„DIE SICHERHEITSBEHÖRDEN SIND TEIL DES PROBLEMS“

“Genozid-Staat” Marcha Nacional Contra el Gatillo – Demonstrationen gegen tödliche Polizeigewalt im Mai 2019 in Buenos Aires

Was glauben Sie, was mit Santiago passiert ist?
Ich weiß es nicht, es gibt tausende Möglichkeiten. Aber alle denkbaren Hypothesen weisen auf den Staat als Verantwortlichen hin. Fakt ist: Fast 130 Gendarmen sind damals ohne richterlichen Beschluss in ein Gebiet eingedrungen, um acht bis zehn Demonstranten zu verfolgen. Einer von ihnen war Santiago. Die Gendarmen haben mit Gummigeschossen und Schrotkugeln geschossen; daraufhin blieb Santiago für 77 Tage verschwunden. Am 78. Tag wurde er gefunden – am Flussufer, das bereits dreimal durchsucht wurde. Zwei dieser drei Durchsuchungen fanden an genau derselben Stelle statt, an der dann die Leiche von Santiago aufgetaucht ist – mit Charakteristiken, die nicht üblich sind für einen Körper, der so lange im Wasser war. Laut Autopsie wies die Leiche Zeichen einer Konservierung auf, die üblicherweise zwischen -20 und -80 Grad entstehen. Das heißt, der Körper wurde künstlich gelagert.

Was ist der aktuelle Stand in dem Fall?
Im November 2018 hat der Richter Lleral den Fall in erster Instanz eingestellt, weil es keine Beweise dafür gäbe, dass der Staat für Santiagos Tod verantwortlich sei. Der Richter hat nicht mal rekonstruiert, was damals passiert ist. Wir sind dann in Berufung gegangen und diese Berufung wurde Ende Januar zugelassen. Seitdem warten wir auf einen Beschluss, ob der Fall weiter verfolgt wird oder nicht. Eigentlich dauert so etwas nur 15 Tage.

Ist der Fall Santiago Maldonado noch ein Thema in der argentinischen Öffentlichkeit?
Ja. Zwar nicht mehr so intensiv wie damals, als nach Santiago gesucht wurde, aber wenn etwas passiert, wird darüber berichtet, und wir versuchen auch dafür zu sorgen, dass das Thema in der Öffentlichkeit bleibt. Der Fall wird auch immer dann wieder lebendig, wenn über die Politik der harten Hand berichtet wird oder jemandem einfach so in den Rücken geschossen wird. Da war der Mord an Rafael Nahuel (der 22-jährige Mapuche wurde am 25. November 2017, am Tag der Trauerfeier für Santiago Maldonado, während einer Besetzung in der Nähe von Bariloche von Sicherheitskräften der Spezialeinheit „Albatros“ der argentinischen Marine von hinten erschossen, Anm. d. Red.) und viele weitere. Der jüngste Fall sind vier Jugendliche, die in San Miguel del Monte durch die Polizei ums Leben gekommen sind.

Hat es einen Anstieg der tödlichen Polizeigewalt in Argentinien gegeben?
Ja, in den letzten dreieinhalb Jahren, seit die Regierung von Mauricio Macri an der Macht ist, hat es bereits über 1.300 Tote durch Polizeigewalt gegeben. Seit 1989 waren es insgesamt 6.000. Auch unter anderen Regierungen gab es Fälle von Verschwindenlassen oder gatillo fácil (missbräuchlicher Einsatz von Schusswaffen durch Sicherheitskräfte, der von der Polizei meist als Unfall oder legitime Verteidigung dargestellt wird, Anm. d. Red.), aber den höchsten Anstieg gab es unter dieser Regierung. Der Unterschied ist, dass die beteiligten Sicherheitskräfte vorher nicht unterstützt wurden; sie wurden aus dem Dienst entfernt und es wurde ermittelt.

Sergio Maldonado Bruder von Santiago Maldonado / Foto: Lidia Barán/Anred.org

Und heute?
Fünf oder sechs der Gendarmen, die am Verschwindenlassen von Santiago beteiligt waren, wurden befördert und der Polizist Luis Chocobar, der Rafael Nahuel erschossen hat, wurde kurz danach ausgezeichnet. Seitdem bezeichnet man das als die Chocobar-Doktrin: Du knallst einen ab und bekommst dafür einen Preis im Regierungspalast. Diese Regierung hat uns eine Politik der harten Hand gebracht, mit einer Narrenfreiheit für die Täter.

Welche Rolle spielt dabei das Sicherheitsministerium?
Die Täter kommen aus verschiedenen Einheiten der Sicherheitskräfte, aber sie alle unterstehen dem Ministerium von Patricia Bullrich. Im Fall von Santiago hat sie den beteiligten Sicherheitskräften den Rücken gestärkt, anstatt sie freizustellen, um zu ermitteln und rauszufinden, was passiert ist. Das war ganz klar eine politische Entscheidung. Es war wie eine Blaupause, denn danach wurde es immer repressiver. Wenn man jetzt auf eine Demo geht, zeigen die Sicherheitskräfte: Wir können machen, was wir wollen. Im Dezember 2017 haben sie mitten in Buenos Aires Pfefferspray gegen Rentner eingesetzt, die gegen die Rentenreform protestiert hatten; sie haben Demonstranten mit Motorrädern überfahren, haben Leute verprügelt und alles wurde gefilmt – wenn so etwas mitten in Buenos Aires passiert, was können sie da erst in Patagonien machen, mitten auf der Ruta 40, wo keine Kameras sind, kein Signal, mitten im Nichts… Stell dir vor, was da mit Santiago passiert sein mag.

Wie wollen Sie erreichen, dass der Fall doch noch aufgeklärt wird?
Wir fordern eine unabhängige Expertengruppe, die in dem Fall ermittelt. Der argentinische Staat ist nicht in der Lage, in seinen eigenen Strukturen zu ermitteln, es sind alles Kollegen, sie werden niemals gegen sich selbst ermitteln. Wie im Fall von Rafael Nahuel decken sich auch im Fall von Santiago die verschiedenen Sicherheitsbehörden gegenseitig. Sie alle sind Teil des Staates und sie alle sind Teil des Problems. Das einzige, was sie machen, ist, die Familien auszuspionieren.

