„Das große Thema ist der Schutz der Indigenen“

Menschenrechtsverletzungen durch Polizeigewalt Gedenkakt in Rio de Janeiro für den Verschwundenen Amarildo Dias de Souza (Foto: Tomaz Silva, Agencia Publica)

Wie steht es aktuell um die Menschenrechte in Brasilien?

Wir befinden uns in einer Phase des Wiederaufbaus, auch in Bezug auf die Menschenrechte. In der Regierungszeit von Bolsonaro wurden zwar keine spezifischen Normen, Programme oder Projekte im Bereich der Menschenrechte außer Kraft gesetzt. Es gab aber einen Prozess der Umkehrung von Menschenrechten und der inneren Zersetzung von Institutionen und politischen Maßnahmen.

Können Sie ein Beispiel geben?

Bolsonaro hat den Nationalen Plan zur Menschenrechtsbildung von 2006 nicht abgeschafft, aber er hat auch nichts getan, um ihn umzusetzen. Die einzige Maßnahme, die in seiner Amtszeit ergriffen wurde, war ein 20-stündiger Online-Kurs zu Menschenrechten. Tausende von Menschen haben daran teilgenommen, aber es war ein Kurs, in dem man Paragraphen liest und dann überprüft wird, ob man sie verstanden hat. Anders gesagt: Es war ein sehr begrenztes Programm zur Menschenrechtserziehung.

Wie hat sich die Amtszeit Bolsonaros auf die Situation der Menschenrechte ausgewirkt?

Erstens gab es eine Schwächung relevanter Institutionen, die schon zuvor nicht besonders stabil waren. Brasiliens Geschichte in Sachen Menschenrechte beginnt praktisch erst mit der Verfassung von 1988. Die erste Regierung Lula hat selbst mehrere Jahre gebraucht, um ein Ministerium für Menschenrechte einzurichten, zuvor gab es unter der Regierung Fernando Henrique Cardoso lediglich ein Sekretariat. Zweitens wurde eine konservative Version der Menschenrechte, die die Rechte bereits seit der Diktatur verbreitet, durch den Diskurs von Hass und Intoleranz während seiner Regierungszeit gestärkt. Brasilien hat eine sehr konservative, rassistische, LGBTQ-feindliche Tradition. Das ist unsere historische Ausgangslage, und Bolsonaro hat sie mit seinen Reden als „Kapitän des Busches“ nur noch verstärkt. In einer Rede sagte er, seine Regierung sei für Menschenrechte, aber nur diejenigen sollten Zugang haben, die Menschenrechte auch verdienen. Damit zerstörte er buchstäblich eines der Grundprinzipien der Menschenrechte, nämlich ihre Universalität. Aus einer aktuellen Studie geht hervor, dass es während der Amtszeit der Regierung Bolsonaro 1.171 Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger gab, darunter 169 Morde. Es ist wichtig zu wissen, dass die meisten dieser Fälle im Norden und Nordosten Brasiliens stattfanden. Und mehr als 30 Prozent der Betroffenen sind indigen. Das ist besonders relevant, weil Menschenrechtsarbeit ohne Verteidiger nicht voran geht.

In den von Ihnen koordinierten Projekten Sementes de proteção – Saat der Verteidigung – und Defendendo Vidas – Leben verteidigen – werden Menschenrechtsverteidiger*innen geschützt. Wie funktioniert das?

Die beiden Projekte arbeiten im Wesentlichen mit dem Prinzip der proteção popular, dem Schutz der Basis. Wir sind der Meinung, dass lokale Organisationen eine grundlegende Rolle beim Schutz von Menschenrechtsverteidigern spielen. Diese sollten nur in Ausnahmefällen aus ihrem Umfeld genommen werden, um sie zu schützen. Die proteção popular erfolgt in drei sich ergänzenden Dimensionen. Erstens über Selbstschutz, das sind die Maßnahmen, die ein Verteidiger in seinem persönlichen Bereich ergreifen muss, um sich keinem Risiko auszusetzen. Zweitens über gegenseitigen Schutz, sowohl zwischen Einzelpersonen als auch zwischen Organisationen. Wenn also ein Verteidiger aus der Bewegung der Landlosen (MST) bedroht ist, wird die Bewegung der von Staudämmen betroffenen Menschen (MAB) der MST helfen, sie zu schützen. Auch weil es bald einen Verteidiger aus der MAB geben könnte, der Schutz benötigt. Drittens über solidarischen Schutz, mit breiter Unterstützung durch nationale und internationale Netzwerke. Diese helfen dabei, Bedrohungen öffentlichkeitswirksam zu verbreiten und Unterstützung zu mobilisieren. Dafür braucht es tiefgreifende und dauerhafte Aufklärung und eine Schulung der Bevölkerung sowie Erfahrungsaustausch.

APIB, die Vereinigung der indigenen Völker, hat Jair Bolsonaro vor dem Internationalen Strafgerichtshof wegen Anstiftung zum Völkermord und systematischer Aktionen gegen die indigenen Völker Brasiliens angeklagt. Was erwarten Sie von einem möglichen Prozess?

Bolsonaros Handlungen als Präsident, insbesondere in Bezug auf indigene Gemeinschaften, sind typisch für Vernichtungsaktionen. Was Bolsonaro während der Pandemie getan hat, war eine Kollaboration mit dem Virus, das heißt letztlich eine Kollaboration mit dem Tod. Er wurde von der APIB vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wegen Völkermord angeklagt. Bolsonaro hat mehrere andere Strafverfahren am Hals, aber diese Klage hat die größten Erfolgschancen. Ich denke, dass es für ihn schwierig wird, nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden. Teilweise ist das ja auch schon passiert. Das Oberste Wahlgericht hat ihn verurteilt, sodass er zukünftig nicht mehr wählbar sein wird. Wir hoffen, dass die verschiedenen Klagen, die auch bei anderen Gerichten anhängig sind, dazu führen werden, dass er sich vollständig verantworten muss.

Wie wird sich die Amtsübernahme durch Präsident Lula zukünftig auf die Menschenrechtslage in Brasilien auswirken?

Sein Sieg ist ein wichtiger politischer Sieg, aber er geht mit zwei riesigen Herausforderungen einher. Erstens, die Überwindung all dieser Hinterlassenschaften von Bolsonaro. Zweitens die Tatsache, dass er keine Mehrheit im Kongress hat, was die Regierung zur Geisel permanenter Verhandlungen macht. Ein Beispiel dafür war die Strukturierung der Ministerien der neuen Regierung.

Was ist Lulas wichtigste Aufgabe mit Blick auf die Menschenrechtslage?

Die wichtigste politische und pädagogische Aufgabe besteht darin dem Bolsonaro-Faschismus, der in der Gesellschaft immer noch sehr stark ist, entgegenzutreten. Und zwar mit Regierungsmaßnahmen, aber auch mit zivilgesellschaftlichen Aktionen. Es geht darum, die Demokratie und die Beteiligung der Bevölkerung zu stärken. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Stärkung sozialer Bewegungen und der Arbeit von Menschenrechtsverteidigern. Es ist die soziale und gesellschaftliche Auseinandersetzung, die die Agenda der Menschenrechte voranbringen wird, auch innerhalb der Regierung, die mit anderen Bereichen der Gesellschaft im Streit liegt.

Wenden wir uns einem sehr aktuellen Thema zu, nämlich der Grenzziehung indigener Territorien. Warum ist dieses Thema unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte so wichtig?

Das wichtigste Menschenrechtsthema in Brasilien ist heute der Schutz der indigenen Völker. Der bolsonarismo hat sie zum Hauptfeindbild erklärt. Der Zugriff auf indigenes Land wäre ein Triumph gewesen, den die Regierung Bolsonaro nicht erreichen konnte, auf den die Rechte jetzt aber hinarbeitet. Das neue Gesetz des Marco Temporal legt fest, dass indigene Territorien nur dann als solche anerkannt werden können, wenn es am 5. Oktober 1988, dem Datum der Verkündung der brasilianischen Verfassung, von Indigenen bewohnt wurde. Aber nicht nur das, es erlaubt auch die wirtschaftliche Ausbeutung von indigenem Land, auch durch Nicht-Indigene. Im Grunde geht es der Agrarindustrie um die Freigabe indigener Territorien, um sie auf „legalisierte” Weise land- und forstwirtschaftlich auszubeuten, indem entweder ihre Anerkennung verhindert oder die wirtschaftliche Ausbeutung der bereits anerkannten Gebiete genehmigt wird. Positiv ist: Es gibt eine Mehrheit in der brasilianischen Gesellschaft, welche die indigenen Forderungen unterstützt und sogar die Position der neuen Regierung gegen den Marco Temporal teilt.

Sie sagten, die wichtigste Menschenrechtsfrage in Brasilien sei der Schutz der indigenen Völker. Welche sind die anderen großen Themen?

Gewalt ist ein großes Problem. Es gibt eine sehr hohe Sterblichkeitsrate bei armen, Schwarzen und am Rande der Gesellschaft lebenden Jugendlichen sowie eine hohe Gewaltrate gegenüber Frauen. Weitere Probleme sind Folter und Masseninhaftierungen. Wenn die Mehrheit der Ermordeten jugendlich, Schwarz und arm ist, so haben 70 Prozent der Inhaftierten das gleiche Profil. Es gibt also auch eine starke rassistische Komponente der Gewalt. Ich würde sagen, dass das in der Gesellschaft eher verwässert wahrgenommen wird, im Gegensatz zur Situation der Indigenen. Ein Thema wurde in der Vergangenheit nicht als Menschenrechtsthema eingestuft, ist aber aufgrund seiner Dynamik und der Verpflichtungen, die Lula eingegangen ist, zu einem geworden: Umwelt und Klima. Ein großer Teil der organisierten Zivilgesellschaft sagt, dass der Schutz des Regenwaldes eine Aufgabe ist, die mit der Bevölkerung, die im Wald lebt und sich um ihn kümmert, zusammen gedacht werden muss.. Ein wichtiges Kapitel für die Menschenrechte ist auch die Stärkung der Demokratie, der direkten Beteiligung der Bürger. Wir sagen oft, dass Menschenrechte nicht durch Stellvertretung oder Repräsentation, sondern durch direkte Beteiligung verwirklicht werden.

Eine Studie von UN Women hat gezeigt, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in Brasilien nicht besonders bekannt ist. Wie kann das geändert werden?

Die Herausforderung der Menschenrechtserziehung ist groß. Jedes Kind in der Grundschule muss mit Menschenrechten in Berührung kommen, genauso wie jeder zukünftige Lehrer an der pädagogischen Fakultät Menschenrechtsunterricht haben muss, weil es ein grundlegender Teil seiner Berufsausbildung ist, aber auch ein grundlegender Teil seiner Arbeit. Das gilt für Ärzte, es gilt für Ingenieure, es gilt für alle Bereiche. Es ist von grundlegender Bedeutung, denn wir werden dem bolsonarismo und den Hassreden nicht ohne einen konsequenten Gegenpol begegnen können. Die Menschen müssen auf eine Reihe von Werten zurückgreifen, die ihren Alltag bestimmen, und die Menschenrechte können das bieten.

Über das EU-Mercosur Abkommen wird seit 20 Jahren verhandelt. Ist es mit Blick auf die Menschenrechte aktuell die schlechteste oder die beste Version des Abkommens?

Das Abkommen hat zwar Fortschritte gemacht, bleibt aber immer noch weit hinter dem zurück, was ein Abkommen im 21. Jahrhundert enthalten sollte, insbesondere im Bereich der Menschenrechte. Konkret sieht das Abkommen keine dauerhaften und formalisierten Räume für die direkte Beteiligung der verschiedenen betroffenen Akteure vor. Es ist nicht hinnehmbar, dass nur Wirtschaftsakteure die Gesprächspartner sind und der Staat als deren Gütesiegel dient. Ein weiterer Aspekt, bei dem es noch hapert, sind die Formen der Rechenschaftspflicht bei Verstößen. Sie sind schwach oder gar nicht vorhanden. Es gibt keine Instanz, bei der zum Beispiel die indigene Bevölkerung der Krenak im Landesinneren von Minas Gerais ein deutsches Unternehmen, das ihre Menschenrechte verletzt, anzeigen kann und wo diese Anzeige dann auch fair bearbeitet wird.

Was sollte getan werden, um das EU-Mercosur Abkommen zu verbessern?

Mein größter Wunsch ist, dass jedes Abkommen Menschen und Rechte über Geschäfte und Dinge stellt. Wir verpassen die Gelegenheit, uns auf eine Position zu einigen, die mit Menschenrechten im 21. Jahrhundert zusammengeht. Es gibt ein Konzeptionsproblem bei diesem Abkommen: Wäre zuerst auf Menschen und deren Rechte geschaut worden, anstatt auf Dinge und Geschäfte, wäre die Ausgangslage schon einmal eine ganz andere. Wir müssen eine neue Art des Wirtschaftens einführen, bei der das Recht nicht erst nach seiner Verletzung erfunden wird. Wir müssen damit aufhören, die Menschenrechte auf den Trümmern ihrer Missachtung zu suchen, die oft durch die Handlungen von Unternehmen verursacht werden, die heute einflussreicher sind als die meisten Staaten.

NÄHRSTOFFREICHE OASE IN DER STADT

Üppige Ernte Urbane Landwirtschaft (Foto: FOCAPACI)

Wie ernährt sich eine Stadt auf 4.150 Höhenmetern?
Ursprünglich bekam El Alto Nahrungsmittel nur vom Land, entweder vom Altiplano, aus den tiefer liegenden Gebieten oder aus der Region östlich der Stadt. In den letzten Jahren sind viele Menschen vom Land in die Stadt gezogen, weil die Regierung den ländlichen Raum nicht unterstützt hat und sie von ihrem Anbau nicht mehr leben konnten. Sie wissen viel über den Anbau in der Region. Auf dem Land haben sie zum Beispiel Salat, Kartoffeln, Bohnen, Gerste und Pfirsiche geerntet. In der Stadt nutzen sie Gewächshäuser, sogenannte carpas solares, und konnten so ihre Anbaupflanzen noch diversifizieren.

Welche Produkte ernten die Menschen in den Gewächshäusern?
In den Gewächshäusern herrscht ein Mikroklima, das günstiger für den Anbau verschiedener Pflanzen ist als das trockene Klima in El Alto. So können die urbanen Landwirt*innen bis zu 60 verschiedene essbare Pflanzen kultivieren. Zu denen, die am besten wachsen, gehören verschiedene Salatsorten, Minze, chilto (Baumtomaten, Anm. d. Red.), Mangold, Sellerie und Erdbeeren, aber auch Oregano und Petersilie.
Woher kommt denn das Wasser für den Anbau in der Stadt?

Die meisten Familien benutzen ihr Leitungswasser. Manche, vor allem am Stadtrand, haben auch Brunnen. In den letzten Jahren haben die urbanen Landwirt*innen außerdem angefangen, Regenwasser zu sammeln und Abwasser wiederzuverwenden, denn durch den Klimawandel wird der Wassermangel hier wirklich schlimm werden. Das Regenwasser hat den Vorteil, dass es kein Chlor enthält, das im Leitungswasser meistens enthalten ist.

Wie sieht es mit Schädlingskontrolle aus?
Zum einen nutzen die Landwirt*innen Produkte aus Pflanzen wie Knoblauch und Zwiebeln. Die töten zwar nicht alle Schädlinge, aber sie reduzieren sie. Dann ist es auch hilfreich, die verschiedenen Pflanzen geschickt zu kombinieren, so dass sie einander vor Schädlingen schützen. Auch Nützlinge wie Marienkäfer, Spinnen und Wespen kommen zum Einsatz. Und schließlich gibt es einige Schädlinge, die einfach per Hand abgesammelt werden.

