AMAZONIENS LANGE NACHT

Es riecht nach Rauch. Wie überall in der Stadt. Wenige Minuten vorher sind wir aus dem Boot gestiegen, das uns aus Guayaramerín, der bolivianischen Schwesterstadt auf der anderen Seite des Flusses Marmoré, nach Guajará-Mirim in Brasilien gebracht hat. Zum Frühstück in der Nähe des Hafens gibt es Tapioca, kleine Pfannkuchen aus Maniokstärke mit Käse. „Außerhalb der Stadt brennen die Viehzüchter ihre Felder ab, damit das Gras jung nachwächst“, berichtet Iremar Ferreira. Seit er 20 Jahre alt ist, setzt sich Ferreira für den Schutz Amazoniens und der indigenen Bevölkerung ein. Eigentlich sollte er Priester werden, doch er heiratete eine Indigene und das Schicksal nahm seinen Lauf. Inzwischen arbeitet er für die Nichtregierungsorganisation Instituto Madeira Vivo. Er selbst wohnt in einem kleinen Dorf am Fluss Madeira in der Nähe von Porto Velho, der Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Rondônia.
Oft greifen die Feuer der Viehzüchter auf Wälder über, erzählt Ferreira. „Das passiert nur, wenn die Vegetation geschwächt ist. Ein gesunder Wald ist zu feucht, um einfach Feuer zu fangen.“ Die diesjährigen Feuer in Amazonien sind ein Symp-tom einer viel tieferen Zerstörung des größten Waldsystems der Erde. Und die Entwicklung hält an: In den nächsten Jahren sollen gigantische Infrastrukturprojekte für die Agrarindustrie und für Bergbauprojekte entstehen.
„Wenn der binationale Staudamm gebaut würde, stünde uns das Wasser hier bis zum Hals!“ Etwa 50 Kilometer stromabwärts, hinter dem Zusammenfluss des Marmoré mit dem Beni, wo der Fluss Madeira heißt, planen die brasilianische und die bolivianische Regierung ein gemeinsames Wasserkraftwerk. Der Staudamm Ribeirão soll Teil eines grenzüberschreitenden Komplexes werden, der insgesamt vier Staudämme umfasst. Die brasilianischen Dämme, Santo Antônio und Jirau, sind bereits 2016 fertiggestellt worden, zwei weitere sollen in Bolivien, beziehungsweise direkt auf der Grenze entstehen. Auch europäische Unternehmen waren beteiligt, ein Konsortium unter Führung des belgischen Unternehmens Tractebel betreibt Jirau, das deutsche Unternehmen Voith Hydro lieferte Turbinen an beide Dämme.

„IIRSA könnte den Todesstoß für den Wald bedeuten“


Doch die Staudämme sollen nicht nur Energie liefern. „Mit den Dämmen sollen die Stromschnellen überflutet werden, um die Flüsse schiffbar zu machen“, so Ferreira. „Diese Pläne sind alle Teil von IIRSA.“ – IIRSA, das ist die „Initiative zur Integration der Regionalen Infrastruktur Südamerikas“, auf die sich im Jahr 2000 zwölf Länder Südamerikas geeinigt haben. Entlang 31 sogenannter „Entwicklungsachsen“ sollen gigantische Infrastrukturprojekte entstehen – Straßen, Staudämme, Wasserstraßen. 14 der 31 Entwicklungsachsen verlaufen durch den amazonischen Regenwald, insbesondere durch entlegene Regionen, die bislang von dem wirtschaftlichen Boom und damit der ökologischen Zerstörung verschont geblieben waren. „IIRSA könnte den Todesstoß für den Wald bedeuten“, so Ferreira.
Wir gehen einige Schritte weiter und kommen an dem Bahnhof von Guajará-Mirim vorbei. Seit dem Jahr 2000 fahren hier keine Züge mehr. Als Denkmal stehen hier noch einige Dampfloks der „Estrada de Ferro Madeira-Marmoré“, die während des Kautschukbooms Anfang des 20. Jahrhunderts gebaut worden war. Auch damals stellten die Stromschnellen der großen Flüsse ein kaum zu überwindendes Hindernis dar. Als 1903 Bolivien das Gebiet von Acre per Vertrag an Brasilien abtrat, vereinbarten die beiden Regierungen als Kompensation den Bau der Eisenbahnstrecke. Bolivien versprach sich viel von dem Projekt: Dem Land ohne Meereszugang seit 1903 sollte die Bahnstrecke den Zugang zum Atlantik über den Amazonas gewährleisten. Das Projekt erhielt den Spitznamen „Eisenbahn des Teufels“: Schätzungen zufolge starben zwischen 6.000 bis 10.000 Arbeiter*innen. Als die Eisenbahn 1912 fertiggestellt war, hatte auch der Kautschukboom sein Ende genommen, da Plantagen in den britischen Kolonien Südostasiens billiger produzieren konnten.
Nun sollen die Staudämme und die Wasserstraße den von Bolivien so ersehnten schnelleren Zugang zum Meer und damit zum Weltmarkt ermöglichen. Wenn die Stromschnellen überwunden sind, könnten bis zu 4.000 Kilometer Wasserwege in Bolivien an den Atlantik angebunden werden. „Hinter dem Projekt IIRSA steckt die brasilianische Agrarindustrie“, erzählt Ferreira. „Es geht um Viehzucht und den Anbau von Soja, Sonnenblumen, Weizen und Mais.“ In den Studien zu dem Projekt ist die Rede von einem Potenzial von 24 Millionen Tonnen Soja pro Jahr, das in Bolivien produziert werden könnte. Viele brasilianische Unternehmer*innen drängen mittlerweile auf den bolivianischen Markt. „Und dann gibt es noch Kassiterit-Lagerstätten.“ Aus dem wirtschaftlich bedeutenden Erz Kassiterit kann Zinn gewonnen werden, was die Begehrlichkeiten von Bergbaufirmen erregt.
Die Dynamik der Inwertsetzung dieses Gebietes für Bergbau und Agrarindustrie ist es auch, die die aktuellen Brände verursache, erzählt Ferreira. Mit dem Bau jeder neuen Straße in Amazonien entsteht das berüchtigte Fischgrätmuster: Von den Überlandstraßen gehen kleinere Straßen ab, von denen die Entwaldung ausgeht. Auf Satellitenaufnahmen entsteht so ein Grätenmuster inmitten des Waldes. Dies macht ihn anfälliger: Von den Straßen aus ins Innere des Waldes sinkt die Feuchtigkeit um 60 Prozent – der trockenere Wald kann leichter Feuer fangen.
Laut Ferreira, der selbst Mitglied der Arbeiterpartei PT ist, begann diese fatale Entwicklung bereits unter den Regierungen seiner Parteigenoss*innen Luiz Inácio „Lula“ da Silva (2003-2011) und dessen Nachfolgerin Dilma Rousseff (2011-2016). „Als Lula die Gesetze für die öffentlich-privaten Partnerschaften im Jahr 2004 erlassen hatte, wurden die ganzen Projekte von IIRSA möglich gemacht. Am Madeira begann dann das, was ich die Große Nacht für Amazonien nenne.“ Mit der aktuellen Regierung unter Jair Bolsonaro hätte sich die Situation enorm verschlimmert. Die beiden Staudämme Santo Antônio und Jirau waren die ersten beiden großen Infrastrukturprojekte, die im Rahmen von IIRSA realisiert wurden. Die Kraftwerke haben zu zahlreichen sozialen und ökologischen Problemen geführt. Anfang 2014 kam es zu einer großen Flut, die durch den Rückstaueffekt der Dämme verstärkt wurden. „Wenn man über die Flüsse fliegt, sieht man, wie sie sich durch die Landschaft schlängeln. Im April 2014 sah man aber nur einen geraden Fluss: Alles dazwischen war überflutet“, erzählt Ferreira. Die Betreiber der Kraftwerke leugnen dagegen, dass die Flut durch die Staudämme verursacht wurde. „Sie manipulieren die Daten, um sich aus der Verantwortung zu stehlen“, kommentiert Ferreira.

