Arriesgada fragilidad

En el arte de tapa de Nómade se ve el rostro de la cantante, compositora e improvisadora Lucía Boffo multiplicado por nueve. Nueve facetas de la misma persona, nueve formas de acercarse a ese mismo ser. Como las nueve canciones que componen el álbum.
Nómade es el disco más arriesgado de la cantante, no por la complejidad compositiva, sino por el grado de exposición personal. Cada una de las canciones es un micro-universo en el que desnuda sentimientos y emociones como nunca lo había hecho. Es una mirada hacia adentro que invita a conocerla en su intimidad, a explorar los paisajes en los que creció, y la música que la atravesó; música que hoy define su estilo, tan personal como particular. Si “Quiero que me encuentres parece un homenaje encubierto a Spinetta, y en “Volvernos canción se escucha, difuminada y a lo lejos, una posible melodía drexliana, en “Mensajes transatlánticos”, “Lenga” o “Cerremos el telón”, la impronta del folclore argentino es determinante. También en “Desaparecer”, en donde incluso la música urbana tiene su lugar. El lenguaje jazzístico y por sobre todo la improvisación son, desde luego, elemento omnipresente. Y el coqueteo con el impresionismo francés casi que también. Especialmente en “Los ojos”, la canción que quizá más remita a trabajos anteriores, junto al pianista Andrés Marino.
En una época de escucha fragmentada, Nómade insiste en la unidad. El disco abre con una especie de manifiesto en clave de lo que vendrá: composiciones enmarcadas en el tan inmenso como escurridizo término canción; y termina con “Cerremos el telón”, a la vez síntesis de un vínculo que se desmorona y final del álbum. En el medio pasa de todo.
La voz, el piano y la guitarra son la columna vertebral de las canciones que integran el disco. Y a éstos se le suman arreglos de cuerdas y vientos, (contra)bajo, sintetizadores y efectos. Sin embargo, como era de esperarse, la voz en la música de Lucía Boffo sigue siendo el elemento estelar. Y no sólo por la calidad interpretativa y el evidente dominio técnico, sino porque la cantante deja muy en claro que ésta, una vez despojada de las palabras, es un instrumento como cualquier otro. Ella improvisa con la misma naturalidad con la que habla. O respira.
El nomadismo es movimiento, transformación, constante habitar nuevos espacios. En ese ir y venir hay abandono, pero también acumulación infinita de recuerdos, experiencias y encuentros. Nómade fue creado y producido entre Ushuaia, Buenos Aires y Berlín, y eso se escucha en los paisajes evocados, en las historias y en su gente. Y qué gente. Quique Sinesi, Violeta García, Ingrid Feniger, Daniel Schnock e Juan Ignacio Sueyro son algunes de les músiques que intervienen en esos micro-mundos. Nada mal para un debut. Porque Nómade es el primer disco solista de Lucía. Ahora, si los rumores son ciertos y tenemos suerte, es el primero de varios.

RISKANTE ZERBRECHLICHKEIT

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Das Albumcover von Nómade zeigt das Gesicht der Sängerin, Komponistin und Improvisationskünstlerin Lucía Boffo – und das neun Mal. Neun Facetten derselben Person, neun Arten, sich diesem Wesen zu nähern. So wie die neun Lieder, aus denen das Album besteht.

Nómade ist das gewagteste Album der Sängerin, nicht wegen der kompositorischen Komplexität, sondern wegen des Maßes an persönlicher Entblößung. Jedes Lied stellt ein Mikro-Universum dar, in dem sie Emotionen so offenbart, wie sie es nie zuvor getan hatte. Es ist ein Blick nach innen, der uns einlädt, sie in ihrer Intimität kennen zu lernen, die Landschaften zu erkunden, in denen sie aufgewachsen ist, sowie die Musik, die sie beeinflusst hat – Musik, die heute ihren Stil definiert, der ebenso persönlich wie eigen ist.

Während „Quiero que me encuentres”wie eine heimliche Hommage an Luis Alberto Spinetta wirkt, hören wir im Hintergrund von „Volvernos canción” aus der Ferne eine mögliche, verblasste drexlianische Melodie [Ausdruck bezieht sich auf den uruguayischen Sänger Jorge Drexler, Anm. d. Red.]. In Liedern wie „Mensajes transatlánticos”, „Lenga” oder „Cerremos el telón”ist dagegen die Prägung durch die argentinische Folklore entscheidend. Auch in „Desaparecer”, wo selbst Urban Music einen Platz findet. Im gesamten Album sind die Jazzsprache und vor allem die Improvisation allgegenwärtig. Und der Flirt mit dem französischen Impressionismus fast genauso. Besonders in „Los ojos”, eines der Lieder, das vielleicht am meisten auf frühere Werke (vor allem mit dem Pianisten Andrés Marino) verweist.

In einer Zeit des fragmentierten Zuhörens besteht Nómade auf der Einheit. Das Album beginnt mit einer Art Manifest als Vorgeschmack dessen, was noch kommt: Kompositionen, die in dem unermesslichen und schwer fassbaren Begriff „Canción (Lied) eingebettet sind. Und es endet mit „Cerremos el telón”, was doppeldeutig sowohl für eine zerfallende Beziehung wie auch für das Ende des Albums steht. Dazwischen passiert so ziemlich alles.

Stimme, Klavier und Gitarre bilden das Rückgrat der Lieder, die dieses Album enthält. Hinzu kommen Streicher- und Bläser-Arrangements, (Kontra-)Bass, Synthesizer und Effekte. Wie nicht anders zu erwarten, ist die Stimme in Lucía Boffos Musik jedoch nach wie vor das herausragende Element. Und das nicht nur wegen der Qualität ihrer Interpretation und der offensichtlichen technischen Finesse, sondern auch, weil die Sängerin deutlich macht, dass die Stimme, sobald sie von Worten befreit ist, ein Instrument wie jedes andere ist. Sie improvisiert so natürlich wie sie spricht. Oder wie sie atmet.

Das Nomadentum ist Bewegung, Verwandlung und die ständige Besiedlung neuer Räume. In diesem Kommen und Gehen liegt ein Verlassen, aber auch eine unendliche Ansammlung von Erinnerungen, Erfahrungen und Begegnungen. Nómade ist zwischen Ushuaia, Buenos Aires und Berlin entstanden, was sich in den Landschaften, Geschichten und Mitwirkenden dieses Albums niederschlägt. Und was für Mitwirkende. Quique Sinesi, Violeta García, Ingrid Feniger, Daniel Schnock und Juan Ignacio Sueyro sind einige der Musiker*innen, die sich in diesen Mikrowelten einmischen. Gar nicht schlecht für ein Debüt. Denn Nómade ist Lucías erstes Soloalbum. Und wenn die Gerüchte wahr sind und wir Glück haben, ist es das erste von vielen.

VERGEBEN, VERSCHWEIGEN, VERGESSEN?

Vor über 60 Jahren, im Jahr 1961, gründete der deutsche Laienprediger Paul Schäfer mit etwa 300 Anhänger*innen im Süden Chiles die sektenartige Gemeinschaft der Colonia Dignidad. Diese auslandsdeutsche Siedlung, die drei Jahrzehnte lang einen Status der Gemeinnützigkeit innehatte, war repressiv nach innen und kriminell nach außen. Der Alltag der Bewohner*innen war von unentlohnter Zwangsarbeit, sexualisierter Gewalt, Trennung von Frauen, Männern und Kindern sowie von Freiheitsentzug, Prügel und Erniedrigungen jedweder Art geprägt. Während der Diktatur (1973 bis 1990) richtete der Geheimdienst DINA ein Gefangenenlager in der deutschen Siedlung ein. Hunderte Oppositionelle wurden auf dem Gelände gefoltert, Dutzende ermordet oder zu Verschwundenen gemacht. Ihr Schicksal ist bis heute nicht aufgeklärt. Ihre Leichen wurden verscharrt, viele später wieder ausgegraben, verbrannt, ihre Asche im Fluss Perquilauquén verstreut.


Die Historikerin und Kulturwissenschaftlerin Meike Dreckmann-Nielen präsentiert nun ihre Forschung zu Dynamiken im (B)Innenleben der Gruppe von Personen, die teils bis heute in der deutschen Siedlung leben, die sich inzwischen Villa Baviera (Bayerisches Dorf) nennt und von Tourismus und Landwirtschaft lebt. Im Jahr 2019 hielt sie sich mehrere Wochen dort auf und interviewte fast 20 Bewohner*innen. Außerhalb der Siedlung führte sie einzelne Gespräche mit Folterüberlebenden, Angehörigen von Verschwundenen oder Menschenrechtsgruppen, einer Psychologin und einem Psychiater. Auf Basis dieser Arbeit konnte Dreckmann-Nielen prägende Narrative und „innergemeinschaftliche Vereinbarungen“ unter den heutigen Bewohner*innen identifizieren. Im besonders lesenswerten und auch für Nicht-Wissenschaftler*innen gut verständlichen fünften Kapitel zu erinnerungskulturellen Dynamiken beleuchtet sie psychologische Aspekte und religiöse Einflüsse, die in dieser zusammenhängenden Form bisher nicht beschrieben wurden. Sehr treffend entwickelt die Autorin eine „Denkfigur“, die einen sich selbst reproduzierenden Kreislauf interner Dynamiken skizziert. Diese basieren auf der Erinnerungskultur der ehemaligen Siedlungsgemeinschaft, also dem bewussten Erinnern an historische Ereignisse, Persönlichkeiten oder Prozesse.