Verkaufen sie die Produkte auch und wenn ja, an wen?
Es ist nicht das eigentliche Ziel unseres Projekts, Geschäfte zu machen. Wir wollen vielmehr, dass die Familien, die die Produkte anbauen, sich möglichst vielfältig ernähren können. Dennoch gibt es Überschüsse und die müssen verkauft oder verschenkt werden. Eine Gruppe von etwa 30 Frauen widmet sich nur dem Verkauf der Produkte. Sie haben dafür extra ein zweites Gewächshaus gebaut. Sie verkaufen auch Produkte von anderen Familien. Die Frauen leben am Stadtrand, organisieren aber in La Paz und El Alto regelmäßig die Märkte Eco Huerta (Biogarten) und Maravilla Alteñas (Wunder aus El Alto). Außerdem bieten sie ihre Produkte recht erfolgreich online an.

Wie haben sich die Ernährungsgewohnheiten Ihrer Projektteilnehmer*innen in El Alto in den letzten Jahrzehnten verändert?
Die meisten Menschen, mit denen wir arbeiten, sind Migrant*innen vom Land. Dort haben sie vor allem Kartoffeln sowie chuños (durch Trocknen haltbar gemachte Kartoffeln, Anm. d. Red.), oca (knolliger Sauerklee), Nudeln und andere sehr kohlenhydrathaltige Nahrungsmittel gegessen. Durch den Anbau in Gewächshäusern ist ihre Ernährung vielfältiger geworden. Durch unser Projekt haben sie nicht nur mehr über biologischen Anbau, sondern auch über gesunde Ernährung gelernt, so dass sich ihre Ernährungsgewohnheiten drastisch verändert haben.

Wie funktioniert die Bildungsarbeit zu gesunder Ernährung?
Einige der urbanen Landwirt*innen wurden zu Multiplikator*innen ausgebildet, die in Workshops die Grundlagen gesunder Ernährung vermitteln. Sie zeigen den Teilnehmenden auch, welche Gerichte sie mit den Produkten aus den Gewächshäusern zubereiten können, wie Säfte, Kuchen, Teigtaschen oder Tees. Es sind schon um die 400 Menschen, davon viele Jugendliche, die in diesen Gruppen von verantwortungsvollen Konsument*innen organisiert sind.

Welche Sprachen werden bei diesen Fortbildungen gesprochen?
Die meisten Familien sprechen Aymara und Spanisch, aber die Workshops finden auf Spanisch statt.

Welche Rolle spielen die indigenen Sichtweisen auf die Welt in dem Projekt?
Auf dem Land ist eine indigene beziehungsweise bäuerliche Sichtweise auf die Welt sehr eng mit dem Leben der Menschen verwoben. Beim Umzug in die Stadt verändert sich das, aber einiges bleibt bestehen. Ein grundlegendes Prinzip ist ayni, das Gegenseitigkeit bedeutet. Ich gebe zurück, was ich bekommen habe, beziehungsweise ich nehme die Gaben an, die mir zurückgegeben werden. Zum Beispiel bekommt die Göttin Pachamama zu bestimmten Zeiten im Jahr Opfergaben von einigen Landwirtinnen. Als Dank für den fruchtbaren Boden vergraben sie Kokablätter und bespritzen die Erde mit Alkohol. Dadurch möchten sie auch erreichen, dass die nächste Ernte wieder gut wird und das, was sie aufgebaut haben, weiterbesteht. Auch der treque, der Austausch von Produkten und Pflanzen, gehört zur indigenen Kultur.

Wie haben sich die politischen Konflikte der vergangenen Jahre auf die Arbeit von FOCAPACI ausgewirkt?
Die Arbeit von FOCAPACI konzentriert sich vor allem auf die Unterstützung benachteiligter Menschen auf lokaler Ebene, deswegen hat die Politik auf nationaler Ebene nicht viel Einfluss. Statt von Einfluss politischer Umwälzungen kann man eher davon sprechen, dass wir im öffentlichen Diskurs Themen setzen. In den letzten vier Jahren hat urbane Landwirtschaft vor allem auf kommunaler Ebene viel politische Unterstützung erfahren.
Auf der anderen Seite wussten die Familien ihre Gärten und Gewächshäuser in Zeiten sozialer Konflikte sehr zu schätzen. Das war 2019 so, als die Gesellschaft sehr polarisiert war wegen der Verletzung der Demokratie oder während der Pandemie. Wenn wegen Blockaden keine Waren vom Land in die Stadt kamen, hatten die Menschen immer noch ihre selbst angebauten Produkte.

Gibt es Verbindungen zu anderen sozialen Bewegungen?
Die Produzent*innen, Verkäufer*innen und Konsument*innen in El Alto haben sich im Netzwerk Urbane Agrarökologie und Ernährungssicherheit (AUSA) zusammengeschlossen. AUSA wiederum gehört zum landesweiten Netzwerk Urbane und Stadtnahe Landwirtschaft, das mit weiteren Akteuren im Bereich Agrarökologie zusammenarbeitet.

Was wünschen Sie sich für 2050?
Die urbane Agrarökologie bahnt im Dialog mit der Natur einen Weg zu Ernährungssicherheit und Ernährungssouveränität. Dadurch wird die Lebensqualität der Menschen sowohl auf der sozialen und ökonomischen als auch auf der spirituellen Dimension verbessert.

Nachwuchs // Praktische Workshops (Foto: FOCAPACI)

DIE SOZIALEN BEWEGUNGEN UND DIE REGIERUNG BORIC

Boric wird Präsident Nach seiner Wahl müssen sich die sozialen Bewegungen neu positionieren (Foto: Diego Reyes)

Herr Grez, Sie beobachten die sozialen Kämpfe in Chile seit vielen Jahren. Wo stehen die Bewegungen nach dem Wahlsieg von Gabriel Boric?
Der hohe Stimmenanteil von knapp 56 Prozent und der sprunghafte Anstieg der Wahlbeteiligung vor allem in den ärmeren Schichten zeigen, dass seine Kandidatur bei einem großen Teil der Bevölkerung Hoffnung auf Veränderungen geweckt hat. Zwar gibt es darunter einen bedeutenden Prozentsatz von Linken, die ihn widerwillig gewählt haben, weil sie Boric neben der Gefahr, die von Kast ausging, für das „kleinere Übel“ hielten. Dennoch verkörpert er bis jetzt die Sehnsucht nach Wandel und der Überwindung des neoliberalen Modells. Das hat sich schon während des Wahlkampfes nicht nur in persönlichen Äußerungen, sondern auch in vielen Erklärungen sozialer Organisationen gezeigt.

Was bedeutet das konkret für die Zukunft der sozialen Bewegungen?
Vieles deutet darauf hin, dass die Organisationen und Bewegungen nun einige Zeit in Erwartungshaltung verharren werden. Noch ist nicht abzusehen, ob Borics Amtsantritt ihre Mobilisierungs- kraft hemmen oder im Gegenteil beflügeln wird – etwa um Druck auf die neue Regierung auszuüben, ihre Wahlversprechen schnell und umfassend zu erfüllen. Die Arbeit des Verfassungs-*konvents (siehe Artikel S. 6), der in einem großen Teil des Landes ebenfalls Hoffnungen geweckt hat, könnte ähnlichen Einfluss auf das weitere Handeln der Bewegungen haben.

Welche Rolle spielt die Zusammensetzung der neuen Regierung?
Das Verhalten bestimmter politischer Akteure ist ein wichtiger Faktor. Die Kommunistische Partei etwa hat Einfluss auf gesellschaftliche Organisationen, insbesondere auf die Gewerkschaften. Aus früheren Regierungsbeteiligungen der Partei wissen wir jedoch, dass sie die Kämpfe der Bevölkerung entweder einzudämmen oder zu beleben versucht – je nach politischer Situation und Auseinandersetzungen innerhalb der Regierungskoalition. So war es während der Regierungen von González Videla (1946-1952), Allende (1970-1973) und Bachelet (2006-2010 & 2014-2018). Ähnlich dürfte es auch jetzt sein.

Auf große Teile der Bevölkerung haben parteipolitische Akteure aber wenig Einfluss. Vor allem auf diejenigen nicht, die am stärksten unter dem neoliberalen System leiden: prekär und informell Beschäftigte, Selbstständige (cuentapropistas), Men- schen in extremer Armut, Mapuche, Migranten und andere. Es gibt keine Garantie dafür, dass die neue Regierung diesen Teil der Gesellschaft zufriedenstellen wird. Daher ist es denkbar, dass ihre Mobilisierungen, die auch radikalisierte und außerinstitutionelle Formen annehmen können, weitergehen werden. Einige Mapuche-Gemeinschaften und -organisationen haben bereits angekündigt, dass es keinen „Waffenstillstand” mit der Regierung von Boric geben wird. Das deutet darauf hin, dass es in Wallmapu, das die Strategen des chilenischen Nationalstaates euphemistisch als Macrozona Sur bezeichnen, weiterhin zu Auseinandersetzungen kommen wird.

Wird sich für diese Gruppen etwas ändern?
Ein Faktor, der die Basisorganisation mittelfristig fördern könnte – wenn auch stärker reguliert und kontrolliert – ist eine versprochene Reform des Streikrechts. Borics Programm zufolge sollen Streiks und Tarifverhandlungen künftig auch nach Produktionszweigen möglich sein, bisher waren nur firmeninterne Tarifverhandlungen zulässig. Diese und andere Faktoren mit noch unklaren Auswirkungen deuten auf ein komplexes und unvorhersehbares Szenario hin, insbesondere vor dem Hintergrund der anhaltenden gravierenden sozialen Probleme. Das konkrete Handeln der politischen Akteure wird also entscheidend sein. Denn nach den allgemeinen Aufforderungen an die Bewegungen, Boric bei der Wahl zu unterstützen und möglichst „keine Wellen zu schlagen“, ist die Frage aus ihrer Sicht jetzt nicht mehr, wie die Menschen Boric unterstützen werden, sondern, wie Boric ihre Kämpfe unterstützt und die Forderungen zu ihrer Zufriedenheit erfüllt.

Was kommt nach dem aktuellen Verharren in Erwartungshaltung?
Ich glaube, die sozialen Kämpfe werden in einigen Monaten, wenn Borics Gnadenfrist – wie sie die Präsidenten zu Beginn ihrer Amtszeit oft begleitet – verflogen ist, ihren gewohnten Lauf nehmen und ungelöste Widersprüche unweigerlich an die Oberfläche bringen. Genaueres vorherzusehen ist unmöglich. Denn wir wissen weder, wie handlungsfähig diese Kämpfe sein werden, noch, inwieweit die Regierung Boric Repression einsetzen wird, um soziale Forderungen einzudämmen. Daher müssen die Bewegungen ihre Autonomie bewahren und sich auf allen Ebenen stärken. Die schwierigen vor uns liegenden Zeiten erfordern es.

Wie hat der verfassungsgebende Prozess die Mobilisierung beeinflusst?
Mit der sogenannten Vereinbarung für den sozialen Frieden und die neue Verfassung vom 15. November 2019 wollte die politische Klasse die Macht der Revolte auf einen harmlosen Weg lenken, nämlich den eines verfassungsgebenden Prozesses, der vom Parlament geregelt wird. So wurde eine gänzlich freie und souveräne verfassungsgebende Versammlung verhindert, die die wichtigsten Interessen, die das neoliberale Modell aufrechterhalten, gefährdet hätte. (Der Verfassungskonvent ist in dem Sinne nicht frei und souverän, da Entscheidungen eine Zweidrittel­mehrheit benötigen und er internationale Abkommen nicht antasten darf, die das Parlament verabschiedet hat – beispielsweise Freihandels­abkommen, Anm. d. Red.). Mit dem Abkommen war die erste Phase der Revolte vom 18. Oktober 2019 zu Ende gegangen. Im Großen und Ganzen hat dieses politische Manöver die erhofften Ergebnisse erbracht: Es ist gelungen, viele Menschen zu demobilisieren, die glaubten, dass der ihnen angebotene verfassungsgebende Prozess ihren Wünschen entsprechen würde. Aber es reichte nicht aus, um zu der gewünschten „Normalität“ zurückzukehren.

Stattdessen gingen die Proteste weiter …
Ja, am 8. März 2020 zum Internationalen Frauentag erreichten sie ihren Höhepunkt. Der Ausbruch der Covid-19-Pandemie in Chile veranlasste die Regierung jedoch, den Ausnahmezustand zu verhängen, der von Quarantänen, einer Ausgangssperre im ganzen Land und anderen Maßnahmen begleitet wurde, die zur Demobilisierung beitrugen. Zu Beginn des Frühjahrs, als die pandemische Lage sich etwas entspannte, belebte die Aussicht auf das Plebiszit am 25. Oktober 2020, das den verfassungsgebenden Weg genauer bestimmen sollte, die sozialen Mobilisierungen insbesondere in politischer Hinsicht wieder.

Der 25. Oktober war ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Institutionalisierung des Konflikts und des verfassungsgebenden Prozesses, wie in der Vereinbarung vom 15. November vorgesehen. Die Bemühungen, Energien und Ressourcen zahlreicher Aktivisten, Versammlungen, Räte und sozialer Organisationen, die in diesem neuen Kontext reaktiviert wurden, konzentrierten sich hauptsächlich auf die Kampagne zur Wahl der Delegierten für den Verfassungskonvent. Aus heutiger Perspektive können wir erkennen, dass die Revolte Mitte März 2020 erlosch. Dazu hatten das Abkommen vom 15. November, dann die Folgen der Pandemie, die eigene Zersplitterung und die politischen Beschränkungen geführt. Stattdessen wurde nun ein von der politischen Klasse geregelter und kontrollierter verfassungsgebender Prozess umgesetzt.

Werden die Bewegungen an die Revolte von 2019 anknüpfen können?
Nach Borics Wahl könnte der gegenwärtige Zeitpunkt als Beginn einer neuen Phase der Mobilisierungen nach der Revolte betrachtet werden – mit allen Unklarheiten und Unsicherheiten, die eine solche Definition mit sich bringt. Denn obwohl die Revolte schon vor einiger Zeit zu Ende gegangen ist, sind viele der subjektiven Elemente des sogenannten octubrismo (Ethos und Erzählung der ersten Tagen der Revolte im Oktober 2019, Anm. d. Übers.) in der Vorstellung, in den Sehnsüchten und politischen Ausdrucksformen noch immer präsent. Zwar gibt es Proteste zu bestimmten Themen – für die Freiheit der politischen Gefangenen des Aufstands sowie für verschiedene wirtschaftliche und soziale Forderungen. Aber sie sind nicht mehr Teil der Revolte.

Welche Rolle spielten die Wahlen in diesem Zusammenhang?
Die zahlreichen Wahlen des vergangenen Jahres (zum Verfassungskonvent, Gouverneurs-, Kommunal-, Parlaments- und Regionalratswahlen) haben zur „Normalisierung“ und Institutionalisierung der Konflikte beigetragen. Auch die Präsidentschaftswahl 2021 hat, trotz ihrer Dramatik, nichts geändert. Die Revolte war nicht in der Lage, eine eigene Alternative aufzustellen, die es ihr ermöglicht hätte, in diesem Wahlkampf autonom aufzutreten. Der einzige Aspekt, in dem sich der octubrismo hier zeigt, ist das bemerkenswerte Wahlergebnis von Fabiola Campillai zur Senatorin in Santiago (die Fabrikarbeiterin Campillai, die durch den Beschuss mit einer Tränengaskartusche der Polizei ihr Augenlicht verloren hat, wurde im November 2021 als unabhängige Kandidatin zur Senatorin gewählt, Anm. d. Red.).

