtet haben, bei denen Personen hinter die Wahlkabine begleitet wurden. Selbst wenn dies der Wahrheit entspräche, wäre es bei 15 Millionen Wähler_innen eine verschwindend geringe Prozentzahl.
Da die Opposition mit eigenen Zeug_innen und Wahlmitarbeiter_innen an sämtlichen 39.000 Wahltischen vertreten war, markieren diese Verstöße auch tatsächlich die Höchstzahl der zu überprüfenden Fälle. Diese Beteiligung der Opposition am Wahlverfahren führt auch das einzige statistisch relevante Argument der Opposition ad absurdum: Seit der Wahl nannte Capriles unterschiedliche Zahlen über nicht-existente Wähler_innen, die entweder als Tote oder mit doppelten Identitäten in den Wahllisten geführt worden seien. Seine Angaben variierten zwischen 60.000 und 300.000 Stimmen. Allerdings wird auch die Einschreibung in die Wählerlisten von allen beteiligten Parteien bis auf die lokale Ebene mehrmals überprüft. Jede_r Wähler_in gibt die Personalausweisnummer, ein Foto und einen Fingerabdruck ab, ohne den die digitale Wahlmaschine nicht zu aktivieren ist. Das Auftreten nicht existenter Wähler_innen in den Listen würde bedeuten, dass mindestens 40.000 Zeug_innen, Wahltischmitarbeiter_innen sowie ein Heer von Techniker_innen und Spezialist_innen aus ihren eigenen Reihen im Vorfeld der Abstimmung ihrer Aufgabe nicht nachgekommen wären. Tatsächlich hatte es bis zur Verkündung des vorläufigen Endergebnisses am Sonntag um 22 Uhr keine Beschwerde von einem der Wahltische gegeben. Auch die obligatorische öffentliche Auszählung von – zufällig ausgewählten – mindestens 54 Prozent der Urnen für einen Vergleich zwischen digitalen Ergebnissen und Papierbelegen hatte keine einzige abweichende Stimme ergeben.
Während sich die Regierungsseite in der Wahlnacht noch gesprächsbereit zeigte – Nicolás Maduro stimmte der verlangten Nachzählung sofort zu und erklärte, die Opposition solle ruhig noch einmal nachzählen, dass sie verloren habe – sind seit den Übergriffen nach dem Wahltag die Fronten zwischen beiden politischen Lagern vollkommen verhärtet. Parlamentspräsident Cabello verweigerte zunächst die Auszählung mit dem Hinweis, dass es keine Sonderrechte für die Opposition gebe; zudem handele es dabei sich nur um einen Zwischenschritt, um schließlich die Wahlen insgesamt für illegitim zu erklären. Genau diese Prognose bewahrheitete sich, nachdem der Nationale Wahlrat der verlangten Auszählung zustimmte. Sofort legte Henrique Capriles nach und forderte, nun sollten auch Fingerabdrücke und Fotos überprüft werden. Als der CNE dies unter Verweis auf die technische Undurchführbarkeit zurückwies, erklärte der Oppositionsführer, er werde vor internationalen Instanzen Neuwahlen verlangen.
Unterdessen verweigerte Parlamentspräsident Cabello allen oppositionellen Abgeordneten, die Nicolás Maduro nicht anerkennen, das Rederecht in der Nationalversammlung und stellte die Zahlung ihrer Bezüge ein. Er begründete diese umstrittene Maßnahme damit, dass die betroffenen Abgeordneten bei der zurückliegenden Parlamentswahl nach denselben Gesetzen, vom selben Wahlrat und mit den gleichen Wahlmaschinen gewählt wurden – teilweise sogar mit ähnlich knappen Ergebnissen –, wie sie bei der Wahl verwendet wurden, die sie nun in Frage stellten. Beim Versuch, ihr Rederecht zu erzwingen, zettelte die Opposition eine handfeste Schlägerei im Parlament an. Eigentlich sollte an diesem Tag über das Gesetz über die Entwaffnung debattiert werden. Politisch rüsten beide Seiten jedoch massiv auf.

Infokasten:

Wahlen in Venezuela

Die Wahlen in Venezuela werden vom Nationalen Wahlrat (CNE) organisiert und seit Dezember 1998 mit Wahlcomputern durchgeführt. Insgesamt besteht der Wahlprozess aus 18 organisatorischen Einzelschritten, von denen 16 unter Beteiligung der Opposition stattfinden. Nur der Hin- und Rücktransport der Maschinen zwischen CNE und Wahlbüros wird vom Militär organisiert.
Ein Kernstück des Wahlsystems ist die persönliche Identifizierung der Wähler_innen mithilfe eines separaten Gerätes. Nachdem der Monitor durch die Eingabe der biometrischen Informationen des Wählers_der Wählerin freigeschaltet wurde, kann die Person abstimmen. Sie enthält einen Papierbeleg mit dem Votum, der danach in eine Urne geworfen wird.
Nach Schließung der Wahllokale druckt der Wahlcomputer fünf Belege mit dem Ergebnis und den Unterschriften der Wahltischmitarbeiter_innen aus – einen Beleg für jede der anwesenden Parteien. Bis zu diesem Zeitpunkt kann jede_r Wahltischmitarbeiter_in die Abstimmung stoppen.
In jedem Wahlbüro werden mindestens 54 Prozent der Wahltische in einer öffentlichen Auszählung überprüft und mit dem digitalen Ergebnis abgeglichen. Die zu überprüfenden Geräte werden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Jeder einzelne Beleg wird hochgehoben und laut vorgelesen, jede einzelne Stimme und das Auszählungsergebnis im Wahlheft vermerkt. In keinem einzigen Fall gab es bei diesen Wahlen einen Unterschied zwischen Belegen und Computerergebnis. Nach Auskunft der internationalen Wahlbeobachter_innen ist dies auch bei den vorhergegangen Wahlen niemals der Fall gewesen.
Der Wahlgang wurde von insgesamt 220.000 ehrenamtlichen Wahltischmitarbeiter_innen durchgeführt. Etwa die Hälfte davon gehört der Opposition an. Zudem waren bei den Wahlen insgesamt 120 internationale Wahlbeobachter_innen aus 47 Ländern präsent.

Kleine Schritte in Havanna

Das Datum des „Marsches für den Frieden” war bewusst gewählt: Am 9. April wird in Kolumbien jenes Tages im Jahr 1948 gedacht, an dem Jorge Eliécer Gaitán, der liberale Caudillo und aussichtsreiche Präsidentschaftskandidat, im Zentrum Bogotás erschossen wurde. Der daraufhin ausbrechende Aufstand in der Hauptstadt, der Bogotazo, mündete in den jahrelangen Bürgerkrieg zwischen Liberalen und Konservativen. Aufgrund seiner Grausamkeit sollte dieser schlicht als La Violencia in die Geschichtsbücher eingehen.
65 Jahre später schoben sich mehr als eine Million Menschen durch die Straßen Bogotas, um ihre Unterstützung für die Friedensverhandlungen zu zeigen. Dies war das Ergebnis einer politischen Dynamik, an deren Beginn der Aufruf der linken Sammelbewegung Patriotischer Marsch gestanden hatte. Doch schnell hatten auch andere Teile der Gesellschaft und das politische Establishment erkannt, dass man der Marcha Patriótica, ihr nahestehenden Organisationen und damit in gewisser Weise auch der FARC bei der Massenmobilisierung für den Frieden nicht das Feld überlassen konnte. So riefen nicht nur die vom ehemaligen Mitglied der Guerillabewegung M19 Gustavo Petro geführte Stadtverwaltung Bogotás, die katholische Kirche und Unternehmen zur Teilnahme auf, sondern auch die Regierung von Präsident Santos selbst.
Begleitet von großer medialer Aufmerksamkeit ging es der Regierung wohl vor allem darum, sich von den Massen ihren politischen Kurs noch einmal bestätigen zu lassen. Man wolle die Verhandlungen in Kuba gegen „die Feinde des Friedens” schützen, hatte Santos am Abend zuvor in einer Fernsehansprache gesagt und meinte damit vor allem das rechte Lager um Ex-Präsident Álvaro Uribe. „Dieser versuche“, so Santos, „die Stimmung in der Bevölkerung zu vergiften und den Friedensprozess zu sabotieren.”
Seit die Delegationen von Regierung und Guerilla in Havanna zusammensitzen und verhandeln, vergeht kaum ein Tag, an dem Uribe nicht gegen die Regierungspolitik und ihre Entscheidung für den Friedensprozess wettert. Uribe, der allmählich seine Bewegung Demokratisches Zentrum für die Kongress- und Präsidentschaftswahlen 2014 zu positionieren scheint, findet mit seinem Diskurs vor allem bei den Regionaleliten, aber auch bei Militär und Polizei Gehör. Diese stehen zwar offiziell hinter den Friedensverhandlungen, politisch aber tendieren sie eher zur Kriegsrhetorik des umstrittenen Ex-Präsidenten als zur Politik Santos‘. Auch deshalb dürfte die Regierung zweigleisig fahren: Während sie mit der FARC über den Frieden verhandelt, gehen die Kämpfe zwischen Militär und Guerilla weiter. Einen beidseitigen Waffenstillstand, wie die FARC und zivilgesellschaftliche Organisationen ihn gefordert haben, lehnt Santos ab.
Seit November, dem Beginn der Gespräche, geht es im Konferenzzentrum in Havanna bis heute, Anfang Mai, um den ersten der insgesamt sechs Verhandlungspunkte auf der zuvor vereinbarten Agenda: die integrale ländliche Entwicklung.
Ein schwieriges Thema, denn die ungleiche Landverteilung in Kolumbien ist ein seit Jahrzehnten ungelöstes soziales Problem. Dementsprechend umfangreich sind die Forderungen der FARC, die eine Neuausrichtung der Agrarpolitik fordern, um Armut und Gewalt im ländlichen Kolumbien entgegenzuwirken. Insgesamt präsentierte die Guerilla in den letzten Monaten ganze 100 Vorschläge für eine neue Agrarpolitik. Zu einem großen Teil berief sie sich dabei nach eigenen Angaben auf jene Vorschläge, die Organisationen und Einzelpersonen im Rahmen mehrerer Foren zur Beteiligung der Zivilgesellschaft am Friedensprozess an die Verhandlungsparteien herangetragen hatten.
Die zahlenmäßig größte Veranstaltung hatte Mitte Dezember stattgefunden: Mehr als 1300 Vertreter_innen verschiedener Organisationen hatten an einem auf Bitten der Verhandlungsdelegationen von der Organisation der Vereinten Nationen und der Nationale Universität organisierten Forum teilgenommen und über die ländliche Entwicklung diskutiert. Sie erarbeiteten mehr als 400 Vorschläge, die dann nach Havanna übersandt wurden. Anwesend waren bei der dreitägigen Veranstaltung nicht nur kleinbäuerliche, afro-kolumbianische und indigene Gemeinden und Gewerkschaften, sondern auch Vertreter_innen der Agrarindustrie.
Für großes mediales Echo sorgten allerdings nicht die Anwesenden, sondern die Abstinenz des mächtigen Viehzüchterverbandes FEDEGAN. Dessen Präsident José Felix Lafaurie sagte seine Teilnahme mit dem Hinweis ab, es sei unnütz angesichts der offensichtlich antagonistische Positionen mit der FARC über ländliche Entwicklung zu diskutieren. Während Lafaurie dafür Kritik aus fast allen politischen Lagern einstecken musste, wurde er von Uribe für seine Entscheidung gefeiert. Das ist wenig verwunderlich: Uribe sowie vielen Regionalverbänden der Viehzüchter werden enge Beziehungen zu Paramilitärs vor allem im Nordwesten Kolumbiens nachgesagt.
Wie viele der 100 Vorschläge der FARC letztendlich den Weg in einen Friedensvertrag schaffen werden, ist völlig unklar. Denn obwohl sich die Guerilla im Gegensatz zur Regierungsdelegation äußerst kommunikativ zeigt, ist bis jetzt wenig über substanzielle Verhandlungserfolge bekannt. Zwar unterhält die Verhandlungsdelegation der Guerilla einen eigenen Internet-Blog und tritt regelmäßig vor die Presse. Genaues über den Stand der Verhandlungen oder eventuelle Zwischenergebnisse wird hingegen nur selten oder lediglich ansatzweise bekannt. Beispiel Zonas de Reserva Campesina: Das bereits 1994 verabschiedete Gesetz Nr. 160 ermöglicht es, auf Antrag kleinbäuerlicher Gemeinden, bestimmte Schutzzonen einzurichten. Über deren wirtschaftliche Struktur können die Gemeinden weitestgehend autonom entscheiden. Damit soll die Konzentration von Landbesitz und die Ausbeutung des Landes, beispielsweise durch Bergbauprojekte, gestoppt werden.
Die FARC begrüßten die Forderung nach der Einrichtung von 50 derartiger Schutzzonen, eine Zahl, die der Nationale Verband der kleinbäuerlichen Schutzzonen ANZORC an die Verhandlungsdelegationen herangetragen hatten. Regierungsmitglieder, Großgrundbesitzer und Agrarindustrie lehnten ab. Trotzdem ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Reservas Campesinas bei der Umsetzung einer aus den Verhandlungen hervorgehenden neuen Agrarpolitik eine wichtige Rolle spielen werden. Unklar ist jedoch, wie viele solcher Schutzzonen eingerichtet werden sollen und wie hoch die finanzielle Unterstützung der Regierung für deren Einrichtung und Etablierung sein wird.
Doch trotz aller Unklarheiten über substanzielle Ergebnisse scheint es voranzugehen: Die Vertreter_innen beider Verhandlungsdelegationen betonen regelmäßig, dass die Verhandlungen auf einem guten Weg seien. Ein weiteres Indiz ist, dass Ende April bereits das Forum zum zweiten Thema auf der Verhandlungsagenda stattfand, der politischen Teilhabe. Für die FARC stehen dabei vor allem politische Garantien im Vordergrund. Der letzte Versuch, mit der Partei Patriotische Union innerhalb des gesetzlichen Rahmens an der Politik teilzuhaben, endete in der systematischen Ermordung tausender ihrer Mitglieder. Zündstoff, nicht nur bei den Verhandlungen in Havanna, dürfte auch das Thema der Rechtsverletzungen durch FARC-Mitglieder bergen. Kritiker_innen befürchten, dass insbesondere die Führungskräfte der FARC straffrei ausgehen könnten. In einem Brief an 62 Abgeordnete des US-Kongresses schlug die Guerilla ihrerseits die Einrichtung einer Wahrheitskommission vor.
Ein weiteres Thema wird im Rahmen des zweiten Verhandlungspunktes auch sein, wie im Falle erfolgreicher Friedensverhandlungen mit den Ergebnissen verfahren werden soll. FARC und die Bewegung Patriotischer Marsch fordern eine Verfassungsgebende Versammlung, die die aktuelle Charta von 1991 reformiert. Die Regierung spricht von einem Referendum, welches im Falle einer Einigung in Havanna notwendig werden würde.
Unabhängig von den Friedensgesprächen in Havanna fand im April zudem der „Kongress für den Frieden“ statt, der von der linken Sammelbewegung Kongress der Völker veranstaltet wurde. Diese ist ein Zusammenschluss verschiedener Basisorganisationen, der jedoch der FARC weniger nahe steht als die Patriotischer Marsch. In der Abschlusserklärung des dreitägigen Kongresses mit über 20.000 nationalen und internationalen Teilnehmer_innen wies der Congreso erneut darauf hin, dass „Frieden nicht nur im Schweigen der Gewehre“ bestehe, sondern tiefgreifende soziale Veränderungen notwendig seien. Seiner Ansicht nach ist die Zivilgesellschaft derzeit nicht ausreichend am Friedensprozess beteiligt: „Wenn das Ende des bewaffneten Konfliktes der Konsolidierung einer demokratische Gesellschaft bedarf, ist es notwendig, die Suche nach dem Frieden zu demokratisieren“ heißt es in der Erklärung.
Lange wird für strukturelle Veränderungen der Friedensgespräche allerdings keine Zeit mehr sein: Aller Voraussicht nach wird Präsident Santos sich 2014 für eine zweite Amtszeit bewerben wollen. Das heißt, dass er spätestens Ende des Jahres Ergebnisse vorlegen muss. Danach werden die Friedensgespräche endgültig zum Wahlkampfthema.