Religiöse „Vergebensmaxime“

Besonders hebt die Autorin ein Phänomen hervor, das sie als „Vergebensmaxime“ bezeichnet. Es stützt sich auf eine wörtliche Bibelinterpretation und ist in dem Umfeld der heutigen Siedler*innen, die sich als religiös geprägte Gemeinschaft verstehen, wirkmächtig. Zentral ist hier ein Zitat aus dem christlichen Gebet des Vaterunser: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“. In der ehemaligen Colonia Dignidad gelte eine „interne Vereinbarung, welche das Konzept der Vergebung von ‚Sünde‘ und Schuld an die erste Stelle für das gemeinschaftliche Zusammenleben stellt“, erklärt Dreckmann-Nielen. Daraus und aus der Vorstellung, in einer „Endzeit“ zu leben, werde abgeleitet, dass Gott nur denjenigen vergeben werde, nur diejenigen erlösen und vom „Zorngericht Gottes“ und der Hölle verschonen werde, die zuvor selbst anderen vergeben haben. Teils werde der Prozess der Vergebung „so verstanden, dass er nur durch das anschließende Vergessen und damit verbunden das Schweigen darüber auch als abgeschlossen gilt“.

Alltägliche Konflikte und auch schwere Verbrechen könnten demnach „nur innerhalb der Glaubensgemeinde“ geklärt werden, „weltliche Gerichte“ würden nicht akzeptiert. Eine „Spirale des Schweigens“ sei die Folge. Dass ehemalige Bewohner*innen kaum bereit sind, über die Strukturen der Siedlung und die dort begangenen Verbrechen zu sprechen, wird von Angehörigen der Verschwundenen als Affront empfunden. Die Historikerin zeichnet nach, dass das nicht nur die Straflosigkeit von Verbrechen der Diktatur fördert, sondern auch die historische Aufarbeitung und auch den Dialog zwischen Siedler*innen und Menschenrechtsgruppen blockiert.

Die Colonia Dignidad als „sich selbst verstärkender Resonanzraum“


Verfestigte historische Feindbilder, Konkurrenzgefühle zwischen verschiedenen Opfergruppen, Abgrenzung von „den anderen“ und Rückzug in die jeweils eigene Gruppe verstärken nach Dreckmann-Nielens Analyse das in der ehemaligen Siedlungsgemeinschaft bestehende Gefüge einschließlich der Vergebungsmaxime. Die Gruppe werde, so die Autorin, „zu einem sich stetig selbst verstärkenden Resonanzraum“. Allerdings sei dieser nicht statisch. Juristische, politische, monetäre Einflüsse von außen sowie psychosoziale Interventionen wirkten nach Dreckmann-Nielens Einschätzung auf die Aushandlung von Konflikten und damit auf den gesamten Kreislauf ein.

An aufklärerischen politischen und juristischen Einflüssen mangelt es allerdings. So hat die chilenische Justiz zwar einzelne Prozesse geführt und Urteile gefällt. Die deutsche Justiz hat jedoch bis heute keine einzige Anklage wegen Verbrechen der Colonia Dignidad erhoben. Die politische Aufarbeitung geht in Chile indes noch langsamer voran als in Deutschland. Dabei sind Verbindungen von Führungspersonen der Colonia Dignidad zur chilenischen Diktatur offensichtlich und sogar in einem von Siedler*innen selbst angelegten Geheimarchiv abzulesen.

Geheimarchiv mit 45.000 Karteikarten


45.000 Karteikarten umfasst dieses Archiv, das vor allem Gerd Seewald, 2014 verstorbener Angehöriger der Führungsriege der Colonia Dignidad, ab 1974 bis 1990 akribisch führte. Viele mit Tarnkürzeln bezeichnete Informantinnen lieferten teils sehr intime Details über Zivilist*innen und Militärs. Die chilenische Polizei fand und beschlagnahmte das Archiv im Jahr 2005 in der ehemaligen Colonia Dignidad.

Seit 2014 haben Dieter Maier, der mehrere Bücher über die deutsche Sektensiedlung veröffentlicht hat, und der chilenische Journalist Luis Narváez die inzwischen digitalisierten Karteikarten in eine Datenbank eingepflegt. Sie haben die einzelnen Karteikarten verschlagwortet, mit den darauf erwähnten Quellen, Personen, Parteien und anderen Metadaten angereichert und online zur Verfügung gestellt.

„Repressionsallianz“


In Kartei des Terrors verweisen Maier und Narváez immer wieder auf diese Datenbank. Gemeinsam mit dem Buch stellt sie ein besonderes Nachschlagewerk zur Recherche konkreter Fälle zur Verfügung. „Ein Ziel der Recherche für dieses Buch war, zu rekonstruieren, wie und wo die Gefangenen verschwanden. Eine direkte Antwort gibt das Karteikartenarchiv nicht“, schreiben die Autoren. Aber sie präsentieren exemplarisch Karteikarten, die Aufschluss über Verhöre einzelner Gefangener, über Interna der Diktatur und der Struktur ihrer Repressionsorgane geben. Eine zentrale Rolle kommt dabei der Zusammenarbeit zwischen der Colonia Dignidad, der Geheimpolizei DINA, dem Geheimdienst des Heeres SIM sowie Polizisten der Carabineros und Militärs aus Linares und Concepción zu. Die Autoren bezeichnen diese Kooperation, die für Entführungen, Folter, Mord und Verschwindenlassen von Oppositionellen im südlichen Chile verantwortlich war, als „Repressionsallianz“.


Mitunter ist die Fülle von Personen und politischen Gruppierungen sowie Abkürzungen und nicht immer klar zuzuordnenden Tarnkürzeln schwer nachzuvollziehen. Erklärungen zu Kürzeln und Decknamen finden sich über das Buch verstreut. Ein zusammenhängendes Verzeichnis sowie eine klarere Struktur der verschiedenen Kapitel wären beim Lesen sicherlich hilfreich. Aber es gelingt den Autoren sehr gut, die Geschichten einzelner Personen zu rekonstruieren. Ein Beispiel ist der 1933 in Mazedonien geborene und 2020 in Chile verstorbene Mile Mavrovski. Fernab der realen Situation wurde er aufgrund anti-slawischer Ressentiments als besonders gefährlicher „Russe“ mit Umsturzplänen stilisiert und 1974 elf Monate lang in der Colonia Dignidad festgehalten und gefoltert. In dieser Zeit galt er als „verschwunden“. Konkrete Geschichten wie diese zeichnen ein eindrückliches Bild verschiedener Dimensionen der Allianz zwischen der chilenischen Diktatur und der Colonia Dignidad.

So tragen beide Bücher aus ihren sehr unterschiedlichen Blickwinkeln wichtige Erkenntnisse zur Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad bei und sind als Appell an Regierungen und Justiz in Deutschland und Chile zu lesen, endlich konsequent und engagiert zu handeln. Jüngst hat die chilenische Regierung unter Gabriel Boric einen Aktionsplan zur Suche nach den Verschwundenen angekündigt, deren Angehörige seit fast 50 Jahren nach ihren Verwandten suchen. Auch Juan Rojas Vásquez, dessen Vater und älterer Bruder bis heute verschwunden sind, nachdem sie 1973 mutmaßlich in die Colonia Dignidad verschleppt wurden, fordert: „Wir haben ein Recht darauf zu wissen, wo und wann mein Vater und mein Bruder erschossen wurden und wo ihre Leichen sind.“ Es ist höchste Zeit.

ZWISCHEN FIKTION UND WIRKLICHKEIT

„Wer auch immer an einem schlechten Tag die Hölle erfunden hat, muss im Kopf eine genaue Vorstellung von Poso Wells gehabt haben“. So wird der Schauplatz des gleichnamigen Romans der ecuadorianischen Autorin Gabriela Alemán in dessen erstem Kapitel beschrieben. Poso Wells ist ein fiktiver Stadtteil der ecuadorianischen Hafenstadt Guayaquil.

Eine entsprechend düstere Stimmung zieht sich durch den Roman. Gleich zu Beginn kommt der verheißungsvollste Kandidat der anstehenden Präsidentschaftswahlen auf groteske Art und Weise ums Leben. Während einer Podiumsveranstaltung kann der Politiker seinen Harndrang nicht zurückhalten und da sein Mikrofonkabel mit einem Starkstrommast verbunden ist, kommt es zu einem Kurzschluss, und er und einige seiner Parteikollegen erliegen einem Stromschlag. Der einzige potenzielle Nachfolger verschwindet spurlos.

Der Journalist Gonzalo Varas nimmt sich des Falles an, doch schnell geht es um weit mehr als um den verschwundenen Kandidaten. Varas unterhält sich mit den Menschen im Stadtteil und findet heraus, dass seit Jahren immer wieder Frauen verschwinden, ohne dass irgendjemand Genaueres darüber zu wissen scheint. Schnell stellt er Verbindungen zum Verschwinden des Präsidentschaftskandidaten her und beschließt, eine Weile in Poso Wells zu bleiben. Doch die Geschichte wird nicht nur aus Varas’ Sicht erzählt.

Korruption, geschlechtsspezifische Gewalt, illegaler Raubbau an der Natur, all diese Thematiken verstricken sich in Gabriela Alemáns Roman ineinander. Es passiert viel in kurzer Zeit. Und so absurd der Roman doch an einigen Stellen anmuten lässt, so realistisch wirkt er auch an anderen. Während einige Charaktere – so wie der besagte Präsidentschaftskandidat oder der kanadische Investor Holmes, der auf der Jagd nach neuen Bergbauberechtigungen nach Ecuador gekommen ist – überspitzt, satirisch und unsympathisch dargestellt werden, so nahbar wiederum wirken zum Beispiel Varas und sein Freund Benito. Und so hoffnungslos und düster Poso Wells auch anmutet, so finden nicht nur die Figuren des Buches auch Schönheit darin.

Realität und Fantasie vermischen sich im Laufe des Romans besonders durch die eingebundenen Elemente aus der Erzählung Das Land der Blinden des Science-Fiction Autors H.G. Wells, dessen Name der Autorin wiederum zur Schöpfung des Romantitels diente.