Auch wenn es nicht möglich ist, den Verlauf weiterer Mobilisierungen vorherzusagen, so ist doch sicher, dass die kommenden Proteste nicht als Teil der Revolte vom Oktober 2019 betrachtet werden können, sondern als Teil eines neuen Kontextes, der, wie ich vermute, über das Plebiszit über die neue Verfassung hinaus andauern wird. Doch der gesamte verfassungsgebende Prozess wird von den politischen Kräften des „Abkommens für sozialen Frieden und die neue Verfassung“ vom 15. November 2019 kontrolliert.

GEGEN DAS REPRESSIVE VERGESSEN

„Das Lied ist eine Waffe“, sagte Víctor Jara 1971 der chilenischen Zeitung La Nación. Sein gemeinsam mit Mitgliedern der Folklore-Gruppe Inti-Illimani geschriebenes „Venceremos“ (Wir werden siegen) begleitete Salvador Allende auf dem Weg zum Wahlerfolg. Als dann der Putsch die Errungenschaften Allendes Regierungszeit zunichtemachte, versuchten die Militärs mit aller Kraft, auch die Musik zu zerstören: Inti-Illimani wurden ins Exil gezwungen, Víctor Jara im Estadio Chile, welches heute seinen Namen trägt, ermordet. In der als Apagón Cultural (etwa: kulturelles Blackout) bekannten Zeit wurden nicht nur Aufnahmen konfisziert und vernichtet, sondern sogar traditionelle Musikinstrumente wie Quena (Flöte), Bombo (Trommel) und Charango (ein zwölfseitiges Saiteninstrument, der Korpus bestand ursprünglich aus dem Panzer eines Gürteltiers) verboten. Damit endete die Blütezeit der Bewegung der nueva canción chilena. Diese war ein Jahrzehnt zuvor aus Violeta Parras Bemühungen, Lieder der Folklore aus den ländlichen Gebieten nach Santiago zu bringen, entstanden. Das Einbeziehen lokaler Folklore war prägend für damalige politische Lieder – und heute sampeln Rapperinnen wie die chilenische Musikerin Ana Tijoux in Chile oder die guatemaltekische Rapperin Rebeca Lane Folklore-Elemente für ihre Tracks.

Aus den finsteren Jahren der Militärdiktaturen in vielen lateinamerikanischen Ländern schrieben Bands wie die Rockgruppe Los Prisioneros in Chile, deren „El baile de los que sobran“ eine der Hymnen der Revolte von 2019 und des Paro Nacional 2021 in Kolumbien wurde, oder die Punkband Los Violadores in Argentinien über die Perspektivlosigkeit ihrer Generation und die Allgegenwärtigkeit der Repression. Charly García, einer der bekanntesten Vertreter des rock nacional in Argentinien, sang 1983 in „Los Dinosaurios“ über die Möglichkeit, jederzeit verschwunden gelassen zu werden, aber auch darüber, dass die als Dinosaurier bezeichneten Militärs gestürzt werden können.

„Das Lied ist eine Waffe“

Zu Beginn der Revolte im Oktober 2019 in Chile wurde Jaras „El derecho de vivir en paz“, ursprünglich in Solidarität mit Vietnam geschrieben, in einer gemeinsamen Aktion von zahlreichen bekannten Musiker*innen aus Chile ein neuer, auf die aktuelle Situation im Land angepasster Text verliehen. Im Dezember des Jahres spielten Inti-Illimani selbst vor einem riesigen Demonstrationszug auf der Plaza de la Dignidad in Santiago „El pueblo unido“ von Quilapayún und Jaras Ode an das Recht, in Frieden leben zu dürfen. Auch von der Marcha más grande de Chile (die größte Demonstration Chiles) einen Monat zuvor kursieren Aufnahmen, in denen das Lied von Tausenden Demonstrierenden gemeinsam gesungen wird.

Das Protestlied als Genre im spanischsprachigen Raum fand seinen Höhepunkt in den 60er und 70er Jahren. In einer Erklärung zum ersten Treffen des Protestlieds, welches 1967 in Varadero auf Kuba stattfand, hieß es: „Das Lied muss eine Waffe im Dienst der Völker sein, kein Konsumprodukt des Kapitalismus, um sie weiter zu spalten“. Die Überzeugung, für die Arbeiterklasse zu singen, ihr selbst anzugehören, gehörte damals dazu.

Über ein halbes Jahrhundert später gibt es auf dem vom Neoliberalismus und Konservatismus gebeutelten Kontinent immer noch mehr als genug Gründe, sich gegen die herrschenden Ungerechtigkeiten musikalisch aufzulehnen. Die Zahl derer, die mit der Gitarre in der Hand ihrer Wut Ausdruck verleihen, mag abnehmen, – aber es gibt sie noch, die kolumbianische Liedermacherin La Muchacha ist ein herausragendes Beispiel. Ihr „No Azara” entstand im Rahmen des Generalstreiks in Kolumbien: „Ihre Grausamkeit bringt mich nicht zum Schweigen. Wir haben die Power der Minga”. Der Begriff Minga bezeichnete eigentlich einen kollektiven Arbeitseinsatz, wird aber synonym für politische Versammlungen verwendet.

Die Lieder überschreiten unzählige Generationen und Grenzen

Soziale Medien haben dabei die Art beeinflusst, wie Musik entsteht und verbreitet wird. Die in sozialen Netzwerken verbreiteten kurzen Aufnahmen von Demonstrationen sind oft von Musik unterlegt und Musiker*innen wiederum nutzen dort aufgenommene Tonsequenzen, Sprechchöre oder das charakteristische Schlagen der Kochlöffel auf den leeren Töpfen beim Cacerolazo für ihre Lieder und Aufnahmen von Demonstrationen für Musikvideos.

Im alternativen kolumbianischen Musikmagazin Shock versucht Juan Carlos Escobar Campus anhand von Daten des Musikstreamingdienstes Spotify zu untersuchen, wie sich die Hörgewohnheiten junger Menschen rund um den Beginn des Paro Nacional verändert haben. Dabei fällt ihm auf, dass etwas weniger Reggaeton gehört wird. Escobar Campus mutmaßt, dass dies an der fehlenden politischen Positionierung der bekanntesten Vertreter*innen dieser Musikrichtung liegen könnte. Stattdessen erhöhen sich die Wiedergabezahlen von Liedern von Calle 13 und lokalen Künstler*innen, wie beispielsweise des Liedes „¿Quién Los Mató?“ von dem Sänger Junior Jein und drei weiteren Schwarzen Künstler*innen, das zum Genre des Salsa Choke (Mischung aus Salsa und urbanen Klängen) gehört. Das Lied erinnert an ein Massaker an fünf Schwarzen Jugendlichen in einem Zuckerrohrfeld bei Cali. Jein wurde am 14. Juni 2021 selbst von Auftragsmördern erschossen (siehe LN 565/566). Auch die älteren politischen Lieder, wie „El pueblo unido“, wurden wieder viel öfter gehört. Und natürlich sind die Proteste in Kolumbien immer musikalisch: Schon zum Generalstreik 2019 spielten 300 Musiker*innen verschiedener Konservatorien zu einem „Cacerolazo sinfónico“ in Bogotá auf. Andere tourten als „Un canto por Colombia” durch das Land. Und bei vielen Demos laufen lokale Percussiongruppen mit, um die Sprechchöre schlagkräftig zu unterstützen.

Zusätzlich zu eher länderspezifischen Protestbewegungen bringen kontinentübergreifende Kämpfe, wie etwa die der feministischen Bewegungen für das Recht auf freie und kostenlose Abtreibung und gegen Feminizide, ihre Lieder hervor: Das hymnische „Canción sin Miedo“ (Lied ohne Angst) der mexikanischen Sängerin Vivir Quintana oder das, wie die 2015 in Argentinien entstandene Bewegung benannte, „Ni una menos“ der queeren Reggaetonera Chocolate Remix. Im bedrückenden Panorama der Unterdrückung sexueller Vielfalt und reproduktiver Rechte in Mittelamerika schafft Rebeca Lane gemeinsam mit Audry Funk aus Mexiko und Nakury aus Costa Rica mit Somos Guerreras ein ermutigendes Projekt (siehe LN 541/542).

In seinem Buch El canto de la tribu bezeichnet der mexikanische Musiker Jorge Velsaco Bewegungen wie die nueva canción chilena als Möglichkeit, historische Momente von unten zu erzählen und sich gegen das von politisch Machthabenden angestrebte repressive Vergessen zu wehren. Dass das gelingt, zeigt sich darin, wie die erwähnten Lieder unzählige Generationen und Grenzen überschreiten. Ob sie nun als Protestlied gedacht waren oder nicht: Sie verbinden Kämpfe und Menschen, sind Ausdruck von Selbstermächtigung und der ermutigenden Gewissheit, dass es immer weiter geht.

DER KRIEG GEHT WEITER: EINE REGIERUNG GEGEN DEN FRIEDEN

Unabhängig Die Selbstschutzorganisation Guardia Indígena gehört zu den vielen autonomen Strukturen der sozialen Bewegung (Foto: Katherine Rodríguez)

An diesem 8. März gab es so viele Gründe auf die Straße zu gehen. Mit vielen Parolen, viel Kraft, viel Musik und viel Liebe wurden landesweit Mobilisierungen organisiert. Mehrere Tausend Frauen sorgten in allen größeren Städten Kolumbiens dafür, dass die normale Dynamik für einen Tag gestoppt wurde, um das zu fordern, was fundamental ist: das Recht auf Leben und Freiheit für Frauen. In Medellín berichteten Demonstrationsteilnehmer*innen von Männern, die am Rande der Demonstration standen und sie belästigten. In der Hauptstadt Bogotá wurde die feministische Demonstration von der Aufstands- bekämpfungseinheit ESMAD angegriffen.

Zwischen Januar und Februar 2021 gab es bereits 106 Feminizide in Kolumbien; in den ersten beiden Monaten des Jahres wurden jeden Tag zwei Frauen ermordet. Viele dieser Feminizide werden von narcoparamilitärischen Strukturen verübt, aber sie sind nicht die Ursache für diese Gewalt. Die 106 Feminizide wurden von Männern begangen: Auftragskiller, Guerilleros, Paramilitärs, Väter, Bekannte, „Freunde“ und „Ex-Freunde“.

Überhaupt sind es die sozialen Bewegungen, die für das Recht auf Leben kämpfen, während der Staat es immer und immer wieder mit den Füßen tritt. Der bewaffnete Konflikt in Kolumbien ist längst nicht mehr auf einige „rote Zonen“ beschränkt; stattdessen erweitert eine Vielzahl von bewaffneten Gruppen ihren Einflussbereich. Die größten bewaffneten Strukturen sind das staatliche Militär, die Guerillagruppe Nationale Befreiungsarmee (ELN), rechte paramilitärische Strukturen sowie Splittergruppen der ehemaligen FARC-Guerilla. Die Paramilitärs sind dabei eine Vielzahl von kleinen, regionalen Gruppierungen; lediglich der „Clan del Golfo“ erreicht nationale Tragweite. Die Splittergruppen der FARC teilen sich im Wesentlichen in zwei Lager. Die größte Allianz bilden die Einheiten von Gentil Duarte, die vor allem im Südwesten des Landes ganze Gebiete unter ihrer Kontrolle haben. Die zweite, mit ihnen verfeindete Gruppe, ist die sogenannte Segunda Marquetalia, um den ehemaligen FARC-Anführer Iván Márquez, die von Venezuela aus Kämpfer*innen für den Aufbau einer neuen Guerrilla rekrutiert. Die Kämpfe um die territoriale Vorherrschaft und die Einnahmen aus illegalem Bergbau und Drogenhandel sorgten Anfang des Jahres dafür, dass sich die Zahl der gewaltsam Vertriebenen in Kolumbien im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt hat.

Der Friedensprozess hängt am seidenen Faden

Der Friedensprozess hängt am seidenen Faden. So kürzte die Regierung für dieses Haushaltsjahr das Budget für die Umsetzung des Friedensvertrags so sehr, dass bei gleichbleibender Summe der Staat nun 43 Jahre bräuchte, um die Opfer des Konflikts zu entschädigen. Damit bleiben auch weitere Punkte des Friedensvertrags wie die Landreform, die politische Beteiligung ehemaliger Kämpfer*innen sowie das Programm zur Ersetzung verbotener Anbaukulturen auf der Strecke.

Die Opfer des Kriegs werden dabei immer jünger. Mehr als 300 Kinder wurden in den vergangenen drei Jahren für den Krieg rekrutiert. So auch in Puerto Cachicamo, wo FARC-Dissident*innen unter dem Kommando von Gentil Duarte mit Plakaten an den Wänden dazu auffordern: „Kommt und kämpft den Krieg der Armen gegen die Reichen der Welt!“. Am 2. März trat die Regierung in der ihr eigenen Art vor die Kameras und verkündete, dass ihr „mit einer Bombardierung ein harter Schlag gegen die Dissidenten in Puerto Cachicamo gelungen“ wäre und sie „13 Mitglieder der FARC-Dissidenten neutralisiert“ habe. Was sie im Fernsehen nicht erwähnten, war dass das bombardierte Lager voll von jungen Menschen war, der jüngste unter ihnen neun und der älteste 19 Jahre alt. Zur Begründung, warum der Staat 13 Jugendliche ermordet, erklärte Verteidigungsminister Diego Molano Folgendes: „Die jungen Leute werden von dieser Organisation in Kriegsmaschinen verwandelt und sind eine Bedrohung für die Gesellschaft.“ 

Die Opfer des Kriegs werden immer jünger


Nicht nur die Splittergruppen der FARC rekrutieren Minderjährige, sondern auch die ELN und die paramilitärischen Strukturen. Sie bieten jungen Leuten einen Sold und Waffen an, einige stimmen zu und diejenigen, die das nicht tun, werden gezwungen und mit der Ermordung ihrer Familien eingeschüchtert, wenn sie aus den Reihen fliehen.

In Kolumbien herrscht Wehrpflicht. Die Jugendlichen, die in der Armee sind, kommen primär aus marginalisierten ländlichen Gebieten, während die Wohlhabenderen sich dem grundsätzlich zu entziehen wissen. Die jungen Militärs sind die „Gegenguerilla“, das Kanonenfutter, sie sind diejenigen, die losziehen, um andere Jugendliche zu töten, die von den Aufständischen rekrutiert werden.

Auch durch die Behinderung der Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (JEP) arbeitet die Regierung Duque gegen den Friedensprozess. Die JEP ist unbequem, da sie unter anderem die Aufgabe hat, die Verantwortung des kolumbianischen Staates im Konflikt aufzuarbeiten, was auch diverse Mitglieder und Unterstützer*innen der aktuellen Regierung betrifft. So lieferte die JEP im März neue Erkenntnisse über die sogenannten falsos positivos (außergerichtliche Hinrichtungen, Anm. d. Red.). Laut JEP wurden zwischen 2002 und 2008 mindestens 6.402 Zivilist*innen vom Militär ermordet und nachträglich als im Kampf gefallene Guerilleras und Guerilleros ausgegeben. Einige der Opfer waren Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung. Die falsos positivos waren zentraler Teil der „Politik der demokratischen Sicherheit“ unter der Regierung von Álvaro Uribe Vélez, die heute wieder auflebt. Soldat*innen wurden mit Geld, Urlaubstagen, Medaillen und Beförderungen belohnt, je mehr Guerilleras und Guerilleros sie umbrachten. Die Militärs, die keine Ergebnisse lieferten, wurden aus der Institution entfernt (siehe LN 547).

Der Wahlkampf läuft bereits auf Hochtouren


Die Mütter aus Soacha (Madres de Soacha) und die Bewegung der Opfer staatlicher Verbrechen (MOVICE) sind zwei Organisationen, die für Wahrheit und Gerechtigkeit in Hinblick auf diese Verbrechen kämpfen. Die Mitglieder der Organisationen sind in der Regel die Mütter, Schwestern und Freund*innen der über 6.402 falsos positivos, sie stellen sich den Regierungsstrukturen, die die Ermittlungen behindern und verlangsamen, entgegen.