„Bis hier stand das Wasser“ Haus und Hof von Doña Flora wurden überschwemmt // Fotos: Thilo F. Papacek

Auch ohne Flut sind die Folgen der Staudämme für die Bevölkerung auf der anderen Seite des Grenzflusses in Bolivien zu spüren. In dem Städtchen Cachuela Esperanza – dem „Wasserfall der Hoffnung“ – am Fluss Beni treffe ich Vertreter*innen der Fischervereinigung. Seit die Staudämme auf der brasilianischen Seite gebaut worden sind, seien ihre Erträge um 80 Prozent zurückgegangen, weil die Fischmigrationen unterbrochen wurden. „Früher sah man hier Unmengen von Fischen die Stromschnellen hochspringen, wenn die Wanderungen kamen. Das ist jetzt vorbei“, erzählt einer der Fischer.

„Wovon sollen wir leben, wenn der Wald verschwindet?“


Auch hier soll ein Staudamm gebaut werden, auch um Stromschnellen zu überfluten. Dann würde fast der ganze Ort verschwinden. „Uns erzählen sie, dass mit dem Bau der Staudämme Arbeitsplätze entstehen. Ja, vielleicht für drei oder vier Jahre. Und was ist dann? Wovon sollen wir leben?“, sagt Don Elías Inumo, Präsident der Fischervereinigung.
Würde Cachuela Esperanza durch einen Staudamm überflutet werden, verschwände auch ein Teil des historischen Erbes von Amazonien. Cachuela Esperanza war 1882 von dem bolivianischen Kautschukbaron Nicolás Suárez Callaú gegründet worden, der hier das Zentrum seines Handelsimperiums mit modernster Einrichtung aufbaute. Viele Gebäude, die teilweise verfallen, künden noch von dieser Zeit, die Villen der Suárez-Familie, Verwaltungsgebäude und das erste Theatergebäude der Region. „Es tut mir weh zu sehen, wie das hier alles aussieht!“, erzählt mir Rafael Suárez, einer der vielen Urenkel des Ortsgründers. Er lebt, wie fast alle im Ort, vom Fischfang und vom Sammeln der Pará-Nuss, die hier „Castaña“ genannt wird. „Wenn der Wald verschwindet, können wir keine Nüsse mehr sammeln. Wovon sollen wir leben?“, fragt Don Rafael.

„Wenn der Staudamm gebaut wird, muss ich hier weg.“


Möglichkeiten für alternative Entwicklung gibt es. „Cachuela Esperanza hat ein großes touristisches Potenzial. Aber dazu müsste sich die Regierung auch um die Denkmäler kümmern“, sagt Lidia Antty von der Kommunalen Organisation Amazonischer Frauen (OCMA). In der Region gibt es noch viele Wildtiere, in den Flüssen leben Amazonas-Delfine. „Man könnte Öko-Tourismus mit Beteiligung der Bevölkerung durchführen“, meint Lidia Antty.
OCMA unterstützt auch Agroforstprojekte von Kleinbäuerinnen und -bauern. Gemeinsam sind wir in den Nachbarort Cachuela Marmoré gefahren und besuchen den Chaqueo, das kleine Feld von Flora Aracupa Chan. Die 70-Jährige führt uns durch ihre Landparzelle. Zwischen Kakaobäumen, Bananen und anderen Obstbäumen wachsen auch Edelhölzer. Wenige Hektar können auf diese Weise eine Familie ernähren. Auf den Viehweiden, die an das Dorf angrenzen, stehen dagegen drei Rinder pro Hektar. „Diese Form der Bewirtschaftung hält Feuer besser stand“, erklärt Lidia Antty. Die Agroforstbetriebe schützen also auch den Wald: Sie erhalten die Feuchtigkeit mit der Vegetation und schützen so vor Bränden.
Von der Flut 2014 war der Betrieb von Doña Flora ebenfalls betroffen. Monatelang standen ihr Haus und ihre Obsthaine unter Wasser, die meisten Bäume starben. Während dieser Zeit musste sie in einem Zelt wohnen. Staatliche Hilfe oder Entschädigung bekam sie keine. Und auch die geplanten Projekte würden sie betreffen. „Wenn der Staudamm gebaut wird, muss ich hier weg“, erzählt Doña Flora. „Aber wo soll ich hin? Mit über 70 kann ich doch nicht noch einmal anfangen!“ Die Infrastrukturprojekte in Amazonien sollen Entwicklung in die Region bringen, sagen Regierungsvertreter*innen. Doch die Kleinbäuerinnen und -bauern und Fischer*innen der Region müssten wahrscheinlich aufgeben.

 

DRECKIGER STROMDEAL IM HINTERZIMMER

Wasserkraftwerk Itaipú Schlägt auf beiden Seiten der Grenze politische Wellen // Foto: Deni Williams CCBY 2.0

Das Wasserkraftwerk Itaipú sorgt wieder für Streit. Der Rücktritt des paraguayischen Chefs der Energiebehörde ANDE, Pedro Ferreira, hat die Regierung Paraguays Ende Juli in eine handfeste politische Krise gestürzt. Ferreira begründete seinen Schritt mit der Missbilligung des neuen Vertrages zwischen Brasilien und Paraguay, in dem die Mechanismen und die Preise für den Verkauf von Strom aus dem Kraftwerk festgelegt wurden. Insbesondere die kolportierten Regeln für den Verkauf von Energieüberschüssen erhitzen dabei die Gemüter in Paraguay. Denn die neuen Regeln sind – laut Perreira – höchst unvorteilhaft für das kleine Land im Vergleich zum großen Nachbarn Brasilien. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass der Vertrag in Geheimverhandlungen zwischen den beiden Regierungen geschlossen wurde.
Seit die Verhandlungen über den Bau des – gemessen an der installierten Kapazität – zweitgrößten Staudamms der Welt in den 1960er Jahren begannen, haben die Diskussionen über das Projekt nie aufgehört. Insbesondere in der paraguayischen Öffentlichkeit war Itaipú immer umstritten. Im Jahr 2016 präsentierte sich das binationale Betreiberunternehmen voller Stolz mit dem Titel „weltweit größter Energieproduzent“, nachdem das Kraftwerk in seiner bisherigen Laufzeit 103.098.366 Megawattstunden erzeugt hatte. Doch verschiedene soziale Bewegungen, Politiker*innen und Intellektuelle ziehen die Vorteile, die das Kraftwerk Paraguay angeblich bringt, in Zweifel. Hauptpunkt der Kritik ist, dass Itaipú vor allem Brasilien einseitige Vorteile biete. Aus diesem Grund verlangen Politiker*innen und Aktivist*innen immer wieder eine Neuverhandlung des Vertrages von Itaipú. Der ehemalige Präsident Fernando Lugo (2008-2012), der einzige Präsident Paraguays seit 1947, der nicht der Partei der Colorados angehörte, strebte ebenfalls eine Neuverhandlung an, bevor er 2012 in einem umstrittenen Verfahren des Amtes enthoben wurde (siehe LN 457/458).
Itaipú war das wichtigste Symbol für den Fortschritt der Militärdiktatur unter Alfredo Stroessner (1954-1989). Im Jahr 1973 unterzeichneten Stroessner und der brasilianische Diktator Emilio Garrastazú Medici den Vertrag von Itaipú, der den Bau des gemeinsamen Kraftwerks vorsah. Dabei spielte der US-amerikanische Einfluss eine große Rolle: Im Kontext des Kalten Krieges boten die USA den Ländern Südamerikas günstige Kredite für Entwicklungsprojekte an, um der Einflussnahme der Sowjetunion vorzubeugen. Die kurz nach Unterzeichnung des Vertrages eingetretene Ölkrise war ein zusätzlicher Anreiz, das Projekt schnell auf den Weg zu bringen. Tatsächlich entwickelte sich Itaipú zum ambitioniertesten Entwicklungsprojekt beider Länder. Doch spätere Studien zeigten, dass das Projekt zahlreiche negative soziale und ökologische Folgen hatte: Tausende Indigene und Kleinbäuerinnen und -bauern wurden umgesiedelt, teilweise unter Anwendung von Gewalt. Angemessene Entschädigung wurde nicht geleistet.

Gerät unter Druck Paraguays Präsident Mario Abdo Benítez // Foto: Cesar Itiberé PR CCBY 2.0

Der riesige Staudamm stellt einen schweren Eingriff in die Flussökologie des Paraná dar und zog das gesamte Flussbecken in Mitleidenschaft, da die natürlichen Fischmigrationen unterbrochen wurden. Zudem wurden atlantische Regenwälder überflutet und zerstört, die wieder aufgeforsteten Wälder erscheinen eher wie Plantagen und verfügen längst nicht über eine so große Biodiversität.