Gabriela Alemán war 2007 Teil von Bogotá 39, einer Gruppe von 39 bedeutenden lateinamerikanischen Autor*innen unter 39 Jahren. Der Roman, der in Ecuador bereits 2006 erschien, ist das erste Werk der Autorin, das ins Deutsche übersetzt wurde. Der Maro-Verlag wurde für die Übersetzung mit der „Verlagsprämie 2021 des Freistaats Bayern“ ausgezeichnet. Wie die Autorin selbst im Nachwort zur deutschen Ausgabe schildert, ist der Roman inspiriert von politischen Entwicklungen rund um die Präsidentschaftswahlen 2006.

15 Jahre sind seit Erscheinen der Originalversion vergangen, dennoch lassen sich nach wie vor erschreckend viele Parallelen zum lateinamerikanischen Gegenwartsgeschehen ziehen.

DIE WILDEN SIEBZIGERJAHRE

Zonästhetisch, eidoi, Inkuben, puella bondinis? Solcherlei Wörter sind keine extravaganten Seltenheiten in der mit Fremdworten und erotischen Anspielungen überladenen, technisch-akademischen Sprache Pola Oloixaracs in Wilde Theorien. Matthias Strobel ist es nun erstaunlich gut gelungen, die „mysteriöse Syntax“, wie es im Buch heißt, für die deutsche Ausgabe zu übersetzen.

Dieser latente Größenwahnsinn spiegelt sich auch in den Charakteren des Buches. Zuerst wäre da die sehr unterhaltsame Geschichte des holländischen Anthropologen Johan van Vliet, der 1917 bei einer Forschungsreise im heutigen Benin, am Rande des Wahnsinns, die „Egomanische Theorie“ entwickelt: Die Erzählung der Menschheitsgeschichte dürfe nicht mit den jagenden und sammelnden Gemeinschaften beginnen, denn der Teil, der bis heute all unsere Motivationen und Triebe präge, sei die kaum beachtete Zeit davor. Die Zeit, in der unsere Spezies noch in der ständigen Angst leben musste, Beute für andere Tiere zu werden. Verstreut im Buch erscheinen daher immer wieder kurze Kapitel mit Ritualen aus aller Welt, bei denen Jugendliche in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen werden. Dabei hallt besagte Beute-Vergangenheit deutlich nach: Tierverkleidungen, Jagdspiele, Geisterrituale, Verletzungen, Überleben im Wald …

In der Welt der eigentlichen Hauptcharaktere des Buches scheint dieser Initiationsritus aus „sexuellen Rangeleien“, Partys, Drogen, vornehmlich jedoch aus einem intellektuellen Kräftemessen zu bestehen: Die zwei jungen Nerds Kamtchowsky und Pablo, alias Pabst, bewegen sich Anfang der 2000er Jahre durch die „urbanen Stämme“, wie Kamtchowsky es einmal bezeichnenderweise nennt. Das heißt, die Kunst- und (Sub-)Kulturszene von Buenos Aires. Dass die beiden das waren, „was man politisch inkorrekt nennt“, wie es im Buch heißt, wird schnell offensichtlich: Boshaft lästern und bloggen sie über die Szene und entwickeln einige wilde Theorien zu Sex, Masturbation und sozialen Hierarchien, die manchmal an den Sexualfrust in Houellebecq-Romanen denken lassen. Genial sind Einfälle wie ihr selbst-entwickeltes Spiel Dirty War 1976, das die zeitgeschichtlichen Konflikte Argentiniens, das im selben Jahr in eine Militärdiktatur (1976-1983) überging, in ein Computer-Rollenspiel verwandelt.

Ein weiterer Erzählstrang – oder Initiationsritus – des Romans ist eine bildhübsche und wie alle Charaktere etwas überhebliche Ich-Erzählerin. Sie ist, ebenfalls Anfang der Nullerjahre, Studentin bei einem verstaubten Philosophieprofessor, der van Vliets „Egomanische Theorie“ wieder ausgegraben hat und diese nun groß herausbringen will. Die junge Überfliegerin ist ihrem Professor jedoch schon einen Schritt voraus. Sie sucht den Ex-Guerillero Collazo auf, nun ebenfalls Professor und gefeierter Schriftsteller, um van Vliets Theorie an ihm in die Praxis umzusetzen: Sie provoziert „dunkle Triebe“ bei dem Mann, den sie heimlich ihr „Opfer“ nennt, um ihn dann jedoch genüsslich immer wieder auflaufen und abblitzen zu lassen. Hier beginnt der sicherlich umstrittenste Teil von Oloixaracs Werk. Mit der Figur des Ex-Guerilleros Collazo als einem eingebildeten, ungepflegten und notgeilen Macho, der der Ich-Erzählerin stolz von seiner kämpferischen Vergangenheit berichtet und alte Kampfeslieder anstimmt, wird nicht nur linker Machismo, sondern auch eine Verklärung der 1970er Jahre in Teilen der argentinischen Linken bloßgestellt.

Diese Kritik zieht sich auch durch die Geschichte Kamtchowskys, die selbst aus einem linken Umfeld stammt: Sie liest das Tagebuch ihrer in den Siebzigerjahren gewaltsam verschwundengelassenen Guerillera-Tante, das ihre begeisterte Mutter unbedingt zu einem Verlag bringen möchte. Das Tagebuch, dessen Einträge an Mao Tse-tung – nur liebevoll „Moo“ genannt – adressiert sind, liest sich wie die schlechten Herzschmerzgeschichten eines Teenagers. Dies könnte auch als bewusster Seitenhieb Oloixaracs auf die nach den Militärdiktaturen vor allem in südamerikanischen Ländern populäre testimonio-Literatur gelesen werden. Es offenbaren sich in diesem Tagebuch jedoch nicht nur Jugend und Naivität, sondern auch einige Widersprüchlichkeiten der vermeintlich sexuell-befreiten, für klare Ideale einstehenden Kämpfer*innen der Guerilla-Bewegungen der 1970er Jahre, vor allem beim Stichwort Machismo.

International erntete Oloixarac für Wilde Theorien viel Lob. Doch in Argentinien, wo der Roman schon 2008 erschien, wurde er in Feuilletons kaum positiv besprochen und die Autorin zum Teil sogar als „verkappte Faschistin“ diffamiert. Auch wenn diese Reaktionen etwas überzogen erscheinen, sind einzelne Ausschnitte – allerdings abseits der wilden Siebziger – mindestens ärgerlich. Hierzu gehört die Darstellung Miguels, einem Liebhaber Kamtchowskys mit Trisomie 21, der von ihr ständig abgewertet und als natürlicherweise triebgesteuert beschrieben wird, was bestehende Vorurteile zementiert. Oloixarac scheinen einzelne ihrer vielen Provokationen entglitten zu sein. Trotzdem ist der Roman insgesamt sehr lesenswert, humorvoll und sprachlich originell. Er demaskiert den allgegenwärtigen Machismo und die Tendenz zur Verklärung der Vergangenheit – was nicht nur für eine linke Selbstkritik sicherlich von Bedeutung ist.

IN SCHÖNHEIT GETAUCHTE REVOLUTION


Bild: S. Fischer Verlag

Der Zuspruch für „Un violador en tu camino“ war und ist überwältigend, sowohl in Chile als auch international. Doch die breite Rezeption der Performance brachte auch unerwünschte Nebeneffekte mit sich. Unter anderem um diese geht es in dem zum 8. März in deutscher Übersetzung veröffentlichten feministischen Manifest des Kollektivs: Verbrennt eure Angst. Neben leidigen Selbstläufern wie Drohungen von Rechten und aus Kreisen selbsternannter „Lebensschützer*innen“, die ein striktes Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen fordern, wurden LasTesis von den chilenischen Carabineros, der nationalen Polizei, wegen mutmaßlicher „Erzeugung von Feindseligkeit gegenüber staatlichen Institutionen“ verklagt. Die Klage wurde kürzlich wieder fallengelassen, doch auch von Seiten der „Macholinken“, wie LasTesis sie nennen, wurden die Künstlerinnen massiv diffamiert – bis hin zu Verschwörungstheorien, die CIA würden das Kollektiv finanzieren, um so von sozial relevanten Themen wie Rente und Gesundheitsversorgung in Chile abzulenken.

Die hinter solchen Angriffen stehenden Mechanismen thematisieren LasTesis in ihrem Manifest aus einer kollektiven Position heraus: „Was eine von uns erlebt, erleben wir alle.“ Dieser erste Satz des Prologs deutet bereits an, warum LasTesis Schwesternschaft als die mächtigste Antwort auf die Vereinzelung und Individualisierung durch Kapitalismus und Patriarchat begreifen. Konsequenterweise ist der gesamte Text in der ersten Person Plural verfasst, die proklamierte Schwesternschaft vollzieht sich im Manifest auch performativ.

Der rote Faden ist die Dekonstruktion des Patriarchats

So wird in Verbrennt eure Angst deutlich, dass LasTesis Kollektivität als Motor für eine gerechtere, von diversen Personen gestaltete Gesellschaft verstehen, die Mechanismen intersektionaler Diskriminierung durch künstlerische Aktion bekämpft. Die Übersetzung von Theorie in Kunst – eines ihrer erklärten Ziele –, aber auch die Notwendigkeit eines interdisziplinären Ansatzes, der verschiedene Kunstformen in einer Aktion miteinander vereint, sind dabei Eckpfeiler ihrer Ästhetik und Strategie zugleich, eine breite Öffentlichkeit zu erreichen.

Das Kapitel, das sich dem Transformationspotenzial der Performancekunst widmet, ist das stärkste des Manifests. Denn hier zeigen LasTesis eindrucksvoll, welche Überzeugungen hinter ihrem künstlerischen Schaffen stehen, und wie sie feministische Theorie in die Praxis übersetzen: Indem sie aus der Hegemonie des geschriebenen Wortes ausbrechen und es in Aktion übersetzen. Der Kollektivanspruch, in der Aktion selbst und in ihrer Rezeption, steht dabei immer im Vordergrund.