Von den anderen 1.299 Fällen der letzten Jahre hört man eher wenig. Was macht den Fall von Santiago so bedeutsam?
Das Leben von Santiago ist nicht mehr oder weniger wert, als die Leben der anderen jungen Leute, die durch den gatillo fácil in einem Dorf oder einem Viertel ermordet wurden. Was in diesem Kontext so wichtig ist, ist, dass er verschwunden war. Der Verschwundene hat in Argentinien eine besondere Bedeutung – es ist das erste Mal seit der Rückkehr zur Demokratie, dass eine staatliche Polizeieinheit so agiert und von der Regierung unterstützt wird.

Ist der Gesellschaft bewusst, dass es eine Politik der harten Hand gibt, in der Sicherheitskräfte töten können, ohne sich dafür verantworten zu müssen?
Nein, das sehe ich nicht so. Manchmal lese ich einen Kommentar und denke: Wie kann der sich über einen Mord freuen? Letztens fiel ein Satz, den ich oft gehört habe, als ich kleiner war: Hier muss mal ein Fidel Castro kommen oder ein Pinochet und dann ist Schluss mit der ganzen Kriminalität! Mal abgesehen vom Unterschied zwischen Castro und Pinochet denke ich, die Leute hier verstehen manchmal überhaupt nichts. Es gab schon immer einen Teil der Gesellschaft, der rechts steht, vielleicht 20 bis 25 Prozent, und ich sehe die Gefahr, dass sich die armen und unterprivilegierten Schichten nach rechts wenden. Das macht mir Sorgen.

In der Zivilgesellschaft gab es aber massive Reaktionen auf das Verschwinden und den Tod von Santiago…
Ja, im Fall von Santiago waren erstmals alle verschiedenen Organisationen vereint. Auf der ersten Demo ein paar Tage nach seinem Verschwinden waren 100.000 Menschen. Vier Wochen später kamen 200.000 Menschen und zwei Monaten danach waren 300.000 Menschen auf der Plaza de Mayo. Und dazu noch Menschen in 200 Städten im ganzen Land, in manchen Kleinstädten kam die Hälfte der Bevölkerung zusammen.

Im Oktober wird in Argentinien gewählt. Eine Abkehr von der Politik der harten Hand ist trotzdem nicht in Sicht?
Vielleicht könnte man mit einer anderen Regierung versuchen, den Sicherheitskräften ihre Macht zu nehmen. Das geht nicht von heute auf morgen; die Sicherheitskräfte, die jetzt aktiv sind, waren zum Teil schon in der Diktatur dabei. Es ist eine Frage der Erziehung, wie ob man die Hundeleine etwas länger lässt oder ob man sie besser kontrolliert. Die Politik der harten Hand und des gatillo fácil ist sozusagen Teil der Staatsräson.
Um diesen Kulturkampf zu gewinnen, muss man versuchen, einen Teil der Gesellschaft zu bilden, etwas beizubringen. Aber negativ gesehen denke ich: Man kann wählen, wer in der Regierung sitzt, aber nicht diejenigen, die in den Behörden sitzen. Die juristische Macht, die Macht der Medien und der Hedgefonds kann man nicht mit einem Regierungswechsel ändern.

 

„DAS SCHLIMMSTE DIESER REGIERUNG HABEN WIR NOCH NICHT GESEHEN“


GASTÓN CHILLIER ist seit 2006 Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation CELS, wo er zuvor als Anwalt zu Themen institutioneller Gewalt gearbeitet hat. Das CELS (Zentrum für legale und soziale Studien) wurde vor 40 Jahren während der Militärdiktatur von einer Gruppe von Anwält*innen gegründet, um die Fälle der Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo und Folteropfer der Militärdiktatur in ihrem Prozess für Wahrheit, Erinnerung und Gerechtigkeit zu unterstützen. Seither kämpft das CELS gegen Straflosigkeit und institutionelle Gewalt und war an allen großen Menschenrechtsprozessen Argentiniens beteiligt. Neben diesen traditionellen Themenfeldern ist das CELS ein wichtiger und renommierter Akteur für aktuelle soziale Organisationen und Bewegungen. Das CELS gibt eine jährliche Studie zur Menschenrechtssituation in Argentinien heraus. (Foto: Caroline Kim)


Herr Chillier, wie steht es im Wahljahr um die argentinische Regierung?
Diese Regierung hat alle Befürchtungen übertroffen. Statt einer demokratischen modernen Rechten kam eine klassisch neoliberale Rechte, wie sie schlimmer nicht sein konnte. Die Macri-Regierung ist eine orthodoxe, neoliberale Regierung, die nach politischer Öffnung strebt, aber mit einer US-Regierung zu tun hat, die protektionistisch ist. Macri hatte das Pech, seine Politikstrategie, sich der Welt zu öffnen, umzusetzen, als die Welt gerade dabei war, sich zu schließen. Er war zu spät. Jetzt sind wir mitten in einer Wirtschaftskrise, im letzten Jahr hat die Regierung wieder Geld beim IWF geliehen. Das ist für Argentinien eine sehr sensible und negative Sache, die noch bis vor kurzem undenkbar war. Argentinien hat gute Gründe für die Ablehnung des IWF aus den Erfahrungen der großen Krise von 2001.