Als Präsident unbesiegbar

Es seien „zwei grundverschiedene Männer“ gewesen, mit denen er sich unterhalten habe. „Der eine jemand, dem sein unverwüstliches Glück die Chance präsentiert hatte, sein Land zu retten; der andere ein Traumtänzer, der sehr wohl einmal als ein weiterer Despot in die Geschichte eingehen könnte.“
Im Jahr 2000 veröffentlichte der kolumbianische Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez einen Text über Hugo Chávez, der die Ambivalenz des damals erst kurz amtierenden venezolanischen Präsidenten herausstellte. In dem Essay deutet sich bereits die gesellschaftliche Polarisierung an, die Venezuela in den 14 Jahren, die Chávez das Land regierte, prägen sollten. Die Mehrheit der ärmeren Bevölkerung verehrte ihren Präsidenten leidenschaftlich. Die Eliten des Landes, deren kulturelles Vorbild seit jeher die USA waren, hassten ihn hingegen inbrünstig. Für beide Seiten war Chávez spätestens seit seiner ersten Wahl 1998 der politische Fixpunkt. Dabei wurde Venezuela unter Chávez weder zu einem sozialistischen Paradies noch zu einer kommunistischen Diktatur, wohl aber zu einer Alternative zum Neoliberalismus in Lateinamerika. Es darf nicht vergessen werden, dass der Kontinent zu diesem Zeitpunkt eine lange Phase neoliberaler Umstrukturierung durchlebt hatte, in der selbst sozialdemokratische Positionen völlig an den Rand gedrängt waren. Die gesellschaftlich ohnehin bestehende Polarisierung bekam durch Chávez ein Gesicht, die Unterprivilegierten ein Sprachrohr.
Hugo Chávez Frías stammte selbst aus einfachen Verhältnissen. Geboren am 28. Juli 1954 in Sabaneta im südwestlich gelegenen Bundesstaat Barinas, konnte er dank seiner Militärausbildung studieren. Sein politischer Aufstieg ist eng mit dem Niedergang des paktierten venezolanischen Zweiparteiensystems verknüpft. Nach dem Sturz von Diktator Marco Pérez Jiménez 1958 hatten die christdemokratische Copei und die sozialdemokratische AD im Wechsel regiert. Gegenüber den Militärdiktaturen, die in in den meisten Ländern des Kontinents in den 1960er und 70er Jahren herrschten, stilisierte sich Venezuela als „Musterdemokratie“. Die vermeintliche politische Stabilität basierte auf dem elitären Pakt von Punto Fijo, den die großen Parteien, Unternehmerverbände und die Gewerkschaften 1958 unter Ausschluss der Kommunist_innen und linker Sozialdemokrat_innen eingingen. Dank der Erdöleinnahmen blieb in einem ausgeprägten Klientelsystem auch Geld für die Unter- und Mittelschichten übrig. Als der Ölpreis in den 1980er Jahren fiel, geriet Venezuela wie die übrigen Länder Lateinamerikas in die Schuldenkrise. Die Auswirkungen wälzten die Eliten auf die Unterschichten ab, massenhafte Verarmung war die Folge. Am 27. Februar 1989 kam es in Folge von Fahrpreiserhöhungen zu spontanen Plünderungen, dem so genannten Caracazo. Die erste große Revolte gegen den Neoliberalismus überraschte die politischen und wirtschaftlichen Eliten Venezuelas völlig und gilt als der eigentliche Beginn der bolivarianischen Bewegung.
Bereits 1983 hatte Chávez eine klandestine linke Gruppierung in den Reihen des Militärs gegründet. 1992 scheiterte Hugo Chávez mit einem Putschversuch gegen den damaligen Präsidenten Carlos Andrés Pérez, der die Niederschlagung des Caracazo politisch zu verantworten hatte. Nach seiner Festnahme reichte ihm eine knappe Minute, um ihn augenblicklich im ganzen Land bekannt zu machen. In seiner auf allen Kanälen übertragenen Ansprache übernahm er persönlich die Verantwortung für das Scheitern des Putsches und sagte, die Ziele seien „vorläufig“ nicht erreicht worden. Nach seiner Begnadigung 1994 arbeitete Chávez landesweit am Ausbau einer politischen Massenbewegung und gewann die Wahlen mit 56 Prozent der Stimmen. Er hatte es geschafft, als erster Politiker in Venezuela glaubhaft die Armut und Ausgrenzung der Mehrheit der Bevölkerung auf die politische Agenda zu setzen. Es folgte die Ausarbeitung einer progressiven Verfassung, die Ende 1999 per Referendum angenommen wurde. Diese stärkte die Position des Staatspräsidenten und baute gleichzeitig die Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung aus.
Statt mit verfassungsgemäßen Mitteln Einfluss auf die Politik zu nehmen, sahen Opposition und private Medien ihre Rolle darin, Chávez um jeden Preis wieder aus dem Amt des Staatspräsidenten zu vertreiben. Im April 2002 scheiterten die Chávez-Gegner_innen mit einem kurzzeitigen Putsch. Chávez überstand auch einen zweimonatigen Unternehmer_innenstreik in der Erdölindustrie zum Jahreswechsel 2002/2003 und ein Abwahlreferendum 2004. Die wichtigsten Oppositionsparteien erklärten im Dezember 2005 drei Tage vor den Parlamentswahlen deren Boykott und waren in der Nationalversammlung für die darauf folgenden fünf Jahre nicht mehr vertreten. 2006 wurde Chávez mit 63 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt. Erst der Totalausfall der Opposition und die Übernahme der Kontrolle bei dem staatlichen Ölkonzern PDVSA nach der gescheiterten Erdölsabotage, ermöglichte es der bolivarianischen Regierung, umfassend Politik zu machen. Die als misiones bekannten Sozialprogramme, die vor allem im Gesundheits- und Bildungsbereich große Erfolge verzeichnen konnten, begannen erst 2003. Sie bauten die Grundversorgung der Bevölkerung merklich aus. Auch die meisten wirtschaftlichen Indikatoren verbesserten sich seit 2002, die Armutsrate ging deutlich zurück und Venezuela hat heute die niedrigste Ungleichheit in Südamerika. Die Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung wurden ebenfalls rapide ausgeweitet. Seit 2005 entstehen landesweit Kommunale Räte als Bündelung der vielfältigen sozialen, kulturellen und politischen Basisinitiativen. Die Räte entscheiden basisdemokratisch über die Verwendung von staatlichen Geldern und können sich zu einer höheren Ebene, der Comuna , zusammenschließen.
Der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ wird in Venezuela als Schlagwort seit 2005 debattiert, ohne dass daraus bis heute ein konkretes Ziel erwachsen ist. Neben der Verstaatlichung von Schlüsselindustrien experimentierte die Regierung mit der Förderung unterschiedlicher Unternehmensformen wie Kooperativen oder selbst- und mitverwalteten Betrieben. Dreh- und Angelpunkt der Wirtschaft bleibt das Öl. Eine mögliche Abkehr vom extraktivistischen Wirtschaftsmodell, das auf der Förderung von Rohstoffen basiert, ist derzeit schwer vorstellbar. Der offiziell niedrig gehaltene Wechselkurs sorgt dafür, dass die Importe bezahlbar bleiben, die heimische Produktion wird jedoch kaum ausgebaut, da sie auch auf dem Binnenmarkt nicht wettbewerbsfähig ist.
Außenpolitisch hat sich Chávez vor allem für eine stärkere lateinamerikanische Integration, multipolare Weltordnung und die Stärkung der Organisation erdölexportierender Staaten (Opec) eingesetzt. Die antikoloniale und antiimperialistische Außenpolitik trug unter Chávez jedoch auch kritikwürdige Züge. Die realpolitisch motivierte Annäherung an Weißrussland oder Iran ist mit den innenpolitischen Debatten in Venezuela kaum vereinbar, spielte dort aber auch nie eine größere Rolle. In Europa oder USA hingegen reduzierten viele, nicht zuletzt innerhalb der deutschen Linken, Chávez schlicht auf diese außenpolitischen Bündnisse. Dabei wird bei genauerer Betrachtung deutlich, dass Venezuela in den vergangenen Jahren mit den unterschiedlichsten Ländern außerhalb Lateinamerikas rein interessengeleitete Beziehungen eingegangen ist, darunter Russland, China oder Portugal.
Selbstverständlich sind Chávez Verdienste ambivalent. Sein eigenwilliger Politikstil, seine langen Reden und teils aggressive Wortwahl, sein Messianismus und die Nähe zur ärmeren Bevölkerung, all das mag durch eine europäische Brille betrachtet befremdlich erscheinen. In Venezuela jedoch sind dies Gründe dafür, warum Chávez in den letzten 14 Jahren vor seinem Tod fast alle Wahlen und Abstimmungen gewonnen hat. Einzig das Referendum über eine umfangreiche Verfassungsreform konnte die Opposition 2007 knapp für sich entscheiden. Chávez hat keine technokratische Politik für eine Minderheit vertreten, sondern die arme Bevölkerungsmehrheit in den Mittelpunkt gestellt. Entgegen verbreiteten und medial inszenierten Ansichten ist Venezuela unter ihm demokratischer geworden. Beim parallelen Bestehen von Transformationsstrategien von oben und unten, sowie einer teilweise offen undemokratischen Opposition, muss die Demokratie jedoch ständig neu erkämpft werden.
Am 5.März erlag Chávez seiner Krebserkrankung, gegen die er sich mehr als anderthalb Jahre lang zu Wehr gesetzt hatte. Nachdem er erst im vergangenen Oktober wiedergewählt worden war, wird er als unbesiegter Präsident in die Geschichte eingehen. Er hinterlässt ein verändertes Venezuela und einen veränderten Kontinent. Trotz aller bevorstehenden Probleme wird es wahrscheinlich kein Zurück in alte, neoliberale Zeiten geben. Denn die venezolanische Bevölkerung ist auch dank Chávez heute politisierter und organisierter als je zuvor. Die starke Fixierung auf seine Person stellt nun sowohl seine Anhänger_innen als auch die Opposition vor Herausforderungen. Eine kollektive Führung des bolivarianischen Prozesses wurde nie aufgebaut. Chávez war stets ein wichtiger Garant dafür, dass Positionen von unten nach oben durchdringen. Sein Wunschnachfolger Nicolás Maduro verfügt nicht annäherend über Chávez‘ Charisma, wird die Neuwahlen am 14.April aber höchstwahrscheinlich für sich entscheiden. Es ist absehbar, dass die Politik in Venezuela in allen politischen Lagern noch eine ganze Weile um die Person des comandante kreisen wird. Eine Zersplitterung des bolivarianischen Lagers in Gruppierungen und Parteien, die alle etwas anderes unter Chavismus verstehen, ist mittelfristig durchaus möglich. Ebenso könnten sich die neuen, als boliburgues bekannten Eliten den alten Eliten annähern, um radikaldemokratische Ideen zurückzudrängen. Der Chavismus als politische Option wird voraussichtlich lange überdauern. Die Frage ist, in welcher Form.

Ja zum „Nein“

Am 5. Oktober 1988 stand das chilenische Volk vor der Wahl: „Ja“ oder „Nein“ zu weiteren acht Jahren Augusto Pinochet. Doch kaum jemand glaubte damals daran, dass das Referendum tatsächlich etwas an der Realität der Militärdiktatur ändern könnte. Dennoch gewann der gängigen Meinung zum Trotz das „Nein“.
Wer sich den Film No ansehen will, der weiß also mit der historischen Distanz von knapp 25 Jahren, wie die Abstimmung ausgehen wird. Deshalb zieht der Film des Regisseurs Pablo Larraín seine Spannung auch nicht aus dem Ausgang, sondern aus dem Wettstreit der Werber_innen. Was Barack Obama für seinen Wahlkampf 2008 in den USA mit seinem „Yes, we can“ genutzt hat, das haben Ende der achtziger Jahren auch schon die Befürworter_innen des „No“ in Chile gekonnt: Die Hoffnung eines ganzen Volkes auf einen politischen Wandel zu aktivieren. Doch in Chile musste dazu erst einmal die Angst bezwungen werden, so die Botschaft des Films.
René Saavedra, gespielt von Gael García Bernal, produziert eigentlich Werbefilme für Konsumgüter wie Erfrischungsgetränke und Mikrowellenherde. Doch dann wird er von den „Nein“-Unterstützer_innen gebeten, die Werbekampagne für sie zu übernehmen. Er soll das Volk nicht nur dazu bewegen, gegen Pinochet zu stimmen, sondern überhaupt erst zur Wahlurne zu gehen. Der im Exil aufgewachsene Sohn eines chilenischen Sozialisten hat aber mit Politik nicht viel am Hut. Das kleine Glück hat er in Karriere und Familie gefunden. Sie sind ihm wichtiger als das Schicksal des Landes. So wie er haben sich viele Chilen_innen durch die Flucht ins Private mit der Diktatur arrangiert.
Und dennoch: Trotz aller Drohungen und realen Gefahren für sich und seine Angehörigen nimmt Saavedra schließlich doch die Herausforderung an, mit den Waffen der PR-Branche gegen den Machtapparat anzutreten. Kaum jemand glaubt an seinen Erfolg. Am wenigsten die „No“-Aktivist_innen selbst, die in der Abstimmung – nicht ganz unbegründet – eine Farce zur Machtlegitimation des Systems Pinochet sehen. Doch Saavedra lässt sich nicht beirren. Einen Monat lang hat er täglich 15 Minuten im nationalen Fernsehen zur Verfügung, um das Volk vom „Nein“ zu überzeugen.
Während die politischen Oppositionellen dabei vor allem die Gräueltaten Pinochets thematisieren wollen, stellt sich Saavedra gegen sie. „Wenn wir das tun, verbreiten wir nur noch mehr Angst. Und dann gewinnen sie.“ Kurzerhand krempelt er seinen Fernsehspot für „Free-Cola“ zu einer Befreiungshymne für Chile um. Aller Skepsis zum Trotz trifft er damit den Nerv der Bevölkerung. Sein Jingle, „Chile, la alegría ya viene“, („Chile, die Freude kommt bald“) schafft das Undenkbare. Mit einer simplen Melodie wird Pinochet abgesetzt.
„Das Thema ist zwar sehr kontextbezogen, aber dennoch universell. Es geht um Menschen und ihre Beziehung zu Politik, um Demokratieverständnis und die Rolle des Fernsehens“, erzählte Hauptdarsteller Gael García Bernal während des Filmfestivals im Schweizerischen Locarno, bei dem vor allem der mitunter schräge Humor des Spielfilms große Begeisterung im Publikum ausgelöst hat – auch wenn die buchstäblich schlechte Qualität für einige Diskussion gesorgt hat. Denn Regisseur Pablo Larraín hat in seinem Film nicht nur thematisch, sondern auch stilistisch ein interessantes Experiment gewagt: Um Originalaufnahmen aus den achtziger Jahren ohne sichtbare Unterschiede in seinen Film einbauen zu können, wählte er das Videoformat U-Matik, das damals im Fernsehen verwendet wurde. Was am Anfang irritiert, bewirkt schon nach wenigen Minuten, dass man sich in die damalige Zeit zurückversetzt fühlt. Die bewusste Entscheidung gegen digital perfektionierte Bilder lässt die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentarfilm verschwimmen.
„Vor diesem Film wusste ich nicht, welche Rolle das Fernsehen bei der Abwahl Pinochets gespielt hat“, so Bernal bei einem Pressegespräch in Locarno. „Pinochet hätte sich wahrscheinlich nicht träumen lassen, dass er mal mit den Waffen des Neoliberalismus geschlagen wird, den er selbst installiert hat.“ Die Abstimmung, bei der sich Pinochet eigentlich von vornherein als Sieger gesehen hatte, war dann der Anfang vom Ende seiner Diktatur. 1990 kehrte die Demokratie nach Chile zurück.
Doch ganz so simpel, wie es der Film erzählt, ist die Geschichte in Wirklichkeit nicht. Es war mehr nötig, als eine ohrwurmtaugliche Melodie, um Pinochet abzusetzen. So meldeten sich recht bald die ersten kritischen Stimmen: „Zu glauben Pinochet habe das Plebiszit wegen eines TV-Werbestreifens verloren, zeigt, dass nichts von dem verstanden wurde, was wirklich geschehen ist“, kritisierte Francisco Vidal, der Minister der Regierungen Ricardo Lagos (2000-2006) und Michelle Bachelet (2006-2010) war.
Menschenrechtsgruppen formulierten diese Kritik noch weitaus akzentuierter: Der Film No verkürze alles auf die vermeintliche Bedeutung eines PR-Slogans und unterschlage den langjährigen Kampf gegen die Diktatur, empörte sich Félix Madariaga von der renommierten Menschenrechtsorganisation Codepu. „Meint Herr Larraín, wir waren alle blöd und wussten nicht, was in Chile geschah?“ Der Film zeige „ein paar Typen, die sich zusammenfinden und Werbung machen – und die sozialen Bewegungen werden mit keinem Wort erwähnt“. Der Erfolg des „Nein“ sei vielmehr die jahrelange Schlacht einer Bevölkerung gewesen, „die Nein zur Diktatur, Nein zu Pinochet gesagt hat“, so Madariaga. „Zu meinen, der Erfolg des NEIN sei einer Gruppe von Politikern und Werbeleuten zuzuschreiben, das ist eine Lüge“.
Madariaga wies auch darauf hin, dass dem Regisseur persönlich eine klarere Positionierung gut gestanden hätte. Denn der Name Larraín ist in Chile durchaus nicht unbekannt. Die Familie Larraín zählt zu den reichsten und einflussreichsten Familien des Landes. Pablo Larraíns Vater, Hernán Larraín, ist stramm rechter Senator, seine Mutter, Magdalena Matthe, war Ministerin und musste wegen einer 17-Millionen-Dollar-Zahlung an eine Firma zurücktreten. „Obwohl wir niemanden wegen seiner Herkunft verurteilen sollten, so gibt es doch eine zu tragende Last, derer man sich nur durch Taten entledigen kann. Und da liegt [für Pablo Larraín] noch ein Stück Weg vor ihm“, so der Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation Codepu.
Dennoch, der Film zeigt, dass manchmal auch Weniges ausreichen kann, um eine Revolution von innen anzustoßen. Nicht mit Waffengewalt, sondern mit dem Mut der Bevölkerung, für den Wandel abzustimmen, wurde der Lauf der Geschichte verändert.