Die bevorzugte Form der Umsetzung ist die Collage, eine nicht hierarchische Anordnungstechnik, die es den Zuschauer*innen ermöglicht, die einzelnen Elemente des Kunstwerks selbst immer wieder neu zusammenzusetzen. Genau diesem ästhetischen Prinzip folgt auch das Manifest. Die einzelnen Kapitel verweisen dabei implizit aufeinander, wobei einzelne Aspekte mehrfach aufgegriffen werden. Der rote Faden ist die Dekonstruktion des Patriarchats. Das Motto: Alles beseitigen, was uns schadet. Um dieses spinnen sich zahlreiche persönliche Anekdoten, Querverweise und historische und aktuelle Beispiele patriarchaler Gewalt und Gegenwehr in Lateinamerika. So springt der Text von aktuellen Themen wie der Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und der Kernfamilie als Ausdruck männlicher Dominanz hin zu einer cis-heteronormativen Justiz, die Betroffene reviktimisiere, und zu Unschuldsvermutungen zugunsten von Tätern, die andere Wahrheiten „niedermähen“.

Ein persönliches Manifest

Die Struktur des Manifests orientiert sich an unterschiedlichen Performances des Kollektivs, deren Texte den einzelnen Abschnitten voran-*gestellt sind. Einer der Abschnitte ist dem laut LasTesis „fatalen Bündnis“ aus Patriarchat und Kapitalismus gewidmet. Während die bereits erwähnte „Macholinke“ die feministische Bewegung diskreditiere und ihre Anliegen als zweitrangig markiere – ganz nach der Prämisse Klassenkampf zuerst, Feminismus später – zeigen LasTesis auf, wie konstruiert und gefährlich diese Trennung ist. Das fatale Bündnis thematisierte das Kollektiv bereits 2018 in ihrer ersten Performance „Patriarcado y capitalismo – Alianza Criminal“ („Patriarchat und Kapital, dieses Bündnis ist fatal“), die auf Grundlage der Schriften der italienischen Feministin Silvia Federici entstand. Diese argumentiert in ihrer Studie Caliban und die Hexe, dass der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus maßgeblich über die Ausbeutung und Zerstörung widerständiger, femininer Körper gelingen konnte. Denn wenn sich Frauen nicht ihrer vorgesehenen Rolle als Mutter und Hausfrau fügten, wurden sie als Hexen verfolgt und verbrannt. In ihren zahlreichen Referenzen auf die chilenische Geschichte machen LasTesis aber auch deutlich, dass patriarchale Gewalt in allen Gesellschaftssystemen tief verankert ist. So seien auch unter der sozialistischen Regierung Salvador Allendes Lesben, trans, inter und nonbinäre Personen nicht erwünscht gewesen.

Weibliche und dissidente Körper, das betonen LasTesis in ihrem Manifest, sind damals und heute Ort der Ausbeutung und des Widerstands zugleich. Für sie sind es diese vielgestaltigen Körper, die das Patriarchat Tag für Tag herausfordern. Das Patriarchat ist für sie Brutalität und Konkurrenzkampf. Beides Konzepte, die sie gänzlich aus der Gesellschaft entfernen wollen.
Trotz aller theoretischer Unterfütterung ist Verbrennt eure Angst keineswegs ein theoretisches Manifest, sondern ein sehr persönliches. Bisweilen ist es nicht ganz einfach, den damit verbundenen inhaltlichen Sprüngen zu folgen. Doch wer sich auf die fragmentierte Struktur einlässt, erkennt schnell die Zusammenhänge. Die Wut auf das Patriarchat und die kollektiven Reaktionen auf diese Wut sind jederzeit im Fokus.

Antworten darauf, wie eine postpatriarchale Gesellschaft konkret aussehen könnte, hat das Kollektiv noch keine – und das machen sie auch transparent. Aber LasTesis zeigen auch in ihrem Manifest wieder einmal, wie produktiv Wut sein kann. Und so endet der Prolog von Verbrennt eure Angst passenderweise mit einem Aufruf, queerfeministische Kunst ständig und überall zum Einsatz zu bringen: „Subversion, in Schönheit getaucht, ist Revolution.“

 

MISOGYNIE ALS MODERNE KRIEGSFORM

Foto: Traficantes de Sueños

Feminist*innen aus aller Welt griffen 2019 den Tanz „Un violador en tu camino“ des chilenischen Kollektivs Las Tesis auf, der auf den Texten Rita Segatos basiert. Einer ihrer Essays kritisiert die Systematik hinter der aktuellen Misogynie.

Zuerst waren es nur ein paar Dutzend Frauen und Queers in Chile. Dann aber folgten Tausende weltweit, die die Performance „Un violador en tu camino“ (auf Deutsch: Ein Vergewaltiger in deinem Weg) aufführten. Anlass war der Internationale Tag gegen Gewalt gegen Frauen am 27. November 2019, an dem sich Feminist*innen weltweit auf den Straßen versammelten. Die Performance des chilenischen Kollektivs Las Tesis prangert die Mittäterschaft des Staates und seiner Repräsentanten an sexualisierter Gewalt an – und ging damit viral.

Weniger bekannt ist, dass der Text der Performance auf die Schriften der Anthropologin Rita Segato zurückgeht. Selten gelingt es, dass theoretische Arbeiten direkte Ideengeber und Inspirationsquellen für Protestaktionen sind. Umso interessanter scheint die Auseinandersetzung mit Rita Segatos Werk.

Die Entstellung der Körper von ermordeten Frauen, deren Leichen an öffentlichen Plätzen förmlich ausgestellt werden, zeichnen ein Muster entgrenzter Grausamkeit und Gewalt. Woher kommt diese übermäßige Grausamkeit, die in Teilen Lateinamerikas zu beobachten ist? Wer übt sie aus? Und zu welchem Zweck? Diesen Fragen geht Segato in ihrem Essay Las nuevas formas de la guerra y el cuerpo de las mujeres (auf Deutsch: Die neuen Formen des Krieges und der Körper der Frauen) nach, der inzwischen ein Grundlagentext für feministische Theoretiker*innen und Aktivist*innen ist, aber bislang weder ins Englische noch ins Deutsche übersetzt wurde.

Die neuen Kriege, von denen sie schreibt, sind keine Kriege mehr, die sich zwischen Nationalstaaten und auf Schlachtfeldern oder in Schützengräben abspielen. Es sind Kriege zwischen mafiösen Banden, parastaatlichen Milizen und privaten Sicherheitskräften. Durch mangelnde Rechtsstaatlichkeit haben sie nur selten eine Bestrafung zu fürchten. Denn bei aller nötigen Unterscheidung je nach Region und Kontext erlauben es Korruption und Straflosigkeit den jeweiligen Akteuren, die sich in einem Gefüge aus staatlichen Institutionen, Wirtschaft und organisiertem Verbrechen bewegen, jeweilige Interessen, seien sie ökonomisch oder machtpolitisch, ohne juristische Konsequenzen zu verfolgen. Staatliche Institutionen sind somit nicht unfähig, sondern dulden die „neuen Kriege“, um jenes Gefüge zu stabilisieren. Was Segato als die neuen Kriege bezeichnet, folgt somit auch der Logik eines entfesselten Ordnungsregimes, das auf kapitalistischer Verwertung und globaler Ökonomie fußt: „So sind Verbrechen und die Akkumulation von Kapital mit illegalen Mitteln keine Ausnahmeerscheinung, sondern sind strukturell und zugleich strukturierend für Politik und Ökonomie“ (S. 76).

So sind die neuen Kriege durch eine hohe Informalität geprägt, nicht nur hinsichtlich der Akteure, sondern auch hinsichtlich ihrer Ziele. Es sind nicht wie früher klar abgesteckte, nationalstaatliche Territorien, deren Eroberung Ziel des Krieges ist. Dennoch bleibt die Notwendigkeit erhalten, den Gegner zu besiegen. Der Sieg wird nun durch die moralische Zerstörung des Feindes errungen.

Wenn die Pädagogik der Grausamkeit regiert

Auf den Kriegsschauplatz der Frauenmorde übertragen heißt das: Mittels sexualisierter Gewalt zerstörte Identitäten des Feindes definieren einen Sieg über den Gegner.

Sexualisierte Gewalt, so die These Segatos, ist kein Nebenschauplatz des Krieges, sondern sein strategisches Ziel. Hierfür reicht die Ermordung von Frauen nicht aus, denn nur entstellte und öffentlich verübte Feminizide verdeutlichen die Offensive gegen den Feind. Wenn Angreifer und Gesellschaft die gleichen Vorstellungen von Geschlechterverhältnissen haben, sprechen sie die gleiche Sprache und können sich verstehen. Täter, die brutale Gewalt gegen Frauen im öffentlichen Raum anrichten, kommunizieren einer Gruppe von Gleichrangigen ihre Machtposition in einem sozialen Gefüge. Sie stellen zur Schau, zu welcher Form des Beherrschens sie fähig sind. Weibliche Körper werden zum Medium der Machtdemonstration. Den Opfern gilt die Botschaft, dass ihre Körper wertlos und ihre Lebensformen zu zensieren seien. Diese Strategie nennt Segato Pädagogik der Grausamkeit: „Es ist die Vernichtung des Feindes im Körper der Frau, und der weibliche oder feminisierte Körper ist (…) genau das Schlachtfeld, auf dem die Insignien des Sieges festgenagelt sind und das die physische und moralische Verwüstung darstellt“ (S. 81).

Pädagogisch ist die Gewalt im doppelten Sinne: Einerseits, indem sie den Ausübenden des Krieges jegliches Mitgefühl entzieht, um anhand größtmöglicher Desensibilisierung die Täter auf die Ausübung von Grausamkeit zu trimmen. Die Pädagogik der Grausamkeit, die andererseits an Frauenkörpern ausgeübt wird, ist unerlässlich, um gehorsame und wenig widerständige Subjekte zu erziehen.