Was ist die Bilanz von vier Jahren Macri-Regierung hinsichtlich der Menschenrechte?
Es gibt zwei große Linien, die miteinander verbunden sind. Die soziale Situation im Kontext der Strukturanpassungen der Wirtschaftspolitik geht mit einer immer repressiveren Politik einher. Hinzu kommen Rückschritte in verschiedenen Politikbereichen wie der Migrations- oder Sicherheitspolitik: Militarisierung und Sicherheit stehen wieder ganz oben auf der Agenda in Argentinien. Wenn man die Statistiken betrachtet, ist zwar keine Zunahme von Polizeigewalt zu verzeichnen, die Rückschritte gab es jedoch vor allem im Diskurs, der den tödlichen Einsatz von Schusswaffen durch staatliche Sicherheitskräfte legitimiert. Ein viel beachteter Fall war der von Chocobar, einem Polizisten, der eine Person, die einen Touristen bestohlen hatte, mit einem Schuss in den Rücken tötete, ohne jegliche legitime Notwehr. Der Präsident hat ihn zusammen mit der Sicherheitsministerin Patricia Bullrich empfangen und gesagt: „Solche Polizisten brauchen wir.“ Das ist ein sehr harter Diskurs, auch ohne Bolsonaro zu sein. Chocobar ist heute wegen Mordes verurteilt.
Dann gab es natürlich den Fall des verschwundenen Aktivisten Maldonado und die Erschießung von Rafael Nahuel (Mapuche-Aktivist, 2017 durch einem Schuss in den Rücken ermordet, Anm. d. Red.). In allen Fällen reagierte die Regierung mit der Unterstützung der Sicherheitskräfte, die die Morde begangen haben.

Als die Massenproteste für Gerechtigkeit für Santiago Maldonado das ganze Land auf die Straße geholt haben, verschärften sich auch Repressionen gegen Demonstrant*innen und Journalist*innen. Ist die zunehmende Kriminalisierung der sozialen Proteste charakterisierend für Macris Regierungszeit?
Eine der ersten Amtshandlung nach der Amtsübernahme der Regierung war die Verhaftung der indigenen Führungsfigur Milagro Salas im Januar 2016. Das war ein Wendepunkt in der Kriminalisierung von sozialen Protesten. Die Einschüchterung von sozialen und politischen Aktivisten hat seither noch zugenommen, vor allem auch gegenüber Journalisten, die über soziale Proteste berichten. Die Regierung hat alles versucht, den Terrorismus als Bedrohung aufzubauen und somit auf die Agenda zu setzen, auch in der Vorbereitung auf den G20-Gipfel. Am besten sieht man das an der Kriminalisierung der Mapuche-Gemeinden. Die argentinische Regierung macht gemeinsame Sache mit der chilenischen Regierung und den Geheimdiensten, dazu gehört auch die illegale Überwachung von Mapuche-Aktivisten und Unterstützern. Auf chilenischer Seite gibt es Beweise für die Fälschung von Beweismitteln, um bekannte Mapuche-Autoritäten zu kriminalisieren und sie aufgrund von Terrorismus anzuklagen. Der neue Rahmen für Argentinien ist das Sicherheitsprogramm der USA, wo der Krieg gegen Terrorismus und Drogen im Zentrum steht. Auch in Argentinien ist das wieder zu einer starken politischen Strategie geworden. Die Regierung und die Sicherheitsministerin haben viel ihrer Zeit darein investiert, das Bild eines „inneren Feindes“ zu etablieren. Von da aus verwandelt sich jede Art der Demonstration, der öffentlichen Äußerung von sozialer Kritik, von Protest oder social leadership in eine Bedrohung. Das ist gefährlich für ein demokratisches System.

Wie spielt die wirtschaftliche Situation in dieses Klima mit hinein?
Das Merkmal dieser Zeit und dieser Regierung ist der bedeutende Anstieg der Ungleichheit aufgrund der Auswirkungen der Wirtschaftspolitik. Das heißt nicht, dass es in den vorherigen zwölf Jahren Kirchnerismus keine Probleme gab, aber die Fortschritte, die durch die Vorgängerregierungen hinsichtlich der Verteilung des Reichtums erzielt wurden, sind wieder rückgängig gemacht worden. Alle sozialen und wirtschaftlichen Indikatoren zu Armut und Arbeitslosigkeit zeigen, wie ernst die wirtschaftliche Situation ist. Argentinien kehrt nun zu diesem fatalen Schema zurück, in dem die jährliche Inflationsrate mindestens 40 Prozent beträgt, mit einer systematischen Abwertung des Peso. Im letzten Jahr wurde der Peso um 100 Prozent abgewertet, was eine enorme Auswirkung auf die Inflation und die soziale Situation hat.
Das Modell dieser Regierung ist vergleichbar mit dem chilenischen. Ein Modell, in dem es einen sehr viel konzentrierteren Reichtum gibt und viele Teile der Gesellschaft außen vor bleiben. Das ist die Realität. Als die Regierung angetreten ist, kursierten unter den Staatsbeamten Äußerungen über die Vorgängerregierung wie: „Die haben doch tatsächlich die Armen glauben machen, dass sie in Urlaub fahren könnten. Oder dass sie ein Recht darauf hätten, wenig für Strom und Gas zu bezahlen…“ Das ist eine Message, die gegen die Substanz der argentinischen Gesellschaft geht. Obwohl es seit vielen Jahren bergab geht, hat die Idee von Gleichheit einen hohen Stellenwert in der Gesellschaft. Auf eine bestimmte Art und Weise schätzt sie, dass sie eine egalitäre mit einer großen Mittelklasse ist – im Gegensatz zu Chile, Brasilien oder Paraguay.

Derart umgeben von rechten Regierungen wird auch Argentinien mehr nach rechts rücken?
Wenn Macri gewinnt, wird er sich weiter nach rechts ausrichten. Nicht bis in die Extreme, die wir in Brasilien sehen, aber seine Politik wird noch mehr eine der Strukturanpassungen sein. Teil der Kritik, den die Hardliner an der Regierung haben, ist, dass sie nicht genug Sparmaßnahmen durchgesetzt hat. Sie nennen das Gradualismus, weil die Regierung nicht von Anfang an eine Schock- und Sparpolitik gefahren ist. Die Sozialausgaben sind vergleichsweise sogar höher als die der Vorgängerregierung, weil ihr nichts anderes übrigblieb. Es gab keinen Spielraum dafür, dass diese Regierung so neoliberal wie die von Präsident Menem in den 90ern sein konnte.