No // Pablo Larraín (Regie) // Chile 2012 // 118 Min. // ab 7. März in den Kinos

TIPNIS entzweit weiter

Bereits im Verlauf der von Ende Juli bis Anfang Dezember vergangenen Jahres laufenden Befragung der Bewohner_innen des TIPNIS war nur eines sicher: die herrschende Uneinigkeit (siehe LN 462). So überrascht es nicht, dass der am 8. Januar 2013 von der Obersten Wahlbehörde (TSE) präsentierte Abschlussbericht zu anderen Ergebnissen kommt als ein Bericht, der gemeinsam von der Katholischen Kirche, der Ständigen Vereinigung für Menschenrechte in Bolivien (APDHB) und dem Internationalen Bund für Menschenrechte (FIDH) erarbeitet wurde.
Von den 69 Gemeinden seien 58 über das Straßenbauprojekt und die „Unantastbarkeit“ des Territoriums, die mit einem Gesetz als Reaktion auf Proteste gegen die Überlandstraße im Jahr 2011 erlassen wurde, befragt worden. Der Direktor vom Interkulturellen Dienst zur Stärkung der Demokratie (SIDFE), einer Unterabteilung der Wahlbehörde TSE, Juan Carlos Pinto, verkündete zudem, dass sich lediglich drei der 58 befragten Gemeinden gegen das Straßenbauprojekt ausgesprochen hätten. Eine weitere sei für die weitere „Unantastbarkeit“ des Territoriums. Pinto erklärte weiter, von den elf Gemeinden, die nicht an der Befragung teilgenommen hatten, hätten sechs die Durchreise der Regierungsbrigaden verhindert und die restlichen fünf hatten öffentlich ihre Ablehnung über die den Beni und Cochabamba verbindende Straße kundgetan.
Die Wahlbehörde legt den Bericht Ende Januar der Legislative vor, damit diese entscheidet wie das Gesetz 180 verändert wird, das das TIPNIS zum „unantastbaren“ Territorium macht, um den Bau der Straße zu ermöglichen. Ramiro Paredes, Sprecher des TSE, sagte, in der Befragung wurde noch nicht die Konstruktion der Überlandstraße beschlossen. „Was wir festlegen können ist, dass die Fachmänner der Brigaden den Gemeinden mögliche Entwürfe der Straße präsentiert haben“, meint Paredes jedoch. Das von Befürworter_innen der besagten Straße in Gang gesetzte Referendum hat sein Ziel somit erreicht: Die Straße kann gebaut werden und die Regierung legitimiert die nun ausstehenden Planungen des Straßenverlaufs mit den Ergebnissen der Wahlbehörde.
„Falsch und verlogen“ sei der Bericht der TSE, meint jedoch der Präsident der Subcentral TIPNIS Fernando Vargas. Des Weiteren beklagt er, „die Befragung ist nicht repräsentativ“. Diese Stimmen lassen sich nachvollziehen, wenn ein anderer Bericht zur Hand genommen wird. Auf die Einladung von führenden indigenen Autoritäten des TIPNIS besuchte eine Kommission, die durch die Katholische Kirche, den APDHB und FIDH gebildet wurde, von Ende November bis Mitte Dezember 35 Gemeinden und ein Zentrum im TIPNIS. Zeug_innenberichte über die Befragung wurden gesammelt und es sollte überprüft werden, ob die Standards einer rechtlich vorgesehenen „vorherigen, freien, informierten“ Befragung erfüllt wurden. Als solche tituliert die Regierung die Befragung, die von Gegner_innen jedoch von Anfang an als inadäquate verspätete Befragung abgelehnt wurde.
In elf Punkten wurde zusammengefasst, was die Kommission in den Gemeinden „gehört und gesehen“ hat. Zunächst fällt auf, dass nur in 18 der 35 besuchten Gemeinden Versammlungen stattfanden, die von der Regierung als Befragung erachtet werden. In den ausbleibenden 17 Gemeinden wurden keine Brigaden empfangen. Insgesamt kam die Kommission zu dem Ergebnis, dass 30 der besuchten Gemeinden eine Straße durch das TIPNIS ablehnen und nur drei diese akzeptieren. Weitere drei Gemeinden äußerten, dass sie die Verbindungsstraße nur unter bestimmten Bedingungen und einem anderen Verlauf akzeptieren würden. Weiteres Resultat der Befragung der Gemeindemitglieder ist, dass die Befragung nicht den national und international festgelegten Standards gerecht wird. Die Verteilung von Geschenken, Angebote von Projekten und der Verbesserung des Bildungs- und Gesundheitsangebots begleiteten die Treffen mit den Regierungsvertreter_innen. Aber nicht nur positive Versprechungen empfingen die Gemeinden, in einigen Fällen erfuhren sie Repressalien wie das Aussetzen der Gesundheitsversorgung oder die Verpflichtung, die gesamte Gemeinde durch einen Vertreter zu repräsentieren. Die Kommission schlussfolgert, dass das Kriterium einer „freien“ Befragung unter solchen Umständen nicht erfüllt ist. Ebenfalls lässt das Attribut „informiert“ nach sich suchen. Zwar wurden Bilder für das Modell der geplanten Straße gezeigt, über die möglichen ökologischen Folgen wurde jedoch nicht aufgeklärt. Dort, wo Versammlungen stattfanden, gaben die Brigaden nicht nur mangelnde Auskunft, sondern es erfolgte auch eine gezielte Desinformation. Obwohl das Gesetz über die „Unantastbarkeit“ des Territoriums traditionelle Nutzung durch die Bewohner_innen explizit erlaubt, erläuterten die Brigaden den Menschen, die „Unantastbarkeit“ verbiete jegliche Nutzung. So lehnten die Gemeindemitglieder das Gesetz 180 in dem Glauben ab, es verbiete ihnen das Jagen und Fischen. Ein weiterer Punkt, den der Bericht ausfindig macht, bezieht sich auf die Verfahrensweisen der Befragung. Sie fand an anderen Orten statt, als an denen, wo traditionell Versammlungen erfolgen oder nur wenige Familien nahmen teil, da der Rest der Gemeinde nicht einverstanden war mit den Versammlungen. Dies säte Zwietracht innerhalb der Gemeinden.
Die Menschen in den Gemeinden äußerten für den Fall eines Baus der Straße auch die Angst vor einer Unterwerfung durch die Kokabauern und
-bäuerinnen, da diese dank der Straße weiter in ihr Territorium vorrücken könnten. Damit verbunden ist auch die Angst, dass diese den Kokaanbau für den Drogenhandel ausweiten könnten. Des Weiteren befürchten sie eine Verschmutzung des Wassers durch die Kokakultivierung, da dies bereits im Alto Isiboro beobachtet wurde.
Abschließend fasste die Kommission zusammen, dass die Mehrheit der von ihnen besuchten Gemeinden den Bau der Überlandstraße durch das TIPNIS ablehnt, gegen die sie sich bereits in der Vergangenheit aufgelehnt haben und dies in dem VIII und IX Marsch zum Ausdruck brachten. Einen internationalen Protestmarsch „zur Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (CIDH) und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) mit Sitz in Washington“, kündigte Vargas auch in Reaktion auf den Bericht der TSE an. Rafael Quispe, indigene Autorität, kündigte bereits an, sich im Falle des Straßenbaus international an das Ständige Forum für Indigene Fragen, die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), das OAS-Expert_innenkommitee und den CIDH zu richten.

Nicht legal, aber entkriminalisiert

Der ehemalige und möglicherweise auch zukünftige Präsident Tabaré Vázquez hatte beim letzten Anlauf Ende 2008 ein entsprechendes Gesetz zur reproduktiven Gesundheit, das vor allem in Bezug auf die Rechte der betroffenen Frauen deutlich über die jetzt verhandelte Regelung hinausging, noch mit seinem Veto blockiert. Dies obwohl schon vor fast vier Jahren eine knappe Mehrheit in beiden Kammern des uruguayischen Parlaments dem Gesetzentwurf, der unter anderem eine Lockerung des strengen Abtreibungsverbots vorsah, zugestimmt hatte. Eine Haltung des praktizierenden Katholiken Vázquez, die vor allem an der Basis viele Mitglieder des seit März 2005 regierenden Mitte-Links-Parteienbündnisses Frente Amplio empört hatte.
Nach einer erneut sehr polemisch geführten Diskussion hat nun aber der amtierende Präsident José „Pepe“ Mujica im Oktober 2012 das Gesetz zur Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabruchs innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen unterzeichnet, nachdem zuvor das uruguayische Abgeordnetenhaus am 25. September mit 50 zu 49 Stimmen und dann am 17. Oktober auch der Senat den Gesetzentwurf gebilligt hatten. Für das Gesetzesvorhaben stimmten 17 von 31 Senator_innen – alle Mitglieder der regierenden Frente Amplio sowie ein Senator der Blancos, einer der beiden Oppositionsparteien. Nach Guayana ist Uruguay somit das dritte lateinamerikanische Land nach Kuba und Guayana, in dem eine Abtreibung straffrei ist. Damit verliert ein Gesetz aus dem Jahre 1938, entworfen während der ersten Militärdiktatur unter Gabriel Terra, seine Gültigkeit, das jeglichen Abbruch strikt verboten hatte und Haftstrafen zwischen drei und neun Monaten für die betroffenen Frauen und zwischen sechs und 24 Monaten für die Ausführenden vorsah. Allerdings wurde in der Praxis nur ein Bruchteil der Schwangerschaftsabbrüche strafrechtlich verfolgt. Auch insofern war die jetzt erfolgte Entkriminalisierung längst überfällig.
Das neue Gesetz, mit dem die Frente Amplio eines ihrer Wahlversprechen einlöst, sieht vor, dass Frauen innerhalb der ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft ein Gespräch mit einem interdisziplinären Team aus Mediziner_innen, Psycholog_innen und Sozialarbeiter_innen führen müssen, in dem sowohl über die Risiken eines Abbruchs als auch über die Alternativen und die staatlichen Unterstützungsprogramme informiert wird. Erst nach diesem Gespräch und einer Bedenkzeit von fünf Tagen dürfen sie sich dem Eingriff unterziehen. Eine Regelung, die von den traditionell in Uruguay sehr starken Frauenorganisationen, die sich seit Jahrzehnten für einen legalen, sicheren und kostenfreien Schwangerschaftsabbruch einsetzen, kritisiert wird. Ihrer Ansicht nach werden die Frauen so einem unzumutbaren Druck ausgesetzt und es wird ihnen das Recht vorbehalten, selbst über ihren Körper zu entscheiden. Nicht das Recht auf Abtreibung wurde legalisiert, sondern die Abtreibung wird mit dem neuen Gesetz entkriminalisiert, so zusammengefasst ihre Kritik. Insgesamt überwiegt bei den sozialen Organisationen und fortschrittlichen Frauenverbänden aber die Erleichterung, dass der Kampf um die Selbstbestimmung zu einem Teilerfolg geführt hat. Das Land kehrt nun zu einer Praxis zurück, die so ähnlich schon von 1934 bis 1938 gegolten hatte. Sie war ein Resultat der zu Beginn des 20. Jahrhunderts herrschenden fortschrittlichen Sozial- und Familienpolitik in Uruguay, in dem seit 1916 eine strikte Trennung zwischen Kirche und Staat herrscht.
Allerdings streben Abtreibungsgegner_innen in Uruguay, die von der katholischen Kirche unterstützt werden, ein Referendum über das Gesetz an. Im seit 1964 offiziell laizistischen Uruguay bekennen sich zwar über 60 Prozent zum katholischen Glauben, aber der Einfluss der Amtskirche ist im Vergleich zu anderen Staaten Lateinamerikas deutlich geringer. Und von einer direkten Einmischung der katholischen Kirche in die Politik hält die übergroße Mehrheit der Uruguayer_innen schon gar nichts. Dementsprechend erregte eine Meldung, die am 19. Oktober dieses Jahres, nur zwei Tage nach der Zustimmung des uruguayischen Senats zur Gesetzesvorlage über die Ticker lief, mehr Aufmerksamkeit im Ausland als in Uruguay selbst. In einem Bericht der konservativen Tageszeitung El Observador wurden Erwägungen der katholischen Kirche erwähnt, die Parlamentarier_innen, die dem Gesetz zugestimmt hatten, zu exkommunizieren. Nur wenige Tage später ruderte der Generalsekretär der uruguayischen Bischofskonferenz allerdings zurück: „Kein Bischof wird irgendeinen Parlamentarier exkommunizieren“, so Bischof Heriberto Bodeant am 22. OKtober in der Tageszeitung El Pais.
Unterstützer_innen der Reform aus der Frente Amplio sehen das alles eher gelassen: Zuverlässige Statistiken gehen davon aus, dass die Straffreiheit von einer Mehrheit der Uruguayer_innen begrüßt wird. In einer jüngsten Umfrage von Mitte Oktober sprachen sich über 60 Prozent der Befragten, quer durch alle Parteizugehörigkeiten, dafür aus. Auch weil in der vorwiegend städtisch geprägten Bevölkerung die sozialen Folgen der über 33.000 illegalen Abtreibungen (tatsächlich wird die Zahl der Abbrüche auf über 60.000 geschätzt) bekannt sind. Unzumutbare hygienische und medizinische Bedingungen und viele Todesfälle in Folge der Abbrüche sind in der Öffentlichkeit des Landes schon seit Jahren ein Thema. Betroffen sind von den 800.000 Frauen im gebärfähigen Alter in dem 3,4 Millionen Einwohner_innen zählenden Land vor allem Frauen aus der Mittel- und der Unterschicht, die sich eine Abtreibung im Ausland nicht leisten können. Für eine Volksabstimmung über die Legalisierung der Abtreibung ist auch Mujica. Am 29. Oktober, nur wenige Tage nachdem er das Gesetz unterzeichnet hatte, sagte er, „dass die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in unserem Land durch das Votum des Volkes gelöst werden müsste“.