Die Kritik prangert den „Verrat des Staatschefs an der Guaraní-Nation“ an


Paraguays damaliger Diktator Stroessner nutzte das Itaipú-Projekt zur Stabilisierung seines Regimes. Er versorgte damit seine Klientelnetzwerke, um sich deren Loyalität zu versichern. Ganze Familien wie etwa die Papalardo, Wasmoy und Debernardy wurden reich, indem sie Baumaterialien an das Megaprojekt lieferten. Die gesamten Baumaßnahmen waren von starker Korruption gezeichnet, an der sich die engen Verbündeten Stroessners bereicherten.
Der amtierende Präsident Paraguays, Mario Abdo Benítez von der Colorado-Partei, sieht sich nun ebenfalls schweren Verdächtigungen ausgesetzt, die Interessen des Landes für seine eigenen verraten zu haben. Sein Vater (ebenfalls Mario Abdo) war seinerzeit ein enger Vertrauter und persönlicher Sekretär von Stroessner. Präsident Abdo wird aktuell beschuldigt, in den geheimen Neuverhandlungen einen skandalösen Vertrag unterzeichnet zu haben. Darin soll er praktisch auf alle möglichen Verbesserungen für Paraguay verzichtet haben. Die Presse und politische Organisationen der Opposition bezeichneten Abdos Verhalten als „Verrat des Staatschefs an der Guaraní-Nation“.
Ausgelöst hatten die Regierungskrise Äußerungen des zurückgetretenen Chefs der staatlichen Energiebehörde ANDE. Pedro Ferreira erklärte gegenüber verschiedenen Medien, dass die brasilianische Regierung Paraguay praktisch erpresst hätte, ein nachteiliges Abkommen über die Vermarktung der Energieüberschüsse des Landes zu unterzeichnen. Nach dem ursprünglichen Vertrag von Itaipú steht Paraguay ein Kontingent der Energie aus dem Kraftwerk zu, das die paraguayische Nachfrage bei weitem übersteigt. Die Überschüsse kann Paraguay verkaufen – aber nur nach Brasilien. Ferreira betonte, dass auf brasilianischer Seite gut unterrichtete Techniker*innen an den Verhandlungen teilnahmen, während auf paraguayischer Seite nur Mitarbeiter*innen des Außenministeriums vertreten waren, die keine angemessenen Kenntnisse von Strompreisen, möglichem Nutzen oder Verkaufsmöglichkeiten auf dem Strommarkt hatten. Es scheint, so Ferreira, als sei der Präsident von schlechten Berater*innen umgeben oder die paraguayische Seite hätte absichtlich einen schlechten Deal abgeschlossen.
Anfangs drehte sich die Kritik vor allem um die offenbar schlechte Beratung, die der Präsident erhalten habe. Ferreira selbst hatte erklärt, Abdo sei nicht über die Einzelheiten unterrichtet gewesen und hätte praktisch blind ein Abkommen unterzeichnet. Doch der Skandal nahm eine andere Dimension an, als Ferreira seine privaten Gespräche mit dem jungen Anwalt José Rodríguez González veröffentlichte. Dieser hätte sich als persönlicher Berater des paraguayischen Vizepräsidenten Hugo Velázquez vorgestellt und explizit verlangt, dass Punkt 6 aus dem Abkommen herausgenommen werde. Dieser Punkt 6 sei allerdings zentral für eine Verbesserung der Vertragsregeln für Paraguay gewesen, denn er hätte es dem Land erlaubt, selbst den überschüssigen Strom in Brasilien zu vermarkten – ein Geschäft, das mit erheblichen Gewinnaussichten verbunden ist. Ohne Punkt 6 obliege der Verkauf des paraguayischen Energieüberschusses hingegen ausschließlich brasilianischen Unternehmen. Dies würde über Verträge zwischen der paraguayischen Energiebehörde ANDE und dem halbstaatlichen brasilianischen Energieunternehmen Eletrobras geregelt werden.

Präsident Bolsonaro Verdacht auf Amtsmissbrauch zur persönlichen Bereicherung // Foto: Isac Nóbrega PR CCBY 2.0

Bereits kurze Zeit später kam heraus, dass im neuen Abkommen sogar vorgesehen war, dass alle Stromverkäufe an ein einziges Unternehmen gehen sollten, welches dann die Vermarktung auf dem liberalisierten brasilianischen Strommarkt realisieren sollte. Dabei handelt es sich um das Unternehmen Leros Comercializadora. Das Skandalöse dabei ist, dass Mitglieder der Familie des brasilianischen Staatspräsidenten Bolsonaro im Aufsichtsrat des Unternehmens vertreten sind.
Recherchen von Journalist*innen haben nun gezeigt, dass der Druck, Punkt 6 aus dem Abkommen zu streichen, von Leros Comercializadora ausging. Der Anwalt José Rodríguez González habe somit tatsächlich die Interessen des Unternehmen Leros vertreten, als er im Namen des Vizepräsidenten Hugo Velázquez bei den Verhandlungen mitmischte, so die Medienberichte.
Als die Staatsanwaltschaft sich des Falles annahm, behauptete Rodríguez González, er habe „sein Handy verloren“, auf dem sich die Kommunikation mit dem damaligen ANDE-Chef Ferreira befunden habe.

Die Diskussionen über das Projekt haben nie aufgehört


Es gibt also ernstzunehmende Hinweise darauf, dass das Geheimabkommen zu Itaipú nicht nur unvorteilhaft für Paraguay ausfällt, sondern dass es auch eine private Vereinbarung zwischen Bolsonaro einerseits und Abdo und Velázquez andererseits beinhaltet, mit dem Ziel, Profit aus dem Verkauf paraguayischen Stroms zu schlagen.
Der Skandal setzt nicht nur Präsident Mario Abdo unter Druck. Im brasilianischen Parlament haben oppositionelle Abgeordnete eine Untersuchung gegen Präsident Jair Bolsonaro wegen des Verdachts auf Amtsmissbrauch eingeleitet. Mitglieder der Arbeiterpartei PT des ehemaligen Präsidenten Inácio Lula da Silva haben bei der Bundesstaatsanwaltschaft eine Untersuchung des Abkommens über Kauf und Verkauf des paraguayischen Energieüberschusses beantragt. Der Antrag, den 24 Abgeordnete unterzeichnet haben, verlangt, dass die schwerwiegenden Vorwürfe gegen den Präsidenten, den Außenminister Ernesto Araújo und den brasilianischen Generaldirektor von Itaipú, Joaquim Silva, aufgeklärt werden.
In Paraguay schlägt der Skandal bereits jetzt größere Wellen. Die Regierung Mario Abdos befindet sich ihrer bislang schwersten Krise. Der paraguayische Kongress hat eine Kommission aus beiden Kammern des Parlaments gebildet, um den Fall zu untersuchen. In der Zwischenzeit hat die paraguayische Regierung erste Schritte unternommen, um Brasilien zu bitten, das Abkommen rückgängig zu machen. Jair Bolsonaro hatte bereits erklärt, dass er einen solchen offiziellen Antrag annehmen würde, weil sein „Freund Marito“ die Sachen gut mache und etwas Hilfe benötige. Unbeabsichtigt verstärkte Bolsonaro mit seiner Wortwahl die Verdächtigungen, er hätte die paraguayische Regierung zu seinen Zwecken beeinflusst.
Trotz aller Bemühungen der Regierung, die Wogen zu glätten, wurde sie von mehreren Rücktritten erschüttert. Der Außenminister Luis Castiglioni, der Botschafter in Brasilien sowie hochrangige Mitarbeiter*innen bei Itaipú und ANDE mussten aufgrund des öffentlichen Drucks ihre Posten aufgeben. Auch María Epifanía González, die das Ministerium für den Kampf gegen Geldwäsche leitete, musste ihr Amt verlassen: Sie ist die Mutter von José Rodríguez González, der mutmaßlich im Auftrag von Leros Comercializadora entscheidend Einfluss auf die Verhandlungen genommen hatte.
Die oppositionelle liberale Fraktion im Parlament beantragte schließlich sogar die Amtsenthebung des paraguayischen Präsidenten Abdo. Noch im Juli hat die Fraktion der Colorados – die ansonsten bei weitem nicht geschlossen hinter Abdo steht – den Antrag abgelehnt. Dies zeigt, dass der Pakt zwischen den innerparteilichen Fraktionen um Mario Abdo und den ehemaligen Präsidenten Horacio Cartes hält. Noch. Viele Analyst*innen halten es für gut möglich, dass er die restlichen fünf Jahre seiner Legislaturperiode nicht im Amt übersteht.