So stagniert auch der Prozess gegen Ex-Präsident Álvaro Uribe, dem eine wesentliche Verantwortung im Aufbau des Paramilitarismus in Kolumbien nachgesagt wird. In einem von vielen Prozessen gegen Uribe wird ihm Bestechung und Verfahrensbetrug vorgeworfen. Nachdem mehrfach die zuständigen Gerichte und einzelne Richter wechselten, kam es Anfang August 2020 zu einer überraschenden Entscheidung: Uribe wurde wegen Gefahr der Beeinflussung der Ermittlungen zu Hausarrest verurteilt (siehe LN 555/556). Im September 2020 wechselte der Fall in die Zuständigkeit der Generalstaatsanwaltschaft, die kurz darauf Uribes Hausarrest aufgehoben und im März dieses Jahres die Einstellung des Verfahrens beantragt hat. In den kommenden Wochen wird über die Einstellung des Verfahrens entschieden.

Hoffnung auf Aufklärung nährte darauf ein für den 21. April angesetztes Treffen zwischen dem ehemaligen Paramilitär-Kommandanten Salvatore Mancuso und dem Ex-FARC-Chef Rodrigo Londoño alias Timochenko im Rahmen der JEP. In einer öffentlichen Anhörung wollen sie gemeinsam aussagen, „damit das Land die verschwiegenen Wahrheiten über den bewaffneten Konflikt erfährt“.
Während sich der regierende Uribismo (politische Bewegung um Álvaro Uribe, Anm. d. Red.) also für immer weitere Menschenrechtsverletzungen rechtfertigen muss, versucht sich Präsident Duque durch eine Wahlreform noch länger an der Macht zu halten. Ein Gesetzesvorschlag zur Änderung der Verfassung und zur Verlängerung der Amtszeit von Bürgermeister*innen, Abgeordneten und der Präsidentschaft wurde allerdings im Kongress abgelehnt, so dass – wie bisher geplant – im Mai 2022 Präsidentschaftswahlen stattfinden werden.

Der Wahlkampf dafür läuft bereits auf Hochtouren. Die afrokolumbianische Umwelt- und Menschenrechtsaktivistin Francia Márquez hat ihre Kandidatur angekündigt. Sie kämpft seit vielen Jahren in der Region Cauca gegen den Extraktivismus und organisierte einst mit ihren Mitstreiterinnen einen Marsch von ihrem Wohnort am Rande des Cauca Flusses zum Präsidentensitz in Bogotá, um die Schließung einer Goldmine im Cauca zu fordern.

Ebenfalls im Cauca sorgt eine weitere außerstaatliche Bewegung für Licht im Dunkel. Bereits seit 50 Jahren kämpft dort der Indigene Regionalrat des Cauca (CRIC) für das Recht auf Leben, Autonomie und Territorium und – 500 Jahre nach der spanischen Eroberung – nach wie vor um die Würde der Indigenen.

Rund um den 24. Februar versammelten sich mehr als 30.000 Menschen, um die Autonomie der indigenen Völker zu feiern. Die vielfältige Bewegung baut dabei autonome Strukturen abseits des kolumbianischen Staates auf. Darunter ein eigenes Bildungs- und Gesundheitssystem, sowie neben der politischen Selbstverwaltung auch die indigene Selbstschutzorganisation Guardia Indígena.

Ein weiterer Flügel der Bewegung ist die Befreiung der Mutter Erde. Diese erobert Land zurück, das einst den indigenen Gemeinden gehörte und heute von Großgrundbesitzer*innen zum industriellen Zuckerrohranbau benutzt wird. Die Landbefreier*innen roden das Zuckerrohr, um Lebensmittel anzupflanzen. Der Anspruch: das Land nicht nur für die eigene Nutzung, sondern auch für die Natur, die Tiere und Pflanzen von den Monokulturen zu befreien – alles ohne den Einsatz von Waffen. In mingas (kommunitäre Gemeinschaftsarbeit, Anm. d. Red.) wird danach das befreite Land kollektiv bewirtschaftet.

Innerhalb der indigenen Bewegung gibt es eine Gruppe von Frauen, die für die Anerkennung der Rechte der indigenen Frauen kämpft und gegen die Gewalt, die in ihren Gemeinschaften gegen ihre Körper besteht. Auf dem Jubiläumsevent des CRIC erhoben diese Frauen die Stimme, um mehr Sichtbarkeit für ihren Kampf innerhalb der Bewegung zu fordern.

Es geht um die emanzipatorische Erfahrung von jedem Standpunkt aus, hin zu einer Gesellschaft außerhalb kapitalistischer Dynamiken, die die Indigenen nicht als zu ihnen zugehörig begreifen. Innerhalb des Panoramas von Kolumbien wirkt das wie ein Hoffnungsschimmer: In diesem Moment wird im Cauca die Welt, die weiße Männer erfunden haben, von indigenen Frauen niedergerissen – weit weg vom Lärm des Kapitals; gemeinsam mit ihren Gemeinden, mit ihren Töchtern, mit ihren compañeras.

KOLLEKTIV VERÄNDERUNGEN BEWIRKEN

Die Angst wird die Seiten wechseln Die Straßen sind unsere. Die Nacht auch. #WirWollenUnsLebend

Illustrationen: Pilar Emitxin, @emitxin

Es ist ein heißer Sonntag im Juli, der Strand ist voller Familien. Kinder spielen im Sand, Frauen sonnen sich. Die Idylle wird abrupt gestört von einer Gruppe Polizisten, die den Ort absperren und mit Schaufeln beginnen, ein Loch zu graben. Das weckt die Neugier der Tourist*innen, die tuschelnd versuchen zu erspähen, was der Sand verbirgt: Es ist der leblose Körper von Milagros Naguas, einer 46-jährigen Frau und Mutter aus dem Bundesstaat Aragua, die zusammen mit ihrem Mann Strandliegen und Sonnenschirme vermietete und Kokosnüsse am Strand verkaufte.

Der Fall Milagros Naguas ist nur einer von 167 Femiziden, über den das Onlinemedium Utopix 2019 in seinem allmonatlichen Register berichtete. Weil der venezolanische Staat seit 2016 keine offiziellen Zahlen zu diesem Tatbestand veröffentlicht, ist nun eine andere Art der Dokumentation nötig. Laut venezolanischem Recht ist der Femizid „die extremste Form geschlechtsspezifischer Gewalt, die auf dem Hass oder der Geringschätzung einer Person aufgrund ihres Frau-Seins beruht, und die in ihrem Tod endet, sei es im öffentlichen oder privaten Umfeld”. Trotz diverser staatlicher Maßnahmen, um dem Problem der Gewalt gegen Frauen zu begegnen, steigt die Zahl der Femizide weiter an. Das Grundgesetz über das Recht der Frauen auf ein Leben ohne Gewalt, das 2014 reformiert wurde, beschreibt 21 Gewaltformen und schafft den Nationalen Ombudsrats für Frauenrechte und defensoras comunales (Gemeindeverteidigerinnen). Sogar eine Nationale Kommission für Geschlechtergerechtigkeit im Justizwesen, mit 91 Gerichtshöfen für Gewaltdelikte gegen Frauen sowie 714 spezialisierten Staatsanwaltschaften, wurde eingerichtet.

Trotzdem steigen die Zahlen weiter: Zwischen Januar und September 2020 zählten verschiedene Medien 195 Femizide – 46 Prozent mehr als im vergangenen Jahr. Allerdings ist dieser Anstieg nicht nur in Venezuela zu beobachten. In ganz Lateinamerika sind die Anzeigen wegen geschlechtsspezifischer Gewalt, ebenso wie die von den Beobachtungsstellen vorgelegten Zahlen, in erschreckendem Maße gestiegen. Dies geht größtenteils mit dem Vormarsch neoliberaler Politiken auf dem Kontinent einher, die, indem sie sich ihrer Körper und Arbeitskraft bedienen, das Leben vieler Frauen direkt betreffen.

Denn es sind besonders Frauen, die die Auswirkungen der Armut und der extremen Ausbeutung in endlosen Arbeitsschichten zu spüren bekommen. Dadurch sind sie täglich vielfachen Formen von Gewalt ausgesetzt. Venezuela bildet keine Ausnahme. Vom Staat ist nun energisches Handeln gefordert, wie die Umsetzung kurz-, mittel- und langfristiger Pläne zur Bekämpfung der Frauen betreffenden Ungleichheiten. Es braucht Maßnahmen, die alle öffentlichen Bereiche, wie Gesundheit, Bildung, Kommunikation und Kultur, umfassen. Ein gutes Beispiel sind Kampagnen für Kinder und Jugendliche zu geschlechtsspezifischer Gewalt, die die traditionellen Geschlechterrollen dekonstruieren und schon im Kindesalter gegen Stereotype angehen. In Venezuela ist die Lage allerdings noch durch den aktuellen politischen Kontext verkompliziert. Das Land befindet sich in einer ernsten Wirtschaftskrise und ist von der Blockade durch das Ausland schwer getroffen.

Aktivistinnen wie Maritza Sanabria vom feministischen Kollektiv Mujer Género Rebelde (MUGER) meinen, erschwerend komme hinzu, dass trotz vorhandener fortschrittlicher Rechtsinstrumente „weder das Gesetz mit dem notwendigen Nachdruck angewendet wird, noch die Institutionen in angemessenem Maße auf das Thema der Gewalt gegen Frauen und Femizide reagieren. Verfahren verzögern sich, Opfer leiden unter Reviktimisierung, im Justizsystem herrscht Korruption. Außerdem ist das Personal in den Beschwerdestellen nicht für das Thema sensibilisiert und das Gesetz wird nur nach dem Ermessen der Staatsanwält*innen angewendet”.

Schon der Weg zur Anzeige geschlechtsspezifischer Gewalt ist voller Hürden. Es beginnt damit, dass Frauen, wenn sie eine Anzeige aufgeben wollen, nicht angehört werden, weil sie einen kurzen Rock tragen – und das, obwohl es hierfür keinen Dresscode gibt. Es setzt sich damit fort, dass Polizeibehörden versuchen, eine „Mediation” durchzuführen, die im Gesetz überhaupt nicht existiert. Sie erzwingen einen „Dialog” zwischen Täter und Überlebender und machen letztere damit erneut zum Opfer. So sehen Frauen sich immensen Verzögerungen bei der Klärung der Fälle ausgesetzt.

Dieser weibliche Körper gehört mir. Er wird nicht angefasst. Er wird nicht vergewaltigt. Er wird nicht getötet.

Ein Beispiel dieser Reihe von Straffreiheiten ist der Fall von Andreína Torrealba, Sprecherin und Jugendbeauftragte der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV). Sie hatte in ihrer Beziehung Vergewaltigung, physische und psychische Gewalt sowie Belästigung durch ihren Partner erlitten. Es gelang ihr aber, dies bei den polizeilichen Behörden zur Anzeige zu bringen. Dort begann ein Prozess schrecklicher Reviktimisierung seitens der verschiedenen Justizbehörden: Zunächst ließ man sie bei der Nationalgarde im Bundesstaat Bolívar keinen detaillierten Bericht abgeben. Später, bei der medizinisch-forensischen Untersuchung, wurden nur die Hämatome an den Armen berücksichtigt und kein gynäkologisches Gutachten erstellt. Dieser Vorgang verstößt gegen das von der Staatsanwaltschaft angeordnete Protokoll. Bei der Vorladung auf der polizeilichen Koordinationsstelle wurde Torrealba nicht nur vom Polizeipersonal belästigt, sondern auch von ihrem Peiniger überrascht, der versuchte, ihre Aussage zu diskreditieren und sie zu zwingen, die Anzeige fallen zu lassen. Es gibt bisher keine Fortschritte bei der Aufklärung ihres Falls. Der Aggressor läuft noch immer frei herum, ohne dass Schutzmaßnahmen ergriffen wurden.

Letztendlich ist eine der Hauptforderungen der feministischen Bewegungen eine Gesetzesreform und die Kategorisierung des Feminizids in Abgrenzung zum Femizid. In Venezuela wird dieser Terminus verwendet, um einen Femizid zu beschreiben, bei dem der Staat sich durch sein Handeln oder unterlassenes Handeln mitschuldig gemacht hat. So sollen direkte Sanktionierungen der beteiligten Staatsbeamt*innen ermöglicht werden. Ein eindeutiges Beispiel dafür ist die Ermordung der Unternehmerin Karla Ríos durch ihren ehemaligen Partner am 31. Juli 2020. Trotz der gegen ihn erstatteten Anzeigen wegen physischer und psychischer Gewalt und Entführung war der Mann nach Zahlung einer Geldstrafe wieder freigekommen. So hat der Staat zugelassen, dass er seine Drohung, Ríos zu töten, in die Tat umsetzte. Weil sich Situationen wie diese tagtäglich wiederholen, beschlossen Organisationen wie Tinta Violeta, Faldas R und die venezolanische Vereinigung für eine alternative Sexualerziehung (AVESA), sich zusammen zu schließen. In gemeinsamer Arbeit unterstützen sie nun Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind. Tinta Violeta hat den ehrenamtlichen Dienst Mayell Hernández für die Betreuung und Begleitung von Überlebenden ins Leben gerufen. Sie erhalten Unterstützung vom Kollektiv Faldas R, das die Freiwilligen in rechtlichen Fragen ausbildet und berät, AVESA vermittelt dem Personal psychologische Kenntnisse. Das Programm ist nach der Tanzstudentin Mayell Hernández benannt, die einem Femizid zum Opfer fiel.

Die Aktionen dieser feministischen Organisationen beschränken sich aber nicht nur auf Bildungsarbeit und die Auseinandersetzung mit einzelnen Fällen. Daniella Inojosa, Mitglied der Organisation Tinta Violeta und eine der Gründerinnen des Hilfsdienstes Mayell Hernández erklärt, dass sie weiterhin „beständig Beschwerden beim Justizsystem einreichen und Schutzanträge stellen müssen, weil die Behörden in diesen Angelegenheiten untätig zusehen“. Diese Beschwerden haben sie dazu gebracht, Strategien zu entwicklen, wie sie Unrecht anzeigen, das einigen Überlebenden von machistischer Gewalt widerfahren ist. Wie beispielsweise im Fall von Andreína Torrealba, der die Organisationen dazu bewegt hat, eine Social-Media-Kampagne unter dem Slogan „Si tocan a una, nos tocan a todas” (auf Deutsch etwa: „Ein Angriff auf eine ist ein Angriff auf uns alle“) zu starten. Die Kampagne läuft bis heute und prangert den immer noch in Freiheit lebenden Täter an.

Trotz der Ungerechtigkeiten, der Sanktionen und des Coronavirus unterstützen und mobilisieren die feministischen Bewegungen weiterhin. Denn nur als Kollektiv können sie Veränderungen bewirken, die das Leben tausender Frauen verbessern werden. Weil die Quarantäne in Pandemiezeiten die Situation noch verschlimmert hat, haben feministische Bewegungen und Einzelpersonen nun einen Forderungskatalog veröffentlicht. Zu der Liste gehört die Umsetzung eines umfassenden Versorgungsplans und die Einrichtung von Frauenhäusern. Sie fordern außerdem eine öffentlichkeitswirksame Kampagne zur Aufklärung über verschiedene Formen von Gewalt und Hilfsangebote. Maritza Sanabria fasst es treffend zusammen: „Wir wollen, dass der Staat sich umschaut und uns zuhört. Denn wir übertreiben nicht, wenn wir sagen: Sie töten uns. Das ist die Pandemie!”