Für Buen Vivir und gegen die Regierung

Die beiden Drahtseile überspannen den gesamten Isiboro-Fluß. „Resistencia para vivir bien“, „Widerstand für das Gute Leben“ hat jemand mit rotem Filzschreiber auf ein Schild geschrieben, das an einem der Seile flattert. Mit der im Nordosten des indigenen Territoriums und Nationalparks Isiboro Sécure (TIPNIS) errichteten Flußblockade widersetzt sich ein Teil der indigenen Gemeinden einer derzeit stattfindenden Volksabstimmung. Mit dieser sollen sie über den Bau der von der Regierung um Evo Morales vorangetriebenen Überlandstraße entscheiden, die quer durch das indigene Territorium führen soll. Doch jene Bewohner_innen des TIPNIS, die sich nun im Widerstand gegen den „plurinationalen“ Staat befinden, sehen in der Abstimmung nur ein weiteres Instrument der Regierung, ihren Willen gegen den Protest der Indigenen durchzusetzen.
Boliviens Exekutive hatte zunächst versucht, das Bauprojekt ohne Zustimmung der Betroffenen durchzuführen. Da diese befürchten, die Straße fördere illegale Rodungen und Landbesetzungen indigener Gebiete durch Kokabäuerinnen und -bauern, reagierten sie im vergangenen Jahr gemeinsam mit dem Dachverband der indigenen Organisationen des Tieflandes CIDOB mit einem Protestmarsch vom Osten des Landes bis zum Regierungssitz La Paz. Der Marsch erfuhr eine Welle der Solidarisierung durch alle Schichten der bolivianischen Bevölkerung, die nach einer brutalen polizeilichen Repression des Marsches im September 2011 noch weiter anwuchs. Als Resultat dieses Marsches wurde das TIPNIS per Gesetz zum „unantastbaren“ Territorium erklärt und der Bau der Überlandstraße untersagt. Anfang dieses Jahres erreichte dann ein offenbar von der Regierung selbst initiierter und finanzierter zweiter Marsch La Paz, mit dem der Bau der Straße doch noch erzwungen werden sollte. Daraufhin wurde das Gesetz 222 verabschiedet, welches das vorherige Gesetz zum Schutz des TIPNIS de facto aufhob und die Grundlagen für das Referendum legte, mit dessen Durchführung Ende Juli begonnen wurde.
Die wichtigsten indigenen Organisationen Boliviens – der im andinen Hochland angesiedelte Nationale Rat der Ayllus und Markas des Qullasuyu, CONAMAQ, und die Konföderation der indigenen Völker Boliviens, CIDOB – lehnten die Abstimmung von vornherein ab, unter anderem da sie eine massive Einmischung der Regierung befürchteten. Diese jedoch hielt an ihrem Vorhaben fest; ein weiterer Protestmarsch der indígenas wurde Anfang Juli in La Paz mit Wasserwerfern empfangen, Verhandlungen von Regierungsseite ausgeschlossen. Für die indigenen Organisationen des Tieflandes stellte dies eine bislang unbekannte Situation dar: im Gegensatz zu den kämpferischen Bewegungen des Andenraumes verfolgen sie seit jeher eine versöhnliche Politik der Verhandlungen mit den regionalen und nationalen Autoritäten. Insbesondere die Führungsriege der CIDOB schien mit der Absage der Regierung an dieses Verfahren überfordert und sucht seitdem zunehmend die Nähe der traditionellen Parteien, mit denen sie häufig klientelistische Beziehungen unterhält. Das jüngste Beispiel hierfür ist der von ihr eingeschlagene Weg für die im Januar 2013 anstehenden Gouverneurswahlen im Tieflanddepartament Beni, wo die indigenen Organisationen einen eigenen Kandidaten aufgestellt haben. Dessen Unabhängigkeit wurde ohne Absprache mit der Basis von der Führungsriege der CIDOB geopfert, als sie beschloss, eine Allianz mit der sozialdemokratischen „Bewegung ohne Angst“ (MSM) einzugehen. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass auch die MSM, ebenso wie die MAS und ihre rechten Opponenten, für die Fortführung der traditionellen Klientelpolitik stehen dürfte.
Der Beschluss, den Widerstand gegen die Volksbefragung dezentral von den indigenen Gemeinden aus zu organisieren, stammt dementsprechend aus der Basis. Und dafür gibt es gute Gründe, denn schon lange bevor die ersten von der Regierung entsandten Brigaden zur Durchführung der Befragung das TIPNIS Ende Juli erreichten, zeigte sich, dass die Befürchtungen der indígena-Organisationen durchaus gerechtfertigt waren. Etliche hohe Regierungsvertreter_innen, unter ihnen Evo Morales selbst, bereisen seit Monaten medienwirksam das indigene Territorium und verteilten Außenbordmotoren, Benzin, Parabolantennen und Handys an indigene Gemeinden. Der Druck auf die widerspenstigen Gemeinden des TIPNIS wurde Ende August noch einmal erhöht, als der Präsident das 800 Soldaten starke „Ökologische Bataillon“ ins Leben rief, welches seinen Stützpunkt mittlerweile im TIPNIS errichtet hat. Und auch der Ablauf der Befragung steht massiv in der Kritik. So häufen sich Berichte über erzwungene Absetzungen unliebsamer indigener Autoritäten und von Regierungsvertreter_innen einberufene „Gemeindeversammlungen“ mit handverlesenen Teilnehmer_innen, die dem Straßenbau einstimmig zustimmen. Laut Angaben der indigenen Organisationen und unabhängiger Beobachter_innen befinden sich über die Hälfte der 69 Gemeinden des TIPNIS im aktiven Widerstand gegen das Referendum und verhindern, dass die Vertreter_innen des Staates sich ihren Territorien nähern. Die Regierung hingegen erklärte, über zwei Drittel der indigenen Gemeinden des Nationalparks hätten dem Bau der Überlandstraße bereits zugestimmt. Zwar soll die Befragung noch bis Jahresende andauern, dennoch hat Evo Morales im Oktober schon den ersten Vertrag für die Fertigstellung der Straße unterschrieben – den Zuschlag erhielt eine Straßenbaufirma, die sich im Besitz von Kokabäuerinnen und -bauern befindet.
Unabhängig vom Ausgang des Referendums steht schon fest, dass es das Zerwürfnis zwischen Staat und indigenen Gemeinden sowie die Konflikte dieser untereinander nur verschärft hat, statt zu einer einvernehmlichen Lösung beizutragen. „Die Gemeinden des TIPNIS sind vollkommen zerstritten, die Hälfte von ihnen leistet Widerstand und die andere Hälfte akzeptiert die Projekte der Regierung“, berichtet eine Beobachterin vor Ort. Dass diese Spaltungen keine Kollateralschäden einer ansonsten gut gemeinten Politik, sondern Teil einer Strategie der bolivianischen Regierung sind, zeigt ihr Vorgehen im Fall der CIDOB. Die nervenaufreibende Auseinandersetzung um das TIPNIS und die entstandenen Konflikte innerhalb der Organisation nutzten regierungstreue Gruppen, um die gewählte Führungsriege zu entmachten. Nachdem diese dann versuchte die Geschäftsräume zurück zu erobern, intervenierte die Polizei und das Militär – seit Juli halten sie und die regierungsnahe Fraktion die Zentrale der CIDOB besetzt. „Die Regierung hat die internen Konflikte ja nicht nur im TIPNIS provoziert, sondern unter allen indigenen Völkern Boliviens“, erklärt der indigene Aktivist und CIDOB-Mitglied Leandro Candapei. „Selbst unsere Familien werden bedroht und sind völlig gespalten, dasselbe gilt für alle Ebenen unserer Organisationen, sogar für die Konföderation selbst. Wir haben jetzt zwei CIDOB: eine, die die indigenen Gemeinden repräsentiert und eine zweite, die die Regierung repräsentiert“.
Auch die Entstehung des „Rahmengesetzes der Mutter Erde und integralen Entwicklung zum Guten Leben“ zeigte einmal mehr, wie tief der Graben zwischen Regierung und den indigenen Bewegungen Boliviens ist. Mit dem Gesetz sollen einerseits Rechte der „Mutter Erde“ gesetzlich festgeschrieben werden, andererseits ist es aber auch Grundlage für das Entwicklungsmodell der Regierung – und das basiert vor allem auf der Förderung der Bodenschätze des Landes und der Ausweitung industrieller Landwirtschaft. Dass die Reaktionen auf das Gesetz widersprüchlich sind, ist somit kaum verwunderlich.
Wie der poetische Titel vermuten lässt, will die Exekutive in ihm einen Ausdruck der „Denk-, Produktions- und Lebensweise der originären indigenen Nationen“ erkennen, wie der Vizepräsident Álvaro García Linera es ausdrückte. Deren Organisationen hingegen erklärten, sie seien bei der Erarbeitung des Gesetzes völlig übergangen worden. „Das ist ein Gesetz der Regierung, mit dem wir nichts zu tun haben, über das man uns nicht unsere Meinung hat sagen lassen und das auch nicht die Vision der indigenen Völker widerspiegelt“ erklärt der Präsident der Andinen Koordination indigener Organisationen (CAOI), Rafael Quispe. Das Vorgehen der Regierung bei der Erarbeitung des Gesetzes ist jedoch kein Einzelfall. Die Verabschiedung einer Reihe wichtiger Gesetze, wie zum Beispiel das Bergbaugesetz, steht bevor, und die von der Regierung postulierte Partizipation lässt nach sich suchen. Besonders paradox ist, dass viele der Gesetze, wie auch das Gesetz der Mutter Erde, ursprünglich als Entwürfe von dem „Pakt der Einheit“ eingebracht wurden. Einheit besteht jedoch auch längst nicht mehr zwischen den Organisationen des mittlerweile aufgelösten Paktes. Die indigenen Organisationen CONAMAQ und CIDOB haben sich von den sozialen Organisationen, die sich in einer linken, gewerkschaftlichen Tradition sehen und die Regierung weiterhin unterstützen, distanziert, da die Divergenzen immer größer wurden.
Der Gesetzestext selbst ist mit etlichen Referenzen an die indigenen Kosmovisionen geschmückt, allerdings bleiben diese zumeist abstrakt und inhaltsleer. Das Konzept des Buen Vivir (Gutes Leben) eigentlich als Alternative zur kapitalistischen Entwicklungs- und Fortschrittsideologie verstanden, soll nun durch eben diese verwirklicht werden. Tatsächlich wird durch das Rahmengesetz nicht nur der Import genetisch manipulierten Saatguts abgenickt, sondern vor allem erkennt es indigenen Gruppen kein Recht auf eine gesetzlich bindende Mitbestimmung im Falle von Großprojekten in ihren Territorien zu. Damit unterhöhlt es eine der Grundlagen des „plurinationalen“ Staatmodells: die der indigenen Selbstbestimmung. „Das Gesetz ist vor allem dazu bestimmt, der Regierung die Fortführung des extraktivistischen Entwicklungsmodells zu ermöglichen“, resümiert der indigene Intellektuelle und Sprecher der Koordination der indigenen Organisationen des Amazonasbeckens (COINCA), Carlos Mamani.
Für weiteren Zündstoff im Streit zwischen den indigenen Organisationen aus dem Hochland und dem „plurinationalen“ Staat sorgt die für den 21. November anberaumte Volkszählung. Im Oktober 2011 wurde mit indigenen Organisationen ein Abkommen über die Formulierung des Fragebogens zur Erhebung der Daten geschlossen. Umso größer war der Unmut über den vom Nationalen Institut für Statistiken (INE) am 3. August veröffentlichten Fragebogen. Denn entgegen der Übereinkünfte berücksichtigt dieser nicht die territoriale Ordnung der indigenen Gemeinden des andinen Hochlandes, die in sogenannten Ayllus, Markas und Suyus leben. Diese, der kolonialen Aufgliederung nach Bezirken und Provinzen entgegenstehende Ordnung offiziell zur rekonstruieren, ist seit jeher eine der Grundforderungen des CONAMAQ zum Aufbau eines „plurinationalen Staates“. Die Organisation fordert jetzt, dass die territorialen Einheiten Ayllu, Marka und Suyu in den Fragebogen aufgenommen werden.
Auch um die Frage nach der Zugehörigkeit zu einer indigenen oder afrobolivianischen Nation gibt es Diskussionen, da viele Gruppen befürchten, dass ihre Identität unsichtbar gemacht werden soll, da sie aus der Aufzählung auf dem Fragebogen ausgeschlossen sind. Der CONAMAQ befürchtet, dass so die Existenz indigener Gruppen und damit deren Recht auf Mitbestimmung negiert wird, so dass die Regierung ungehinderten Zugang zu natürlichen Ressourcen gewinnt.
An den Diskussionen um die Volkszählung zeigen sich somit einige der fundamentalen Konflikte in Bolivien: Die Regierung des vermeintlich plurinationalen Staates klopft diesen mit ihr genehmen Daten und Gesetzen fest, während insbesondere der indigene Teil der Bevölkerung die plurinationale Dimension des Staates noch längst nicht geschaffen sieht. In ihren Augen baut die Regierung zur Zeit eine neokoloniale, auf einer traditionellen kapitalistischen Entwicklungslogik fußende Republik aus. Wie die derzeit in Bolivien herrschenden sozialen Kämpfe zeigen, ist die Frage nach den subalternen Identitäten und inwiefern der Staat diese berücksichtigt dabei besonders sensibel. Denn dass die historisch unterdrückten Identitäten über sich selbst bestimmen und ihre Rechte einfordern können und diese gewährleistet werden, ist Kern der Idee eines plurinationalen Staates. Es zeichnet sich jedoch ab, dass parallel zu dem politischen und wirtschaftlichen Projekt der Regierung auch eine nationale Identität kreiert wird, die davon abweichende verstärkt ausschließt. Im Namen der bolivianischen Nation sollen „partikulare“ Rechte – wie die der Bewohner_innen des TIPNIS – zurückgestellt werden. So scheint es heute weniger um die Frage zu gehen, wie viel „Plurinationalität“ die MAS zu konstruieren bereit oder in der Lage ist, als vielmehr darum, in welchem Grade die indigenen Bewegungen in der Lage sind, ihre Autonomie und Rechte auch gegen die Regierung zu erkämpfen.

Wir sind zwar klein, aber doch ganz groß

Am 6. August 1962 errang Jamaica als erste der britischen Karibikinseln die formale Unabhängigkeit vom Vereinten Königreich. Die Beziehungen zum »Mutterland« sind bis heute ambivalent. Doch in diesen Tagen überwiegt Optimismus, nicht zuletzt angesichts der grandiosen Siege der Sprinter_innen bei den Olympischen Spielen in London.
Selbst der Zeitplan von Olympia schien sich an Jamaicas Unabhängigkeitsdatum zu orientieren. Nachdem Sprinterin Shelly-Ann Fraser-Price, eine 25-Jährige aus einem Armenviertel der Hauptstadt, zwei Tage vor dem Tag der Unabhängigkeit im 100-Meter-Lauf der Frauen triumphierte, konnte nur noch ein Mann die Stimmung toppen: Usain „Lightning“ (Blitz) Bolt. Für ein paar Sekunden wurde Jamaicas Hauptstadt Kingston regelrecht lahmgelegt, als der derzeit populärste Jamaicaner mitten im Zentrum der ehemaligen Kolonialmacht der Welt erneut sein außergewöhnliches Talent zur Schau stellte: Olympiasieg in 9,63 Sekunden, schneller als in Peking 2008 und das am Vorabend des Unabhängigkeitstages. „Ich habe Euch gleich gesagt, ich werde dem Land etwas schenken, dies ist mein Geburtstagsgeschenk, herzlichen Glückwunsch Jamaica“, sagte der schnellste Mann der Welt nach dem Rennen.
Bolts´ Sieg am Vorabend des 6. August passte perfekt in die Szenerie: Zum 50. Jahrestag der nationalen Unabhängigkeit Jamaicas sind viele Gebäude in der Hauptstadt Kingston in den Nationalfarben schwarz-gold-grün geschmückt, Fahnen wehen am Himmel, die meisten Jamaicaner_innen tragen Outfits in den Farben des Landes, „Jamaica 50“-Accessoires aller Art lassen keinen Zweifel: Das Land ist in Feierstimmung. Die offiziellen Feierlichkeiten finden im „Golden Jubilee Village“ rund um das Nationalstadion statt, dem Ort an dem die jamaicanische Flagge am 6. August vor 50 Jahren zum ersten Mal gehisst wurde und an dem die über 300-jährige Kolonialherrschaft Großbritanniens ein Ende nahm.
Beflügelt von den olympischen Erfolgen feiern tausende Jamaicaner_innen ausgelassen und genießen die große Gala mit Auftritten beliebter Reggaekünstler, Tanzperformances, kulturellen und nicht zuletzt kulinarischen Highlights wie Curry Goat (Ziegencurry), Jerk Chicken (traditionell gewürztes Hühnchen) sowie Ackee and Saltfish (die Nationalspeise, eine proteinhaltige Frucht und Stockfisch).
Einige wenige Ausnahmen, wie etwa die angesehene jamaicanische Schriftstellerin und Historikerin Dr. Erna Brodber, äußern ihre Bedenken, dass Jamaica noch immer keinen richtigen Umgang mit seiner Freiheit gefunden hat. Sie plädiert im Fernsehen dafür, dass die Menschen sich nicht nur über das Erreichte freuen, sondern sich mehr mit den Missständen in der Gesellschaft, mehr mit ihrer Geschichte, Kultur und Herkunft beschäftigen sollten. Auch die Sänger_innen Tony Rebel und Queen Ifrica finden während ihres Auftrittes auf der offiziellen Gala nachdenkliche und kritische Worte.
Doch eine beunruhigende Grundstimmung war die Ausnahme rund um den Jubel der Unabhängigkeit. Es überwog der Optimismus, befeuert durch die Siege auf der Leichtathletikbahn. Das jamaicanische Sprichwort „we likkle but we tallawah“, („wir sind zwar klein, aber doch ganz groß“) beschreibt die Stimmung, das Gefühl, dass die kleine Karibikinsel zumindest in einer Hinsicht alle anderen in den Schatten stellen kann. Premierministerin Portia Simpson-Miller und ihre Parteikolleg_innen von der sozialdemokratischen People’s National Party (PNP), ebenso wie die Repräsentant_innen der Opposition, der Jamaica Labour Party (JLP) unterstreichen Jamaicas Verdienste und Errungenschaften. Wieder und wieder wird die Stabilität der jamaicanischen Demokratie beschworen, vergessen scheint die bittere Rivalität zwischen beiden Parteien, die im Vorfeld nahezu jeder Wahl in den vergangenen 50 Jahren zu Gewaltausbrüchen und erhöhten Mordraten führte. Nicht einmal der tropische Sturm „Ernesto“ konnte die ausgelassene Feierstimmung trüben. Fröhlich feiern Jung und Alt gemeinsam, wieder und wieder ertönt die offizielle Hymne zum 50. Jahrestag „On a mission“, gesungen von einigen der populärsten Sänger_innen der Insel – doch die Frage welche, Mission dies eigentlich ist, bleibt erst einmal offen.
Nach den Feierlichkeiten kehrte das Land schnell wieder zurück in die Realität, in der die Mehrzahl der Jamaicaner_innen mit den täglichen Herausforderungen kämpft, um die eigene Familie ernähren und die Kinder in die Schule schicken zu können.
Auch wenn die aktuelle weltweite Wirtschaftskrise und die politische Situation die Verhältnisse negativ beeinflussen, so liegen die Wurzeln für viele Probleme in der Vergangenheit. Sklaverei, Ausbeutung der Rohstoffe, tief in der Gesellschaft verwurzelter Rassismus und große Einkommens-ungleichheit in der Bevölkerung – die jahrhundertelange Kolonisierung hat in den jungen, postkolonialen Gesellschaften in der Region Spuren hinterlassen. Das nationale Motto „Out of Many One People“ (Aus vielen Völkern ein Volk) ist bis heute umstritten und erscheint eher als Wunschdenken, denn als Realität. Es sollte der Homogenisierung der Bevölkerung dienen, die überwiegend aus Nachkommen der versklavten Afrikaner_innen, aber auch aus den Nachkommen der indischen Vertragsarbeiter_innen, der Migrant_innen aus dem arabischen und asiatischen Raum sowie einer kleinen europäischen Minderheit besteht. Oft wird unterstellt, dass das Motto von Anfang an dazu diente, über die bis heute existierenden rassistischen Diskriminierungen hinwegzutäuschen. Tatsächlich besteht die Gesellschaftsordnung mit einer kleinen, überwiegend „weißen“ Oberschicht, einer „braunen“ Mittelschicht und einer überwiegend „schwarzen“ Unterschicht in den Grundzügen bis heute. Die Spaltung der Gesellschaft drückt sich heute in den Begriffen von „Uptown“ und „Downtown“ aus, die meisten Stadtviertel sind relativ eindeutig der einen oder der anderen sozialen Schicht zuzuordnen, auch wenn nicht alle Armenviertel wirklich im Süden der Stadt, in Downtown, gelegen sind.
Die lange Zeit der Fremdherrschaft hatte starke Auswirkungen auf die Psyche der Menschen. Viele Jamaicaner_innen verinnerlichten die rassistischen Stereotype sowie die Propaganda der Briten und fühlten sich als Teil des glorreichen Britischen Empires, weshalb es im Land selbst viele Jahre kein starkes Verlangen nach politischer Eigenständigkeit gab. Viele Jamaicaner_innen glaubten der paternalistischen Einschätzung der Engländer_innen, dass das Land nicht in der Lage sei, sich selbst zu regieren. Es ist daher kein Zufall, dass die Forderung nach Unabhängigkeit und der Gründung einer politischen Organisation nicht im Land selbst entstand, sondern 1936 in radikalen Kreisen jamaicanischer Emigrant_innen in Harlem, auf Initiative W. Adolphe Roberts. Der Historiker, Journalist, Schriftsteller und Verehrer der lateinamerikanischen und karibischen Nachbarländer, die seit Jahrhunderten ihre Unabhängigkeit erkämpft hatten, fand in Harlem Unterstützung für seine Idee, die antikoloniale Organisation „Jamaica Progressive League“ (JPL) zu gründen. 1937 riefen Jamaicaner_innen in Kingston eine Partnerorganisation ins Leben, die jedoch in Radikalismus und Einfluss hinter der JPL in New York zurückblieb. Auch wenn die Ideen große Auswirkungen auf die entstehende politische Landschaft in Jamaica und insbesondere auf die PNP und ihren Gründer Norman W. Manley hatten, blieb eine starke anti-koloniale Bewegung in Jamaica aus.
Der Zweite Weltkrieg verlangsamte die Entwicklung der jungen politischen Szene. Nach der Schwächung durch den Krieg änderte Großbritannien seine Politik gegenüber den Kolonien in der Karibik und machte Zugeständnisse an die wachsende Supermacht USA, die ihre ökonomischen und militärischen Interessen in der Region geltend machte. Die beiden Großmächte einigten sich auf ein Modell, das die Kolonien in der „West Indies Federation“ zusammenschloss, die langsam als unabhängiger Nationalstaat in die politische Unabhängigkeit entlassen werden sollte. Nach zähen Verhandlungen und vielen Schwierigkeiten wurde die Föderation 1958 Realität, doch die Streitigkeiten zwischen den ungleichen Partnerländern, die zum Teil viele tausend Kilometer voneinander entfernt sind, wollten kein Ende nehmen. Während die PNP an dem Konzept festhielt, änderte die JLP unter Alexander Bustamante ihren Kurs und stieg auf eine nationalistische Agitation ein. Als der amtierende Premier Manley schließlich ein Referendum ausrief, um über den Verbleib in der Föderation zu entscheiden, stimmten 54 Prozent dagegen. Großbritannien entließ mit knirschenden Zähnen Jamaica und Trinidad & Tobago 1962 in die Unabhängigkeit, während die kleineren Inseln zunächst im Britischen Empire verblieben.
Die postkoloniale Herausbildung unabhängiger Nationen in den Karibikstaaten war von großen Herausforderungen geprägt: ökonomische Schwierigkeiten, soziale Spannungen, politische Konflikte, die geographische Nähe zu den USA. In Jamaica machen es der Drogen- und Waffenhandel und ein auf Klientelismus beruhendes Zwei-Parteiensystem schwer, zu einer positiven Identität und einer stabilen Gesellschaftsordnung zu gelangen. Die auf dem Papier stabile Demokratie garantiert demnach keine friedlichen und fairen Wahlen und die innerstädtischen Armenviertel, die songenannten Garrisons, unterstehen der Kontrolle der Drogenbarone. Organisierte Kriminalität ist dort tagtägliche Realität und unkontrollierbar geworden.
Das wurde zuletzt im Mai 2010 bei der Suche nach dem mutmaßlichen Drogenhändler Christopher „Dudus“ Coke deutlich, als über 70 Menschen der Polizeirazzia zum Opfer fielen.
Die ersten 50 Jahre als eigenständiger Staat und die allgemeine weltwirtschaftliche Krisenlage zeichnen kein allzu rosiges Bild von Jamaica. Für die Jamaicaner_innen ist das freilich kein Grund, die Flinte ins Korn zu werfen. Durch bessere Bildungschancen für alle gesellschaftlichen Schichten, kreative Ideen, Selbstbewusstsein und Innovationen kann es einer neuen Generation gelingen, die Nachwirkungen von Sklaverei, Kolonialismus und neokolonialen Strukturen einzudämmen. Die Zukunft positiver zu gestalten, wird indes sicher kein leichter Weg.