 

DER FLUSS FLIESST NICHT

Kein Gold mehr Goldwäscher*innen verloren durch die Flut ihre Lebensgrundlage (Foto: Agencia Prensa Rural , CC BY-NC-ND 2.0)

Puerto Valdivia ist die letzte der vier Stationen unserer Reise. Hier sieht es aus, als hätte der Rio Cauca erst gestern das ganze Dorf überschwemmt und wirklich alle Häuser an der Uferstraße mehr oder weniger verwüstet. Der mitgeführte Sand liegt noch auf den Fußböden der Häuser und bildet Haufen mit zerborstenen Bettgestellen und anderen Möbeln. Kein Mensch lebt mehr hier. Puerto Valdivia gleicht einer tropischen Geisterstadt. „Wir stehen hier im hinteren Teil der Schule,“ erklärt uns Pedro, einer der Vertreter*innen der Vereinigung der traditionellen Goldwäscher*innen (Name von der Red. geändert), der uns durch sein Dorf führt. „Inzwischen sind seit der Überschwemmung sechs Monate vergangen, und die Schulbücher liegen immer noch genau so da.“ Offensichtlich war hier einmal eine kleine Terrasse oder ein Minischulhof. Inzwischen haben alle möglichen Schlingpflanzen die Oberhand gewonnen.

Außer den Aktivist*innen von Movimiento Rios Vivos Antioquia (MRVA) und ausländischen Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen, wie unsere Gruppe, kommt niemand hierher. Wir sind Vertreter*innen von Mitgliedsorganisationen des Netzwerks Zusammenarbeit für den Frieden (ECP). Einige unterstützen bereits seit mehreren Jahren lokale Basisorganisationen in ihrer Kritik an dem Staudammprojekt Hidroituango ca. 170 km nördlich von Medellín. Das Wasserkraftwerk soll eines Tages mit 2.400 Megawatt Stromproduktion 17 Prozent des kolumbianischen Stromverbrauchs liefern. Dazu wird der Cauca, der zweitgrößte Fluss Kolumbiens, auf 76 km Länge aufgestaut. Es ist nur logisch, dass dies mit enormen Auswirkungen auf Flora, Fauna, das lokale Klima und natürlich auch auf die in der Region lebenden Menschen verbunden ist. Nach Schätzungen des renommierten Anwält*innenkollektivs José Alvear Restrepo, das die Betroffenen des Staudammprojekts vertritt, sind ca. 150.000 Menschen direkt davon betroffen. Laut Plan sollte der gesamte Bau Ende 2018 fertiggestellt sein. Doch Ende April 2018 wurde durch einen Erdrutsch einer der Entlastungstunnel an der Staumauer verstopft und am Folgetag durch den Druck des sich aufstauenden Wassers wieder frei gespült. Eine riesige, unkontrollierte Flutwelle entstand und richtete auf ihrem Weg flussabwärts großen Schaden an. Sie riss eine Brücke mit sich, die Hütten der Goldwäscher*innen an beiden Ufern und zerstörte all ihre Habe: Möbel, Haushaltsgegenstände, die Nutzgärten, Boote und Werkzeuge. Auch die Hühner und andere Haustiere ertranken.

Viele Familien lebten im November 2018 noch in provisorischen Unterkünften, die meisten bei Verwandten oder weiter oberhalb auf den angrenzenden Hügeln. 37 Personen saßen immer noch in der Turnhalle von Ituango fest. Ihre Versorgung seitens der Behörden ist prekär. In Eigenarbeit haben sie eine Toilette errichtet und einen kleinen Nutzgarten angelegt, in dem sie Kräuter, Zwiebeln und Tomaten anbauen. Sie fühlen sich von den Behörden im Stich gelassen und sind im Ort mit ihrer Kritik am Staudammprojekt alles andere als wohlgelitten.
Die Zukunft der durch die Flutwelle obdachlos gewordenen Goldwäscher*innen aus Puerto Valdivia ist völlig ungeklärt. Das Betreiberunternehmen, die Stadtwerke von Medellín (EPM), hatte 2008 vor Beginn der Flutung des Stausees einen Zensus der potentiell Betroffenen durchgeführt. Die Kriterien des Zensus haben sie selbst festgelegt und dabei eine ungeklärte Zahl von Einzelpersonen und Familien unberücksichtigt gelassen. Darin liegt eine der aktuellen Schwierigkeiten, denn diese Familien sind jetzt von der Möglichkeit von Entschädigungen durch EPM ausgeschlossen. Die örtlichen Behörden hatten ihrerseits keinen eigenen Zensus über potentiell Betroffene des Staudammprojekts erhoben. Insgesamt sind die Melderegister in Kolumbien auch durch den jahrzehntelangen bewaffneten Konflikt und durch andauernde Vertreibungen lückenhaft und nicht aktualisiert. In Bezug auf das Staudammprojekt fallen nun diese nicht registrierten Personen durch alle Raster.

Der alltägliche Kampf ums Überleben macht die Entwicklung von Zukunftsperspektiven schwierig. Dennoch kristallisieren sich zwei Optionen heraus, die bei genauerem Blick mit ähnlichen Schwierigkeiten verbunden sind: Rückkehr an den ursprünglichen Ort oder Umsiedlung an etwas höher gelegene Orte. Insbesondere die ehemaligen Bewohner*innen von Puerto Valdivia, deren Häuser überflutet wurden, wollen nicht dorthin zurückkehren, sehen sich jedoch durch EPM dazu gedrängt. Mit ein paar Reparaturen an den Häusern wäre der Fall für das Unternehmen erledigt – so scheinen sie zu kalkulieren. Dabei wirken zumindest die Häuser an der Uferstraße nicht so, als würde eine Reparatur helfen, sondern eher, als müssten sie wieder ganz neu aufgebaut werden. Aber davon abgesehen, haben die Menschen Sorge, dass sich eine Flutwelle wie im Mai jederzeit wiederholen könnte – und auch Menschenleben kostet. An allen Häusern der Uferstraße ist ein kleiner Aufkleber zu finden: „KEINE RÜCKKEHR!“

Eine unkontrollierte Flutwelle entstand und richtete flussabwärts großen Schaden an

Die meisten wollen in höher gelegene Orte umgesiedelt werden. Dazu benötigen sie allerdings finanzielle und technische Unterstützung, um Fuß zu fassen und eine kleine Landwirtschaft aufzubauen oder die vorherige zu erweitern, so dass sie den Lebensunterhalt sichert. Andere konzentrieren ihre Forderungen und ihr Engagement auf eine Rückkehr zur vorherigen Situation. Dies beinhaltet notwendigerweise einen Rückbau beziehungsweise Abriss der Staumauer und keine Inbetriebnahme des Kraftwerks. Wie realistisch diese Option auch angesichts der enormen bereits getätigten Investitionen sein kann, ist schwer zu beurteilen. Und selbst wenn es einen Rückbau gäbe, bliebe unklar, ob ähnliche Lebensbedingungen der Flussanrainer*innen wieder hergestellt werden könnten.

Im Stausee wurden Fische ausgesetzt, allerdings schmecken sie nach verfaultem Holz

Viele Generationen lang bestand eine Besonderheit der Lebens- und Wirtschaftskultur der Region darin, dass die Familien über eine diversifizierte Einkommensstruktur verfügten. Das Goldwaschen und Fischen fand direkt am und im Fluss statt. Die meisten Familien etwas weiter oben in den Hügeln verfügen auch über ein Stück Land zur Selbstversorgung und über kleine Kaffeefelder. Mit diesen vier Pfeilern konnten sie ihren Lebensunterhalt ziemlich stabil sichern und Jahre mit schlechteren Ernten oder geringen Fischbeständen wirtschaftlich ausgleichen. Durch das Staudammprojekt wurden alle vier Einkommens- und Versorgungspfeiler gleichzeitig beeinträchtigt oder zunichte gemacht. Während bereits zuvor klar war, dass das Goldwaschen durch die Flutung des Stausees als Einkommensquelle wegfallen würde, war nicht vorherzusehen, dass auch die Subsistenzwirtschaft nicht mehr möglich sein würde. Denn die Flutung des Stausees hat auch eine Veränderung des Mikroklimas hervorgerufen, so dass weder die Kaffeeernte noch die Anpflanzungen zur Selbstversorgung gedeihen. Was den Fischfang betrifft, so wurden zwar im Stausee wieder Fische ausgesetzt, allerdings sind diese nach Angaben der Betroffenen ungenießbar, weil sie nach verfaultem Holz schmecken würden: vor der Flutung wäre die Biomasse nicht vollständig entfernt worden. Kurz- und mittelfristig benötigen die betroffenen Familien Unterstützung bei der Umsiedlung und dem Aufbau von stabilen Einkommensmöglichkeiten. Längerfristig ist aber überhaupt nicht klar, welche dies sein und wo sie entwickelt werden können. Beides hängt von politischen Entscheidungen rund um das Staudammprojekt ab.