Aber es gab doch starke Kürzungen bei den Renten, Bildung, Gesundheit und Kultur?
Es gab Kürzungen, die tatsächlichen Ausgaben sind allerdings nicht weniger geworden, die Sozialpolitiken wurden nicht beendet. Aber nicht, weil die Regierung glaubt, dass es ein Recht auf Sozialpolitik gäbe, sondern weil sie nicht anders konnte. Das war der Weg, um die Regierungsfähigkeit zu erhalten. Wenn Macri jetzt gewinnt, sehen wir das hässlichste Gesicht einer Regierung, die noch neoliberaler und autoritärer werden wird. Die nächsten Jahre werden sehr hart werden durch zusätzliche Sparmaßnahmen in einem sozialen Gefüge mit vielen Konflikten. Und die argentinische Gesellschaft charakterisiert sich darüber, auf die Straße zu gehen und zu protestieren. Es waren die ständigen sozialen Proteste seit der Übernahme der Regierung, die verhindert haben, dass es noch mehr Repressionen gegeben hat. Ich glaube, wir haben das Schlimmste dieser Regierung noch gar nicht gesehen.

Und was denken Sie: Wird Macri gewinnen?
Das wäre politikwissenschaftlich eine sehr seltsame Sache, denn normalerweise werden Regierungen nicht wiedergewählt, wenn die Wirtschaft am Boden und die Regierung sehr schlecht ist. Wenn er trotz allem wieder gewinnt, kann das nur durch die hohe Polarisierung erklärt werden. Alles deutet darauf hin, dass die Leute eher danach wählen, was sie nicht wollen, als danach was sie wollen. Es gibt eine sehr starke Ablehnung der Politik der Regierung, sie wird nicht wegen ihrer Stärken gewählt. Aber trotzdem ist es nicht sicher, ob die Regierung bzw. der Präsident nicht doch wiedergewählt werden kann.

Das liegt auch an der noch zu bestimmenden Gegenkandidatur…
Wenn der Peronismus es schafft, sich zu einigen, wird er sicherlich in der ersten oder zweiten Wahlrunde gegen die aktuelle Regierung gewinnen. Wenn das nicht passiert, bleibt alles unklar. Die größte Figur, die der Peronismus heute hat, ist die Ex-Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner mit einer Unterstützung von 30 bis 35 Prozent der Wähler. Wer auch immer die Wahlen gewinnt, die nächsten Jahren werden sehr konfliktreich werden. Wenn die aktuelle Regierung gewinnt, wird es sehr viel härter, weil die Antwort brutaler sein wird. Wenn eine andere Partei gewinnt, wird es wahrscheinlich mehr Absichten geben, den sozialen Konflikt anders zu regeln.

Zuletzt: Ihr Ausblick in die Zukunft?
Ich glaube, trotz allem bleibt Lateinamerika im globalen Vergleich ein wichtiger Ort, um etwas aufzubauen, das sich an demokratischen Prinzipien und Menschenrechten orientiert, besonders Argentinien, aufgrund des Stellenwertes, den Menschenrechte bis jetzt in der Gesellschaft haben. Heute ist Macri das Rechteste, wohin wir gelangen können. Bisher sehe ich keine Möglichkeit, dass es politischen Raum für einen Antisystem-Kandidaten wie Bolsonaro gibt. Wenn es bei diesen Wahlen schlecht für die Regierung läuft, ist das eine gute Möglichkeit, aus den Erfahrungen mit einer neoliberalen Partei zu lernen. Es war das erste Mal, dass die Rechte und die Elite durch demokratische Wahlen an die Regierung gekommen sind. Davor waren es immer Putsche gewesen.
In heutigen Zeiten ist es wichtig, eine neue Form von Übereinkünften mit der Gesellschaft zu schaffen. Wenn wir nicht anfangen, die Herzen und Köpfe der Menschen zu erobern, werden diese letztlich autoritäre Optionen wählen. Wir brauchen eine Verteidigungsstrategie und gleichzeitig eine positivere, die nach vorne geht. Es existiert die Forderung nach alternativen Modellen. Ich hoffe, dass es eine überzeugende soziale Antwort gibt, die sich in der Ablehnung der neoliberalen Politik der aktuellen Regierung in den Wahlen ausdrückt.

 

KEINE ZEIT ZUM TRAUERN

Am 24. November wurde das abschließende Gutachten der Autopsie des gewaltsam verschwundenen Aktivisten Santiago Maldonado veröffentlicht. Seine Leiche war nach monatelanger Suche am 17. Oktober im Fluss Chubut gefunden worden. Das nun veröffentlichte Gutachten besagt, dass sein Tod durch Ertrinken hervorgerufen wurde, begleitet von Unterkühlung. Mit drei verschiedenen Methoden wurde berechnet, wie lange sich die Leiche vor dem Fund bereits im Wasser befunden hatte. Der Aktivist war am 1. August bei einer Protestaktion um Landrechte der Mapuche in der Provinz Chubut verschwunden und blieb 78 Tage vermisst. Je nach Methode wird davon ausgegangen, dass der tote Körper zwischen 53 und 73 Tagen im Wasser gewesen sein muss. Die Berechnung der Dauer ist wichtig, um herauszufinden, was vor seinem Tod passiert sein könnte. Denn trotz abgeschlossener Autopsie sind die Umstände seines Todes immer noch ungeklärt und es gibt keine Informationen darüber, was in den mindestens fünf Tagen geschehen ist, die zwischen seinem Verschwinden und seinem Tod liegen. Nach Abschluss der rechtsmedizinischen Untersuchung fordern die Familienangehörigen von Santiago Maldonado weiterhin eine unparteiische, unabhängige und umfassende Untersuchung, um ihren Forderungen nach Wahrheit und Gerechtigkeit für Santiago einen Schritt näher zu kommen. Der zuständige Richter Gustavo Lleral hatte zuvor eine unabhängige Untersuchungskommission abgelehnt. In den nächsten Wochen sollen neue Beweise aufgenommen werden.