Für die Strategie feministischer Kämpfe ergibt sich hieraus die Chance und Notwendigkeit, sexualisierte Gewalt auf eine Art zu politisieren, die Rolle, Leben und schließlich Überleben von Frauen in den Mittelpunkt stellt, indem die moralische Botschaft sexualisierter Gewalt entlarvt wird. Las Tesis findet dafür direkte Worte: El patriarcado es un juez // Que nos juzga por nacer // Y nuestro castigo // Es la violencia que no ves (Das Patriarchat ist ein Richter / Der uns für unsere Geburt verurteilt / Und unsere Strafe / Ist die Gewalt, die du nicht siehst).

Gewalt gegen Frauen und Queers ist immer auch eine Reaktion auf deren steigende Autonomie und Selbstbestimmung. Entziehen sich Frauen und Queers einer männlichen Dominanz, führt das bei Männern zu einem Gefühl der Entmachtung. Sie setzt eine Gewaltspirale in Gang, die unter bestimmten Umständen in Hass und Gewalt gegen Frauen umschlägt. Segato gelingt es sehr eindrücklich darzustellen, welche kommunikative Funktion sexualisierte Gewalt hat. Sie vernachlässigt dabei jedoch, auch Frauen in diesem Gefüge als Akteur*innen in den Blick zu nehmen: Ohne die Verantwortung bei Frauen und Queers zu suchen, ist ihre aktive Rolle in Betracht zu ziehen, um zu verstehen, wie etwa die Transformation von Geschlechterverhältnissen einen Einfluss auf Gewaltdynamiken haben.

Entmachtung, die in Hass umschlägt

Weniger gut gelingt es Segato, die unterschiedlichen sozialen Identitäten einzubeziehen, die Frauen und Queers jeweils anderen Formen der Gewalt aussetzen. Aus ihrer Analyse kann deshalb nur unzureichend erklärt werden, weshalb die Opfer der brutalen Feminizide insbesondere junge proletarische Frauen, häufig Migrant*innen sind. Auch die Dynamik von Transfeminiziden vermag ihr Ansatz zumindest in diesem Essay nicht ausreichend zu erklären; in ihrer Analyse bezieht sich Segato fast ausschließlich auf cis Frauen (also Frauen, deren zugeschriebenes Geschlecht bei Geburt mit der sich entwickelnden Geschlechtsidentität zusammenfällt).

In Europa wird ein solcher informeller Krieg nicht in dieser Form geführt. Parastaatliche Strukturen gibt es nur punktuell. Feminizide existieren, aber ihre Systematik ist eine andere: Meist finden sie nicht auf der Straße, sondern im Zuhause statt, Opfer und Täter sind in den häufigsten Fällen zusammen oder verwandt. Aber die Lektüre von Segatos Essay ist auch für den hiesigen Kontext sehr erhellend.

Mit ihren Theorien ist es möglich, diese Gewalttaten nicht als Kollateralschaden des Patriarchats und schon gar nicht als tragische Beziehungstat oder Eifersuchtsdrama abzutun, sondern in ihrer Systematik zu begreifen: Feminizide geschehen hierzulande entweder in Fällen von ökonomischer Abhängigkeit oder in Umbruchsituationen, besonders wenn Frauen versuchen, sich aus der Abhängigkeit zu lösen. Die männlichen Täter sehen sich und ihre Lebensformen in Gefahr, wenn Frauen und Queers sich ihrer individuellen oder strukturellen Unterwerfung widersetzen. Die sexualisierte Gewalt oder der Feminizid sind der Versuch des Täters, seine Macht zurückzugewinnen, seine Überlegenheit zur Schau zu stellen. Segato gelingt es, femizidale Gewalt im Kontext ökonomischer Ausbeutung zu analysieren und so die Funktion von Gewalt gegen Frauen für eine kapitalistisch organisierte Gesellschaft auch über den lateinamerikanischen Kontext hinaus sichtbar zu machen.

SCHEITERNDES GENIE


So schlecht wie er in der Schule ist, muss er einfach, davon sind Rafael und seine Familie überzeugt, ein Genie sein; der unerschütterliche Glaube daran macht dieses Scheitern weniger schmerzhaft. Rafael versagt nicht nur in sämtlichen Unterrichtsfächern, auch sonst will ihm herzlich wenig gelingen. Die Entwurzelung nagt an ihm, selbst nach Jahren im Exil hat er immer noch keine Freund*innen gefunden. Nach Augusto Pinochets Putsch 1973 flohen die Gumucios nach Paris, wo Rafael seinen Alltag im Jardin du Luxembourg zwischen den Statuen von Baudelaire, Beethoven und Verlaine – wie es sich für ein Genie gehört –, seiner frisch erwachten Liebe zu Gott und, im Schlepptau seiner Eltern, dem Europakomitee der Partei Izquierda Cristiana („Christliche Linke (IC)“) verbringt. Seine Genialität findet er dabei allerdings nicht.

Als die Familie in den achtziger Jahren nach Santiago de Chile zurückkehrt (nicht ohne Probleme; Rafael und sein Bruder landen kurzerhand auf einer speziellen Liste unerwünschter Exilant*innen, „zwei gefährliche Terroristen im Untergrund“, wie er ironisch beschreibt), wird der jugendliche Rafael erstmals mit der Realität in seinem Heimatland konfrontiert, die sich unter anderem durch mehrere Tote im Bekanntenkreis äußert. „Es war meine erste Beerdigung und ich fühlte, dass ich in Chile angekommen war“, kommentiert er einen dieser Tode nüchtern. Doch das Ankommen ist so eine Sache, nicht nur wird Rafael wegen seines Akzents ausgelacht, die vergebliche Suche nach seiner genialen Ader und die vielen Ängste, die ihn plagen, verschwinden auch in Chile nicht, sie bekommen durch den drohenden Militärdienst vielmehr neue Facetten. Im Alltag beschäftigt Rafael auch sein erwachtes Interesse an Frauen, das auf herzlich wenig Gegenliebe stößt – obwohl er sich bei Treffen von Linksaktivist*innen um Anerkennung und Aufmerksamkeit bemüht.

In vielen kurzen, episodenhaften Kapiteln erinnert sich Rafael Gumucio an seine Kindheit und Jugend zurück. 1999 unter dem Titel Memorias prematuras erschienen, wurde der autofiktive Roman jetzt als Transitkind erstmals auf Deutsch übersetzt – in Schweizer Orthografie allerdings, die das „ß“ nicht kennt. Gumucios Familie ist in Chile nicht unbekannt; sein Onkel etwa war Gründer von Izquierda Cristiana, die zur Regierungskoalition Allendes gehörte. Zum Verständnis von Transitkind hilft es, sich gut mit der chilenischen Geschichte auszukennen.

Rafael Gumucio bleibt sehr nahe bei seinem Alter Ego Rafael und erzählt dadurch eine subjektive, persönliche Geschichte, bei der politische und gesellschaftliche Ereignisse nur angedeutet werden. Transitkind ist somit weniger der Roman über ein Land im Umbruch, auch wenn die Militärdiktatur als Fundament fungiert. Vielmehr ist es die Geschichte eines jungen Menschen, der Scheitern als Antrieb, Trauma als Motivation hat und auch der Gesellschaft, in die er einst geboren wurde, immer ein wenig entrückt bleibt. Mit leiser Ironie geschildert ist Transitkind somit eine erstaunlich universelle Geschichte von einem Menschen, der versucht, über das Schreiben sein eigenes Leben zu begreifen – und der erkennen muss, dass er zwar kein Genie, das aber vollkommen okay ist.

VERDAMMT REAL

„Dies ist ein Werk der Fiktion”, ist fett gedruckt im Impressum zu lesen. Tatsächlich ist im Fall von Die Korrupten damit gemeint, dass die Geschichte von Jorge Zepeda Patterson „weit hinter dem zurückbleibt, was in Wirklichkeit in den obersten Kreisen der Macht geschieht”. So beschreibt es der mexikanische Autor in seinen Anmerkungen am Ende des aufrüttelnden Thrillers.

Jorge Zepeda Patterson arbeitet seit mehr als 25 Jahren als Journalist in Mexiko. Im Roman wird die Figur von Tomás zu seinem beruflichen Alter Ego, dem die zugespielte Information über den Fundort der Leiche einer bekannten mexikanischen Schauspielerin zum Verhängnis wird. Er übernimmt die brisante Nachricht über die Nähe des Fundorts zum Wohnhaus des amtierenden Innenministers in eine seiner Kolumnen. Weil ihn das sogar in Lebensgefahr bringt, kommen ihm seine drei besten Freund*innen zu Hilfe: die Vorsitzende der linksgerichteten Partei PRD, ein ehemaliger Leiter des mexikanischen Geheimdienstes CISEN sowie ein Hochschullehrer.

Gemeinsam finden sie Wege, um sich gegen die Gefahr für Tomás zu wehren: Sie nehmen die Ermittlungen in dem Mordfall selbst in die Hand und holen sogar zum Schlag gegen die autoritäre Regierung der ins Präsidentenamt zurückgekehrten ehemaligen Staatspartei PRI aus.
Im Laufe der Ermittlungen der alten Bekannten werden den Leser*innen sowohl die Machenschaften als auch die politische Mentalität der Einflussreichen und des organisierten Verbrechens vor Augen geführt. Patterson nimmt dabei auf tatsächliche Ereignisse der jüngeren Geschichte Mexikos Bezug, die zeigen, in welch hohem Maße Korruption und Gewalt normal geworden sind.

Was in einem Krimi sonst als Stilmittel gebraucht wird, um die Protagonist*innen ohne die Polizei auskommen zu lassen, ist in Mexiko Normalität: 98 Prozent aller Verbrechen im Land bleiben straflos, weil die Polizei oder Staatsanwaltschaft nicht ermittelt. Zöge man einmal die ungewöhnlichen Fähigkeiten der drei Freunde von Tomás ab, wäre er in einer ähnlichen Situation unter realen Bedingungen machtlos.