„Aus Umbau wurde Kontinuität“

Seit Monaten halten zwei massive Bergbaukonflikte Peru in Atem. Sowohl bei den Protesten gegen das Projekt Conga, das den Ausbau einer Goldmine in Cajamarca vorsieht, als auch bei dem Konflikt um die Kupfermine Tintaya im Verwaltungsbezirk Espinar, waren Tote zu beklagen. Zeichnen sich Lösungen für die beiden Konflikte ab?
Eher nicht, denn der Regierung scheint nicht klar zu sein, welche Tragweite diese Proteste haben. Es fehlt an klaren Analysen, warum es zu immer mehr und deutlich massiveren Protesten und Konflikten in Peru kommt. Exemplarisch für dieses Unvermögen steht die Tatsache, dass angesichts der Proteste gegen das Bergbauprojekt Conga zweimal das Kabinett ausgewechselt wurde. Ich denke, dass es weder eine vernünftige Analyse noch eine Strategie und auch keine politisch relevanten Persönlichkeiten gibt, die nach Kompromissen suchen und den Dialog führen. Die Regierung reagiert, sie agiert nicht, um grundsätzliche Probleme zu lösen.

Mit der Wahl von Präsident Ollanta Humala im vergangenen Jahr waren viele Hoffnungen verbunden, beispielsweise, dass der Bergbau mit der Landwirtschaft vereinbar sein müsse. Humala selbst hat die Bedeutung dessen mehrfach betont. Ein Großteil der betroffenen Landbevölkerung bezeichnet ihn inzwischen als Lügner. Zu Recht?
Ollanta Humala hatte viele Hoffnungen geweckt und angekündigt, die Interessen der Bauern, der Gemeinden und auch deren Zugang zum Wasser zu garantieren. Doch einmal im Amt hat sich die Situation schnell und entscheidend verändert. Anfangs gab es noch den politischen Willen ein Bündel von Reformen durchzuführen, die den peruanischen Staat und das Umweltministerium zu einer ernsthaften Autorität im Lande gemacht hätte.
Doch mit dem Aufkommen der ersten Konflikte, vor allem dem Projekt Conga in Cajamarca, aber auch anderen, nahm die Bereitschaft ab, den Wandel in der Umwelt- und Bergbaupolitik des Landes einzuleiten. Aus der Regierung des Umbaus, der Transformation, wurde die Regierung der Kontinuität, des Stillstands.

Da Sie diese Phase quasi hautnah als Vizeminister im Kabinett miterlebt haben – gibt es einen Punkt, wo der Wille zu Reformen den Präsidenten verlassen hat?
Ja, es gibt verschiedene Schlüsselmomente. Im ökonomischen Bereich war die Nominierung von Wirtschaftsminister José Miguel Castilla ein wichtiger Schritt. Dieser war bereits unter Alan García [neoliberal ausgerichteter Ex-Präsident, Anm. d. Red.] im Wirtschaftsministerium einer der Vizeminister und steht für die Kontinuität einer Wirtschaftspolitik, die sich in den letzten zwanzig Jahren kaum verändert hat. Auch die Bestätigung von Julio Velarde als Zentralbankchef war ein Zeichen in diese Richtung, das sicherlich auch potentielle Investoren beruhigen sollte.
Im Umweltbereich wurde hingegen erst im November klar, wohin es gehen soll. Damals kam der Präsident von einer Tagung aus Hawaii zurück und musste feststellen, dass die Proteste zugenommen hatten.

Wie reagierte Humala?
Sehr überraschend: Er entzog uns im Umweltministerium den Rückhalt für die anlaufenden Reformen und entschied, zentrale Funktionen des Umweltministeriums dem Ministerrat direkt zu unterstellen. So entstand faktisch ein zweites Umweltministerium, eine Parallelstruktur, und dort sollten fortan auch die Umweltgutachten ausgewertet werden – eben auch jenes zum Projekt Conga. Für mich war das der Wendepunkt und ich bin von meinem Posten zurückgetreten. Wenig später folgte dann das ganze Kabinett, angeführt von Salomon Lerner [dem damaligen Ministerpräsidenten, Anm. d. Red.].

Ist das Modell des Extraktivismus in Peru an seine Grenzen gestoßen?
Nun gut, die peruanische Regierung hat sich für ein Wirtschaftsmodell entschieden, das auf der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen fußt. Aber das ist ein Phänomen, welches in ganz Lateinamerika zu beobachten ist. Alle Regierungen, egal welcher politischen Couleur, stützen sich auf den Extraktivismus. Natürlich gibt es Unterschiede. In Peru und Kolumbien ist die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen in den Händen großer internationaler Konzerne, in Bolivien, Venezuela, Ecuador und auch zu großen Teilen in Brasilien ist es der Staat, der bei der Förderung der Rohstoffe die zentrale Rolle spielt. In allen Ländern gibt es allerdings soziale Probleme und Widerstände gegen die Vernichtung von Schutzgebieten wie derzeit das Beispiel des umstrittenen Straßenbaus durch den TIPPNIS-Nationalpark in Bolivien zeigt.
In Peru ist der Bergbau für rund 60 Prozent der Exporte verantwortlich, sorgt aber nur für rund 100.000 Arbeitsplätze. Trotzdem und obwohl er Arbeitsplätze in der Landwirtschaft gefährdet, soll er weiter ausgebaut werden, wenn es nach der Regierung in Lima geht. So gibt es mehrere Großprojekte, die in den nächsten Jahren umgesetzt werden sollen, obwohl der Widerstand zunimmt.

Humala hatte sich im Wahlkampf für die Entwicklung eines Flächennutzungsplans ausgesprochen, um die Konzessionierung von sensiblen Flächen durch den Bergbau zu regulieren. Warum ist von einem derartigen Plan, den Sie im Umweltministerium gefördert haben, nichts mehr zu hören?
Das ist ein zentrales Thema, das in den letzten Monaten unter den Tisch gefallen ist, obwohl die Konzessionierung für den Bergbau immer wieder für Konflikte sorgt. Der Hauptgrund dafür ist, dass keine Gebiete von der Konzessionierung ausgenommen sind und die Bevölkerung erst gar nicht eingeweiht, sondern vor vollendete Tatsachen gestellt wird.
Zudem gibt es viele Konzerne, die sich Konzessionen für die Zukunft gesichert haben und Bergbauprojekte auf Basis dieser vorbereiten; sie haben kein Interesse an einem Flächennutzungsplan. So steigt der Anteil der Flächen, auf die Konzessionen vergeben sind, stetig an, oft ohne Konsultation der lokalen Bevölkerung. Für die Debatte über die Frage, wo Bergbau stattfinden darf und wo eben nicht, wäre ein Flächennutzungsplan das richtige Instrument. Wir brauchen klare Strukturen und es ist sinnvoll eine ganze Reihe von Gebieten zu No-Go-Areas für den Bergbau zu erklären. Aus meiner Perspektive gibt es jedoch kaum politischen Willen diese Diskussion zu führen.

In der Region von Huancabamba, im Norden Perus, wehrt sich die lokale Bevölkerung gegen die Ansiedlung einer Kupfermine. In einem selbst durchgeführten Referendum hat sie deutlich gemacht hat, dass sie auf nachhaltige Landwirtschaftskonzepte setzt. Ist das ein Beispiel, das Schule machen könnte?
Ja, durchaus. Bereits 2002 führte ein Referendum zum Ende eines Goldbergbauprojekts in Tambogrande. Aber auch in Guatemala und Argentinien hat sich das Instrument genauso wie in Peru, in Tía María 2009 und Huancabamba 2007, bewährt. Auch in der Region von Cajamarca, wo das Bergbauprojekt Conga geplant ist, ist über ein Referendum diskutiert worden, aber die peruanischen Gesetze sehen dieses Instrument nicht vor. Dabei könnten Referenden eine Alternative nicht nur für Peru, sondern für ganz Lateinamerika darstellen. Es ist schließlich nötig, neue Mechanismen für die Partizipation der lokalen Bevölkerung zu entwickeln.

Welche Lektionen können internationale Investoren aus den Konflikten von Conga und Tintaya lernen?
Es ist klar, dass die Bergbauunternehmen nicht mehr den Bergbau wie vor zwanzig Jahren durchziehen können. Die lokale Bevölkerung stellt Ansprüche und vier Bergseen auszuradieren ist auch in Peru keine kleine Sache mehr. Früher war das möglich, denn der Bergbau ist von oben durchgesetzt, quasi verordnet worden. Heute ist die Zerstörung von vier Lagunen ein Attentat auf die Gemeinden und deren Grundrechte. Die Parameter haben sich verschoben und wir leben in einer Welt, die von der Klimakatastrophe bedroht ist, die längst spürbar ist.

In Deutschland, aber auch in anderen Ländern Europas, sucht man sogenannte Rohstoffpartnerschaften mit Ländern wie Peru. Was kann eine solche wirtschaftliche Zusammenarbeit für Peru bringen und welche Bedeutung kann sie für die Abbauregionen haben?
Das Problem dieser Partnerschaften ist, dass sie nicht auf Augenhöhe stattfinden und auch nicht unbedingt die nachhaltige Entwicklung des betreffenden Landes im Blick haben. Diese Partnerschaften und auch die Freihandelsabkommen auf multilateraler und bilateraler Ebene gehorchen einem Wachstumsimperativ. Verträge wie das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Peru, welches auch ein Thema beim Besuch von Präsident Humala im Juni in Berlin war, verhindern faktisch, dass Staaten wie Peru ihre Umweltschutzbestimmungen verbessern, weil sie die Investitionsbedingungen verändern. Das ist aber in vielen Verträgen untersagt und von den Konzernen faktisch auch einklagbar. Das ist ein gravierendes Problem, da die Umweltschutzbestimmungen in Peru und anderswo erst am Entstehen sind und dringend erweitert werden müssen, wie die zunehmende Zahl von Konflikten zeigt. Ich denke, dass die Rohstoffpartnerschaften der gleichen Logik folgen.

Kasten:

José de Echave
arbeitet für die regierungskritische Sozial- und Umweltorganisation CooperAcción. Der 54-jährige Ökonom war Vize-Umweltminister unter Präsident Ollanta Humala, dessen Mitte-Links-Bündnis seit Juli 2011 regiert. Ende November 2011 trat de Echave aus Protest gegen die Regierungspolitik zurück.

Ein Rechtssystem des konkreten Falls

1994 wurde in Bolivien eine Verfassungsreform verabschiedet, die die Existenz indigener Autoritäten und die Methoden indigener Bevölkerungsgruppen zur Beilegung von Konflikten erstmals formal anerkannte. Nur vier Jahre später wurde mit der Reform von 1998 das Prinzip non bis in idem – das Verbot der Doppelbestrafung einer Person für ein und dasselbe Vergehen – auf die auf kulturellen Normen und Verfahren basierende indigene Rechtsprechung ausgeweitet, ein Novum. Doch obwohl nun konstitutionell verankert, blieb eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem Thema „indigene Justiz“ lange Zeit aus. Und so erscheint die Reform von 94 im Nachhinein eher wie ein Eingeständnis des herkömmlichen Justizsystems, den Zugang zum indigenen Justizverständnis nie wirklich gefunden zu haben.

Die längst fällige Diskussion zur Thematik kam erst durch den verfassunggebenden Prozess auf. Die Pläne zur Gründung eines kommunalen, plurinationalen Staates und die Anerkennung der Rechte, der Institutionen und der Organisationsform der indigenen Bevölkerungsgruppen bedingten den Dialog und die Debatte über indigene Justiz.

Im Zuge dessen wurde der heute gültige Gesetzestext zur indigenen Justiz zwischen 2006 und 2009 von der Verfassunggebenden Versammlung Boliviens in fünf Schritten erarbeitet. In den anfänglichen Überlegungen wurden noch alle auf indigenem Territorium anfallenden Straftaten dem Zuständigkeitsbereich der indigenen Rechtshoheit zugesprochen. Doch mit dem vom Kongress eingebrachten, abgeänderten Gesetzestext und der letztlich durch das Referendum verabschiedeten Fassung wurde ein Zusatz aufgenommen, der festlegt, dass ein Gesetz die Abgrenzung der Zuständigkeiten zu klären habe. Dieses wurde, unter dem Namen Gesetz der juristischen Abgrenzung, im Dezember 2010 verabschiedet.