Überschwemmtes Haus am Fluss  Zahlreiche Anwohner*innen wurden obdachlos (Foto: Christiane Schwarz)

So zeigt sich am Ende der Reise ein düsteres Bild: Hauptsächlich bleiben die Unsicherheiten und Fragezeichen bestehen. Seriöse Prognosen können nicht abgegeben werden. Wird das Kraftwerk in Betrieb genommen und wenn ja, wann? Kann ausreichende Sicherheit gewährleistet werden, so dass es die Familien wagen, nach Puerto Valdivia und an die Flussufer zurückzukehren? Wie entwickelt sich das Mikroklima in den kommenden Jahren im Bereich des Stausees? Ermöglicht es stabile Ernten für Kaffee und Subsistenzwirtschaft? Natürlich gibt es in der Region auch Menschen, die sich neue wirtschaftliche Möglichkeiten durch den Staudamm und größeren Wohlstand für die schwer zugängliche Region erhoffen. Das Betreiberunternehmen rührt die Werbetrommel in diesem Sinne. Auf den ersten beiden Stationen unserer Reise, Toledo und Sabanalarga, konnten wir uns davon ein Bild machen. Als Sponsor der Dorffeste war EPM dort auf Plakaten, Schirmen und in den Getränkebuden omnipräsent. Das MRVA zeigt Anfeindungen und Bedrohungen ihrer Mitglieder immer wieder bei den Behörden an und macht sie auch international bekannt. Im Jahr 2018 wurden bislang die meisten Bedrohungen verzeichnet. Zwischen Januar und dem 10. Dezember 2018 verzeichnet MRVA 108 Aggressionen gegen Kritiker*innen des Staudammprojekts, darunter Bedrohungen, Stigmatisierungen, physische Verfolgung, illegale Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Die Aussichten für 2019 sind leider nicht besser. Anfang Februar wurden die Schleusentore in der Staumauer geschlossen, so dass kurzfristig der Wasserpegel flussabwärts stark abfiel. In der Folge sind unzählige Fische verendet. Der Kampf der Menschen um ihre Lebensgrundlage, den Cauca Fluss, und gegen das Wasserkraftwerk wird 2019 weitergehen.

 

ORT DER ENTWICKLUNG ODER OPFERZONE?

“Retten wir den Fluss Ñuble, nein zum Stausee!” Protestaktion am Fluss      Foto: Ñuble Libre

Die schlechten Nachrichten rund um das Stauseeprojekt Punilla reißen nicht ab. Am 9. Februar wurde bekannt, dass im Rahmen der Zwangsräumungen und Abrisse der Häuser, die im November 2018 aufgrund des Beginns der ersten Konstruktionsphase durchgeführt wurden, ein Haus zerstört wurde, das auf einem nicht enteigneten Grundstück stand. Der Besitzer, Juan Enrique Caro Quezada, der damals selbst nicht vor Ort war, hat inzwischen Klage eingereicht, wie das Nachrichtenportal San Carlos Online berichtet. Doch auch die Menschen, die „fristgerecht“ enteignet wurden, kommen nicht zur Ruhe. Einige von ihnen leben in provisorischen Zeltunterkünften am Straßenrand, wo vor allem ihre psychischen Leiden und Sorgen zunehmen: „Meinen Vater haben sie psychisch getötet“, so Clara*, eine Betroffene der Zwangsräumungen im November. Sie ist nicht die Einzige, die über die Zunahme von Depressionen und Erschöpfungszuständen innerhalb der betroffenen Bevölkerung berichtet, die durch die Ungewissheit der Lebens- und Wohnsituation und den psychischen Druck ausgelöst werden. Um wie geplant mit dem Bau des Stausees Anfang 2019 beginnen zu können, waren am 21. November 2018 die ersten Häuser der insgesamt 87 enteigneten Familien zwangsgeräumt worden. Noch in derselben Nacht wurden die Häuser von fünf Familien zerstört. Die Menschen, die dort größtenteils von der andinen Viehzucht lebten, sehen dies als Zerstörung ihrer Lebensgrundlage an. Noch heute, drei Monate nach der Räumung, sind keine alternativen Unterkünfte für sie gefunden. In sozialen Medien wie Facebook und Instagram kursieren außerdem Videos und Fotos, die die nicht-artgerechte Haltung der beschlagnahmten Tiere dokumentieren, die sich seit der Räumung in der Obhut der italienischen Firma Astaldi befinden, welche die Konzession zum Bau des Stausees besitzt.
„Alle sind Feinde,“ waren die ersten Worte, die Clara* im Gespräch über das Stauseeprojekt äußerte. Sie selbst ist in dem Gebiet aufgewachsen, das im November geräumt wurde. Die erste Konstruktionsphase für den Stausee soll noch im ersten Quartal 2019 anlaufen. Die jahrelangen Konflikte um dessen Bau, die teilweise auch der komplexen Situation durch mehrere gleichzeitig in der Konstruktion befindlichen Infrastrukturprojekte geschuldet sind, haben den sozialen Zusammenhalt in der 4.000 Personen-Gemeinde nachhaltig beeinträchtigt.