Überraschen dürften die detaillierten Schilderungen der ausufernden Korruption – vor allem in Mexiko – niemanden. Doch Patterson bietet darüber hinaus eine psychologische Perspektive an, die den moralischen Perversionen der politischen Klasse und der extremen Gewalt des organisierten Verbrechens einen erkenntnisreichen Kontext gibt. Nicht zuletzt werden auch die Herausforderungen eines zivilen Lebens angesichts der Normalität von Mord und dem gleichbedeutenden Verschwindenlassen thematisiert.

Die szenenhaften Kapitel laufen wie ein Film vor dem inneren Auge ab – da ist es nicht verwunderlich, dass Netflix gerade eine Serie auf der Grundlage von Die Korrupten produziert. Das Ergebnis kann sich hoffentlich genauso sehen lassen wie die ebenfalls in Mexiko spielende Serie Tijuana, die sich mit den Herausforderungen des Journalismus angesichts der systematischen Gewalt auseinandersetzt.

Zweifellos tragen Pattersons scharfsinnige Beobachtungen dazu bei, den Wahnsinn der Gewalt und Korruption zu entlarven, doch das ist eine Geschichte mit Fortsetzung: Die Korrupten ist der erste Teil einer Romantrilogie, auch der zweite Teil Milena ist inzwischen auf Deutsch erschienen. Die Übersetzung des letzten Bands Los Usurpadores (Die Thronräuber) kann also mit Spannung erwartet werden.

DAS LEBEN IM FLUSS

Bild: Klak Verlag

Bild: Klak Verlag

Manche Bücher ziehen uns durch Erzählungen von einer unbekannten Welt in den Bann. Nie derselbe Horizont, das Romandebüt von Bettina Bremme, zieht dagegen seinen Reiz auch daraus, dass trotz einer Vielzahl an Perspektiven so viel Vertrautes in den hier erzählten neun Monaten aus dem Leben zweier Menschen steckt.

Die deutsche Fotoreporterin Andrea, lateinamerikabegeisterte Tochter aus wohlbehütetem Haus, ist der Enge der elterlichen Provinz bei erster Gelegenheit entflohen und irgendwann in Berlins linksalternativer und polyglotter Szene gelandet, in Kreisen, in denen „man sich meistens entweder mit dem Fahrrad oder mit dem Flugzeug fortbewegt“ und sich immer irgend jemand im Bekanntenkreis gerade nach Übersee aufmacht – für die neue Beziehung, für ein Projekt, zum Reisen.

Der argentinische Psychologe Daniel, im Buenos Aires der Militärdiktatur mit schwierigen familiären, finanziellen und politischen Verhältnissen aufgewachsen, ist für eine verflossene Beziehung nach Berlin gekommen, was für ihn bedeutete, quasi bei Null anzufangen.

In Nie derselbe Horizont erzählt Bremme die Liebesgeschichte der beiden entlang der Frage: Wo wollen wir zusammen leben? In Berlin, wo zwar die ganze Welt zuhause ist, Daniel aber das Winterwetter und mitunter sprachliche Hindernisse zu schaffen machen? Oder im krisengeschüttelten Buenos Aires (die Handlung spielt während der Finanzkrise von 2001)? Das Buch beginnt mit der Idee, ein Kompromiss sei vielleicht das Beste: Barcelona, die mediterrane Metropole am Meer.

Die Handlung wechselt – oft in Rückblenden – zwischen allen drei Städten hin und her, die Suche nach dem richtigen Ort steht dabei symbolhaft auch für weitere Aspekte der Suche nach einer gemeinsamen Zukunft in einer in mehrfacher Hinsicht interkulturellen Beziehung: Frau und Mann, Deutschland und Argentinien, gehobene und krisengeschüttelte Mittelschicht. Hier treffen verschiedene Sozialisationen, Kommunikationsstile und Temperamente aufeinander. Was einerseits einen großen Reiz ausmacht, kann auch herausfordernd sein bei Fragen, die es in jeder Beziehung zu klären gibt wie: Wie stark kommt man den Bedürfnissen des anderen entgegen? Zu welchen Abstrichen ist man bereit, wenn das Geld knapp wird? Wie bedingungslos hilft man, wenn die (Schwieger-)mutter in Not ist?

Es fällt einem kaum auf, dass sich in manchen Aspekten der Figuren auch das eine oder andere Klischee spiegelt. Vielmehr vermittelt sich mit großer Lebendigkeit und Leichtigkeit ein Lebensgefühl in den drei Metropolen. Das hat vielleicht auch mit autobiografischen Aspekten des Buches zu tun: Bettina Bremme zog selbst Anfang des Jahrtausends – und in ähnlichem Alter wie im Buch Andrea – von Berlin nach Barcelona. Ob optische und atmosphärische Details der Schauplätze, ob Gedanken, Seelennöte oder Lebensfreuden Andreas und Daniels sowie einer ganzen Reihe ihrer für verschiedenste Lebens- und Beziehungsentwürfe stehenden Bezugspersonen – die Autorin, Freund*innen lateinamerikanischer Filme durch ihre Sachbücher zum Thema bekannt, erweist sich stets als unterhaltsame und gleichzeitig feinfühlige, genaue Beobachterin und Erzählerin.

DAMALS WIRD HEUTE

Die Rache der Mercedes Lima ist ein Roman, der in die Abgründe von Guatemalas Vergangenheit und Gegenwart blicken lässt. Bis 1996 tobte ein 36 Jahre dauernder Bürgerkrieg. Anhand einer Familiengeschichte beschreibt Arnoldo Gálvez Suárez den Versuch der nächsten Generation die traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten.

Die Geschichte beginnt, als Alberto im Supermarkt eine Frau aus seiner Kindheit trifft. Er erkennt sie sofort: Es ist Mercedes Lima, eine ehemalige Studentin seines ermordeten Vaters. Von dem Moment an, in dem er sie anspricht, entwickelt er eine Obsession für sie. Er stellt ihr nach, weil er sie zu den Umständen des Mordes an seinem Vater Daniel Rodríguez Mena befragen will. Alberto ist sich sicher, dass sie etwas darüber weiß, denn kurz nachdem sie damals, vor 25 Jahren, auftauchte, wurde sein Vater auf offener Straße erschossen. Als wollte der Autor beweisen, dass Geschichte sich auch im Kleinen wiederholen kann, stellt sich heraus, dass auch der Vater Daniel ein zwanghaftes Verhalten gegenüber Mercedes Lima entwickelt hatte. Der Geschichtsprofessor war ein gebrochener Mann, er unterrichtete während des Bürgerkriegs an der Universität und beteiligte sich anfangs noch an studentischen Protesten, bis nach und nach alle führenden Köpfe verschwanden und umgebracht wurden. Daniel resigniert, mäandert durch die Gefahren, welchen Intellektuelle in Guatemala damals ausgesetzt waren. Als dann eine seiner Studentinnen verschwindet, mit der er eben noch geschlafen hat, macht sich eine Stimme in seinem Kopf breit: „Tun sie was, Professor!“ Doch er ist unfähig, seiner Ohnmacht etwas entgegenzusetzen oder die Stimme zum Schweigen zu bringen. Stattdessen hält er sich an der Routine fest, bis er eine Studentin kennen lernt, der er endlich einmal helfen kann, es ist Mercedes Lima.

Der Roman erzählt eine fiktive Geschichte innerhalb der harten Realität Guatemalas. Angesichts absurder Gewalterfahrungen scheinen manche Anekdoten wie Übertreibungen im Stil von Quentin Tarantino. Doch sie sind nicht übertrieben. Eine emotionale Distanz fällt deshalb schwer, weil die Schilderungen realistisch sind. Die Personen in dem Roman zu verstehen, „verlangt, eine Lupe auf den Gebrauch und die Mechanismen von Gewalt zu legen“, wie Arnoldo Gálvez Suárez in einem Interview erläuterte.

Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen miteinander. Kapitelweise springt die Erzählung zwischen den Protagonisten Vater und Sohn hin und her. Der Autor lässt die beiden durch ihre inneren Stimmen zu Wort kommen, wodurch wir ihre intimen Gedanken kennenlernen und manchmal auch aushalten müssen. Zuweilen irritiert der Roman mit emotionslosen Erzählungen von Sex, für deren Sinn in der Geschichte Fragezeichen bleiben. Doch Arnoldo Gálvez Suárez versteht es auf außerordentliche Weise, in der Abwechslung von Szenen und Zeitebenen Spannung aufzubauen und macht den Roman durch zahlreiche historische Hintergründe zusätzlich lehrreich.