Um die Hintergründe dieser Reform zu verstehen, muss man sich die Zusammensetzung der bolivianischen Bevölkerung, Boliviens Geschichte und die Grundgedanken eines plurinationalen Staats genauer anschauen.
Die Gründung eines plurinationalen Staates, plural und kommunal, geht mit der Dekonstruktion des Staates im Sinne einer einheitlichen Nation einher, so wie mit der Dekonstruktion des staatlichen, ökonomischen und juristischen Fundaments zu Gunsten einer mit der Komplexität Boliviens verträglichen Gesellschaftsordnung.
Wir sprechen hier von einer Transformation des Staates und meinen dabei weder eine Abstufung, noch eine Emendation (Fehlerkorrektur), sondern ein Entleeren des Begriffs Staat im eigentlichen Sinne und eine völlige Neudeutung der Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft. Der Ursprung der Dekonstruktion liegt im Pluralismus. Ein Konzept, das so reell und über alle Zweifel erhaben, ein unaufhaltsames, sowohl zerstörerisches als auch schöpferisches Potenzial birgt und in sich selbst ein alternatives Paradigma zu sein scheint. Der Verfassungstext von 2009, mit all seinen Ungenauigkeiten, Widersprüchen und Doppeldeutigkeiten, gibt den Weg zu einer Dekonstruktion und Transformation des Staates vor, dessen Grundlage bereits das Konzept der pluralen Gesellschaft an sich darstellt. Die Auslegung dieser im Verfassungstext aufgenommenen Formulierung bedarf einer viel weitläufigeren, funktionaleren und der gesellschaftlichen Realität Boliviens entsprechenden Interpretation, die weit über die reine Anerkennung der kulturellen Vielfalt hinausgeht.
Der heute gültige Gesetzestext zielt daher nicht nur auf die Anerkennung der kulturellen Identität oder auf das staatliche Einräumen von bestimmten Freiräumen zur Ausübung politischer Rechte ab, sondern auf die (Re-)Konstruktion eines Staates unter Berücksichtigung der kulturellen Pluralität und des Pluralismus.
Bereits im ersten Teil des Verfassungstextes, also jenem, der das verfassungsrechtliche Fundament des Staates beinhaltet: Derechos, Deberes y Garantías, widmen sich fünf Artikel der pluralen Gesellschaft und der Frage, wie ein pluralistischer Staat aufzubauen sei. Ab Artikel Nummer zwei werden die notwendigen Voraussetzungen und möglichen Träger_innen der Transformation vorgestellt: die Nationen und Bevölkerungsgruppen indigener und bäuerlicher Abstammung, las naciones y pueblos indígenas originario campesino. Mit der Wahl dieser Formulierung wird versucht, die so unterschiedlichen und zahlreichen kulturellen Identitäten Boliviens vermittelnd zusammenzufassen, indem gleichzeitig eine subjektive Singularität und Pluralität erzeugt wird.

In der Verfassung wird diese Formulierung zu einer unteilbaren Einheit. So findet sich weder der Plural der Begriffe indígena originario in der Verfassung wieder, noch werden die Termini durch Kommata getrennt. Auf der anderen Seite muss angeführt werden, dass sich das bolivianische Volk nicht nur aus den unterschiedlchen indigenen Bevölkerungsgruppen zusammensetzt. Die Verfassung spricht vom pueblo boliviano, dem bolivianischen Volk, und meint damit die Gesamtheit der Bolivianer_innen, der interkulturellen Gemeinschaften und der Afrobolivianer_innen. Die Doppeldeutigkeit oder Weite dieser Begriffe kann sowohl von Vorteil als auch ein Grund für Spannungen sein, vor allem wenn es um die Bezeichnung la totalidad de las y los bolivianos y las comunidades interculturales geht. Die bolivianische Bevölkerung sollte und darf weder von einem essentialistischen oder urzeitlichen Standpunkt aus noch fragmentierend beschrieben werden, sondern aus einem dynamischen Blickwinkel, der berücksichtigt, dass Kultur zuerst ein gesellschaftliches Gerüst ist; dass Identität ein Konstrukt ist, das Bolivien seit den Tagen der Kolonialzeit bis heute auch von der kulturellen Mischung, dem Mestizentum, geprägt ist.

Trotz allem, die indigenen Bevölkerungsgruppen stellen den zahlenmäßig gewichtigsten Teil der bolivianischen Bevölkerung. Die Daten der letzten Zensusrechnung von 2001 zeigen, dass 62 Prozent der bolivianischen Bevölkerung sich selbst als Teil der indigenen Bevölkerung sehen. Neben der reinen Selbstdefinition beweisen Daten über die verbreitete Nutzung indigener Sprachen und die Existenz funktionierender Organisationsformen – seien sie ökonomischer, politischer, juristischer oder anderer Natur – das Gewicht des indigenen Bevölkerungsanteils. Die Relevanz dieser beiden Punkte zeigt sich – sind sie doch wesentliche Bestandteile der anstehenden oder bereits angestoßenen Transformation und finden sich in zwei der zentralen verfassungsrechtlichen Bestimmungen wieder – zum einen im Artikel 2, der das Recht der indigenen Bevölkerungsgruppen auf Selbstbestimmung festlegt und in der verfassungsrechtlichen Deklaration der indigenen Sprachen zu offiziellen Sprachen des plurinationalen Staates.

Der Kampf der indigenen Bevölkerungsgruppen Boliviens war nie ein bloßes Streben nach Anerkennung ihrer kulturellen Identitäten, wie vom liberalen Multikulturalismus in den Verfassungsreformen von 1999 und 2004 ausgelegt. Betrachtet man den Kampf der indigenen Bevölkerungsgruppen seit der Kolonialzeit und während der Phase der Republik etwas genauer, untersucht man ihre Diskurslinie, erkennt man die unweigerliche Verknüpfung ihrer Bestrebungen mit den Themen Land und Territorium. Das heißt, ihr Kampf zielte schon immer auf den Schutz des eigenen Lebensraums, des kulturellen Entfaltungsraums ab. Daher muss, um das Recht auf Selbstbestimmung zu verstehen, definiert werden, wie der Begriff „Territorium“ auszulegen ist, und welche geschichtliche Relevanz das Konzept für die indigene Bevölkerungsgruppe hat.

Das eigene Land ist zugleich Lebensraum und der Bereich der Entfaltung und der Entwicklung sozialer Beziehungen. Es ist der Ort des ökonomischen Handelns, der Ort der gesellschaftspolitischen und juristischen Organisation jeder Kultur. Beharrlich hielten die indigenen Gruppen an ihren Territorien und ihrer Territorialität fest, trotzen konstanten Enteignungsbestrebungen, deren Konsequenz wiederholte Spannungs- und Widerstandsmomente waren. Um den Kampf der indigenen Bevölkerungsgruppen Boliviens geschichtlich verstehen zu können, muss man sowohl das Land als das Ihre anerkennen als auch die Art akzeptieren, wie sie Land konzeptualisieren und objektivieren.

Das im Verfassungstext verankerte Recht der indigenen Bevölkerung auf Selbstbestimmung beabsichtigt die Anerkennung der indigenen Territorialität und die Konsolidierung ihrer Territorien. Dieses Gesetz eröffnet die Möglichkeit auch das Staatsgebiet neu zu gliedern, erkennt es doch das territoriale Gebiet, in dem sich der ökonomische, politische, juristische und linguistische Pluralimus entwickeln soll, offiziell an.

Die freie Selbstbestimmung ist der Ausgangspunkt, um das Ziel Pluralismus zu erreichen, denn aus den als autonom deklarierten Gebieten gehen die in der Verfassung festgeschriebenen pluralistischen Grundsätze hervor. Der autonome Status ist somit die Basis, auf der die indigenen Gemeinschaften ihr Recht auf eine freie Existenz ausüben können. Daraus leitet sich die Notwendigkeit territorialer Konsolidierung ab. Denn die indigenen Bevölkerungsgruppen können ihre gesellschaftsorganisatorischen Systeme politischer, juristischer, ökonomischer, etc. Natur nur in klar definierten Territorien der eigenen Weltanschauung folgend aufbauen.
Die Transformation des Staates ist aber auch mit dem Hervortreten und der Anerkennung des Wissens, der diskursiven Verfahren, der Art und Weise „das Leben“ zu verstehen und den Merkmalen der unterschiedlichen indigenen Bevölkerungsgruppen verknüpft. Mit dem Artikel 8 Principios ético morales de la sociedad plural bezieht sich der Verfassungstext explizit auf die Themen Wissen und Weltanschauung. Die moralischen Prinzipien basieren auf dem Konzept des Guten Lebens, das dem Modell des modernen Kapitalismus gegenübersteht.

Diese Lebensphilosophie, eingebettet in den Rahmen des Guten Lebens, ist ein wichtiges Element, um den Pluralismus zu verstehen, den die Verfassung voranzutreiben versucht. Es sind der juristische Pluralismus, die Anerkennung einer pluralistischen Zusammensetzung der bolivianischen Bevölkerung sowie das Recht, die indigenen Territorien zu autonomen Regionen zu formen, und die Prämissen des Guten Lebens, die die Grundpfeiler der Umsetzung des Pluralismus bilden, umzusetzen. Daneben baut der bolivianische Pluralismus auf einem weiteren, bisher nicht erwähnten Aspekt auf: dem Nebeneinander unterschiedlicher Rechtssysteme – eine fundamentale Erneuerung.

Mit der neuen bolivianischen Verfassung von 2009 stehen wir vor einem juristischen Pluralismus, der durch eine paritätische Basis und eine gemeinschaftlichen Spitze geprägt ist: Der Pluralismus ist an der Basis paritätisch, da die Gleichstellung der indigenen und herkömmlichen Jurisdiktion anerkannt wird. Dabei umfasst die indigene Jurisdiktion die Rechtshoheit über die territorialen Gebiete der indigenen und bäuerlichen Gemeinschaften (territoriale Abgrenzung), erreicht aber nur Subjekte, die sich selbst einer indigenen Bevölkerungsgruppe zurechnen (personelle Abgrenzung) und kommt nur in den durch das Abgrenzungsgesetz definierten Strafsachen zum Tragen (sachliche Abgrenzung). Eine Strafsache fällt demnach nur in die indigene Rechtshoheit, sind alle drei Abgrenzungskriterien erfüllt: territorial, persönlich, sachlich.

Gemäß Artikel 190 muss die indigene Jurisdiktion das Recht auf Leben, auf Schutz und alle weiteren durch die bolivianische Verfassung festgelegten Rechte respektieren. Mit dem Hervorheben des Rechts auf Leben und Schutz ähnelt der bolivianische Gesetzestext der von der kolumbianischen Rechtsprechung festgeschriebenen Minimalbedingung zur Ausübung indigener Justiz. Alle weiteren Gesetze und Zusicherungen müssen durch einen plurinationalen Verfassungsausschuss angepasst werden.

Der Pluralismus hat eine gemeinschaftliche Spitze, da Konflikte zwischen indigenem und herkömmlichem Rechtsverständnis durch den plurinationalen Verfassungsausschuss zu klären sind, welches sich sowohl aus Vertreter_innen des herkömmlichen Justizsystems als auch des indigenen und bäuerlichen Justizapparats zusammensetzt.

Dieser Ausschuss kann einen anthropologischen Beitrag ungeahnten Ausmaßes leisten und erlaubt zudem die Anwesenheit von Übersetzer_innen und ermöglicht es, indigenen Autoritäten gehört zu werden, um so das indigene Rechtsverständnis nachvollziehbar zu machen und zu kontextualisieren. Die durch den plurinationalen Verfassungsausschuss eingebrachten Gesetze bilden somit die Grundlage eines neuen plurinationalen Rechtssystems, das ein völlig neues Rechtsverständnis generieren wird.

Es wird die Aufgabe dieses Ausschusses sein, Wege festzulegen, beiden Jurisdiktionen gerecht zu werden und zu klären, wie die indigene und die herkömmliche Seite zusammenfinden und interagieren können.
Bedenken wir, dass wir in Bolivien der Möglichkeit offen gegenüberstehen, die Verfassung und das Rechtssystem zu überdenken; dass wir durch den plurinationalen Verfassungsausschuss ein neues Rechtverständnis habilitieren – ein Rechtsverständnis, das effektiv und der Zielgruppe dienlich ist.

Bedenken wir, dass es möglich ist, eine Interlegalität zu kreieren, in der unterschiedliche Kulturen in einem gegenseitigen Austausch stehen. Dass wir ein System aufbauen können, in dem sich das indigene und das herkömmliche Justizsystem gegenseitig beeinflussen, in dem die Attribute gut oder besser nicht aufgezwungen, sondern selbst definiert werden. Die indigene Justiz kann selbst entscheiden, ob ein Gesetz oder ein Verfahren des herkömmlichen Rechtssystems nun gut oder besser ist und welche Elemente des herkömmlichen Justizapparats es übernimmt. Was natürlich auch für die andere Partei gilt.

Um dies in aller Konsequenz umzusetzen, ist aber ein Umdenken nötig. Bei dem vorgestellten Konzept handelt es sich in gewisser Weise um ein poröses Rechtssystem und wir sollten dessen Lücken akzeptieren. Nicht die Vollkommenheit des Rechts muss der Anspruch sein, sondern das Akzeptieren der Unvollständigkeit mit dem Bestreben nach Vervollkommnungsfähigkeit. Nur so können wir zu einem Rechtssystem gelangen, das stets fallabhängig das adäquate Rechtsverständnis wählt.

 

(Download des gesamten Dossiers)