Während der öffentlichen Trauerfeier für Maldonado in der Kleinstadt 25 de Mayo in der Provinz Buenos Aires verbreitete sich die Nachricht von einem weiteren Todesopfer im Kontext des gleichen Konflikts um die Besetzung von Mapuche-Gebieten im Süden Argentiniens. Der 22-jährige Rafael Nahuel wurde von Sicherheitskräften der Spezialeinheit „Albatros“ der argentinischen Marine während der Räumung einer Besetzung in der Nähe des Mascardi-Sees bei Bariloche von hinten erschossen. Nahuel war kein bekannter Aktivist, aber hatte sich ähnlich wie Maldonado mit den Protesten solidarisiert und war zur Unterstützung seiner Familie in die Gemeinde Lafken Winkul Mapu gereist. Der Mord fand im Rahmen einer mehrtägigen Operation staatlicher Sicherheitskräfte statt, bei der drei Tage zuvor bereits vier Frauen und fünf Kinder festgenommen worden waren. Am 25. November gab es neben dem Mordopfer zwei weitere Festnahmen von Aktivisten, die, nachdem sie vier Stunden an den bereits verstorbenen Nahuel angekettet waren, in Isolationshaft gesteckt wurden. Fausto Jones Huala und Lautaro González wurden am 27. November wieder freigelassen. Sonia Ivanoff, Mapuche-Anwältin und Vizepräsidentin der Vereinigung von Anwält*innen für indigenes Recht in Argentinien, sprach angesichts des erneuten Mordes von einer „Jagd auf Mapuche“, die von der Regierung als „Gefahr“ dargestellt würden. Im ganzen Land von Tucumán bis Bariloche gingen Menschen auf die Straße, um gegen den Mord von Rafael Nahuel und die Kriminalisierung der Mapuche zu demonstrieren.

Die Sicherheitskräfte und die argentinische Regierung erklärten wiederholt, dass der Mord an Rafael Nahuel eine Reaktion auf Beschuss durch die Besetzer*innen gewesen sei, konnten aber – genau wie im Fall von Santiago Maldonado – bisher außer selbst gefertigten Berichten keine Belege für diese These vorlegen. Aktivist*innen hingegen bestreiten diese Angaben und in Untersuchungen konnten keine Spuren von Schusswaffengebrauch an den Händen der Festgenommenen festgestellt werden. Auch der erste Autopsiebericht bestätigt, dass Nahuel von hinten erschossen wurde. An der Besetzung beteiligte Aktivist*innen wiederholen immer wieder, dass sie unbewaffnet gewesen seien. „Wir hatten Steine und Stöcke. Was hätten wir damit machen können? Eine Kugel tötet!“, so ein anonymer Sprecher der Gemeinde in der Zeitschrift Cítrica.

Schrei nach Gerechtigkeit für Rafael und Santiago (Foto: Voijf – lavaca.org)

Sicherheitsministerin Patricia Bullrich und Justizminister Germán Garavano reagierten mit einer Pressekonferenz, in der sie zu verstehen gaben, dass es Konsequenzen habe, wenn Personen gegen das Gesetz verstoßen würden. Der offene Zynismus mit dem Bullrich hier argumentiert ist mehr als nur grotesk: Im Landkonflikt wird systematisch und andauernd gegen internationale Konventionen und Gesetze auf Provinz- und Landesebene verstoßen. Die Version der Sicherheitskräfte sei die „Wahrheit“, und Beweise für das, was Sicherheitskräfte in einem Einsatz mit richterlichem Befehl machten, müssten nicht erbracht werden. Die Argentinier müssten lernen, dass Gewalt keine Lösung sei, so Bullrich. Gewalt geht allerdings vor allem von staatlicher Seite aus.

Die zunehmende Militarisierung Patagoniens durch die Gendarmerie zeigt die angespannte Stimmung in einem Konflikt, der unter dem argentinischen Regierungsbündnis Cambiemos noch zusätzlich an Brisanz gewinnt. Präsident Macris Regierung, die nach nur zwei Jahren Amtszeit schon zur autoritärsten Regierung der letzten 30 Jahre in Argentinien geworden ist, hat die Entscheidung getroffen, die Interessen großer Unternehmen bis aufs Äußerste zu verteidigen. Denn es sind seine eigenen.

Unterstützung erhoffen sich die argentinischen Behörden mittlerweile auch von chilenischer Seite. Der argentinische Staatsanwalt José Gerez traf sich am 4. Dezember mit Amtsvertretern aus der chilenischen Provinz Araucanía, wo die Behörden schon jahrelange Erfahrung mit der Militarisierung und Repression gegen Mapuche-Aktivist*innen haben, um Informationen und Strategien auszutauschen. Die argentinische Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Besetzungen und andere Aktionen der Mapuche in Argentinien nur mit logistischer Unterstützung von Gruppen aus Chile haben stattfinden können. Das Treffen der Staatsanwälte verlief vorerst ergebnislos, allerdings erklärten beide Seiten, dass sie in Zukunft zusammenarbeiten würden.

„Bei dem Boden, den die Mapuche unter den Füßen haben, sind Millionen Dollar im Spiel“, erklärt die Mapuche-Aktivistin Moira Millán das starke Interesse in der Region in Anbetracht der Rohstoffe in Patagonien. „Aber es geht auch um eine ideologische Konfrontation. Es sind zwei konzeptuell verschiedene Welten, für die eine Welt ist das Privateigentum heilig, für die andere das Leben.“ Dass diese Logik anderen Teilen der Gesellschaft bewusst werden könnte, die dann die Ideen der Mapuche als Alternative erkennen könnten, um die Geschichte zu ändern, mache der Regierung Angst und daher konstruiere sie die Mapuche als inneren Feind der Demokratie. Millán spricht von einem „Zirkus der Demokratie“. Vielleicht ganz treffend, denn der zuständige Richter, der den Fall Nahuel untersuchen soll, ist Gustavo Villanueva, der auch den Befehl zur Räumung gegeben hat, die zu Nahuels Tod geführt hat. Villanueva zeigt sich auch verantwortlich für die Verhaftung eines anderen Mapuche-Aktivisten.