 

GENIE UND WAHNSINN IN NEAPEL

Unter Jubel Diego Maradona betritt das Spielfeld des SSC Neapel (Foto: Meazza Sambucetti/ AP / Shutterstock / DCM )

Diego Maradona ist ein Rausch der Bilder. Ein atemloses Eintauchen in die Dynamik des Spiels auf dem Platz und des (auch ohne Social Media) für Maradona überlebensgroß aufgeblasenen Ballyhoos darum. Aktuelle Gespräche mit Zeitzeug*innen oder Maradona selbst kommen stets aus dem Off, um die Kontinuität des Filmmaterials nicht zu unterbrechen. Zu sehen sind die Interviewpartner*innen nie. Nicht zu kurz kommen im Film jede Menge Spiel- und Jubelszenen, die die oft mit Handkamera fokussierten Bilder und ein hervorragendes Sounddesign größer wirken lassen als die Realität – von der „Hand Gottes“ bis zu den wenig glamourösen Niederlagenserien seiner Anfangszeit in Italien.
Asif Kapadia, Oscar-Gewinner für eine Doku über Amy Winehouse, kreiert so einen visuellen Strudel, der kaum Raum zur Reflexion lässt und nutzt ihn wie einen Erklärungsversuch für Maradonas oft widersprüchliche und schwer verständliche Entscheidungen. In körnigen, häufig Amateur*innenaufnahmen entsteht so das Bild eines einfachen Jungen, der die Dinge eher mit sich geschehen lässt, als sie selbst zu beeinflussen. Diego, der inmitten ärmlicher Baracken anfängt, gegen den Ball zu treten und so schon als Teenager seine ganze Familie aus dem Slum holt. Diego, verkauft als damals teuerster Fußballer der Welt vom Spitzenklub Barcelona an Neapel, eines der schlechtesten Teams der italienischen Liga. Diego, der sein erstgeborenes Kind, Ergebnis einer seiner unzähligen Affären, lange verleugnet. Diego, der auf dem Höhepunkt seiner Karriere eigentlich weg will aus Neapel, wo ihm zwischen Kokain und Camorra die Kontrolle über sein Leben entgleitet, und es doch nicht schafft.
Die Dokumentation konzentriert sich fast ausschließlich auf die Zeit, die Maradona in Neapel verbrachte. Was anfangs Enttäuschung hervorruft (die Jahre in Argentinien und Spanien werden quasi als Vorspann abgefrühstückt, sein Drogenentzug oder seine Trainerkarriere völlig ausgespart), ergibt im Laufe des Films immer mehr Sinn. Denn Maradonas fußballerische Karriere und auch sein restliches Leben werden von nichts anderem so sehr geprägt wie von diesen sieben Jahren in der Stadt am Vesuv. Bei seiner Ankunft von 85.000 Menschen im Stadion wie ein Gott gefeiert, wird er gemeinsam mit Fans und Spielern bei Auswärtsspielen bei den reichen Norditaliener*innen durchgehend beleidigt. „Wascht euch“ ist noch das Höflichste, was auf den Plakaten der gegnerischen Anhänger*innen steht. Maradona, der es aufgrund seiner Herkunft kennt, wie ein Ausgestoßener behandelt zu werden, treibt das zu Höchstleistungen an. Mit besessener Sturheit und seinem überragenden Talent formt er den SSC Neapel zu einem Spitzenteam. 1987 – mittlerweile Weltmeister – gibt er der ganzen Stadt ihren Stolz zurück, als er das Unglaubliche schafft und mit Neapel die italienische Meisterschaft holt. Für ihn, das scheint unverhohlen durch, ist dieser Titel mehr wert als der WM-Sieg.
Diesen Moment nutzt Kapadia geschickt als dramaturgischen Höhe- und Wendepunkt. Maradonas Einstellung zur im Wortsinn religiösen Verehrung, die ihm in Neapel entgegengebracht wird (in den Wohnungen hängt sein Bild oft zwischen denen von Christus und Maria), verändert sich danach. Saugt er sie zu Beginn regelrecht auf, wird er sich später davon distanzieren und seine Persönlichkeit in zwei Charaktere spalten, die Coach Signorini wie folgt beschreibt: „Mit Diego laufe ich bis ans Ende der Welt. Aber mit Maradona gehe ich keinen Schritt.“
Diego sieht man von da an im Film vor allem privat. Als naiv-volkstümlicher Junge schlittert er in die Abhängigkeit der neapolitanischen Mafia Camorra. Nach dem ersten Treffen mit dem Giuliano-Clan gibt er noch arglos zu Protokoll: „Das fühlte sich an wie in einem Hollywood-Film.“ In den folgenden Jahren wird er durch die Bosse ebenso mit Kokain und Frauen beliefert wie vor der Polizei und Dopingfahndung beschützt. Als Maradona schafft er sich eine neue Rolle in der Öffentlichkeit, erliegt aber immer mehr dem Größenwahn. Der kulminiert bei der Weltmeisterschaft 1990 in Italien in der fatalen Fehleinschätzung, das Stadion würde beim Halbfinale Italien gegen Argentinien tatsächlich ihn und sein Team unterstützen. Obwohl das Spiel in Neapel stattfindet, wird Maradona beim entscheidenden Elfmeter – den er verwandelt – ausgepfiffen. Als sich dies bei der argentinischen Hymne vor dem Finale gegen Deutschland wiederholt, formen seine Lippen deutlich sichtbar ein hijos de puta („Hurensöhne“). Es ist der Moment, von dem an Maradona in Italien – auch in Neapel – erledigt ist. Die genaue Dokumentation seines überstürzten Aufbruchs ist die geschlossene Klammer zum verdächtig überlebensgroßen Empfang in Neapel.
Man muss Kapadia ein Kompliment machen, dass er es geschafft hat, über Aufnahmen aus Privatarchiven der Familie Maradona und der Neapel-Ultras zu vielen intimen Momenten Zugang bekommen und aus dem umfangreichen Material eine fesselnde Komposition geschaffen zu haben. Zu einem besonderen Erlebnis macht Diego Maradona aber vor allem der Blick des Filmemachers, der zwar mit seinem Protagonisten sympathisiert und ihn nicht vorführt (was einfach wäre), sich aber auch nicht mit ihm gemein macht. Trotz aller Emotionalität der Bilder geht es Kapadia darum zu verstehen, nicht zu urteilen. Auch nach dem Film kann man sich also noch entscheiden, ob man Diego Maradona liebt oder hasst – oder ihn als widersprüchlichen Charakter, der er bis heute ist, akzeptiert.

 

EIN KOFFER VOLLER GEGENSÄTZE

Über vier Jahre haben die Fans von Chico Trujillo auf das neue und inzwischen achte Album der chilenischen Band warten müssen. Die derzeit 14-köpfige Cumbia-Combo um den Bandleader und Sänger Aldo Asenjo (aka Macha) hatte sich nach La reina de todas las fiestas (siehe LN 499) ordentlich Zeit genommen. Doch das Warten hat sich gelohnt: Mambo Mundial ist vom ersten Takt an als typischer Chico-Trujillo-Sound zu erkennen und bringt trotzdem ganz unterschiedliche neue Einflüsse mit sich.
So wirken der Eröffnungssong „Que Me Coma el Tigre“, aber auch der immer schneller gespielte Klassiker „El Eléctrico“ vertraut und dennoch nicht langweilig. Sie verbreiten genau die Stimmung, für die Chico Trujillo schon seit 20 Jahren bekannt sind: Ausgelassenheit, gute Laune, Wärme und den gemeinsamen Spaß an der Musik. Gute 40 Minuten Unterhaltung bietet Mambo Mundial mit insgesamt 11 Songs, von denen manche gegensätzlicher kaum sein könnten. Da geht es vom psychedelischen, langsam auslaufenden „Vives Pensando en la Droga“ bis zum ausgelassenen 6-Minüter „A Mi Negra“, in dem der italienisch-chilenische Keyboarder Camilo Salinas die ein oder andere Einlage feiert. Da sind zum einen Nummern mit traditionellen lateinamerikanischen Rhythmen wie „Pobre Caminante“ oder „Amor y Libertad“ in Zusammenarbeit mit den kolumbianischen Cumbialegenden Los Gaiteros de San Jacinto & Son Rompe Pera. Zum anderen mutet die auf Englisch und Spanisch gesungene Hip-Hop-Nummer „Teclitas y Niños“ modern und elektronisch an. In vielen Songs dominieren die unterschiedlichen Stimmen der Band, während ein Lied wie „Caballo Carioca“ ganz ohne Gesang überzeugt.
Mambo Mundial ist – wie es schon das Albumcover ankündigt – ein vollgepackter Musikkoffer, in dem für jede*n etwas dabei ist: Von traditionellen Balladen und klassischen Cumbiaklängen bis hin zu modernen Hip-Hop- und elektronischen Einflüssen. Dabei bleibt das Album nicht ohne politische Aussagen. Die Texte betonen immer wieder die Bedeutung gegenseitiger Solidarität, sozialer Bewegungen und schildern die Realität der einfachen Menschen. Auch die Themen Liebe, Landleben und Freiheit, schon aus früheren Texten der Band bekannt, tauchen in den Songs auf Mambo Mundial wieder auf.
Eins aber ist klar: Die Songs machen Spaß, sind tanzbar und werden live wohl auch im tristen europäischen Herbst Ausgelassenheit und Freude verbreiten. Um das zu beweisen, startet die Band aktuell eine zweimonatige Europa-Tour (Konzertdaten siehe Service S. 56). Für ihre treue Fangmeinde in Berlin nehmen sich Chico Trujillo gleich zwei Abende Zeit. Außerdem ist Mambo Mundial zum großen Teil in den Funkhaus Studios aufgenommen worden. Mit Sicherheit wird das neue Album nicht nur in Berlin jubelnd aufgenommen und der Band wie dem Publikum ein wunderbares 20-jähriges Jubiläum bescheren.