SOZIALE BEWEGUNGEN GEWINNEN DIE STRASSE ZURÜCK

Bergbaudorf Quime Die Tourist*innen bleiben aus (Foto: flickr.com / Wandering Tamil (CC BY-SA 2.0)

„Sie unterschätzen die Kraft des Volkes“, ließ Orlando Gutiérrez, Generalsekretär der Bergarbeiter*innengewerkschaft FSTMB Anfang August verlauten. Er und weitere Vertreter*innen des nationalen Gewerkschaftsbundes COB, des Einheitpakts indigener Organisationen, der Landfrauenunion Bartolina Sisa und anderer Organisationen hatten die Verhandlungsrunde mit der Wahlbehörde TSE ergebnislos verlassen. Einige Tage zuvor hatten die sozialen Bewegungen begonnen, weite Teile des Landes durch eine Blockade lahmzulegen. Die Forderung: Einhaltung des gesetzlich vorgeschriebenen Wahltermins bis spätestens 6. September. Diesen Wahltermin hatte der Wahlrat auf den 18. Oktober verschoben. Begründet hatte die Behörde die erneute Verschiebung der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen mit der Corona-Pandemie und dem erwarteten Höhepunkt im August/September. Jetzt war der Vorsitzende des TSE, Salvador Romero, nicht bereit, mit den Vertreter*innen der Blockierenden einen Kompromiss auszuhandeln.

Romeros sture Haltung verleitete Innenminister Arturo Murillo zum Vorwurf, der Behördenleiter würde das Land in Brand setzen, „weil er den Wahltermin willkürlich verschoben hat“. Sichtlich nervös versuchte Murillo jede Verantwortung von sich zu weisen. Dabei hatte die Regierung zuvor auf die Verschiebung der Wahlen gedrängt. Aber die Wucht der Mobilisierung Anfang August hatte den Innenminister, wie die gesamte De-facto Regierung, überrascht. Vor allem die zunehmenden Rücktrittsforderungen der Blockierer*innen musste der Innenminister ernst nehmen. Die Proteste hatten das Potenzial, zu einer echten Gefahr zu werden.

Die Basis der Proteste findet man an der Peripherie der großen Städte, in der indigenen Metropole El Alto und vor allem auf dem Land

Dass es dennoch am 12. August zu einer Einigung kam, auf die sich auch die Protestierenden auf der Straße einließen, lag an der Führung der Partei Bewegung zum Sozialismus (MAS). Diese setzt nach wie vor auf eine erneute Machtübernahme durch Wahlen. Die Ausweitung und Radikalisierung der Proteste hatten zwar das Potenzial, die aktuelle Regierung aus dem Amt zu jagen, nicht geklärt war allerdings, was dann kommen würde. Aus diesem Grund twitterte Ex-Präsident Morales: „Man sollte verantwortlich zwischen dem Rücktritt von Jeanine Áñez, der unsere Rückkehr zur Demokratie weiter verzögern würde, oder schnellen Wahlen unter der Aufsicht der Vereinten Nationen entscheiden.“

Dass eine Radikalisierung der sozialen Bewegungen auch eine gewisse Gefahr für die MAS bot, wurde auf der Pressekonferenz deutlich, die die sozialen Bewegungen nach der Verkündung des Kompromisses abhielten. Segundina Flores von der Landfrauenunion Bartolina Sisa, warf den MAS-Funktionär*innen vor, den Kompromiss „hinter dem Rücken des Einheitspakts und ohne uns ausgehandelt zu haben“, und fuhr fort: „Wir sind die Gründer*innen des politischen Instruments (MAS) und wir müssen darin die entscheidende Rolle spielen.“ Eine klare Ansage gegen die politischen Funktionär*innen der Bewegung zum Sozialismus. Dass die Organisationen den Kompromiss dennoch akzeptierten und zu einer Pause der Blockaden aufriefen, lag sicherlich auch daran, dass es zu diesem Zeitpunkt bereits unrealistisch war, die Wahlen für den 6. September zu organisieren.

Die De-facto Regierung versuchte die Einigung und den ausgebliebenen Aufstand als Erfolg für sich zu verbuchen. Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie in den vergangenen Monaten in die Defensive geraten ist. Die Journalistin Verónica Zapata stellt fest, dass sich neun Monate nach der Wahl die Kräfteverhältnisse grundlegend verändert haben: „Konnte man 2019 noch einen Mangel an Organisierung innerhalb der sozialen Bewegungen feststellen, der den Verlust der Straße durch die Gewalt der Streitkräfte zur Folge hatte, hat sich dieses Kräfteverhältnis neun Monate später verändert.“ Bergarbeiter*innen, indigene und Campesino-Organisationen haben auf der Straße inzwischen die Oberhand. Während der Blockaden ließ sich das Militär gar nicht, die Polizei nur sporadisch blicken. Nur an ganz wenigen Stellen wurden Blockadepunkte aufgelöst.

Die Basis der Proteste findet man an der Peripherie der großen Städte, in der indigenen Metropole El Alto und vor allem auf dem Land. „Hier haben wir alle an den Blockaden teilgenommen“, meint José Antonio, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, während er auf Fahrgäste für sein Sammeltaxi wartet, mit dem er von Inquisivi nach Quime pendelt. Die Provinz liegt etwa drei Autostunden vom Regierungssitz La Paz entfernt. Von der Regierung hält er gar nichts, sie würden sich nur um ihre persönliche Bereicherung kümmern, während es für sie auf dem Land immer schlechter laufe: „Die Corona-Maßnahmen haben uns wirtschaftlich stark geschädigt.“ Durch den Lockdown sei außerdem der Handel mit El Alto behindert.

In der Provinz Inquisivi geht es seither noch gemächlicher zu. Auch Abel bestätigt das. Er verwaltet eines der beiden Hostels in dem Bergbaudorf Quime, besser gesagt, er passt darauf auf. Weniger als ein halbes Dutzend Tourist*innen hätten sich seit den Unruhen im November vergangenen Jahres hier her verirrt. Auch die Haupteinnahmequelle, der Bergbau, ist teilweise zum Erliegen gekommen. „Die fallenden Rohstoffpreise sind schlecht für uns“, meint ein Bergbauarbeiter, der sich die Zeit auf dem Dorfplatz vertreibt. Die Preise sind bereits seit geraumer Zeit im Keller und wegen der Corona-Krise ist kein Ende in Sicht. Das Virus macht den Menschen hier weniger Sorgen, bestätigt der örtliche Apotheker. „Wir haben bisher keine schweren Fälle gehabt, die wenigen Infizierten befinden sich in Quarantäne.“ Kaum eine*r trägt hier einen Mund-Nasen-Schutz, das Leben verläuft normal, allerdings in noch ruhigeren Bahnen als vorher, wegen der Reisebeschränkungen.

Die Gelassenheit überrascht, denn Bolivien gilt mit rund 120.000 bestätigten Corona-Fällen bei einer Bevölkerung von 11,5 Millionen als eines der am stärksten betroffenen Länder Lateinamerikas. Ganz anders ist die Stimmung am Regierungssitz La Paz. Im Stadtzentrum tragen 90 Prozent der Menschen Gesichtsmasken und nicht selten sieht man auch Passant*innen vorbeihuschen, die Infektionsschutzanzüge, Gasmasken und Schutzbrillen tragen. Größer könnte der Kontrast kaum sein. Dabei ist es schwer, wirklich verlässliche Zahlen über den Verlauf der Pandemie zu erhalten. Die Regierung und die zuständigen Behörden, so scheint es, haben den Überblick verloren. Offiziell gibt es bisher rund 5.000 Menschen, die mit oder an Covid-19 gestorben sind. Am 22. August berichtete die New York Times, dass seit Juni die Sterblichkeit in Bolivien um 20.000 Tote höher war als im Vergleichszeitraum vergangenen Jahres. Chefvirologe Prieto dementierte die Zahlen sofort und meinte: „Würden diese Zahlen stimmen, wären unsere Friedhöfe bereits kollabiert, das ist aber nicht der Fall“. Auf dem Friedhof in Obrajes geben Friedhofarbeiter*innen dagegen an, dass sie zurzeit die dreifache Anzahl an Beerdigungen haben. Auch die Preise für Beerdigungen sind stark angestiegen.

Der Macht- und Vertrauensverlust in die Exekutive ist enorm

Selbst die Anhänger*innen von Áñez trauen der Regierung nicht mehr zu, der Situation Herr zu werden. Sie hat es zu keinem Zeitpunkt geschafft, sich als Macherin in der aktuellen Krise zu präsentieren. Vielmehr sind ihre Maßnahmen begleitet von Dilettantismus und wahrscheinlich auch von Korruption. So fehlte bei 170 Beatmungsgeräten, die im Mai ankamen, nicht nur die Software und es wurde ein überhöhter Preis bezahlt, sondern inzwischen sind angeblich auch die meisten der Geräte nicht mehr auffindbar.

Der Vertrauensverlust in die Exekutive ist auch deswegen enorm. Zum Machtverlust auf der Straße kommt auch der Machtverlust innerhalb der Institutionen. Die beiden Parlamentskammern übernehmen immer mehr die Aufgaben der Exekutive. So hat Eva Copa von der MAS, die Vorsitzende des Senats, Ende August mehrere Gesetze unterzeichnet. Laut Verfassung ist das dann möglich, wenn der*die Präsident*in des Landes ihre Unterschrift ohne triftigen Grund verweigert. Zu den von Copa unterzeichneten Gesetzen gehört eine Verordnung, die Privatkliniken dazu verpflichtet, Corona-Fälle zu behandeln, und eine Verordnung, die es Mieter*innen erlaubt, ihre Miete während der Pandemie um 50 Prozent zu mindern. Auch der Kompromiss um den Wahltermin wurde von den Parlamentskammern mit der Wahlbehörde, der UNO und der katholischen Kirche ausgehandelt. Áñez konnte danach lediglich ihre Unterschrift daruntersetzen.

Dennoch ist der Machtkampf in Bolivien noch nicht entschieden. Trotz der Unzufriedenheit mit der De-facto-Regierung gibt es immer noch einen relevanten Teil der Bevölkerung, die einen möglichen Wahlsieg der MAS fürchtet wie der Teufel das Weihwasser. Ab September beginnt die Einschreibung ins Wahlregister und damit die heiße Phase des Wahlkampfs. Das Anti-MAS-Lager ist nach wie vor uneinig und es ist wenig wahrscheinlich, dass sich das ändert. Der Vorsitzende der bolivianischen Bischofskonferenz Ricardo Sentellas bezweifelte kurz nachdem seine Kirche als Vermittlerin bei der Festlegung des Wahltermins auftrat, dass es transparente Wahlen geben werde. „Mit dem aktuellen Wählerverzeichnis kann es keine freien Wahlen geben“, ließ der Geistliche verlauten und wies auf das (seiner Meinung nach) „Schweigen der Justiz zum Wahlbetrug vergangenen Oktober“ hin.

Diese Position zeigt, dass es wahrscheinlich ist, dass auch mit den Wahlen im Oktober die Spaltung des Landes nicht überwunden wird, und liefert jetzt bereits beiden Seiten Argumente, einen Wahlsieg der anderen Seite nicht anzuerkennen. Damit sind Konflikte über den 18. Oktober hinaus ziemlich wahrscheinlich. Gewinnt die MAS, sind Proteste der Bürgerkomitees vor allem in Santa Cruz absehbar, gewinnen Jeanine Áñez oder Carlos Mesa, dann kann es gut sein, dass die sozialen Bewegungen und indigenen Organisationen das nicht akzeptieren werden.

OLIGARCHIE ESSEN DEMOKRATIE AUF

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NADESDHA GUEVARA OROPEZA

ist Anwältin und Menschenrechtsaktivistin und vertritt einige der Opfer des im November 2019 durch das bolivianische Militär in Senkata verübten Massakers. Sie hat bei den Vereinten Nationen eine Reihe von Beschwerden zu Menschen- rechtsverletzungen eingereicht und kooperiert mit der Assoziation für Men- schenrechte in Bolivien, die die Menschenrechte aus einer dekolonialen Perspek- tive betrachtet und sich für die verarmten Sektoren im Land einsetzt. Guevara sieht sich in der Tradition des andinen Widerstands von Tupac Amaru II, Micaela Bastidas und Tupac Katari (indigene Anführer*innen, die im 18. Jh. gegen die Kolonialmacht Spanien rebellierten) sowie deren Ziel eines vereinigten Hispano- amerikas. Sie nutzt ihren Beruf als Anwältin zur Durchsetzung des Suma Qamaña (Aymara) bzw. Sumak Kawsay (Quechua), dem in der boliviani- schen Verfassung verankerten indigenen Konzept des “Guten Lebens”.

(Foto: Privat)


Können Sie uns etwas über den politischen Kontext des Putsches in Bolivien erzählen?

Der Putsch in Bolivien ereignete sich im Kontext verschiedener Szenarien. Hier spielt zunächst die Agrarindustrie von Santa Cruz de la Sierra eine wichtige Rolle. Dieser Sektor strebte nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die politische Macht an, von der er seit 14 Jahren ausgeschlossen war. Nachdem die Regierungspartei MAS eine strategische Allianz mit der Agraroligarchie eingegangen war, wurden ihr politische Zugeständnisse in der Exekutive und Legislative gemacht. Die haben sie auch dazu genutzt, paramilitärische Gruppen zu bilden, wie wir jetzt sehen.

Zudem stand die MAS vor internen Herausforderungen, wie der Konsolidierung des plurinationalen Staates und der Bildung einer neuen Führungsspitze. Diese erwiesen sich als Versäumnisse, die die bolivianische Mittelschicht später zu ihrem Vorteil nutzte. Ein weiterer Fehler war es, zuzulassen, dass anstelle der Indigenen-, Kleinbauern- und Arbeiterbewegung die Mittelschicht zum historischen Subjekt des Kampfes wurde.

Aus geopolitischer Perspektive ist das Interesse an unseren natürlichen Ressourcen gewachsen, vor allem am Lithium. Hinzu kam, dass die bolivianische Mittelklasse behauptete, dass sie unter der Regierung der MAS in einer Diktatur lebe und für ihre Freiheit kämpfe. Die hauptsächlichen Ursachen des Putsches waren jedoch der politische Machtkampf und die Kooperation der Regierung mit den oligarchischen Sektoren.


Wie kam es vor diesem Hintergrund zu dem Putsch?

Nach dem Referendum vom Februar 2018, bei dem sich das Volk gegen die Möglichkeit einer dritten Kandidatur von Evo Morales zur Präsidentschaftswahl entschied, ließ dieser sich vom Verfassungsgericht seine Wiederaufstellung genehmigen. Als Morales die Präsidentschaftswahl im Oktober 2019 gewann, erhob die Organisation Amerikanischer Staaten den Vorwurf des Wahlbetrugs, woraufhin die rassistische Gewalt der paramilitärischen Gruppen gegen das Volk und gegen Repräsentanten der MAS begann und viele Politiker der MAS zurücktraten. Der Rücktritt von Evo Morales verursachte ein Machtvakuum und nachdem seine Nachfolgerin, Adriana Salvatierra, ebenfalls zurückgetreten war, wurde Jeanine Áñez auf nicht-demokratischem Weg von Polizei und Militär als Präsidentin eingesetzt.

Kaum an der Regierung, verbrannten sie die Wiphala, Flagge und Symbol der indigenen Nationen, und machten deutlich, dass die Indigenen an den Platz zurückgekehrt waren, der ihnen ihrer Ansicht nach zustand. Nachdem Áñez dem Militär und der Polizei per Dekret Immunität zusicherte, verübten diese im November 2019 die Massaker von Sacaba und Senkata, die von der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte als solche anerkannt wurden.


Was waren die Folgen des Putsches bezüglich der politischen Verfolgung und der Funktion der Rechtsinstitutionen in Bolivien?