Der Verfall einer Familie

Der „9. Indigene Marsch“ startete am 27. April im Tieflanddepartamento Beni in Richtung des Regierungssitzes La Paz. Ende Mai begann der Marsch indigener Gemeinden des Hochlandes. Seitdem hat sich die Lage weiter zugespitzt. Zur Debatte steht nicht weniger als das Entwicklungsmodell der Regierung von Evo Morales. Zentraler Konfliktpunkt der Auseinandersetzung zwischen Regierung und den indigenen Organisationen des Tieflandes ist weiterhin der Bau einer Überlandstraße zwischen dem im Departamento Cochabamba gelegenen Villa Tunari und San Ignacio de Moxos, im Amazonasgebiet. Die neue Straße soll nach dem Willen der Regierung quer durch das indigene Territorium und den Nationalpark Isiboro Sécure (TIPNIS) führen. Die Diskussion um das Bauvorhaben hält Bolivien seit fast einem Jahr in Atem: Mitte August des vergangenen Jahres begann der erste Protestmarsch der indigenen Organisationen, die befürchten, die Straße befördere illegale Abholzungen und den massiven Zustrom von Kokabauern, welche schon jetzt einen Teil des TIPNIS in Agrarfläche verwandelt haben. Die Mobilisierung wurde überschattet von massiven Anfeindungen seitens der Regierung, die Ende September 2011 ihren Höhepunkt in einem brutalen Polizeieinsatz gegen die Indigenen fanden. Dennoch gelang es den Marschierenden, die Regierung zum Erlassen eines Gesetzes zum Schutz des TIPNIS zu drängen. Das „Gesetz 180“ erklärt das Territorium zum „unantastbaren“ Schutzgebiet und untersagt ausdrücklich den Bau der Straße (siehe LN 450).
Ende des vergangenen Jahres begann daraufhin ein von der Regierung initiierter Marsch von Befürworter_innen der Überlandstraße, der zwar kaum Interesse, geschweige denn Unterstützung von Seiten der Zivilgesellschaft erfuhr, dessen zentralen Forderungen jedoch erstaunlich schnell nachgekommen wurde. Anfang Februar verabschiedete das Parlament das „Gesetz 222“, mit dem die Bewohner_innen des TIPNIS per Referendum über den Status der „Unantastbarkeit“ und somit den Bau der Straße abstimmen sollen. Das „Gesetz 180“ ist damit de facto hinfällig.
Der sich nun seit dem 27. April gen La Paz bewegende Marsch ist somit der dritte, der das hart umstrittene Bauprojekt der Regierung zum Anlass hat. Mit ihm wollen die indigenen Bewegungen die Anerkennung des von ihnen erkämpften Gesetzes zum Schutz des TIPNIS und die Abschaffung des Gesetzes 222 erreichen, welches das Referendum festschreibt. Der Präsident Evo Morales erklärte daraufhin, er könne „nicht verstehen, wie die Führungsriege [der indígenas] sich dem Recht auf ein Referendum widersetzen kann“ und bezeichnete die Forderungen als „verfassungswidrig“. Dabei waren es bis vor kurzem noch Morales und seine Minister, welche angesichts der Kritik bezüglich der ausgebliebenen Befragung der indigenen Bevölkerung des TIPNIS die Position verteidigten, dass laut Verfassung beim Bau einer Straße keine vorherige Befragung der Betroffenen nötig sei.
Die Sorgen der jetzt Marschierenden sind jedoch andere. Denn in dem Referendum soll nicht direkt die Position bezüglich des Straßenbaus abgefragt werden, sondern eine Entscheidung über die „Unantastbarkeit“ des TIPNIS gefällt werden. Anstatt also über das Problem selbst abzustimmen, so wie internationale Richtlinien dies vorsehen, soll die Bevölkerung des TIPNIS über den von dem letzten indigenen Marsch erstrittenen Lösungsvorschlag entscheiden – also nur indirekt in die Entscheidung über das Bauprojekt einbezogen werden. Vor allem jedoch sieht das Gesetz, im Einklang mit den internationalen Verträgen zum Schutz der Rechte indigener Bevölkerungen, eine „vorherige, freie und informierte“ Befragung der Bewohner_innen des indigenen Territoriums vor, und eben diese sehen die Indigenen sowie zahlreiche Beobachter_innen nicht gewährleistet. So stellt Amnesty International (AI) in einem Anfang Mai an die bolivianische Regierung gerichteten Schreiben in Frage, ob man von einer „vorherigen Befragung“ sprechen könne, obwohl die Pläne für den Verlauf der Straße seit Jahren feststehen und der Bau außerdem so weit fortgeschritten ist, dass nur noch das durch das TIPNIS führende Teilstück fehlt. AI kritisiert zudem, dass die Regierung sich dem Dialog mit den Gegner_innen des Bauprojekts beständig verweigert hat und auch das Protokoll, welches den Ablauf des Referendums regelt, nicht mit diesen abgestimmt hat.
Auch die Frage, wie „frei“ die Befragung sei, beschäftigt AI ebenso wie die Teilnehmer_innen des 9. Indigenen Marsches. Zum einen hat die Regierung seit dem Protestmarsch letzten Jahres nachweislich massiv in die Machtverhältnisse in den indigenen Gemeinden des TIPNIS eingegriffen und versucht, aufmüpfige Autoritäten zu isolieren und durch regierungsfreundliche zu ersetzen. Gleichzeitig erkennt sie legitime, aber widerständige Institutionen und gewählte Autoritäten nicht an und hat stattdessen unter Umgehung dieser Abkommen zur „Verbesserung der Lebensbedingungen“ mit Parallelorganisationen und Gemeinden geschlossen. Zum anderen ist das TIPNIS in den vergangenen Monaten auch Schauplatz ganz offener Regierungsinterventionen. Nicht nur wurde die Militärpräsenz, angeblich zwecks Durchsetzung von „Entwicklungsprojekten“, hochgefahren, auch der Präsident und einige seiner Minister haben dem indigenen Territorium Besuche abgestattet. Wenige Tage bevor die indigenen Autoritäten des TIPNIS zusammenkamen, um ihre Position gegenüber dem Referendum festzulegen, reiste Evo Morales durch die Gemeinden und verteilte Geschenke und Versprechen: Motoren für Boote, Schulmaterialien, sogar neue Häuser und eine Antenne fürs Handynetz stellte er in Aussicht. Ein Repräsentant des TIPNIS bezeichnete den Akt als „Provokation“ und „Respektlosigkeit gegenüber der indigenen Bewegung, deren oberster Repräsentant er zu sein verkündet“. In Anbetracht dieser Tatsachen mahnt AI, dass die Befragung nicht als Prozess verstanden werden darf, durch den die indigenen Gemeinden zu einem Ja oder Nein gebracht werden sollen, sondern als Verhandlungsprozess, an dessen Ende ein Übereinkommen zwischen allen Betroffenen und zwischen diesen und dem Staat steht. Hierfür allerdings fehlen laut AI die „nötigen Minimalbedingungen“.
Daran etwas zu ändern scheint derzeit nicht zu den Prioritäten der Regierung von Evo Morales zu zählen. Zwar hat sie mittlerweile den umstrittenen Vertrag mit der brasilianischen Firma OAS, die für den Bau der Straße verantwortlich ist, wegen Verzögerungen bei den Arbeiten gekündigt – am Streckenverlauf durch das TIPNIS aber hält sie eisern fest. Gleich zu Beginn des Marsches machte sie zudem klar, dass sie gegenüber den Protestierenden auch weiterhin eine harte Gangart fahren will: Die Büroräume einer der oppositionellen „Bewegung ohne Angst“ (MSN) angehörenden Parlamentarierin, die den Marsch finanziell unterstützt, wurden illegal belauscht und das Audiomaterial dann von der Regierung an die Medien weitergereicht. Und auch die regierungsnahen Sektoren, insbesondere der der Kleinbauern und -bäuerinnen, sind nicht von ihrem Konfrontationskurs gegenüber den Indigenen abgerückt. Wie schon im Verlauf des Protestmarsches des vergangenen Jahres errichteten cocaleros und andere der „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS) nahe stehende Kleinbauern Straßenblockaden, um die indígenas am Weiterkommen zu hindern. In der im Beni gelegenen Ortschaft San Ignacio wurden die Zufahrtsstraßen zum Stadtzentrum mit Stacheldrahtrollen blockiert, die indigene Radiostation „Arairu Sache“ zerstört und die Marschierenden mit Drohungen und rassistischen Schmähungen überhäuft. Das Departamento wird mittlerweile von einer Koalition der MAS mit der rechten, ihr einstmals verhassten Nationalistischen Revolutionären Bewegung (MNR) regiert. Da die MAS sich zudem mit den regionalen Großgrundbesitzern über die Notwendigkeit des Baus der Straße einig ist, konnten die Aktionen gegen den indigenen Protest als Zusammenarbeit des MAS-nahen Gewerkschaftsverbandes mit den ultrarechten „Zivilkomitees“ erfolgen, die noch 2008 beim Putschversuch gegen die Regierung eine maßgebliche Rolle spielten.
Dabei sind diese Konflikte vielleicht nicht einmal die schwerwiegendsten, mit welchen die indigenen Bewegungen des Tieflandes sich derzeit auseinandersetzen müssen. Neben starken Regenfällen, die den Marsch nur langsam vorankommen lassen und die Zahl der Teilnehmer_innen geringer als erwartet hat ausfallen lassen, sind es vor allem die Spannungen innerhalb der Organisationen, die zunehmend zum Problem werden. Der Präsident des indigenen Dachverbandes Konföderation der Indigenen des Bolivianischen Ostens (Cidob) und einer der Hauptverantwortlichen des 9. Indigenen Marsches, Adolfo Chávez, wird inmitten der Mobilisierung massiv von verschiedenen Regionalverbänden angegriffen. Einer der Gründe dafür ist, dass Chávez vor kurzem ein Abkommen zum Bau von Häusern für Indigene mit dem rechtsradikalen Gouverneur von Santa Cruz traf und auch ansonsten kaum Distanz zur rechten politischen Klasse des Tieflandes gesucht hat. Damit leistet er den Anschuldigungen der Regierung, der Marsch sei von den rechten Gruppierungen gelenkt, weiter Vorschub. Und tatsächlich versuchen auch diese, immer stärkeren Einfluss auf die Geschehnisse zu nehmen – in vielen Solidaritätskomitees für den indigenen Marsch haben mittlerweile Vertreter_innen der traditionellen Parteien das Sagen. Gleichzeitig wurde auch dem Präsidenten der Zentrale der Indigenen Völker Benis (CPIB), dem aus dem TIPNIS stammenden Pedro Vare, von einem Teil der in der Organisation vereinten Gruppierungen das Vertrauen entzogen und sein Ausschluss aus der CPIB verlangt. Im Gegensatz zu Chávez wird ihm allerdings vorgeworfen, gemeinsame Sache mit der Regierung zu machen. Seine Wandlung von einem glühenden Gegner der Überlandstraße zu einem Gegner des indigenen Marsches und Verfechter einer „Verhandlungslösung“ wurde von einem vor Kurzem geleakten Strategiepapier der Regierung vorweggenommen. Laut diesem gelang es Mitarbeiter_innen der Regierung, Vare als Schlüsselfigur zur Schwächung des Marsches zu etablieren.
So wächst mit jedem der 600 Kilometer, die der 9. Indigene Marsch bis zum Regierungspalast wird zurücklegen müssen, die Spannung zwischen den verfeindeten Blöcken. Dass eine der beiden Seiten von ihrer Position abrücken könnte steht derweil kaum in Aussicht. Denn die Auseinandersetzung dreht sich längst nicht mehr allein um den Bau einer Straße. Vielmehr steht das von der Regierung um Evo Morales eingeschlagene Entwicklungsmodell sowie die Art und Weise, dieses durchzusetzen, zur Debatte. Während die indigenen Bewegungen versuchen, das „plurinationale“ Staatsmodell und damit ihre Rechte und Territorien zu verteidigen, forciert die Regierung zunehmend die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen des Landes, sucht die Anbindung an internationale Märkte, und schafft für beides die nötige Infrastruktur. Für „Plurinationalismus“, in diesem Fall in Form autonomer indigener Mitbestimmung, scheint dabei nur dort Platz zu sein, wo er nicht stört: als Diskursformel auf internationalem Parkett und da, wo er nicht in Konflikt mit der Verwertungslogik gerät.
So ist es nicht verwunderlich, dass der nächste große Konflikt zwischen der Regierung und indigenen Gemeinden nicht lange auf sich warten ließ. Wenn der Marsch der indigenen Bewegungen des Tieflandes wie geplant Mitte Juni La Paz erreicht wird er dort mit dem Protestzug der Organisation der indígenas aus dem Andenraum, CONAMAQ, zusammentreffen, um gemeinsam gegen die Regierungspolitik zu protestieren. Mit dem Marsch, der Ende Mai vom Norden des Departamentos Potosí aus aufbrach, wehrt CONAMAQ sich gegen ein geplantes Minenprojekt in der indigenen Gemeinde Mallku Khota, welches drei indigene Territorien in Mitleidenschaft ziehen würde. Seit dem Jahr 2007 führt hier die kanadische South American Silver (SAS) Explorationsarbeiten durch. Die Firma und die Regierung gehen davon aus, dass Mallku Khota die größte Silber- und Indium-Mine Lateinamerikas werden wird. Die Bewohner_innen der Gemeinde hingegen befürchten, dass es zu massiven Umweltschäden und Wasserknappheit kommen wird. Zwar gelang es den indígenas der betroffenen Gemeinde im Jahr 2010, die Firma kurzzeitig zu vertreiben, vergangenes Jahr aber wurden die Arbeiten wieder aufgenommen. Nachdem es nun im Mai zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Befürworter_innen und Gegner_innen der Mine kam, wurde die indigene Autorität von Mallku Khota und Anführer der Proteste, Cancio Rojas, festgenommen. Ihm werden unter anderem versuchter Mord, Entführung, Bildung einer kriminellen Vereinigung und Aufruf zu Straftaten vorgeworfen. CONAMAQ marschiert deswegen auch für die sofortige Freilassung Rojas.
Sollte es den beiden Märschen gelingen, eine ähnlich große Aufmerksamkeit und Solidarität zu erreichen wie die Proteste des vergangenen Jahres, wird die Regierung wohl gezwungen sein, kreative Antworten auf das Dilemma um indigene Rechte und das auf Extraktivismus zentrierte Wirtschaftsmodell zu liefern. In jedem Fall steht Bolivien ein heißer Winter bevor.

Zäher Kampf gegen die Straflosigkeit

Monat für Monat, an jedem 13., ziehen sie vor das Gebäude der honduranischen Staatsanwaltschaft und fordern die Aufklärung der Morde, denen seit dem Putsch am 28. Juni 2009 Trans*, Schwule und Lesben zum Opfer fielen. Mit den Kundgebungen erinnern die beteiligten LGBT-Organisationen an jenen 13. Dezember 2009, an dem Walter Tróchez ermordet wurde. Der 27-jährige schwule AIDS-Aktivist und Menschenrechtsverteidiger war zugleich Mitglied der breiten Bewegung gewesen, die sich gegen den Putsch engagierte. Er hatte sich an der Karawane des roten Kreuzes an die nicaraguanische Grenze beteiligt, als wegen des Ausnahmezustands keine Medikamente mehr ins Land kamen. Er hatte zu Demonstrationen mobilisiert, Polizeigewalt dokumentiert und auf die Komplizenschaft der honduranischen Bischofskonferenz mit der Putsch-Regierung hingewiesen. Außerdem hatte er internationale Menschenrechtsorganisationen alarmiert, als klar geworden war, dass nicht nur Aktivist_innen des Widerstands, kritische Journalist_innen und Protestierende gezielt ermordet wurden, sondern auch Mitglieder der LGBT-Community.
Laut einer Untersuchung des honduranischen Lesbennetzwerks Cattrachas wurden allein in den ersten sechs Monaten nach dem Putsch 19 homo- und transphobe Morde begangen – mehr als in den fünf Jahren zuvor. Tróchez hatte sich in seinem Engagement nicht beirren lassen: weder durch seine erste Verhaftung noch durch die Entführung durch Maskierte in einem Wagen ohne Nummernschild, bei der er mit Schlägen traktiert und über seine Kontakte im Widerstand befragt worden war. Nach seinem Entkommen erstattete er hartnäckig Anzeige bei der Polizei. Zwei Wochen später wurde er auf offener Straße erschossen. Bis heute hat keine Aufklärung des Falls stattgefunden. Auch der Mord an den Vorsitzenden der Trans*-Organisation Colectivo Unidad Color Rosa, Imperia Gamaniel Parson und Neraldys, vom 31. August 2010 bleibt im Dunkeln. Ebenso wie Dutzende andere Morde.
Nur aufgrund des internationalen Drucks, unter anderem aus der EU, den USA und von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, sah sich De-Facto-Präsident Porfirio Lobo dazu genötigt, die Vulnerabilität von LGBT einzugestehen. Trotzdem fand allein der Fall Tróchez Eingang in den Mitte letzten Jahres vorgelegten Bericht der offiziellen Wahrheitskommission CVR. Immerhin kamen FBI-Beamt_innen aus den USA, um die Aufklärung der Morde zu unterstützen. Im November 2011 wurde außerdem eine Sondereinheit für sexuelle Vielfalt bei der Kriminalpolizei (DNIC) geschaffen. Die mit einem eigenen Staatsanwalt ausgestattete Einrichtung hat ihren Sitz in San Pedro Sula im Norden, wo die meisten Taten verübt werden, und in Tegucigalpa. Dass die Gründung der Institution tatsächlich zu nachhaltigen Aufklärungsbemühungen – und Ergebnissen – führt, stößt bei den „Betroffenen“ auf Skepsis.
Die Angehörigen der ermordeten Journalist_innen und Bauernaktivist_innen im Bajo Aguán warten bislang ebenfalls vergeblich auf eine Verfolgung und Bestrafung der Täter. LGBT-Aktivist_innen, wie José Zambrano oder Alexander David Sánchez Álvarez, sind nach wie vor von Drohungen betroffen. Auch die Morde gehen weiter. Den letzten fielen im Februar die Travestis „Montserrat“ (offizieller Vorname: Jonathan José) Pineda und Ivis Rolando „Dulce“ Mejía García, im März dann José Enrique „Shakira“ Castro und eine Unbekannte in San Pedro Sula zum Opfer.
Neben der Strafverfolgung muss jedoch auch die Gewaltprävention stärker in den Blick genommen werden. So plant die Organisation ARCOIRIS Sensibilisierungstrainings für die Polizei. Dem Respekt vor der Vielfalt geschlechtlicher Identitäten und sexueller Orientierungen stellen sich allerdings konservative Kräfte entgegen. Gestärkt durch den Rechtsruck des Putschs wird auf fundamentalistische Positionen gesetzt – koste es, was es wolle.
Zwei Beispiele aus dem vergangenen Jahr zeigen, welch seltsame Blüten ein solcher Dogmatismus treiben kann. Im August brachte die honduranische Organisation Libre Expresión (Freie Äußerung) zwei Großbanner an Gebäuden der Nationalen Autonomen Universität von Honduras (UNAH) an. Das eine der beiden Banner warb im Rahmen der Toleranzkampagne „Vos decidís“ („Du entscheidest“) für die Achtung vor den verschiedenen Ethnien und Religionen, das andere für Respekt vor Lesben, Schwulen und Trans*. Letzteres stieß bei Konservativen auf Kritik. Einen Tag vor Beginn des neuen Semesters drangen Unbekannte in die Universität ein und entwendeten das Transparent, sein Verbleib ist bis heute unbekannt. Obwohl die Universitätsleitung die Kampagne unterstützte, wurde kein neues Banner aufgehängt.
Ein zweiter Vorfall ereignete sich im Oktober, als der in Lateinamerika überaus populäre Musiker Ricky Martin im Rahmen einer Tournee ein Konzert in Tegucigalpa geben wollte. Der Puertoricaner hatte sich ein Jahr zuvor als schwul geoutet. Mit seinem Partner hat er zwei Kinder, die von einer Leihmutter stammen. Seit seinem Outing wird er von christlichen Fundamentalist_innen angegriffen. So bezeichnete ihn eine evangelikale Predigerin als „Gesandten des Teufels“ und der puertoricanische Kardinal Luis Aponte verurteilte das „unmoralische Verhalten der Homosexuellen“ und warf Martin vor, „die Jugend zu verderben“. Ähnliches ließ sich vor dem geplanten Termin dann von Innenminister Áfrico Madrid vernehmen. Die Erlaubnis für das Konzert müsse „auf Grundlage der moralischen und ethischen Prinzipien unserer Gesellschaft überprüft werden“. Gefordert hatten dies Vertreter_innen der christlichen Kirchen, die ins Feld führten, die Familienkonstellation des Künstlers sei kein gutes Vorbild. Es sei nicht „diese Art von Familie, die von den honduranischen Gesetzen und der honduranischen Gesellschaft angestrebt werde“; man wolle „dieses Modell nicht unter den Jugendlichen und der übrigen Gesellschaft verbreiten oder unterstützen“. Schließlich durfte das Konzert dann doch stattfinden, nur Kindern unter 15 Jahren wurde der Zutritt untersagt.
Die Community lässt sich von derlei Gebaren jedoch nicht einschüchtern. Neben den monatlichen Kundgebungen vor der Staatsanwaltschaft demonstriert sie im Mai zum Internationalen Tag gegen Homo- und Transphobie und geht auch zum Christopher Street Day (CSD) auf die Straßen. Dieser wurde in Honduras erstmals 2001 durchgeführt, von der Comunidad Gay Sampedrana in San Pedro Sula. Bei einer anderen Aktion hielt die Organisation ARCOIRIS im August letzten Jahres vor dem Kongress symbolisch die Eheschließung einer Homo-Ehe ab, um für ein Referendum über das Thema einzutreten. Im Jahr 2005 hatte der Kongress einmütig beschlossen, das Verbot der Ehe und der Adoption für gleichgeschlechtliche Paare in der Verfassung zu verankern. Dies geschah auf Druck evangelikaler Gruppen als die Regierung nach jahrelangem Ringen drei Homo-Organisationen offiziell zugelassen hatte.
Kurz zuvor war in San Pedro Sula die einzige Schwulenbar geschlossen worden. Dabei konnte sich die Stadt auf das „Gesetz über Polizei und gesellschaftliches Zusammenleben“ von 2002 berufen. Dessen Artikel 142 bietet die Möglichkeit, Verstöße „gegen das Schamgefühl, gegen die guten Sitten oder die öffentliche Moral“ zu sanktionieren. Bis heute kann dies von der Polizei dahingehend interpretiert werden, dass Lesben, Schwule oder Trans* kein Recht auf die Präsenz im öffentlichen Raum haben. Einschränkungen der Freiheit, Erpressung, Erniedrigung sowie weiteren Repressalien sind damit Tür und Tor geöffnet. Insbesondere Trans*-Frauen, die nachts als Sex-Arbeiterinnen tätig sind, bekommen dies zu spüren. Diese, vor allem, wenn sie aus ärmeren Bevölkerungsschichten stammen, sehen aufgrund der Diskriminierungen im Bildungssystem und der Arbeitswelt oft keine andere Möglichkeit, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Durch die gesellschaftliche Stigmatisierung ihrer Opfer haben gewalttätige Freier, Polizist_innen und Bewaffnete leichtes Spiel.
Doch trotz der anhaltend gefährlichen Lage und des Unwillens der Behörden, ernsthaft für den Schutz der Bürger_innen einzutreten, gibt es auch Positives zu berichten. Durch die Zuspitzung der Situation und bestärkt durch die nationale und internationale Solidarität begreifen sich immer mehr „Betroffene“ als Subjekte, und nehmen ihr Schicksal in die eigene Hand. Die beharrlichen Kundgebungen vor der Staatsanwaltschaft und die sichtbare Beteiligung an den anderen Protesten der Widerstandsbewegung zeigen, dass die LGBT-Community sich keinesfalls einschüchtern lässt.
Auch innerhalb der Linken haben Vorkämpfer_innen wie Walter Tróchez den Weg für eine größere Offenheit und den Respekt vor sexueller Vielfalt geebnet. Seit Oktober 2010 gibt es mit der Bewegung der Vielfalt im Widerstand (MDR) überdies eine eigenständige Plattform, ein Bindeglied zwischen Community und Widerstandsfront. Honduranische Medien nehmen die verstärkte Präsenz wahr und rücken allmählich von stereotypisierenden Beschreibungen ab. Die gesellschaftliche Wahrnehmung von Diskriminierung und Gewalt wird etwas größer. Zwei neue Clubs für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Trans* haben in Tegucigalpa geöffnet, die Sichtbarkeit im öffentlichen Leben nimmt zu. Ein weiterer Ausdruck des neuen Selbstbewusstseins war ein im Dezember erstmals abgehaltenes landesweites Forum zu sexueller Vielfalt und Menschenrechten, an dem über 200 Menschen aus ganz Honduras teilnahmen. Es bleibt die Hoffnung, doch noch einen grundlegenden Wandel zu erreichen, auch wenn dies Jahre in Anspruch nehmen wird.