„Wir existieren für die doch gar nicht“


Der Stausee, der eine Fläche von 1.700 Hektar fluten und der zweitgrößte Chiles werden soll, führt zu der Enteignung von etwa 87 Familien, der Rodung von 17,7 Hektar Naturwald und der Auslöschung von fünf Ortsteilen. Das Ziel ist einerseits die Sicherung des Wassers zur landwirtschaftlichen Nutzung, andererseits soll gleichzeitig Energie per Wasserkraft erzeugt werden – ein Konflikttreiber, der viele Menschen von einem inhärenten Interessenkonflikt ausgehen lässt: Wasser für die Landwirtschaft wird hauptsächlich in den Sommermonaten gebraucht, wohingegen die Stromnachfrage für Heizung und Warmwasser in den Wintermonaten ansteigt.
Doch darüber hinaus wird von den Betroffenen insbesondere das Vorgehen der italienischen Firma Astaldi und der lokalen Politik kritisiert: „Wir existieren für die doch gar nicht“, so Pedro*, ein Gegner des Projekts, der durch den Stausee seine Existenzgrundlage bedroht sieht, da er im Tourismus tätig ist und der Stausee Punilla den Ort als Tourismusziel unattraktiv werden lasse. Er hat die letzten zehn Jahre Tag für Tag dafür gearbeitet, um mit seinem Sportverein eine alternative Nutzungsweise des Flusses als Ressource aufzuzeigen und zu beweisen, dass auch nicht-extraktivistische Tätigkeiten ökonomisch sinnvoll sind. Er fordert von den lokalen politischen Entscheidungsträger*innen die Unterstützung kleiner und mittelständischer Unternehmen, die die Region nachhaltig attraktiv machen sollen.
Doch die Politiker*innen hätten das Volk verkauft, so Clara*. Die Menschen in dem etwa 400 km südlich der Hauptstadt Santiago de Chile liegenden Ort seien nicht ausreichend in die Planung mit einbezogen und die sozialen Asymmetrien – 70% der Betroffenen seien Analphabet*innen oder maximal funktionale Alphabet*innen und somit nicht in der Lage, die ihnen zur Unterschrift vorgelegten Dokumente zu lesen – ausgenutzt worden. Die Betroffenen kritisieren auch die Erstellung von Personenregistern und die daran gemessenen Entschädigungs- und Ausgleichszahlungen: Es seien nur diejenigen Familien registriert worden, die am Tag der Zählung auf ihren Grundstücken anwesend waren. Darüber hinaus seien diese Register seit 2004 nicht aktualisiert worden, sodass viele Menschen, die seitdem neue Familien gegründet haben und dort leben, gar nicht gelistet seien. Außerdem würden alternative Formen von Arbeit ignoriert. So werden beispielsweise informelle Arbeit sowie Autosubsistenzformen in den Prüfungen, die ein solches Infrastrukturprojekt durchlaufen muss um dessen Angemessenheit zu beweisen, nicht als Arbeit anerkannt.
Neben diesen Kritikpunkten, die eher ökonomisch argumentieren, werden aber auch Versäumnisse in der Umweltverträglichkeitsprüfung des Stauseeprojekts beklagt. Beispielsweise sei die Gefahr eines Wiedererwachens des nahegelegenen Vulkans und die geologischen Veränderungen des starken Erdbebens von 2010 nicht in die Prüfungen aufgenommen worden. Diese waren bereits im Zeitraum von 2004 bis 2010 durchgeführt worden und beachteten nachträgliche Veränderungen nicht ausreichend, so die Gegner*innen des Vorhabens.
Große Bauvorhaben wie das Stauseeprojekt Punilla sind keine Einzelerscheinung in Chile und symbolisieren ein Verständnis von Wachstum und Fortschritt, das lediglich auf ökonomischen Überlegungen fußt. Alternative Vorstellungen von Natur und einer Zukunft, die weniger auf extraktivistischen Tätigkeiten beruhen, erfahren wenig Gehör. Dagegen wehrt sich in San Fabián de Alico ein Bündnis an Nachbarschaftsvereinen (AOSI), die gemeinsam einen territorialen Gestaltungsplan vorlegten, der das Stauseeprojekt nicht per se ablehnt, aber die Respektierung der Gemeinschaften und ihrer Lebensweise fordert. Auch die Aktivist*innengruppe Ñuble Libre, die in San Fabián de Alico aktiv ist, kämpft gegen die Realisierung des Stausees. Der Name der Gruppe leitet sich aus der Forderung nach einem freien Fluss Ñuble, der für das Projekt gestaut werden soll, ab. Hierbei setzt Ñuble Libre insbesondere auf die Sicht- und Hörbarmachung der Direktbetroffenen und versucht gleichzeitig, Alternativen im Umgang mit der Natur und den natürlichen Ressourcen zu stärken.
Derweil gestalten sich auch die personellen Verstrickungen bezüglich des Stausees komplex und intransparent. Der Mitbegründer des Aktivist*innenbündnisses und ehemalige Verde-Politiker Claudio Almuna Garrido etwa ist inzwischen Mitglied im Parteienbündnis des rechtskonservativen Präsidenten Piñera und unterstützt den Bau des Stausees. Almuna Garridos Seitenwechsel führte zu starker Kritik und dem Vorwurf der Korruption, des Machtmissbrauchs und Verrats seitens der Betroffenen sowie einer klaren Distanzierung seitens des Aktivist*innenbüdnisses.
Die Zukunft San Fabiáns ist ungewiss. Wird das Dorf teilhaben an der Entwicklung, die der Region durch den Stausee zugute kommen soll oder verwandelt es sich in eine Opferzone (zona de sacrificio), derer es in Chile immer mehr gibt? In den letzten Jahrzehnten mussten dort verschiedensten Landschaften und die dort lebenden Menschen extraktivistischen oder touristischen Großprojekten weichen. Vielerorts regt sich aber – wie auch in San Fabián – Protest gegen solche Vorhaben, zuletzt etwa in Coñaripe (siehe LN 528). Die Zwangsräumungen in San Fabián Ende 2018 wurden nachträglich von Seiten des Umweltgerichts in Valdivia für illegal erklärt – da zunächst eine alternative Wohnmöglichkeit für die Betroffenen gefunden werden müsse, bevor die Räumung durchgeführt werden dürfe. Die italienische Firma, die den Stausee gemeinsam mit dem Ministerium für öffentliche Bauten durchsetzen will, hält jedoch an ihrem Vorhaben fest, schon innerhalb der nächsten Wochen mit dem Bau zu beginnen.

EIN STAUDAMM WENIGER

Im Inneren von El Diquís                                  Foto: La Nacion de Costa Rica

Bereits in den 1980er Jahren gab es die ersten Pläne für das Projekt El Diquís – das mit 650 Megawatt Kraftwerksleistung größte Wasserkraftwerk Zentralamerikas. Ein Prestigevorhaben für das Land, das bereits fast 100 Prozent seiner Elektrizität aus regenerativen Energiequellen bezieht und durch die Wassermenge- und Sicherheit sowie die Fließgeschwindigkeit der Flüsse aus den faltenreichen Gebirgsformationen ideale Bedingungen für Wasserkraftwerke bietet.
„Diquís“ bedeutet „großer Fluss“ oder „breiter werdender Fluss“ in der Sprache der Teribe und Boruca, der Nachkommen der indigenen Diquís. Heute wird der Fluss Río Térraba genannt. Knapp 700 Jahre lang dominierte die Hochkultur der Diquís die südliche Pazifikküste Costa Ricas, bis zur Eroberung durch die Kolonisator*innen.
Das Staudammprojekt El Diquís war von Beginn an umstritten, weil es den Lebensraum der Teribe und Boruca gefährdet. Bis heute wurden nur einige Vorarbeiten umgesetzt, dabei hatten sich die Pläne bereits Anfang des 21. Jahrhunderts konkretisiert und El Diquís 2014 zum Vorzeigeprojekt der damaligen Regierung gemacht. Javier Orozco, Planungsdirektor des staatlichen Stromanbieters ICE, bezeichnete das Projekt noch 2017 als „essentiell, um dem steigenden Strombedarf des Landes gerecht zu werden.“ Luis Pacheco, ICE-Vorstand für Elektrizität, ging im April 2018 noch weiter: „Costa Rica muss seine Wirtschaft stärken, dafür braucht es Energie.“ Das Kraftwerk könne eine „Batterie“ des zentralamerikanischen Netzes werden, welches nach Kolumbien und Mexiko ausgebaut werden könne. Bedarfsstudien gibt es jedoch bis heute nicht.
Derartige Prognosen und vage Träume waren Argument genug, um mit über zwei Milliarden Dollar knapp 7.000 Hektar Land unter Wasser zu setzen und 1.500 Familien umzusiedeln. Doch die indigene Bevölkerung wehrte sich von Beginn an. Donald Rojas ist Buruca und Repräsentant der Mesa Nacional Indígena de Costa Rica, einer unabhängigen indigenen Interessenvertretung auf Landesebene. Ruhig zählt er die Befürchtungen der Bevölkerung vor Ort auf: „Mindestens 25 Prozent des Landes der Teribes und 10 Prozent anderer Völker gehen verloren. Ein Tunnel untergräbt unser Land, wir haben Zweifel an der technischen Umsetzung. Es gibt zudem keine Studien über die Umweltschäden.“ Denn Wasserkraft ist zwar regenerativ, aber keine saubere Art der Energiegewinnung. Sie verändert und zerstört den Fluss und das gesamte Ökosystem, das er prägt. „Zudem wirkt sich ein See solchen Ausmaßes auf das Mikroklima aus. Die Menschen vor Ort leben hauptsächlich von der Landwirtschaft. Auch die nötige Infrastruktur wird unser Land beeinflussen“, so Rojas. Allgemeines Misstrauen gegenüber dem Bauwerk wurde geäußert. Ausreichende Sicherheit könne in einer von Erdbeben und Tropenstürmen geprägten Gegend nicht gewährleistet werden.
Fünf Monate nachdem Vorstandsmitglied Luis Pacheco die Bedeutung des Staudamms betonte, erklärte die ICE-Vorsitzende Irene Cañas im November 2018 überraschend das Ende des Projekts. Costa Rica habe keinen Bedarf an zusätzlicher Energie und die Digitalisierung werde den Verbrauch eher senken. Belege oder Gutachten hat die Unternehmensleiterin dafür nicht. Die indigene Aktivistin Elides Rivera aber ist hocherfreut: „Dieser Kampf war für uns autochthone Völker sehr wichtig, weil wir unser Land verteidigt haben, das unser zu Hause ist; weil wir den Fluss verteidigt haben, der uns das Leben schenkt, und auch den Wald, den wir beinahe verloren haben und der für uns Leben bedeutet.“ Sie wertet das Projektende als klaren Sieg des Widerstandes. Vor allem der im Jahr 2018 beschlossene neue Konsultationsmechanismus habe dem Projekt das Genick gebrochen. Dieser setzt die indigenen Völkern durch Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) garantierte Kontrolle über ihre Territorien in nationales Recht um: Ohne die Zustimmung einer indigenen Gruppe im Rahmen in eines geregelten Konsultationsdialoges dürfen in ihrem Gebiet keinerlei Aktivitäten stattfinden. Donald Rojas hingegen wirkt nicht, als hätte er gerade einen jahrzehntelangen Kampf gewonnen. Auf seine Meinung angesprochen, warum das Staudammprojekt abgebrochen wurde, lacht er zunächst emotionslos.