 

DIE MASCHINE, DIE VERSCHWINDEN LÄSST

78 Tage nachdem Santiago Maldonado zuletzt lebend gesehen worden war, ist seine Leiche am 17. Oktober im Fluss Chubut in der gleichnamigen Provinz im Süden Argentiniens aufgefunden worden. Der 28-jährige Aktivist und Kunsthandwerker war laut Zeug*innenaussagen am 1. August während einer Protestaktion der Mapuche-Gemeinde Cushamen von der Gendarmerie verfolgt und verschleppt worden. Seither fehlte von ihm jede Spur (siehe LN 519/520). Maldonados gewaltsames Verschwinden hatte eine enorme Protestwelle im ganzen Land ausgelöst, die sich zum vorläufigen Höhepunkt des Protests gegen die rechtskonservative Regierung von Präsident Mauricio Macri entwickelte. Das Bild des verschwundenen Aktivisten ging um die Welt und in Argentinien Hunderttausende auf die Straßen.

Nach dem Auffinden und Identifizieren der Leiche wird nun der Ruf nach Gerechtigkeit laut. Menschenrechtsorganisationen werfen der Regierung vor, die Gendarmen, die als Hauptverdächtige für Maldonados Verschwinden gelten, zu protegieren und mit Hilfe von kollabierenden Medienunternehmen wissentlich falsche Theorien über den Fall in Umlauf gebracht zu haben, um so die Ermittlungen zu verschleppen und die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Alles systematische Momente in der Logik eines Verbrechens, das Argentinien während der letzten Militärdiktatur (1976 – 1983) zu trauriger Berühmtheit gebracht hat. Seit 2002 wird das gewaltsame Verschwindenlassen im Völkerrecht als Verbrechen gegen die Menschheit sanktioniert.

Der Wahlkampf wurde eingestellt nachdem Maldonados Körper gefunden wurde

Die Nachricht vom Fund von Santiago Maldonados Körper kam genau fünf Tage vor den argentinischen Parlamentswahlen, woraufhin alle Parteien ihren Wahlkampf einstellten. Entgegen plausibler Erwartungen dieses Ereignis könnte negative Auswirkungen auf das Wahlergebnis für die regierenden Parteien haben, ging das aktuelle Regierungsbündnis Cambiemos gestärkt aus den Parlamentswahlen hervor (zum Wahlergebnis siehe Kurznachrichten S. 56). Die vorschnelle Mitteilung des zuständigen Richters Gustavo Lleral am Vorabend der Wahl, der Körper Maldonados weise keine Verletzungen auf, mag zwar wahlbeeinflussend intendiert gewesen oder rezipiert worden sein, wahrscheinlich wäre das Wahlergebnis aber auch ohne dieses Statement positiv für Cambiemos ausgefallen. Fraglich bleibt, wie die Regierung es schafft, trotz wirtschaftlicher Flaute, extrem gestiegener Energie- und Lebenshaltungskosten, weiterer angekündigter Reformen, Panama Papers, ständigen Repressionen gegen die organisierte Bevölkerung und eines handfesten Menschenrechtsskandals ihr Saubermann-Image aufrechtzuerhalten. Aktuelle negative Entwicklungen werden in der dominierenden öffentlichen Meinung immer noch der Vorgängerregierung angelastet.

Foto: Lina Etchesuri / lavaca.org

Auch drei Wochen nach dem Leichenfund gibt es immer noch keine offiziellen Ergebnisse der Obduktion oder Gewissheit über den Zeitpunkt des Todes von Santiago Maldonado. Dass sich Maldonados Körper die ganze Zeit über an der Stelle befunden hat, wo er gefunden wurde, wird von Expert*innen angezweifelt. Einerseits sei die Stelle bereits mehrfach zuvor erfolglos abgesucht worden, andererseits hätte der Zustand der Leiche durch die Strömung weit stärker angegriffen sein müssen: „In diesem Fall ist der Körper intakt. Er hat sogar Fingerabdrücke. Deswegen muss das Todesdatum später als am 1. August sein“, erklärte der Gerichtsmediziner und Kriminologe Enrique Prueger gegenüber dem lokalen Radiosender La Red. „Es ist unmöglich, dass er an diesem Tag gestorben ist“, so seine Schlussfolgerung. Die Fragen, wie Maldonados Körper in den Fluss gelangt ist und wo er zuvor gewesen ist, sind völlig offen.

Familienangehörige und Vertreter*innen der Mapuche-Gemeinde versuchen nun auf anderen Wegen die Aufklärung des Falles voranzubringen. Am 26. Oktober fand vor der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (CIDH) in Montevideo eine Anhörung statt, in der sie Sanktionen gegen die argentinische Regierung und die Intervention des Komitees für Gewaltsam Verschwundene der UNO in die Ermittlungen forderten. Der zuständige Richter Lleral lehnte jedoch am 9. November die Aufnahme unabhängiger Expert*innen-gruppen in die Ermittlungen ab. Mapuche-Anwalt Chuzo Gonzales Quintana ließ bei der Anhörung vor dem CIDH kein gutes Haar am argentinischen Staat, dem er vorwarf, nicht nur nicht nach dem Verschwundenen gesucht zu haben, sondern auch die Hauptverdächtigen gedeckt zu haben. Desweiteren habe die Regierung mit Hilfe der Medien falsche Fährten gelegt und Zeug*innen aus der Mapuche-Gemeinde als Terrorist*innen verleumdet.

So treten in diesem Fall mehrere systemische Probleme des argentinischen Staates zutage, die mit vergangenem und aktuellem Staatsterrorismus, institutioneller Gewalt, einem korrupten Justizsystem, Straflosigkeit sowie der Verstrickung zwischen Unternehmen, Großgrundbesitz und Staat(sgewalt) in Verbindung stehen.