Die ersten Folgen waren die Massaker und ein politischer Pakt, welcher die MAS im Parlament entmachtete und die Durchführung von Wahlen garantieren sollte. Dies war zunächst das einzige Ziel der De-facto-Regierung. Doch mit dem Ausbruch von Covid-19 begann eine noch kompliziertere Periode, die den Klassenkampf verstärkt, den Rassismus verdeutlicht und in der keines der strukturellen Probleme des Landes gelöst wird.

Unter der De-facto-Regierung gibt es einen institutionellen Kollaps und alles bewegt sich nur noch ausgehend von Regierungsanweisungen. Es gibt politisch Verfolgte der MAS, und solche, die ihr nicht angehören und deren einziges Vergehen es war, die Regierung zu kritisieren. Seit den Massakern gibt es Gefangene, die auf illegale und willkürliche Art und Weise inhaftiert wurden. Frauen mit pollera wurden von Militärs und Polizisten vergewaltigt (in Bolivien ist die pollera eine typische Bekleidung der indigenen Frauen und Kleinbäuerinnen, Anm. d. Red.). Der argentinische Fotograf Facundo Molares befindet sich weiterhin in Gefangenschaft, ebenso wie viele Frauen noch immer in den Strafanstalten für Frauen inhaftiert sind.

Der institutionelle Bruch zeigt sich auch darin, dass die paramilitärischen Gruppen von der Regierung nicht nur toleriert, sondern auch finanziert werden. Vor einigen Tagen ließ die Regierung verlauten, dass es politisch angemessen sei, die Demonstranten zu erschießen. Hinzu kommt, dass in Bolivien drei Millionen Arbeitslose und ein Anstieg der extremen Armut erwartet werden. Das Gesundheitssystem wurde privatisiert, das Schuljahr wurde aufgrund der Pandemie ausgesetzt.

Das sind die Folgen des Putsches und eines Staates, der kein Rechtsstaat ist und der auf Kritiker das Strafrecht anwendet, das diese nicht als Bürger behandelt, sondern als Terroristen brandmarkt. Aufgrund dieser Situation sehen sich die sozialen Bewegungen nun gezwungen, sich zu äußern. Gleichzeitig schürt die Regierung Hass und stigmatisiert diejenigen, die von ihrem Recht auf Protest Gebrauch machen, als Angehörige der MAS. Die Bevölkerung ist unzufrieden und mobilisiert sich, aber gleichzeitig ist sie auch tief getroffen, denn seit neun Monaten ist kein neuer sozialer Pakt (gemeint ist ein gesellschaftliches und politisches Übereinkommen zur Überwindung der Spaltung der Gesellschaft, Anm. d. Red) ausgehandelt worden.


Wie ist die aktuelle Situation in Bolivien und wie ist es zu den erneuten Mobilisierungen gekommen?

Viele sahen in den Wahlen, die für den 6. September angesetzt waren, einen politischen Ausweg. Zwar bestand Unsicherheit darüber, welche Partei gewinnen würde, aber es wurde angenommen, dass ein neuer sozialer Pakt verhandelt werden würde. Dann jedoch gab der Wahlprüfungsausschuss bekannt, dass sich die Wahl auf den 18. Oktober verschieben würde. Daraufhin wurde in El Alto ein Treffen von sozialen Bewegungen und Gewerkschaften einberufen und dem Wahlprüfungsausschuss ein Ultimatum von 72 Stunden gestellt, um zum ursprünglichen Wahltermin zurückzukehren. Würde dies nicht geschehen, käme es zu nationalen Blockaden.

Wie angekündigt begannen nach Ablauf der 72 Stunden die Blockaden. Nachdem regierungsnahe Sektoren wie das oligarchische Bürgerkomitee von Santa Cruz verlauten ließen, dass wir von der indigenen Bewegung Bestien seien, dass wir es nicht verdient hätten, Bürger zu sein, und dass wir die Hand beißen würden, die uns zu essen gäbe, erhielten die Blockaden Zulauf. Die Indigenen und Kleinbauern repräsentieren über 80 Prozent der Bevölkerung des Landes und die Indigenen sind in der Verfassung mit 36 Nationen anerkannt. Zudem ließen das Bürgerkomitee und die Regierung verlauten, dass Bolivien „zur Republik zurückkehren“ sollte (gemeint ist eine Rückkehr zur vor der MAS-Regierungszeit gültigen Verfassung, Anm. d. Red.). Diese Vorkommnisse verschärften die Streitigkeiten, weswegen sich die Losung der Mobilisierungen schließlich nicht mehr auf den Wahltermin bezog, sondern auf den Rücktritt von Áñez.

Es wurde versucht, die Blockaden unter anderem mit dem Vorwurf, sie würden den Transport von Sauerstoff für Covid-19 Patienten verhindern, zu delegitimieren. Doch es hat seit zwei Monaten keine Sauerstofflieferungen gegeben und das Gesundheitssystem ist seit neun Monaten praktisch inexistent. Schließlich jedoch akzeptierte das Parlament, in der die MAS die Mehrheit stellt, den neuen Wahltermin am 18. Oktober und hob die Blockaden auf, rief aber gleichzeitig die permanente Alarmbereitschaft aus.


Wie wird es jetzt weitergehen, nachdem der neue Wahltermin akzeptiert und die Blockaden aufgehoben wurden?

Es zeichnet sich ab, dass es zu einer politischen Verfolgung derjenigen kommt, die zu den Mobilisierungen aufgerufen haben. Es wurden diesbezüglich Anzeigen erstattet, die von der Staatsanwaltschaft aufgenommen wurden. In Samaipata wurden 43 Personen auf unrechtmäßige und willkürliche Weise festgenommen. Drei von ihnen befinden sich in Präventivhaft. In San Ignacio de Moxos haben drei Menschen Schusswaffenverletzungen durch die Paramilitärs erlitten und wir haben im Resultat ein in seiner Würde verletztes Volk. Heute sehen wir die Notwendigkeit uns zu organisieren, denn wir wissen, dass der Staat durch Polizei, Militär und Paramilitär darauf vorbereitet ist, das Volk zu unterdrücken. Angesichts der Verschärfung des Problems ist das Einzige, was uns bleibt, eine Volksmacht zu organisieren. Wir wissen nicht, ob die Wahlen tatsächlich stattfinden werden. Aber was wir wissen,ist, dass es notwendig ist, uns zu organisieren, uns zu vereinen und zu kämpfen.

DIE HÜGEL ORGANISIEREN SICH WIEDER

Laut und riesig Demonstrationszug vom benachbarten Viña del Mar nach Valparaíso (Foto: Vania Berríos)

„Ich fühle mich wie am Tag nach dem NO, glücklich“, bemerkt ein Nachbar in einem kleinen Laden im Viertel Cerro Bellavista. Der Tag nach der bislang größten Demonstration Chiles mit über sechs Millionen Teilnehmenden im ganzen Land fühlt sich für ihn und viele andere befreiend an. Nach der Aufhebung der Ausgangssperre ist die Stimmung zum ersten Mal lockerer, der Wind weht Musikfetzen durch die Straßen, es herrscht Wochenendtreiben in den Hügeln. Inzwischen macht sich das Gefühl breit, dass die erste Seite eines neuen Kapitels aufgeschlagen wurde. Wie damals vor 31 Jahren, als die Mehrheit der Bevölkerung gegen ein Verbleiben an der Macht des Diktators Augusto Pinochet für weitere acht Jahre stimmte.
Die letzten Wochen waren voller vielseitiger Gefühle. Das Bewusstsein, einen historischen Moment mitzuerleben, ihn mit zu gestalten. Die Mühe, zu verstehen, was gerade geschieht. Die Ungläubigkeit über die Ausmaße der Proteste. Die riesige Hoffnung, wirklich etwas ändern zu können. Aber auch die Wut und der Schrecken angesichts der Toten, der Verschwundenen, der Gefolterten, der sexualisierten Gewalt… es wiederholt sich. Viele Bewohner*innen von Valparaíso sehen Parallelen zu den siebziger Jahren. Auch jetzt singt die Bevölkerung wieder El pueblo, unido, jamás será vencido („Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden“) , die Polizei und das Militär reagieren mit Gewalt und agieren, als gäbe es keine Menschenrechte zu wahren, als ob es 30 Jahre Demokratie nie gegeben hätte.

Zwischen Demonstrationen, Polizeigewalt, Plünderungen und kreisenden Militärhubschraubern versuchen die Menschen, ihr tägliches (Über-)Leben zu sichern

Zwischen Demonstrationen, Polizeigewalt, Plünderungen und kreisenden Militärhubschraubern versuchen die Menschen, ihr tägliches (Über-)Leben zu sichern. Valparaíso hat dabei wie immer zwei Gesichter: Hektik in der Ebene, Ruhe in den Hügeln. In der Ebene, dem Stadtzentrum, gehen tagsüber die Demonstrationen weiter. „Das Volk, das Volk, das Volk, wo ist es? Es ist auf den Straßen und fordert Würde!“, rufen die Protestierenden seit drei Wochen. Genau darum geht es seit Beginn der Proteste: die Würde zurück zu erlangen, die Bedingungen für ein Leben in Würde zu erkämpfen. Vor der Regionalverwaltung und auf den zentralen Plätzen sammeln sich Menschen, halten dort die Stellung oder versuchen, bis zum Kongress zu marschieren. Dabei sind vor allem Studierende und Aktivist*innen sozialer Bewegungen, zunehmend auch Gewerkschafter*innen und Familien. Die Demonstrant*innen schlagen auf ihre Kochtöpfe, die mit anderen Instrumenten zusammen spontane Protestorchester entstehen lassen.
Viele sind demonstrationserprobt, stellen sich Wasserwerfern und Tränengas fröhlich und ohne Angst entgegen. Solidarisch wird allen, die etwas abbekommen haben, eine Lösung aus Wasser und Backpulver ins Gesicht gespritzt. Tanzende Comparsas (Karnevalsgruppen) und Clowns lockern die Stimmung auf. Die Momente, in denen die Polizei mit Gummigeschossen ausrückt, sind gefürchtet, aber die Demonstrierenden lassen nicht locker. Am Rande wird Demozubehör angeboten: Mundschutz für 100 Pesos (umgerechnet 12 Cent) und Zitronen, um den Effekt des Tränengases abzumildern. „Es erstaunt mich immer wieder, wie die Chilenen es selbst unter den widrigsten Bedingungen schaffen, Kleinstunternehmen zu errichten“, bemerkt eine Demonstrantin. Auf dem Weg nach Hause geht sie noch einen Kaffee trinken, auch wenn es schwierig ist, ein offenes Café zu finden.
Denn ein Großteil der Geschäfte ist geschlossen, viele wurden geplündert und in Brand gesteckt. In den ersten drei Tagen herrschte ein reger Verkehr zwischen Stadtzentrum und Hügeln. Menschen schleppten Taschen voller Lebensmittel und Kleidung hoch, Großbildfernseher, später Fahrräder, Zelte und ganze Vitrinen voller Brillen. Autos aller Art, von Klapperkiste bis SUV, fuhren vollgepackt bis ans Dach nach oben. Im Laufe der Protesttage tauchen immer mehr Videos in den sozialen Netzwerken auf, die zeigen, wie den Demonstrant*innen mit erheblicher Gewalt begegnet wird. Bei Plünderungen zeigten sich Polizei und Militär jedoch anfangs völlig überfordert – oder, wie sich in den folgenden Tagen herausstellt, nicht immer willig, diese überhaupt zu stoppen.
So konnte ich beobachten, wie sich die Carabineros von der Plünderung einer Apotheke zurückzogen. Erst als die Apotheke ausgeraubt und in Brand gesteckt worden war, waren sie wieder vor Ort. Videos zeigen außerdem Situationen, in denen Plündernde mit Polizei und Militär verhandeln, um Zugang zu einem Supermarkt zu bekommen. Erfolgreich, denn letztlich dürfen sie den Laden aufbrechen, die Polizei zieht sich zurück und rückt kurz darauf wieder an, um einige Leute festzunehmen.

Ist die Zerstörung der Stadt politisch gewollt?

Ausgehend von Geschehnissen wie diesen, die sich rasant über soziale Netzwerke verbreiten, besteht der Verdacht, die konservative und von der Nationalregierung ernannte Regionalverwaltung ziele darauf ab, die Wirtschaft der Stadt zu zerstören. Bislang wurden 90 Geschäfte geplündert und 15 Gebäude in Brand gesteckt – Grundlage für eine Wirtschaftskrise in der Hafenstadt. Die hiesige Polizei untersteht der Regionalverwaltung, die auf Befehl von Admiral Juan Andrés de la Maza handelt, während des Ausnahmezustands zuständiger Oberbefehlshaber der Region Valparaíso. Die Zerstörung der Stadt könnte politisch gewollt sein, denn nächstes Jahr stehen Kommunalwahlen an. Der bislang erfolgreiche und beliebte linke Bürgermeister Jorge Sharp ist dem konservativen Regionalchef Jorge Martínez schon lange ein Dorn im Auge. Der Verdacht erhärtet sich, als einige Tage später von dem rechten Politiker José Antonio Kast die Twitterkampagne #fuerasharp („Hau ab, Sharp“) angezettelt wird. Die politische Einmischung rechtskonservativer Politiker*innen, die nicht in Valparaíso leben und normalerweise wenig Interesse am lokalen Geschehen zeigen, ist auffällig.
Der Bürgermeister und die Gemeindeverwaltung halten dagegen. „Wir fordern die Bürger auf, sich nicht an den Plünderungen zu beteiligen. Die Zerstörung unserer Stadt ist kein Teil der legitimen sozialen Proteste. Ebenso appellieren wir an die Behörde, der die Sicherheitskräfte unterstehen, keine weiteren Plünderungen zuzulassen. Die Bürger dieser Stadt brauchen Sicherheit“, so das offizielle Statement. Gegen die Zerstörung der Stadt trommelt der Bürgermeister eine Allianz aus Besitzer*innen kleiner Geschäfte, Tourismusbetreibenden, Kleinfischer*innen und Vertreter*innen sozialer Organisationen zusammen. Es gibt öffentliche und live gestreamte Versammlungen, in dem kleinen Fischerhafen Caleta Membrillo und zuletzt im Gymnasium Matilde Brandau de Ross, wo alle zusammen Erfahrungen und Strategien besprechen.
Zunehmend und oft erfolgreich stellen Demonstrant*innen sich den Plünderungen von kleinen Läden entgegen. Selbst bislang unpolitische Leute halten etwa auf der zentralen Plaza Victoria eine Reihe Vermummter davon ab, Parkuhren zu zerstören. „Das zeigt, dass der gesunde Menschenverstand glücklicherweise weiterhin existiert, dass die Leute hier verstehen, worum es bei den Protesten geht“, so Alejandro, ein Demonstrant, der die Szene genau wie ich beobachtet.