Glossar
LGBT // (engl.) Abkürzung für Lesbian-Gay-Bisexual-Transgender = Lesbisch-Schwul-Bisexuell-Transgender.

Trans* // Der Terminus umfasst als Oberbegriff sowohl Transgender, die das Überwinden von Geschlechterkategorien anstreben, als auch Transsexuelle, die eine Geschlechtsangleichung innerhalb der gegebenen Kategorien wünschen.

Travesti // (span.) Subkulturelle Selbstbezeichnung für Transgender mit ursprünglich männlicher Zuordnung, die selbstbestimmt ihre geschlechtliche Identität leben und definieren sowie teilweise ihre Körper modifizieren, etwa mittels der Einnahme weiblicher Hormone und der Injektion von Silikon

„Vergeben, aber kein Vergessen“

Dass juristische Verfahren gegen oligarchische Medien in Ecuador Aussicht auf Erfolg haben, ist neu. „Es hat sich gezeigt, dass der medialen Macht der Prozess gemacht werden kann“, heißt es in einer Erklärung des ecuadorianischen Präsidenten Rafael Correa von Ende Februar. Nachdem sich Correa mit dem Politbüro seiner Partei Alianza País, Freunden und seiner Familie beraten hatte, gab er in dem Statement zudem großzügig bekannt, denen „zu vergeben, die es eigentlich nicht verdienen“. Correa ist mit der juristischen Feststellung, dass er verleumdet wurde, zufrieden und begnadigte die drei Herausgeber und einen Kolumnisten der oppositionellen Zeitung El Universo am 27. Februar. Auch gegen die beiden zu Geldstrafen verurteilten Autoren des Buches Der große Bruder ließ Correa Gnade walten und verzichtet auf Vollstreckung.
Der größte Rechtsstreit bezieht sich auf den 30. September 2010, als der Staatschef bei einem Putschversuch von desertierten Polizei- und Militäreinheiten angegriffen, festgehalten und mit dem Tode bedroht wurde. Mehrfach erging über Polizeifunk die Aufforderung, den Präsidenten umzubringen. Auf mit Correa sympathisierende Demonstrant_innen und die Spezialeinheit, die zu seiner Befreiung eingesetzt war, wurde scharf geschossen. Mindestens fünf Todesopfer durch Kugeln der Putschist_innen waren zu beklagen.
Den Ereignissen des 30. September 2010 widmete einer der lautesten Streithähne der oligarchischen Presse, der Redakteur Emilio Palacio, im Februar 2011 einen Kommentar. Der erschien in der Zeitung El Universo mit dem Titel „Keine Lügen mehr“. Darin bezeichnet er Correa nicht nur als „Diktator“, sondern wirft ihm auch „Verbrechen gegen die Menschheit“ vor. Correa habe das Gefecht provoziert, den Putschversuch inszeniert und Todesopfer billigend in Kauf genommen, so Palacio. Demgegenüber berichteten Beobachter_innen von einer aufgeheizten Stimmung, die private Medien unmittelbar vor dem Putschversuch erzeugt hatten; sie waren über die Pläne anscheinend informiert. Der Staatschef erstattete Anzeige wegen Verleumdung.
Palacio sowie die Herausgeber der größten ecuadorianischen Tageszeitung, als Verantwortliche für deren Veröffentlichung, wurden mehrmals aufgefordert, die Vorwürfe zurückzunehmen, sich dafür zu entschuldigen und eine Richtigstellung abzudrucken. Darauf ließen sich weder Palacio noch die Direktoren von El Universo, die drei Brüder Carlos, César und Nicolás Pérez ein. Es schien fast so, als wollten sie verurteilt werden und den Skandal um eine von ihnen unterstellte „Einschränkung der Redefreiheit“ möglichst groß erscheinen lassen.
Am 20. Juli 2011 wurden sie zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Zusätzlich sollten sie insgesamt 40 Millionen US-Dollar Schadensersatz zahlen. Die Angeklagten gingen bis zum Obersten Gerichtshof. Doch der bestätigte das Urteil im Falle Palacios am 28. Dezember letzten Jahres und im Falle der Brüder Pérez am 16. Februar dieses Jahres. „Das Urteil zeigt, dass die Pressefreiheit nicht nur für diejenigen ist, die es sich leisten können, sondern für alle“, verlautbarte Correa und ergänzte, dass er den Prozess nicht wollte, sondern es lieber gehabt hätte, wenn El Universo sich korrigiert hätte.
Palacio war direkt nach dem ersten Richter_innenspruch im August nach Miami gereist, von wo aus er den Prozess verfolgte. Stunden nach dem Urteil des Obersten Gerichtshofs begab sich auch einer der Herausgeber, Carlos Pérez, in die panamaische Botschaft und beantragte Asyl. Dieses wurde zunächst gewährt, nach der Rücknahme der Strafe aber wieder aufgehoben.
In einem weiteren Gerichtsverfahren wurden am 7. Februar 2012 die beiden Autoren des Buches Der große Bruder (erschienen 2010), Juan Carlos Calderón und Christian Zurita, zur Zahlung von jeweils einer Million US-Dollar Entschädigung an Rafael Correa verurteilt. Im Buch beschuldigten sie den Präsidenten, von der unrechtmäßigen Vergabe staatlicher Aufträge an die Firma seines jüngeren Bruders Fabricio Correa gewusst zu haben. Auch Calderón und Zurita bot das Staatsoberhaupt mehrmals an, die Anschuldigungen zurückzunehmen, damit er die Anzeige fallen lassen könne. Dem kamen die Autoren nicht nach. Die zuständige Richterin bestätigte, dass die Autoren nicht genügend Beweise hätten, um so eine Behauptung aufzustellen. Sie folgte damit Correas Argumentation, dass er als Person und Bürger „moralischen Schaden“ erlitten habe.
Die Prozesse wurden unter großer nationaler und internationaler medialer Aufmerksamkeit geführt. Das Thema ist delikat und dreht sich um die Definition der Pressefreiheit. In einem Kommentar der Washington Post vom 12. Januar wurde der Vorwurf erhoben, in Ecuador würden Journalist_innen verfolgt und die Autoren von Der große Bruder wären wegen der Dokumentation der staatlichen Verträge mit Fabricio Correa verurteilt worden. Dem widersprach Präsident Correa in einer ausführlichen Stellungnahme: „Was die Washington Post nicht schreibt, ist, dass die Autoren zufällig Journalisten sind, die aber wegen der Behauptung verurteilt wurden, der Präsident habe davon gewusst.“ Ecuadors Außenminister Ricardo Patiño sieht die ecuadorianische Regierung als Ziel einer internationalen Medienkampagne, weil ihre Reformen griffen, sie Auslandsschulden reduziere und sich die Kräfteverhältnisse veränderten.
Immer wieder springen die Lateinamerikanische Pressegesellschaft (SIP), Human Rights Watch oder Reporter ohne Grenzen im Namen der Meinungsfreiheit den Medienoligarch_innen bei. Aber selbst Reporter ohne Grenzen riet jüngst mit Bezug zum Fall El Universo, mit Beleidigungen und Bezeichnungen wie „Diktator“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ nicht leichtfertig umzugehen.
Palacio und die Brüder Pérez hatten angekündigt, vor den Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof zu ziehen. Dieser hatte vorbeugend gefordert, die Strafe gegen El Universo zurückzunehmen. Nach der Aussetzung der Strafe erklärte die Ex-Präsidentin der Institution allerdings, die Befugnisse seien von El Universo überschritten worden. Schließlich habe Correa das Recht, seine Persönlichkeitsrechte zu verteidigen. Maßnahmen sind nun hinfällig. „Hoffen wir, dass die Verurteilten aufhören, sich als Opfer darzustellen“, sagte Correa.
Durch die Entscheidung, die Strafe nicht vollziehen zu lassen, scheint sich der Präsident als gütiger Katholik darstellen und sein Ansehen im internationalen Umfeld aufbessern zu wollen. Innenpolitisch findet die Entscheidung sicher Zustimmung bei moderaten Kräften, kann aber auch als Befriedung vor der Präsidentschaftswahl 2013 gelten: Laufend kommt es zu heftigen Gefechten zwischen Correa und den privaten Medien, die er als „korrupt“ bezeichnet. In einem 2011 veröffentlichten Essayband sieht der Journalist und Kommunikationswissenschaftler Gustavo Abad in Ecuador einen Fight Club, in dem die politische gegen die mediale Macht im Ring steht. Viel zu kurz bei diesen Debatten kommt die Demokratisierung der und das Recht auf Kommunikation, das auch in Ecuador wesentlich durch unabhängige, nicht profitorientierte Organisationen getragen werden muss. Im Wesentlichen betrifft dies kommunitäre Medien, die mithilfe eines Kommunikationsgesetzes Förderung erhalten sollen, damit sie in Zukunft neben privaten und staatlichen Medien einen Anteil von mindestens einem Drittel ausmachen werden.
Die größten Medien Ecuadors befinden sich im Besitz weniger einflussreicher Familien, wie der Familie Pérez, die mit diesen Mitteln ihre liberalen oder konservativen Interessen vertreten und durchsetzen. Bereits in der Verfassunggebenden Versammlung wurden private Medien häufig kritisiert, die ohne Rücksicht auf Wahrhaftigkeit und Persönlichkeitsrechte die politischen Gegner_innen niederschrieben. Mit der Verfassung von 2008 wurde ein neues Kommunikationsgesetz auf den Plan gerufen, das den gesamten Medienbereich umstrukturieren und klare rechtliche Regelungen zu verbotenen Inhalten und deren Sanktionierung festlegen soll. Darunter fallen Jugendschutz, Gewaltverherrlichung, rassistische, sexistische und andere diskriminierende Inhalte. Seit dem Referendum im Mai 2011 ist auch klar: Erstellt und überprüft werden die Richtlinien durch einen Regulationsrat. Erst im November letzten Jahres hat das Parlament die zweite und abschließende Lesung durchgeführt. Die Zustimmung einiger Mitglieder_innen der Regierungsfraktion und anderer Fraktionen wie der indigenen Partei Pachakutik sind nach wie vor nicht sicher. Die Abstimmung wird in diesem Jahr erwartet.
„Wir müssen aus der Gegenwart und aus der Geschichte lernen, für eine echte soziale Kommunikation kämpfen, in der private Geschäfte die Ausnahme sind, nicht die Regel; wo die Redefreiheit ein Recht aller ist und nicht das privilegierter Oligarchen, die eine Druckerei erben und sie auf den Namen von Scheinfirmen auf den Cayman-Inseln anmelden“, schrieb Correa mit Verweis auf das Medienunternehmen El Universo in einem offenen Brief an den Obersten Gerichtshof. Von Angriffen auf die Pressefreiheit zu sprechen, ist nach dem Ausgang der Verfahren auf alle Fälle schwieriger geworden.

Zeitgewinn für die Rettung des Regenwalds

Was halten Sie von der Erfolgsmeldung von Baki, dass die als erstes Etappenziel von der ecuadorianischen Regierung geforderten 100 Millionen Dollar eingegangen sind, obwohl der Treuhandfond nur 2,5 Millionen enthält?

Es wurden zum einen die Beiträge nicht konkretisiert und zum anderen solche genannt, die gar im Widerspruch zur Yasuní-Initiative stehen. Das ist beispielsweise bei den Mitteln der deutschen Regierung der Fall, die für das REDD-Programm gedacht sind. Es gilt zu bedenken, dass die Yasuní-Initiative als Kritik an und Kontrapunkt zu REDD entstanden ist, dass sie sich allein auf das Öl bezieht und nicht auf die Strategien von REDD, die innerhalb und außerhalb des Landes in Frage gestellt werden.

Wie beurteilen Sie die Haltung der deutschen Regierung, die sich letztlich nicht an die Zusagen von 2008, das Projekt zu unterstützen, hält?

Die Position der Mehrheit im Parlament und in der Gesellschaft war, die Initiative zu unterstützen, weil sie für innovativ gehalten wurde – mit wichtigen, positiven Effekten für die Menschenrechte der indigenen Völker, die Biodiversität und das Weltklima. Leider hat der zuständige Minister (des BMZ Dirk Niebel, Anm. der Red.) sich dieser Position nicht angenommen und die Initiative disqualifiziert. Die konservativsten deutschen Kreise ziehen es vor, in Programme wie REDD zu „investieren“ statt Verantwortung gegenüber der globalen ökologischen Krise zu übernehmen. Die deutsche Gesellschaft und die politischen Parteien sollten analysieren, wie sie da vorgehen wollen.

Warum fiel bisher die Unterstützung der Weltgemeinschaft, insbesondere des reichen Nordens, für das Projekt so gering aus?

Allgemein gab es schon eine große Hilfe für die Initiative, nur haben sich die erhofften Beiträge aus einer Reihe von Gründen nicht konkretisiert: Fehlen von Klarheit und Garantien bezüglich des Vorgehens, Fehlen von Glaubwürdigkeit in die Ernsthaftigkeit des ecuadorianischen Vorschlags, Druck in den Länder durch die Sektoren, die ein Interesse am weiteren Bestehen des extraktivistischen Modells haben. Die Strategie, um Mittel aufzutreiben, hat nicht gewirkt, wohl aber die Verbreitung der Initiative. Millionen von Menschen wissen nun, dass Yasuní existiert, dass es eins der letzten Paradiese dieser Erde ist, dass dort indigene Völker leben und vor allem, dass all dies durch die Erdölförderung bedroht wird.

Ist die Verlängerung des Moratoriums ein Mittel, die Initiative am Leben zu erhalten oder nur Wahlkampfstrategie?

Die große Unterstützung der Bürger in Ecuador für die Initiative ist ohne Zweifel ein sensibles Thema für den Wahlkampf. Das Öl zu fördern, wie es der Präsident angekündigt hat, hätte einen hohen politischen Preis.

Alternativen waren bisher, dass Öl im Boden zu lassen, also Plan A, oder die drei Quellen auszubeuten, also Plan B, wenn die entsprechende finanzielle Unterstützung der Weltgemeinschaft nicht zustande kommt. Nun brachte Baki in einem Interview mit der spanischen Zeitung El Pais den sogenannten Plan C ins Spiel. Um welche neue Option handelt es sich dabei?

Darüber gibt es keine Klarheit. Sie hat davon gesprochen, nur eine oder zwei Quellen auszubeuten und dafür die Grenzen des Naturparks zu ändern. Auf jeden Fall ein Vorschlag, um die Initiative zu begraben, denn die sieht ja vor, dieses Öl nicht zu fördern.

Welche Chance hätte ein Referendum, um so die Initiative umzusetzen?

Genau an diesem Szenario arbeiten die sozialen Bewegungen. Eine Volksbefragung könnte durch den Präsidenten, die Nationalversammlung oder von der Gesellschaft, das heißt über 600.000 Unterschriften einberufen werden.

Kasten: Esperanza Martínez

ist Mitbegründerin der größten Umweltorganisation Ecuadors Acción Ecológica, Mitglied von Oil Watch Ecuador und Ex-Beraterin des nationalen Energie- und Bergbauministeriums

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