Auch der jahrelange Kampf der indigenen Gemeinden im Süden Argentiniens rückt ins Blickfeld. Das Gebiet der Gemeinde Cushamen liegt innerhalb eines 900 000 Hektar großen Territoriums, das das italienische Textilunternehmen Benetton im Jahr 1991 vom argentinischen Staat gekauft und dadurch zum größten privaten Landbesitzer in Argentinien gemacht hat. Die Mapuche betrachten dies als unrechtmäßige Aneignung ihrer angestammten Ländereien und widersetzen sich seit 2015 auch durch Besiedelung des Gebiets, das auf dem Papier Benetton gehört. Die Gendarmerie unterhält indes eine inoffizielle Kommandozentrale innerhalb von Benettons Territorium und die Mapuche in der Region sind immer wieder Repressionen ausgesetzt, werden kriminalisiert, verschwunden, verhaftet und zu Opfern extrem rassistischer Staatsgewalt. Jones Huala, lonko (Oberhaupt) in Cushamen, sitzt als politischer Gefangener seit Juni 2017 in Haft. Huala spekuliert, dass Maldonado von der Gendarmerie irrtümlicher Weise für einen Mapuche gehalten wurde und sie daher davon ausgegangen seien, dass sein Verschwindenlassen kein großes Aufsehen erregen würde. Die Zahlen sprechen für diese These: Mehr als 200 gewaltsam Verschwundene seit Ende der Diktatur zählt die Koordinationsstelle gegen staatliche und institutionelle Gewalt CORREPI, die meisten von ihnen blieben unbeachtet. Santiago Maldonado – selbst kein Mapuche, sondern solidarischer Aktivist – ist also lange nicht der erste gewaltsam Verschwundene in demokratischen Zeiten, aber der erste Fall, der so stark in der Öffentlichkeit steht seit dem Amtsantritt von Präsident Macri im Dezember 2015. Dessen Regierung bestreitet weiterhin jede Art von Verantwortung, obwohl im Fall Maldonado mittlerweile offiziell unter dem Tatbestand Gewaltsames Verschwindenlassen ermittelt wird. Ausführer dieses Verbrechens ist per Definition der Staat bzw. quasi-staatliche Organe. Menschenrechtsorganisationen fordern den Rücktritt der Sicherheitsministerin Patricia Bullrich, die für den Einsatz der Gendarmerie verantwortlich war, bei dem Maldonado zuletzt gesehen wurde.

Foto: Carla Perrone / lavaca.org

Obwohl noch viele Fragen ungeklärt sind: Kein Verschwinden geschieht ohne aktive oder passive Mitwirkung des Staates, auf dessen Machtgebiet das Verbrechen geschieht – durch die ausführenden Sicherheitskräfte, die verschachtelten Wege der Justiz, die Behörden und Funktionär*innen, die in einer Mischung aus Fahrlässigkeit und Verantwortungslosigkeit in den entscheidenden Momenten wegschauen, durch die Medien, die systematisch de-informieren oder manipulieren. Alle operieren in dem gleichen System, als „Zahnräder im Getriebe der Maschine, die verschwinden lässt“, so Vanesa Orieta anlässlich des Auffindens von Maldonados Leiche. Orieta hat selbst fünf Jahre lang nach ihrem 16-jährigen Bruder Luciano gesucht, der eines Tages im Jahr 2009 von einer Polizeiwache eines verarmten Vorortes von Buenos Aires nicht wieder zurückkehrte. Luciano war von der Provinzpolizei ermordet worden, seine Überreste konnten erst nach einem langen Kampf mit den Institutionen in einem anonymen Massengrab gefunden werden. So wie Vanesa Orieta sind es vor allem die Familien der Verschwunden, die gegen das System

Vor allem die Familien der Verschwundenen kämpfen gegen das System dahinter

des Verschwindenlassens ankämpfen und dabei immer wieder mit den gleichen systematischen Logiken der Vertuschung, Verschleppung der Aufklärung und der eigenen Kriminalisierung konfrontiert werden. In Argentinien haben sich die Angehörigen der Verschwundenen in ihrer unermüdlichen Suche zu wichtigen politischen Bezugsgrößen des Landes etwickelt: die Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo, die Organisation der Kinder der in der Militärdiktatur gewaltsam Verschwundenen (H.I.J.O.S.) oder die vielen Einzelpersonen wie Vanesa Orieta, die selbst um die Aufklärung der Fälle ihrer Angehörigen kämpfen müssen. Und nun Sergio Maldonado, der Bruder von Santiago Maldonado, der zum wichtigsten Wortführer der jetzigen Proteste geworden ist. Nicht selten, so geschehen auch im Fall von Sergio Maldonado, werden die Familienangehörigen zu Zielscheiben von Aggressionen. Die Mediatisierung von Maldonados Fall hat bereits extreme Ausmaße angenommen. Während die großen Medienkonglomerate Clarín, Indalo und La Nación eine aktiv einmischende Rolle hinsichtlich der Entlastung der Regierung und Diffamierung der Familie eingenommen haben, wurde die zur Aufklärung so notwendige Gegenöffentlichkeit wiederum fast ausschließlich über Soziale Medien aktiviert. Am 1. November demonstrierten wieder 150 000 Menschen in Buenos Aires und forderten Gerechtigkeit für Santiago.

WO IST SANTIAGO MALDONADO?

In der argentinischen Verfassung sind indigene Rechte verankert. Anspruch und Wirklichkeit klaffen jedoch weit auseinander: Das Recht der indigenen Bevölkerungen auf Schutz ihrer Territorien wird häufig mit Füßen getreten. Im Süden des Landes schwelt seit Jahren ein Konflikt mit den Mapuche, zu denen sich etwa 100.000 Menschen in Argentinien zugehörig fühlen. Bereits seit ihrer Vertreibung und Dezimierung in der Kolonialzeit fordern die Mapuche ihre Gebiete zurück. Doch erst als in den neunziger Jahren große Ländereien in Patagonien an private Investor*innen verkauft wurden und mit Öl- und Gasbohrungen unter den Regierungen der Kirchners (2003-2015) fortgeschritten wurde, brachen die Konflikte zwischen Mapuche und argentinischem Staat offen aus. Die derzeitige Regierung von Mauricio Macri versucht, die Mapuche als Terrorist*innen und Gefahr für die innere Sicherheit darzustellen. Sie hat sogar nachweislich den argentinischen Geheimdienst mit der Aufgabe betraut, Delikte zu erfinden, die die Indigenen hinter Gitter bringen.