Solidarität und Basisorganisation

Eine völlig andere Realität herrscht währenddessen in den Hügeln, wo die Menschen versuchen, ihr Alltagsleben aufrechtzuerhalten. Die öffentlichen Plätze allerdings sehen anders aus als sonst, wenn nur zu bestimmten Zeiten Kinder und Hunde hier toben. Dieser Tage herrscht ein emsiges Treiben. Viele, die nicht an den Demos teilnehmen können oder wollen, treffen sich, analysieren das Geschehen, teilen ihre Anspannung, Ungewissheit, Schrecken und Freude. An einigen Tagen wird gemeinsam gekocht, Musik gemacht, abends werden alle Anwesenden zusammengerufen, um das Tagesgeschehen und weitere Aktivitäten zu besprechen. Pünktlich zum abendlichen Beginn der Ausgangsperre entsteht ein spontanes Konzert, auf Plätzen und aus den Fenstern erklingen Kochtöpfe, Instrumente und in voller Lautstärke El derecho de vivir en paz von Víctor Jara. Über vierzig Jahre neoliberaler Politik haben es nicht vollbracht, die Erinnerungen an Solidarität und Basisorganisation bei den Menschen auszulöschen.
Auf der Plaza Yungay nutzen die Nachbar*innen und Aktivist*innen des Gemeinschaftsgartens den Ansturm für Workshops über Selbstversorgung, städtische Landwirtschaft und Mülltrennung. Ein erstes Beet mit Salat wird angelegt. „Unser Ziel ist es, uns langfristig mit Obst und Gemüse selbst zu versorgen“, so Paola, eine der Aktivist*innen. Die Absicht stößt auf mehr Interesse als sonst, erst einige Tage zuvor hielten die Plünderungen der Supermärkte und die mediale Panikkampagne über drohende Nahrungs­­­mittelengpässe die Bevölkerung in Atem. Dagegen standen die zuverlässigen Versorgungsstrukturen an der Basis, Selbstversorgerprojekte wie dieses, die kleinen Tante-Emma-Läden in den Stadtvierteln und natürlich die Märkte, die problemlos funktionierten. Im Gemeinschafts­garten Yungay ist auch Kompost willkommen, das freut viele, denn die Müllabfuhr kommt schon seit Anfang der Proteste nicht mehr. Die Gemeindeverwaltung schickt allerdings eigene kleine Lastwagen, um den Müllbergen in den Straßen entgegen zu treten und das Chaos ein bisschen zu ordnen. Die öffentlichen Gesundheitszentren und die von der Gemeindeverwaltung betriebenen Apotheken sind geöffnet, ebenso wie teilweise die Schulen, damit die Schüler*innen ihre Mahlzeit bekommen.
Präsident Piñera hat zwar oberflächliche Veränderungen angekündigt, die Protestierenden im ganzen Land wollen jedoch nicht ruhen, ehe er selbst zurücktritt und eine verfassungsgebende Versammlung einberufen wird. Darauf konzentriert sich jetzt auch die politische Basisarbeit in den Hügeln Valparaísos. Unterstützt durch den Aufruf der Gemeindeverwaltung, wird der Schwung der Proteste zur Stärkung der Stadtteilorganisation genutzt. Die Bevölkerung trifft sich in sogenannten cabildos (Bürger*innenversammlungen), diskutiert und erarbeitet Vorschläge für eine neue Verfassung. Denn alle wissen, dass jetzt der entscheidende Moment ist, um damit zu beginnen, diesem System der institutionellen Ungleichheit gemeinsam ein Ende zu setzen.
Einige Tage nach der Megademonstration beendet Präsident Piñera den Ausnahmezustand, Menschenrechtsbeobachter*innen von Amnesty International und den Vereinten Nationen treffen ein, die Regierung setzt auf Normalisierung.
„Aber ist es ‚normal‘, nach dem was geschehen ist und geschieht, zur Normalität zurückzukehren?“, fragt ein Plakat am streikenden Gymnasium Eduardo de la Barra – dort, wo einst Salvador Allende zur Schule ging, bevor er Arzt und später Präsident von Chile wurde. Wie damals gibt es auch heute wieder Hoffnung für tiefgreifende strukturelle Veränderungen. Damit dem Neoliberalismus Grenzen gesetzt werden und ein Leben in Würde wieder möglich wird.

 

„KINDER FÜHREN MILITÄRÜBUNGEN AUS“

Gegen die Militarisierung Protest der Zivilgesellschaft // Foto: Felipe Canova, Flickr

Wie hat sich die Situation seit dem Putsch vor zehn Jahren verändert?
Auf den Putsch folgten unter anderem die Militarisierung, die Unterdrückung der Bevölkerung und eine Verschärfung der vorher schon existierenden Probleme wie Armut, Ungleichheit und eine hohe Auslandsverschuldung. Heute ist Honduras eines der ärmsten Länder Lateinamerikas, Arm und Reich klaffen weit auseinander. Die Menschen migrieren zu Tausenden in Karawanen in Richtung USA, weil sie keine Möglichkeit finden, in Honduras zu überleben.
Der Staat hat seine sozialen und wirtschaftlichen Aufgaben vernachlässigt. Mit Blick auf die Kinder und Jugendlichen schätzt die Nationale Pädagogische Universität Honduras, dass mehr als 800.000 Jungen und Mädchen wegen fehlender schulischer Einrichtungen dem Schulsystem fernbleiben. Laut Schätzungen des Ministeriums für Arbeit werden täglich circa 475.000 Jungen und Mädchen wirtschaftlich ausgebeutet. Die Teenagerschwangerschaften sind dramatisch angestiegen: Laut Gesundheitsministerium sind 25 Prozent der Schwangerschaften jährlich von Minderjährigen. Gemäß einer Studie von Save the Children ist Honduras für Kinder und Jugendliche das gewalttätigste Land mit einer Mordrate von mehr als 30 Kindern pro 100.000 Einwohner.

Und was macht die Regierung?

José Guadelupe Ruelas // Foto: Honduras Delegation

Anstatt Antworten zu finden, entledigt sich der Staat seiner Verantwortung. Er konzessioniert Straßen, die Telekommunikation, den Energiesektor, Flüsse, Land und nimmt dadurch den Menschen ihre Räume. Dazu kommt das extraktivistische Wirtschaftsmodell. Honduras hat viele Konzessionen dem metallischen und nicht- metallischen Bergbau erteilt, der die Bevölkerung dazu zwingt, ihre ländlichen Gebiete zu verlassen. Außerdem wurden die Ölpalmplantagen erweitert, die sich auf den fruchtbarsten Böden befinden, gleichzeitig jedoch verringern sich die Anbauflächen von Grundnahrungsmitteln für die Bevölkerung. Es gibt keine integrale Strategie für eine Produktion der Grundnahrungsmittel, die auch einen Zugang zu Anbauflächen für Bauern und Bäuerinnen einschließt.

Inwiefern hat sich die Rolle des Militärs verändert und welche Folgen hat dies für Kinder und Jugendliche?
Honduras hat einen enormen Militarisierungsprozess durchlebt. Dieser beruht nicht nur auf der Sicherheitsstrategie, der Prozess reicht weit in das gesellschaftliche Leben. Es gab eine Militarisierung des öffentlichen Raumes. Per Dekret wurde die Militärpolizei gegründet, die in den Straßen patrouilliert, Anzeigen entgegennimmt und Haftbefehle gegen Zivilisten ausführt. Dazu kommt die Erhöhung des Verteidigungsbudgets, der Erlass des Tazón, einer Besteuerung der Bankgeschäfte, wobei 90 Prozent dieser Gelder in den Verteidigungshaushalt fließen. Im Jahr 1994, als es noch den verpflichtenden Militärdienst gab, gehörten ungefähr 9.000 Soldaten der Armee an. Heute, 25 Jahre nach Abschaffung des Militärdienstes, gibt es mehr als 15.000.
Die Militärpolizei bewacht öffentliche Instituti-onen, darunter auch circa 40 Prozent der Schulen. Besorgniserregend ist die Ausbildung von Tausenden Mädchen und Jungen aus armen Familien im Alter zwischen 7 bis 12 Jahren innerhalb des Programms Guardianes de la Patria („Bewacher des Vaterlandes“, Anm. der Red.). Die Kinder werden samstags von Soldaten in Themen wie Gehorsamkeit, Respekt und Werten aus Militärperspektive unterrichtet. Öffentlich bekannt wurde, dass den Kindern der Umgang mit Waffen gezeigt wird und sie Militärübungen ausführen.

Was zeichnet die Regierungen der letzten Jahre aus?
Das Regime hat an Legitimität verloren, es wird des Betruges bezichtigt und ist verfassungswidrig. Die honduranische Verfassung verbietet ausdrücklich die Wiederwahl eines Präsidenten. Im Jahr 2015 wurde ein Artikel durch die Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs gestrichen, was dem aktuellen Präsidenten Juan Orlan- do Hernández zur Wiederwahl verhalf. Die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2017 wurden von nationalen und internationalen Akteuren kritisiert und als Wahlbetrug deklariert. Bis heute hat es die Regierung nicht geschafft, die Rechtmäßigkeit dieser Wahl nachzuweisen.
Bezeichnend sind auch die uferlose Korruption und die Verbindungen zwischen dem Regime und der organisierten Kriminalität. Unternehmer, Politiker und Polizei haben mit dem Drogenhandel Allianzen gebildet. Viele wurden bereits in die USA ausgeliefert. Dem wegen Drogenhandels in New York inhaftierte Bruder des aktuellen Präsidenten wird vorgeworfen, tonnenweise Kokain durch Honduras geschmuggelt zu haben. Es gibt Korruptionsvorwürfe gegen die Familien des vorherigen und des aktuellen Präsidenten, gegen Abgeordnete des Parlaments und Funktionäre des Staates. Letztere haben mehr als 300 Millionen US-Dollar aus dem honduranischen Sozialversicherungssystems veruntreut. Statt einer integralen Sozialpolitik, die Gesundheit, Bildung und Sicherheit einschließt, wendet das Regime eine Art Philanthropie gegen die Armut an. Dem Fehlen von Lebensmitteln begegnet es mit dem Verteilen von „bolsas solidarios“ (Lebensmittelpakete, Anm. d. Red.).
Charakteristisch ist die Brutalität des Regimes gegen die landesweiten Proteste. Durch die „Reform“ der Strafgesetzgebung wurde das Recht zu protestieren unter Strafe gestellt. Es ist nicht mehr erlaubt, vor dem Parlament oder Präsidentenpalast zu demonstrieren, generell wurden gegen friedlich Protestierende Gerichtsverfahren eingeleitet. Seit dem Wahlbetrug von 2017 gibt es wieder politische Gefangene, Menschen im Exil und viele Tote.

Wie verhält sich die Bevölkerung?
Frauenkollektive, Indigene, Afroindigene, Organisationen von Bauern und Bäuerinnen, Gemeinden, die durch den Bergbau betroffen sind, haben sich organisiert, um gegen die Ressourcenausbeutung vorzugehen. Zu Tausenden gehen sie gegen die offensichtliche Korruption, gegen die extraktivistischen Projekte, Privatisierungen im Bildungs- und Gesundheitssystem auf die Straße.
Die sozialen Bewegungen haben mehrere Versuche unternommen, die verschiedenen Akteure landesweit zu vereinen und die bestehenden Differenzen untereinander abzubauen. In der breiten Opposition hat sich jedoch bis heute keine legitime Führung hervorgetan, die einen gemeinsamen Kampf vereinen könnte. Die Akteure haben alle eine Forderung: den Rücktritt des Regimes, Neuwahlen, die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung und die Beendigung des extraktivistischen Wirtschaftsmodells.

 

EINE KAMPFANSAGE

Fotos: www.lavaca.org/MartinaPerosa

Es ist glühend heißer Hochsommer in Buenos Aires, als die erste Versammlung für den internationalen Streik der Frauen, Lesben, Trans und Travestis 2019 einberufen wird. Hunderte strömen an diesem Freitagnachmittag zum Auftakt der Mobilisierung, die meisten sind bereits in der Metro an ihren Pañuelos – den grünen Halstüchern als Symbol für das Recht auf Abtreibung – erkennbar. Zwischen Baustellen, alten U-Bahn-Waggons und heruntergekommenen Hochhäusern mobilisieren sich die Teilnehmer*innen der Versammlung vor dem selbstverwalteten Freiraum der Vereinigung Mutual Sentimiento im östlichen Stadtteil Chacarita. Die meisten nehmen auf dem sonnenverbrannten Gras Platz, es werden Decken ausgebreitet und Matebecher herumgereicht, Wassereis und kalte Getränke gibt es für wenige Pesos. Die Asambleas – öffentliche Versammlungen – sind das Herzstück der feministischen Bewegung. Die Asamblea ist der Ort, an dem Frauen* zusammenkommen und ihre Erfahrungen teilen, wo diskutiert und gestritten wird. Vier dieser offiziellen Asambleas wird es bis zum 8. März geben. An diesem Tag soll der dritte internationale Streik stattfinden, noch größer, noch massiver, noch diverser als alle vorangegangenen. „Es ist eine bemerkenswerte kollektive Kraft, die sich hier ausdrückt“, erklärt Verónica Gago, Organisatorin der Versammlung und eine der theorieproduzierenden Köpfe des feministischen Kollektivs Ni Una Menos, das eine wichtige Rolle in der Organisation der feministischen Proteste und des Streiks übernimmt. „Hier stehen die verschiedenen Kämpfe und auch die Konflikte innerhalb der feministischen Bewegung im Fokus. Diese Auseinandersetzung hat den Streik größer, breiter, stärker und komplexer gemacht.“ Die Diversität der Bewegung bringe natürlich Herausforderungen mit sich, aber mache gerade auch ihren Reichtum aus, findet Gago.

Und so ist die erste Asamblea ein Stelldichein verschiedenster sozialer Organisationen und Bewegungen, die ein breites Spektrum der aktuellen gesellschaftlichen Konflikte abbilden: Es reden unabhängige Gewerkschafterinnen, streikende und entlassene Fabrikarbeiterinnen, Mütter vergewaltigter und ermordeter Kinder, Sexarbeiterinnen, Sprecherinnen der Kampagne für das Recht auf Abtreibung, Aktivistinnen gegen staatliche Repression und Polizeigewalt, Bewegungen indigener Frauen, Transfrauen, Frauen aus den Armenvierteln, Organisationen migrantischer Frauen, inhaftierter Frauen und Studierendenvereinigungen. Die jeweils zweiminütigen Redebeiträge pro Person und Organisation werden zu intensiven Plädoyers, zu flammenden Appellen. Die Stimmung ist intensiv, emotional aufgeladen. Ein immer wiederkehrendes Thema ist die uralte Diskussion um Prostitution und Sexarbeit. Die gegensätzlichen Positionen finden Anklang und Ablehnung, es wird gepfiffen und applaudiert, reingerufen, zugestimmt und widersprochen. „So ist das immer in den Asambleas. Manche Positionen sind einfach unvereinbar. Aber am Ende werden wir alle gemeinsam laufen, trotz der unterschiedlichen Ansichten.“, erklärt Gabi Verra, die auch heute zur Versammlung gekommen ist. Viel wichtiger als die internen Differenzen sei, dass am 8. März alle zusammen die Straßen und Plätze einnehmen – Räume, die sonst oft von cis-Männern besetzt sind – und ihre politischen Forderungen nach Veränderung zum Ausdruck bringen. Über zwei weitere Konflikte, die in der Bewegung brodeln, herrscht zumindest in der ersten Asamblea Einigung. Da ist die Debatte um „Plurinationalität“ der Bewegung, also die Anerkennung der 36 verschiedenen indigenen „Nationen“, die auf argentinischem Territorium beheimatet sind und ihrer Kämpfe und Forderungen. Und die Frage, ob Trans, Inter und Travestis Teil der feministischen Bewegung sein können. „Hier wird niemand ausgeschlossen!“ rufen die Organisatorinnen, um die vorab über Social Media verbreiteten Versuche von transexklusiven Radikalfeministinnen, Frausein auf eine biologische Definitionen zu reduzieren, klar abzuwehren. Die Asamblea jubelt. Ein Transmann bittet die Asamblea um die Erlaubnis, teilzunehmen, die Asamblea bejaht entschlossen, cis-Männer hingegen werden ebenso lautstark weggejagt.