„Ein Wunder, dass es keine Toten gab“


Das soll nicht bedeuten, der Widerstand wäre nicht vehement gewesen. „Es ist ein Wunder, dass es keine Toten gab“, meint Roy Arias. Er arbeitet seit über 15 Jahren mit den indigenen Völkern im Süden Costa Ricas zusammen. „Die Bevölkerung und ihre Meinungen vor Ort sind heterogen und die Situation war sehr angespannt.“ Das ICE habe versucht, einen Keil zwischen die Parteien zu treiben. Costa Rica ist ein demokratisches Land ohne Armee, die den Willen der Regierung umsetzen kann. Repressionen erfolgten eher strategisch und vor allem durch politische Institutionen. Zum einen wurde die nicht-indigene Bevölkerung motiviert, sich für den Staudamm auszusprechen. Diese erwarb im Laufe des letzten Jahrhunderts teils durch illegalen Landerwerb bis zu 70 Prozent des Territoriums der Teribe. Und unter den indigenen Bewohner*innen stiftete die Nationale Kommission für indigene Angelegenheiten (CONAI) Zwist. „Die CONAI ist eine staatliche Institution, die von keiner indigenen Gruppe als Vertretung anerkannt wird, diese aber offiziell innerhalb des politischen Systems vertritt“, erklärt Roy Arias. „Gemeinsam mit dem ICE haben sie Fehlinformationen verbreitet und versucht, die Indigenen durch scheinheilige Angebote von ihrem Territorium zu locken.“
Diese Institutionen, ihre verheißungsvollen Versprechungen, in Aussicht gestellte Ausgleichszahlungen und gezielte Fehlinformation erzeugten ein Klima der Unruhe. 2011 wendeten sich die Teribe an den interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte und die UN sandte einen Sonderbeauftragten nach Costa Rica. Er kritisierte vor allem die Konsultationsweise des ICE, die nicht mit der ILO-Konvention 169 vereinbar sei (siehe LN 449). Für das ICE war dies ein harter Schlag, da es sich als besonders nachhaltiges Unternehmen sieht. Auch die Informationspolitik und Repressionen gegen die Bevölkerung vor Ort wurden angesprochen. Eine Zustimmung zum Projekt habe es nie gegeben, betont Roy Arias. „Nur ein kleiner Teil der Menschen war dafür, vor allem Nicht-Indigene und Mitarbeiter*innen des CONAI. Ein etwas größerer Teil war entschieden dagegen. Und der allergrößte Teil hatte schlichtweg keine Ahnung.“ Über das Ausmaß, Risiken, Folgen des Vorhabens und potenzielle Entschädigungen wurde nie ausreichend informiert. Warum das Projekt letztendlich abgebrochen wurde, weiß Arias nicht.
Die Antwort liefert ausgerechnet Jesús Orozco, ICE-Finanzvorstand. Ein Problem sei der tortuguismo − der Schildkrötismus, also das bewusste Verschleppen von Projekten durch Mitarbeiter*innen, um länger von den Zahlungen zu profitieren. Zudem sei das ICE nicht nur den Indigenen gegenüber sehr verschlossen, sagte er der Tageszeitung La Nación. Die Ankündigung des Projektendes geschah auf der ersten Pressekonferenz seit Jahren. Informationen zu Projektabläufen, Kosten und dem Zustand des Unternehmens gibt es nicht. Das Management habe verheerende Arbeit geleistet, das Unternehmen stehe finanziell sehr schlecht da.
Am Ende äußert sich auch Donald Rojas noch zu den Gründen: „Die aktuelle Regierung sieht den Staudamm auch als unvereinbar mit dem Image Costa Ricas als nachhaltiges, umweltfreundliches und tolerantes Land. Der indigene Widerstand hat das Thema öffentlich gemacht. Und auch wenn der neue nationale Konsultationsmechanismus letztendlich durch das Projektende gar nicht zur Anwendung kam, so erhöhte er doch die Kosten des Projektes.“ Dies könne auch verhindern, dass das Projekt in Zukunft wieder aufgegriffen werde. Kleine, aber entscheidende Faktoren. Die Hauptgründe für den Projektabbruch sind aber wohl, wie es auch Rojas sieht, die Wirtschaftslage, fehlendes Wissen und langjährige Intransparenz innerhalb des ICE sowie laxe Kontrollen des demokratischen Apparates. Letztendlich führte ausgerechnet der schlechte Zustand der costa-ricanischen Demokratie und ihrer Unternehmen zu einem vorerst guten Ende für die im Staudammgebiet lebenden Menschen.

WEITER QUERELEN UM STAUDAMM HIDROITUANGO

Foto: Flickr.com / Hidroituango (CC BY 2.0)

Der mit geplanten 2,4 Gigawatt künftig größte Staudamm Kolumbiens, Hidroituango, der im Mai dieses Jahres kurz vor dem Bruch stand, weswegen zehntausende Menschen zwischenzeitlich zwangsumgesiedelt werden mussten, sorgt weiter für erbitterten Streit. Während hunderte Zwangs­evakuierte in überfüllten Behelfsunterkünften ausharren, die Widerstandsbewegung Ríos Vivos weiterhin vor den anhaltenden Risiken warnt, weist der Kontrollrechnungshof in seinem neuesten Prüfungsbericht auf 35 Konstruktionsfehler und Unregelmäßigkeiten bei Hidroituango hin.

Daraufhin ließ der Gouverneur des Departamentos von Antioquia, Luis Perez, erklären, für die Planungsfehler sei die unter Vertrag genommene Baufirma verantwortlich, es würden jedenfalls keine weiteren öffentlichen Gelder für den Bau bereitgestellt werden.

Indessen ließ die staatliche Mehrheitseigentümerin IDEA erklären, sie hoffe, dass die Versicherung den absehbaren Schaden der in Zukunft entgangenen Gewinne den Eigentümern von Hidroituango entschädigen werde. Die Versicherungspolicen decken LN-Recherchen zufolge insgesamt bis zu 3,178 Milliarden US-Dollar ab. Mit bis zu 2,55 Milliarden US-Dollar werden dabei Schäden am Bau und an Maschinen abgedeckt. Weitere 628 Millionen US-Dollar decken die sogenannten „entgangenen Gewinne“ ab. Die Versicherungspolicen indes sehen keine Versicherungsleistungen für Schäden bei Dritten vor. Die Betroffenen gehen beim Versicherungsschutz mal wieder leer aus.

An der Versicherung führend beteiligt ist die Allianz: Deren kolumbianische Tochterfirma ließ auf ihrer Internetseite erklären, dass sie „seit mehreren Wochen die notwendigen Arbeiten voranbringen, um für den Fall bereit zu sein, in dem es erforderlich werde, die Abdeckung ihrer Vertragspolitik zu aktivieren und sofortige Hilfe zu leisten.“

Wie bei solchen Großprojekten üblich wurde die Versicherung für den Fall von Großschäden durch eine Rückversicherung abgesichert. Diese wird normalerweise durch eine Vielzahl an international agierenden Rückversicherern gepoolt, um den potentiellen Großschaden auf möglichst viele Schultern zu verteilen. Führend bei der Rückversicherung von Hidroituango ist der weltgrößte Rückversicherer, die Münchener Rück. Diese sah sich Anfang August gezwungen, einen „Schadensfall in dreistelliger Millionenhöhe“ im Zusammenhang mit dem Staudamm Hidroituango bekanntzugeben. Auch die Hannover Rück musste den gleichen Schritt vollziehen: Deren Finanzchef Roland Vogel aber erklärte, die Hannover Rück erwarte „vergleichsweise geringe Belastungen“ aus dem Zwischenfall. Die Hannover Rück dürfte „der Fall einen niedrigen zweistelligen Millionen-Betrag kosten“, so Vogel.