Auch das lof (“Gemeinde” auf Mapudungún) Cushamen gehört zum Konfliktgebiet, da es auf dem 900.000 Hektar umfassenden Grundstück des italienischen Kleiderherstellers und Multimillionärs Luciano Benetton liegt. Nach dem Staat und den Provinzen besitzt Benetton am meisten Land in Argentinien. Mehrmals versuchte die Polizei bereits gewaltsam das lof zu räumen. Ihr lonko (“Anführer”), Facundo Jones Huala, sitzt seit Ende Juni im Gefängnis.

Am 1. August griff die Polizei bei einer Straßenblockade für die Freilassung Hualas erneut hart durch. Laut der Aussage von Zeug*innen ging die Polizei mit Schusswaffen gegen die Mapuche vor und brannte deren Zelte nieder. Auch Santiago Maldonado war vor Ort. Maldonado ist selbst kein Mapuche, solidarisiert sich aber mit ihren Forderungen und war zu diesem Zweck in die Gemeinde gereist. Nach dem Angriff der Polizei floh er mit den anderen Aktivist*innen in Richtung eines Flusses. Da er jedoch nicht schwimmen kann, kehrte er auf halbem Weg wieder um. Maldonado versteckte sich in einem Busch, wo die Polizei ihn aufspürte. Die Polizeibeamt*innen verprügelten den jungen Mann, zerrten ihn in ihr Polizeiauto und verschwanden. Laut der Mapuche leitete Pablo Noceti, die rechte Hand von Innenministerin Patricia Bullrich und Vorsitzender des Kabinetts des Ministeriums für innere Sicherheit, die Operation. Dies konnte später durch Fotos und Filmaufnahmen belegt werden.

Nach dem Verschwinden von Santiago Maldonado machten zahlreiche Gerüchte die Runde. Zuerst äußerte die Regierung Zweifel daran, dass er zum Tatzeitpunkt überhaupt am Ort des Geschehens war. Bald fanden Ermittler*innen jedoch in dem Gebüsch, wo sich der Aktivist laut Zeugenaussagen versteckt gehalten hatte, seine Mütze und Blutspuren. Die Auswertung der DNA ist noch nicht abgeschlossen. Regierungsnahe Medien verbreiteten die Aussagen von Personen, die Maldonado gesehen oder sogar im Auto mitgenommen haben wollten. Tatsächlich handelte es sich jedoch nicht um den Verschwundenen. Innenministerin Bullrich ließ verlauten, dass die Familie Maldonado nicht ausreichend mit der Justiz kooperiere, weshalb die Ermittlungen nur schleppend vorankämen.

Die Regierung kommt zunehmend in Erklärungsnöte.

Die Regierung kommt zunehmend in Erklärungsnöte. Dafür sorgt auch eine Liste der unterlassenen oder verspätet eingeleiteten Maßnahmen durch die Verantwortlichen. Denn inzwischen gibt es Informationen darüber, dass auf dem Grundstück Benettons, nahe Cushamen, ein Posten der Militärpolizei stationiert ist. Von dort aus koordiniert die Polizei Aktionen gegen die Mapuche. Doch trotz der Aussagen einiger Zeug*innen, Maldonado sei dorthin verschleppt worden, ordnete der verantwortliche Richter bislang keine Durchsuchung an. Ebenso wenig wurden die Telefonate von Pablo Noceti mit der Polizei ausgewertet. Die Begründung: Es läge kein Verdacht gegen Noceti vor. Menschenrechtsorganisationen sind überzeugt, dass die Ministerin selbst ein Vorankommen bei der Suche nach Maldonado verhindere. Sie fordern ebenso wie viele andere Argentinier*innen ihren Rücktritt.

Währenddessen haben die Familie Maldonado und eine Reihe sozialer und politischer Organisationen eine Öffentlichkeitskampagne gestartet. “Lebend haben sie ihn mitgenommen, lebend wollen wir ihn zurück – JETZT” lautet das Motto, das jede Aktion begleitet. Das Gesicht des 28-Jährigen und die Frage nach seinem Verbleib haben inzwischen die Grenzen des Landes überschritten. Fotos machen die Runde, auf denen Persönlichkeiten wie Noam Chomsky oder die Fraktion von Podemos im spanischen Parlament Poster mit Maldonados Konterfei hochhalten. Hinzu kommen Solidaritätsaktionen vor der argentinischen Botschaft in unterschiedlichen Ländern – so auch in Berlin am 1. September. Auch Lieder, Gottesdienste und Nachtwachen sind Teil der Kampagne. “Es ist entscheidend, soviel Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen, um Druck auf die Verantwortlichen auszuüben. Nur so können wir hoffen, dass die Untersuchungen weitergehen, Santiago lebendig auftaucht und niemand ungestraft davonkommt, so wie es leider schon in anderen Fällen geschehen ist”, sagt Roberto Cipriano, Anwalt und Vorsitzender des Exekutivstabs der Gedächtniskommission der Provinz von Buenos Aires, der als Nebenkläger an dem Fall beteiligt ist.

Am 1. September, einen Monat nach dem Verschwinden Maldonados, fand in Buenos Aires eine Demonstration statt. Mehr als 250.000 Menschen versammelten sich auf der zentralen Plaza de Mayo. Am Ende der Demonstration lieferten sich Polizei und Demonstrant*innen Auseinandersetzungen. Mehr als 30 Personen wurden festgenommen. Zahlreiche Hinweise darauf, dass Polizeibeamte den Protestzug infiltriert und Gewalt provoziert hätten, sorgten für Empörung in der Bevölkerung. Die Festgenommenen mussten jedoch nach 48 Stunden freigelassen werden, da es keine Beweise gab und soziale Bewegungen starken Druck ausübten. Ein kleiner Erfolg für die Protestbewegung. Doch von Maldonado fehlt nach wie vor jede Spur…

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