 

 

„IN PERMANENTEM BANKROTT“

Foto: Fischer Verlag

Als Adelaida ihre Mutter beerdigt, bleibt die 38-Jährige einsam zurück. In Caracas hat sie keine Familie mehr, die Tanten wohnen abgelegen an der Karibikküste. Versorgungsmängel, Inflation und Gewalt prägen den Alltag in der venezolanischen Hauptstadt. Nachdem einige Regierungsanhänger*innen auch noch ihre Wohnung besetzen, steht Adelaida plötzlich vor dem Nichts, bis sie hinter der nicht abgeschlossenen Tür nebenan den leblosen Körper ihrer Nachbarin findet. Kurzerhand beschließt Adelaida, die Identität der Toten anzunehmen, deren spanischer Reisepass nur noch verlängert werden muss. Zwischendurch erinnert sie sich an Zeiten, in denen europäische Migrant*innen in Venezuela ein besseres Leben suchten.
Nacht in Caracas ist der Debütroman der venezolanischen Journalistin Karina Sainz Borgo, die seit mehr als zwölf Jahren in Spanien lebt. Bereits vor Erscheinen verkaufte sich das Buch in 22 Länder, das mediale Interesse ist groß. Nach der Lektüre bleibt jedoch vor allem eine Frage zurück: Warum eigentlich?
Jenseits einzelner gelungener Szenen wirkt der Plot um Adelaidas als ambivalent beschriebenen Ausweg aus der Krise arg inszeniert. Die Metaphern und Allegorien versuchen krampfhaft, das Bild einer totalitären Gesellschaft zu zeichnen, in der die Protagonistin im Laufe der Geschichte alles verliert und doch gewinnt. Aus strikt oppositioneller Sicht thematisiert Sainz Borgo allgegenwärtige Themen des polarisierten Landes wie Korruption, Klientelismus, Medikamentenmangel oder staatliche Willkür. Tatsächlich aber offenbart Adelaidas Perspektive jenen Klassismus und Rassismus, den Teile der venezolanischen Mittel- und Oberschicht gegenüber den marginalisierten Teilen der Bevölkerung seit jeher kultivieren. Nun kann ein literarisches Werk seine Kraft auch genau daraus ziehen, kompromisslos aus einer individuellen Position heraus zu erzählen. Doch geht es der Autorin offensichtlich um eine – nur ganz leicht verfremdete – Zustandsbeschreibung des heutigen Venezuelas. Zu keinem Zeitpunkt lässt Sainz Borgo dabei den Verdacht aufkommen, dass es auch andere legitime Sichtweisen als jene ihrer Hauptfigur geben könnte.

Die Anhänger*innen der Regierung werden als ungebildete, fettsüchtige und ungewaschene Horden dargestellt


Jegliche Unterstützung der Regierung basiert laut der Erzählerin auf Zwang, Gewalt oder Privilegien. Die Empfänger*innen staatlicher Lebensmittelkisten müssen in Adelaidas Worten „brav zu jeder regierungsfreundlichen Veranstaltung und Demonstration gehen oder einfache Dienste leisten, wie etwa Nachbarn anzeigen.“ Zwar weist die Lebensmittelverteilung in ihrer heutigen Form in Venezuela durchaus klientelistische Züge auf und Veruntreuung findet auf allen Ebenen statt. Doch wie überlebensnotwendig die subventionierten Lebensmittel angesichts der Hyperinflation für sechs Millionen Familien sind, die dafür keineswegs Spitzeldienste verrichten müssen, erwähnt die Autorin von Nacht in Caracas nicht. Möglicherweise mangelte es an Kontakten in die barrios (ärmere Stadtviertel). Ebenso wenig scheint ihr bewusst, dass der Chavismus als politische Identität weit über die Regierung hinausgeht und auch jenseits materieller Zuwendungen existiert. Das heißt nicht, dass die Erzählerin nicht sensibel gegenüber der Armut um sie herum wäre. „Mit Geld ging alles einfach und schnell“, stellt Adelaida fest, als sie dem Ziel des Identitätsklaus dank wiederholter Bestechung immer näher kommt, „sehr viel schlimmer war, keines zu haben. So lebte die Mehrheit. In permanentem Bankrott.“ Banaler geht es kaum.
Noch ärgerlicher sind die Beschreibungen der Regierungsanhänger*innen selbst. Diese werden zu „Bastarden der Revolution“ und ausschließlich als ungebildete, fettsüchtige und ungewaschene Horden dargestellt. Aus purer Lust und gegen Bezahlung prügeln sie auf Oppositionelle ein, um deren „Köpfe aufplatzen zu lassen wie Melonen.“ Da heben die „engen Jeans“ der korrupten Hausbesetzerinnen „ihre feisten Beine hervor, die in elefantiastische Füße ausliefen, die in Plastiktüten steckten. Sie hatten dunkle Haut und struppiges Haar, das zu einem steifen Stummel gebunden war.“ Selbstredend schwitzten die Frauen „wie die Fernfahrer“ mit einem Geruch, „säuerlich und ekelerregend.“
Die Schilderungen sind oft derart von Hass geprägt, dass sie in Rachefantasien gipfeln. „Niemandem zitterte mehr die Hand, wenn es darum ging, jemandem vom Regime aufzulauern und ihn zu lynchen.“
Dabei werden in der deutschen Übersetzung nicht einmal alle rassistischen Untertöne deutlich. Als Adelaida etwa inmitten gewalttätiger Übergriffe seitens regierungsnaher Schlägertrupps die Leiche ihrer Nachbarin verschwinden lässt, sieht sie sich im spanischsprachigen Original einer merienda de negros gegenüber. Der kolonialrassistische Begriff bezieht sich ursprünglich auf afrikanische Sklav*innen, die während ihrer seltenen Pausen eine Zwischenmahlzeit einnahmen. Im Spanischen hält er sich bis heute als Synonym für unruhige, chaotische Situationen. In der deutschen Übersetzung wurde daraus schlicht „Hexenkessel“.
Und so liegen die eigentlichen Stärken des Buches weder im Plot noch in den Allegorien auf Venezuela. In ihrem Versuch, eine universell gültige Geschichte zu schreiben, zeigt die Autorin vielmehr unfreiwillig deutlich auf, wie problematisch weit verbreitete Denkmuster der rechten Opposition in Venezuela sind.

 

EINTAUCHEN IN DIE TRAUER

Fotos: Cine Global, Filmstill

Wie überwindet man den Tod der anderen? Marcela (gespielt von Mercedes Morán) hat unerwartet ihre Schwester Rina verloren. Hinter zugezogenen Vorhängen, im ständigen Halbdunkel, sortiert sie die Sachen ihrer verstorbenen Schwester, räumt aus, isst aus einer angebrochenen Eisschale, die noch im Gefrierfach steht, und führt damit eine der letzten Handlungen fort, die ihre Schwester vor dem Tod noch tat.
Die Wohnung von Marcela und ihrer Familie wirkt wie ein von der Außenwelt getrennter Lebensraum – in den die Protagonistin „abtaucht«, wie der Titel Familia sumergida (in etwa: „Abgetauchte Familie“) nahelegt. So findet das erste Drittel des Filmes fast ausschließlich in diesen mit Stoffen und Möbeln überladenen Räumen statt. Außerdem vermittelt er eine Ahnung von den Spannungen, die unter der Oberfläche des Familiengefüges liegen.
Mit ihrem Film erzählt die argentinische Regisseurin María Alché glaubwürdig und in chronologischen Episoden, wie eine Frau in Buenos Aires in ihren familiären Rollen als Schwester, Mutter und Ehefrau einen Trauerprozess durchlebt. Das langsame Tempo der Kamera vermittelt etwas von der drückenden Hitze, aber auch von dem inneren Zustand der Hauptfigur Marcela: Apathische Langsamkeit. Es ist Sommerzeit, ein Ventilator rauscht an der Decke, und die Zimmer sind mit Gardinen abgedunkelt. Gelegentlich schimmert das Sonnenlicht durch. Die Atmosphäre hat etwas Beklemmendes und bewirkt ein Gefühl von Fremdsein. Die Nahaufnahmen von Marcela zeigen sie in sich zurückgezogen, manchmal wie betäubt. Ihre Gesten stimmen mit dem Rhythmus der Bilder überein. Im Wohnzimmer und anderen Räumen hat Marcela alle Topfpflanzen, die ihrer Schwester gehörten, verteilt.
Den Familienalltag nimmt Marcela immer mehr aus einer Beobachter*innenperspektive wahr, als gehöre sie nicht ganz dazu. Obwohl sie sehr bemüht um ihre Kinder ist, zu denen sie offenbar ein enges Verhältnis hat, schweift sie immer wieder ab. Die sind auf andere Weise mit ähnlichen Themen beschäftigt wie ihre Mutter. Die ältere Tochter Luisa feiert den Abschied eines Bekannten, der scheinbar alles hinter sich lassen wird. Die wiederkehrenden Elemente sind Verlust, Trennung und Neuanfang – im Guten wie im Schlechten.

Rauchpause Marcela räumt nach und nach den Hausstand ihrer Schwester aus / Foto: Cine Global, Filmstill

Nach und nach bekommt der Film eine Wendung, die ins Surreale übergeht. Marcela beginnt, luzide Tagträume zu haben, trinkt mit alten Tanten Kaffee im Wohnzimmer, die am Ende gar nicht da waren. Diese Szenen sind meist mit einem schrägen Sound unterlegt, der die innere Verwirrung Marcelas fühlbar macht. Traumartig wandelt sie zwischen Erinnerungen und Alltagsrealität: Die Vorhänge sind in ihrer Vieldeutigkeit ein allgegenwärtiges Element im Film, mal als Versteck, mal als Abtrennung und Verdunkelung nach draußen, als Sichtschutz oder als Grenze zwischen den Welten.
Die Regisseurin schafft mit ihrer Protagonistin auch eine Rolle jenseits von Klischees: Marcela ist eine Frau mittleren Alters, deren Schönheit nicht mit einem Jugendideal verwechselt wird, sondern sich aus ihrer Erfahrenheit und Ruhe ergibt. Viel zu selten sieht man alternde Mütter mit jüngeren Liebhabern auf der Leinwand. Alché vollbringt das, ohne von dem Hauptthema der Trauer abzukommen: Das Absurde am Tod und am Verlust.
Mit Electrotango-Klängen im Hintergrund, wirkt Marcela erstarkt und in Frieden mit sich selbst und der Erinnerung an ihre Schwester. Die detaillierte und gestenreiche Bildsprache, die gut beobachteten Alltagssituationen und die Nähe zur Protagonistin haben Alchés Film wohl auch die Lorbeeren eingebracht: den „Horizontes Award” des San Sebastian Film Festivals, „The Ingmar Bergman International Debut Award” des Göteborg Film Festivals sowie den „Talents Award” und „Critics’ Award« des D’A Film Festivals Barcelona.

 

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