Die diesjährige große Debatte in Argentinien ist eine biologistische

Während in der spanischen Frauenstreikbewegung die Konfliktlinien in diesem Jahr entlang Prostitution, Leihmutterschaft und die Nicaraguadebatte laufen, in Deutschland über den Nahostkonflikt gestritten wird, ist die große Debatte in Argentinien eine biologistische. Bei der nächsten offenen Versammlung eskaliert der Konflikt. Eine Gruppe von Radikalfeministinnen ergreift das Mikrofon. Doch noch bevor sie sprechen können, entfacht sich eine lautstarke Diskussion darüber, ob ihnen Raum und Wort gegeben werden dürfe. Die Mehrheit findet, dass sie gehen müssen. Es kommt zu Gerangel und Handgreiflichkeiten und die Organisatorinnen entscheiden, die zweite Asamblea vorzeitig zu beenden, obwohl noch 80 Redebeiträge ausstehen. Bei vielen Anwesenden herrscht Unverständnis darüber, warum eine biologistische Debatte im Jahr 2019, nach Jahrzehnten aktivistischer und theoretischer Dekonstruktion von Geschlecht als rein biologische Kategorie, plötzlich wieder aufkommt. Und vor allem bei jungen Menschen – eine Entwicklung, die in mehreren Ländern zu beobachten ist. „Eigentlich war dieses Thema doch schon durch.“ Gabi Verra und weitere Teilnehmerinnen der Asamblea, die noch eine Weile in kleinen Gruppen beisammenstehen und über das gerade Erlebte diskutieren, sind enttäuscht und traurig über den Ausgang des Abends. „Den 8. März plötzlich zu einem Tag nur für cis-Frauen machen zu wollen, das geht gar nicht. Das fühlt sich an, wie viele Schritte zurückgeworfen zu werden“, findet Verra. Nach dem Eklat nimmt die Organisation, ausgehend vom Kollektiv Ni Una Menos, öffentlich Stellung. Biologistische Positionen werden als das entlarvt, was sie sind: diskriminierend und rassistisch. Es folgt eine Entschuldigung dafür, die Gruppe überhaupt in der Redeliste zugelassen zu haben und ein Appell, sich nicht von patriarchalen Ideen spalten und disziplinieren zu lassen, sondern weiterhin zusammenzuarbeiten. Bei der dritten Asamblea herrscht wieder Einstimmigkeit: Wir brauchen einen Feminismus, der so inklusiv wie möglich ist und die Lebensrealität möglichst Vieler abbildet, ist der Tenor.

Politische Praxis Mit Wut im Bauch das diskutieren, was brennt (Fotos: www.lavaca.org/MartinaPerosa)

Das bedeutet gleichzeitig, sich nicht auf eine „Gender-Agenda“ beschränken zu lassen, sondern feministische Politik auf die konkrete Situation von erneuter Verschuldung beim Internationalen Währungsfonds (IWF), explodierender Wirtschaftskrise und Inflation zu beziehen – Themen, die den Alltag in Buenos Aires begleiten und die Menschen beim morgendlichen Einkauf in der Bäckerei genauso beschäftigen wie bei der Streikversammlung. Noch ist es eine andere Situation als im Krisenjahr 2001, an das sich manche schon erinnert fühlen, aber die Leute gehen wieder auf die Straße, lärmend, mit Kochtöpfen in der Hand und Wut im Bauch. Nicht nur Arbeiter*innen, auch Menschen aus der Mittelschicht nehmen an diesen Demonstrationen teil. Und feministische Asambleas finden nicht nur zur Vorbereitung des 8. März statt, sondern im ganzen Land in den Arbeitsstätten, den Fabriken, in den Vierteln, in den Unis und Schulen. Es ist eine unmittelbare politische Praxis, in der es um all das geht, was gerade brennt und um eine Zukunft, die anders werden soll.

Und so fließt auch bei den feministischen Streikversammlungen in Buenos Aires die Tradition sozialer Kämpfe verschiedener Generationen zusammen. Daraus entsteht eine Kampfansage an die aktuelle Politik. Präsident Macri kriegt darin genauso sein Fett weg wie der IWF, die Gewerkschaftsbürokratie und die katholische Kirche. „Wir brauchen eine Strategie, damit es am Ende des Jahres jemanden gibt, der die Interessen des Feminismus repräsentiert, die letztendlich die Interessen der ganzen Bevölkerung sind“, lautet der Aufruf von Paula Arraigada von der Bewegung Trans Nadia Echazú an die Teilnehmer*innen der Asamblea. Präsident Macri muss sich im Herbst dieses Jahres seiner Wiederwahl stellen, 2020 stehen die nächsten Schuldenverhandlungen mit dem IWF an. Beide politischen Ereignisse schaffen Unsicherheit. Wie wird es weitergehen? Die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse haben sich seit Macris Amtsantritt im Jahr 2015 verändert, dem gleichen Jahr, in dem Ni Una Menos gegründet wurde. Ihre Streiks sind immer auch Streiks gegen Macri gewesen, gegen den neoliberalen Kurs seiner Regierung, die Sparprogramme, Tarifanpassungen, Massenentlassungen, Repression und Kriminalisierung sozialer Proteste. Mittlerweile gilt die feministische Bewegung als stärkste oppositionelle Kraft. Der feministische Streik am 8. März ist auch der Auftakt des politischen Jahres 2019 in Argentinien.

 

 

WIDERSTAND IST MEIN RECHT

„Es ist eine Regierung des Marketings“, sagt die Aktivistin Katy Betancourt Machoa, als wir uns bei der Cumbre Agraria, dem „Landwirtschaftsgipfel“, einer nationalen Konferenz bäuerlicher und indigener Bewegungen Ende Juli in Quito treffen. „In Fernsehbotschaften lobt die Regierung ihre Politik der konservativen Modernisierung als Agrarreform. Gleichzeitig kriminalisiert sie soziale Bewegungen in einem bisher in Ecuador nicht gekannten Ausmaß.“ Betancourt ist eine der jungen dirigentes (Repräsentant*innen) der CONAIE, dem nationalen Dachverband der indigenen Organisationen, der gemeinsam mit weiteren Gruppen die Konferenz organisierte. Und sie koordiniert die Kampagne „Widerstand ist mein Recht“, die sich zum Ziel gesetzt hat, das gerichtliche Nachspiel gegen die Massenproteste im August 2015 öffentlich sichtbar zu machen und für die Unschuld von 132 Angeklagten zu streiten. Damals hatte ein Bündnis aus indigenen Organisationen, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen im ganzen Land Straßenblockaden und Demonstrationen organisiert, um gegen eine Reihe von politischen und rechtlichen Reformen – von einem Streikverbot für öffentliche Angestellte bis zu verschiedenen Gesetzesprojekten rund um Wasser, Bergbau und Landwirtschaft – zu protestieren (vgl. LN 495/496). Betancourt sagt dazu: „Die Straßenblockade ist eine wichtige Protestform, auf die wir in Ecuador bisher immer zurückgegriffen haben und mit der es Bewegungen sogar gelungen ist, Regierungen zu stürzen. Sie soll uns jetzt genommen werden.“
Die teilweise hohen Haftstrafen der Protestierenden sind möglich auf der Grundlage eines ecuadorianischen Strafrechts, das sehr diffus formulierte Tatbestände wie Terrorismus, Sabotage oder Lahmlegung des öffentlichen Dienstes aufführt. Sieben Urteile gibt es bereits in der östlichen Provinz Pastaza, wo sieben Teilnehmer*innen einer friedlichen Demonstration zu jeweils sechs Monaten Haft und der Zahlung von drei Mindestlöhnen verurteilt wurden. Der Student Elvis Guamán hatte dort beispielsweise gegen die neue Zulassungspolitik an den öffentlichen Hochschulen protestiert: „Mit dem neuen System der Vergabe von Studienplätzen bekommen viele Leute nicht mehr den Studienplatz, den sie sich wünschen. Das ist typisch für diese ganze neue Bürokratie, da gibt es keine Entscheidungsfreiheit mehr.“ Vor Gericht hatten die Polizeizeug*innen erklärt, er sei mit Steinen und einem Stock bewaffnet auf sie losgegangen, ohne dies belegen zu können. Auch ein Maurer, der nur zufällig an der Demonstration vorbeigekommen war, wurde verurteilt.
Besonders drastische Urteile wurden in Saraguro in der Provinz Loja verhängt. Dort wurden siebzehn Männer und zwölf Frauen angeklagt. Eine von ihnen ist Maria Luisa Lozano, die wegen der „Lahmlegung des öffentlichen Dienstes“ ein Urteil von vier Jahren Haft erhielt (siehe Interview). Der Fall der Frauen aus Saraguro scheint für die Regierung inzwischen zu einer heiklen Angelegenheit geworden zu sein. Die Kampagne „Widerstand ist mein Recht“ sorgte für viel Öffentlichkeit, und Lozano erklärt, sie sei bereits zu einem Dialog mit dem Vizeminister des Inneren eingeladen worden, um „schöne Bilder fürs Fernsehen zu produzieren“. Deshalb habe sie sich dem verweigert.
Trotz eines insgesamt sehr selbstbewussten Auftretens vieler der Aktivist*innen vom August 2015 hat Katy Betancourt zufolge die Repression dennoch ihre Wirkung entfaltet und Angst verbreitet. Gerade, weil heute viele Personen vor der klassischen Protestform der Straßenblockade zurückschreckten, sei es nötig geworden, die Organisationen erstmals zu einer nationalen Konferenz zu diesem Thema nach Quito einzuladen. 800 bis 1.000 Personen aus dem ganzen Land nahmen teil. Am 21. Juli dieses Jahres begann die Cumbre Agraria vormittags mit einer Demonstration durch ganz Quito. Vor dem Agrarministerium und dem Ministerium für Bergbau wurde lautstark gegen die Agrarpolitik der Regierung und den industriellen Großbergbau protestiert. Anschließend tagten zehn Arbeitsgruppen, um ein „nationales Agrarabkommen“ mit Forderungen an die Regierung zu erarbeiten. Themen gab es viele: der Protest gegen Bergbau- und Erdölkonzessionen an China oder die Kritik an einer Bildungspolitik, die derzeit zur Schließung vieler indigen-spanischer bilingualer Dorfschulen führt. Sehr sichtbar war der Protest gegen ein Gesetzesprojekt zur Zertifizierung von Saatgut. Zum Zeichen der Verteidigung eines freien Austausches und des Nachzüchtens von Saatgut hatten die Bäuerinnen und Bauern aus ganz Ecuador Samen mitgebracht. Diese tauschten sie während der gesamten Konferenz aus. Auch Vertreter*innen der vom Erdbeben betroffenen afroecuadorianischen Gemeinden aus Chamanga in der Provinz Esmeraldas waren präsent und sammelten Spenden für von der Regierung nicht anerkannte Obdachlosen-Unterkünfte.

STRAFTAT: ZIVILCOURAGE

Maria Luisa Lozano (Foto: Susanne Schultz)
Maria Luisa Lozano (Foto: Susanne Schultz)

Maria Luisa Lozano, Sie wurden vor kurzem zu vier Jahren Gefängnisstrafe verurteilt. Wie wurde dies begründet?
Maria Luisa Lozano: Verurteilt wurde ich wegen „Lahmlegung öffentlicher Dienste“ und dazu wegen „erschwerender Umstände“. Sie behaupten, dass ich am 17. August 2015 während der Straßenblockade an der Panamericana einen Tumult organisiert und die Leute zur Straßenblockade angestachelt habe. Zudem sei ich auch verantwortlich dafür, dass Polizisten verletzt worden seien. Inzwischen habe ich Berufung eingelegt.

Was ist tatsächlich geschehen?
Es ist mir ja etwas peinlich, denn normalerweise setze ich mich aktiv für die Rechte meiner Comunidad, also meiner Dorfgemeinschaft, ein. Aber an diesem Tag war meine Tochter krank und ich war nur zufällig in der Nähe der Demonstration, weil ich dort um die Ecke Geld abheben wollte. Dann siegte eben doch die Neugier, denn ich sah viele aufgeregte Personen und überall war Polizei. Etwa 300 Leute hatten die Straße blockiert, viele Personen kannte ich aus meiner Comunidad. Kaum war ich da, warf die Polizei die ersten Tränengasbomben. Als ich zu meinem Auto fliehen wollte, weil ich keine Luft mehr bekam, hörte ich Hilfeschreie. Eine schwangere Frau aus meiner Comunidad wurde von den Polizisten brutal über die Straße geschliffen. Da rannte ich zurück und rief: ‚Ihr seid unmenschlich, lasst sie los!‘ Daraufhin befahl einer der Polizisten: ‚Nehmt die Frauen fest!‘ Sie schlugen mich und eine ältere Frau aus der Comunidad versuchte mich zu beschützen. Letztendlich wurden zwölf Frauen festgenommen. Sie hielten uns 16 Tage in Untersuchungshaft in der Provinzhauptstadt Loja und ließen uns dann wieder frei.

Wogegen protestierten denn die Leute auf der Straße?
Gegen viele Aspekte der Regierungspolitik: Für den Respekt vor der Erde, gegen den Tagebergbau. Wir hatten in unserer kommunalen Versammlung gemeinsam beschlossen teilzunehmen. Wichtig ist uns, die bilingualen Dorfschulen zu verteidigen. Diese Schulen sind mit viel Minga, also gemeinschaftlicher Arbeit aufgebaut worden, und nun schließen die Bildungsbehörden sie und konfiszieren die Schulmaterialien. Bei uns wurde ein Gemeindekindergarten geschlossen – stattdessen sollen die Frauen die Kinder nun, bevor sie sich um ihre Tiere kümmern, in ein „Kinderzentrum“ bringen. Dahin dauert es hin und zurück eine Stunde zu Fuß. Wie soll das gehen? Außerdem werden unsere Kinder so von unserer Art zu leben und zu arbeiten entfremdet. Meine Kinder sind zum Beispiel immer bei mir und lernen alles über das Säen und Ernten.

Wie bereiten Sie sich darauf vor, vielleicht ins Gefängnis gehen zu müssen?
Für mich allein, als Maria Luisa, ist das Gefängnis nicht angsteinflößend. Ich bin stark und meine Eltern, besonders meine Mutter, haben mir beigebracht zu kämpfen. Was mir aber große Sorgen macht, sind meine drei kleineren Kinder. Bevor sie geboren wurden, war ich mit meinem Mann für sechs Jahre zum Arbeiten in Spanien und ließ damals meinen Ältesten, der jetzt schon 19 ist, bei der Schwiegermutter zurück. Ich weiß, wie lange es dauert, wieder eine starke gefühlsmäßige Bindung aufzubauen. Mein Ältester hat es uns damals nicht einfach gemacht. Die aktuelle Situation belastet besonders meinen achtjährigen Sohn. Er weint immer, wenn ich das Haus verlasse: ‚Geh nicht, sonst stecken sie dich ins Gefängnis!‘ Dummerweise haben meine Kinder mal bei Bekannten ferngesehen, sahen ein Foto von mir und hörten, dass ich verurteilt wurde. Auch mache ich mir Sorgen, dass ich meine Arbeit in der Schulverwaltung verliere, wo ich etwas mehr als den Mindestlohn verdiene. Meine ganze Familie hängt davon ab.

Kennen Sie die Initiative einer Abgeordneten der Partei Pachakutik, die sich für eine Amnestie der kriminalisierten Aktivist*innen vom August 2015 einsetzt?
Ja, diese Initiative gibt es. Ich will aber vor allem, dass vor Gericht meine Unschuld bewiesen wird und auch die der anderen aus Saraguro, die noch auf ihr Urteil warten. Schließlich haben sie keinerlei Beweise für ihr Urteil vorgelegt. Ich bekomme ja zum Glück viel solidarische Unterstützung. Als ich aus dem Untersuchungsgefängnis kam, wurde ich von hunderten von Leuten in Empfang genommen. Und auch mein ältester Sohn, der inzwischen in Quito studiert, ist stolz auf mich und sagt, auch seine Freunde solidarisieren sich mit mir. Das gibt mir Kraft.

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