Weitere Informationen wollten die Versicherungskonzerne den Medien gegenüber nicht preisgeben. Versicherungskonzerne berufen sich in solchen Fällen üblicherweise stets auf Gründe der „Kundenvertraulichkeit“. Die Öffentlichkeit erfährt über solch kritische Großstaudamm-Geschäftsbeziehungen meist erst dann etwas, wenn es größere Unfälle gibt – also dann, wenn der Schaden eine solche Größe erreicht, dass eine Stellungnahme der Firma aus Pflicht zur Kapitalmarktinformation erfolgen muss.

DAS GALLISCHE DORF VON ALTO BENI

Fotos: Nicole Maron

El Bala – der Ort verdankt seinen Namen der ungewöhnlichen Form des Felsens, der sich über ihn erhebt. Die Legende erzählt, dass das halbkreisförmige Loch auf dem Grat das Einschlagloch einer riesigen Kugel (spanisch bala) sei, die jemand vor Urzeiten hier abgefeuert habe. El Bala befindet sich mitten im bolivianischen Amazonasgebiet, 16 Kilometer von Rurrenabaque in der Region Alto Beni, die nach dem gleichnamigen Fluss benannt ist. Hier plant die bolivianische Regierung verschiedene Staudämme. Das größte Projekt besteht aus zwei miteinander verbundenen Staudämmen in El Chepete und El Bala, wobei letzterem nicht viel öffentliche Aufmerksamkeit geschenkt wird, der im Vergleich zum Damm in El Chepete viel geringere Auswirkungen hätte. In El Chepete würde ein Gebiet von 680 Quadratkilometern überflutet, in El Bala „nur“ ein Gebiet von 93 Quadratkilometern.

“Viele Dörfer sind noch schlechter informiert, einige haben noch nie vom Staudammprojekt gehört.”

Allein im betroffenen Gebiet von El Bala würden jedoch hunderte von indigenen Familien ihrer Heimat beraubt werden, tausende Menschen wären betroffen. „Auch wenn die Zahlen in Bezug auf die Fläche der gesamten Region gering erscheinen mögen, besonders im Fall von El Bala, hätte der Bau dieses Staudamms einen immensen Einfluss, sowohl auf die Umwelt als auch auf die Menschen, die hier leben“, betont Mario Paniagua. Als Mitarbeiter der bolivianischen NGO „Fundación Tierra“ betreut er seit Jahren Projekte in der Amazonasregion und unterstützt die indigene Bevölkerung in ihren Anliegen. „Die Lebensgrundlage der indigenen Bevölkerung der Tsimanes und Mosetenes, die seit Generationen hier leben, besteht in der Landwirtschaft, dem Jagen und Fischen. Ihre Lebensweise ist vollkommen an die örtlichen Gegebenheiten angepasst. Es wäre für sie äußerst schwierig, ihre Kultur aufrechtzuerhalten, wenn sie an einen Ort umgesiedelt würden, an dem ganz andere Bedingungen herrschen.“ Doch von offizieller Seite ist von Umsiedlung bisher nicht die Rede – eigentlich werden die Dorfbewohner*innen überhaupt nicht informiert. „Sie sagen uns gar nichts,“ sagt Hermindo Vies Gutierrez, der Vorsteher des Dorfes Asunción de Quiquibey, „und die meisten anderen Dörfer sind noch viel schlechter informiert als wir, einige haben überhaupt noch nie vom Staudammprojekt gehört.“

Um zu klären, ob das Gebiet tatsächlich für einen Staudamm geeignet wäre, führt das nationale Elektrizitätsunternehmen (Empresa Nacional de Electricidad Bolivia, ENDE) seit einiger Zeit Studien durch, bei denen auch Messungen in den indigenen Territorien vorgenommen werden. Das Unternehmen befragt – oft ohne genau zu erklären, worum es geht – die Dorfbewohner*innen über ihr Leben und ihre landwirtschaftliche Produktion. „Im Rahmen dieses Projektes ist ENDE verpflichtet, auch die Auswirkungen auf die Umwelt und die sozialen Beziehungen zu untersuchen,“ erklärt Mario Paniagua. „Aber wie mir die indigenen Gemeinschaften erzählen, klärt ENDE nur ab, wie viele Menschen im betreffenden Dorf leben und was sie anbauen. Doch dies sind sehr oberflächliche, allgemeine Fragen, auf Grund derer sich die Situation nicht ernsthaft analysieren lässt.“

Die Befragungen sind auch für die Dorfbewohner*innen von Asunción de Quiquibey ein Grund zur Besorgnis. „Wenn sie uns fragen, wie viel Land wir haben und sich unsere Dörfer ansehen, befürchten wir, dass sie zu dem Schluss kommen, dass dies alles hier nicht viel Wert hat und wir einfach umzusiedeln wären,“ sagt Hermindo Vies Gutierrez. „Denn wir besitzen nicht viel und bauen nur Lebensmittel für die Selbstversorgung an. Unsere Häuser sind aus einfachen Materialien gebaut, die uns die Natur schenkt, mit Dächern aus Blättern. Überhaupt leben wir vom Wald: Er gibt uns Essen, Medizin, Fleisch und alles andere. So sind wir es gewohnt, und so haben es auch schon unsere Großeltern gemacht.“ Der Bezug auf die früheren Generationen ist von großer Bedeutung für die Identität der Indigenen: „Dieses Gebiet war schon immer das Zuhause der Mosetenes von Alto Beni bis Rurrenabaque. Wir können nicht einfach umziehen – außerdem gibt es gar keinen Hügel in der Nähe, der hoch genug wäre, um von der Überflutung verschont zu bleiben.“

Doch die Staudämme hätten nicht nur Auswirkungen auf die überfluteten Dörfer, sondern auch auf die Gemeinden weiter flussabwärts. „Viele Menschen in Rurrenabaque und den umliegenden Orten leben von der Fischerei,“ erklärt Mario Paniagua. „Doch mit den Staudämmen würde die Wanderung der Fische unterbrochen, und die Leute müssten neue Möglichkeiten finden, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Leider ist es sehr wahrscheinlich, dass dies wiederum negative Auswirkungen auf indigene Territorien in der ganzen Region hätte: Erfahrungsgemäß werden weitere Waldflächen abgeholzt, um Landwirtschaft betreiben zu können, wenn der Fischfang als Einnahmequelle wegfällt.“

Die Energie, die durch die Staudämme gewonnen würde, käme nicht der Region selbst zu Gute.


Hinzu kommt, dass die Energie, die durch die Staudämme gewonnen werden würde, nicht der Region selbst zu Gute käme, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach für den Export bestimmt wäre. Dies gibt ENDE zwar nicht öffentlich zu, aber laut Mario Paniagua ist es die einzig logische Schlussfolgerung: „Die Energie, die Bolivien zurzeit produziert, ist ausreichend für den inländischen Bedarf. Es macht einfach keinen Sinn, was die Regierung behauptet: dass die Nutznießer dieser Projekte die kleinen Dörfchen der Region wären. Ganz im Gegenteil ist davon auszugehen, dass ein Export nach Brasilien vorgesehen ist – was die indigenen Territorien übrigens noch zusätzlich belasten würde, da der Strom ja genau durch diese Region hindurch transportiert werden müsste.“

Kleine Gemeinschaften wie Asunción haben wenig Chancen gegen ein nationales Unternehmen wie ENDE. Eigentlich müsste sich die regionale Organisation der indigenen Gemeinden, der „Consejo Regional Tsiman Moseten“ (CRTM), zu der 23 Dörfer gehören, gemeinsam gegen die Staudammprojekte stark machen. Doch ENDE hat es geschafft, den CRTM davon zu überzeugen, einen Vertrag zu unterschreiben, der die Durchführung der Studien in seinem Territorium erlaubt. „Damit haben wir aber auf keinen Fall dem Bau der Staudämme zugestimmt“, betont der Vizepräsident des CRTM, Ramon Cubo. „Und dies wird auch nicht geschehen, da bin ich mir sicher. Die Entscheidung liegt bei der Versammlung aller Gemeinden, aber sie werden niemals dafür stimmen, dass ihre Dörfer zerstört werden und sie ihre Lebensgrundlage verlieren.“ Allerdings ist beim CRTM eine gewisse Unsicherheit spürbar, was die Konsequenzen der Studien betrifft. „Es gibt immer mehr Leute, die sagen, dass wir uns mit der Einwilligung in die Studien auch mit dem Bau der Dämme bereits so gut wie einverstanden erklärt haben. Aber dem ist nicht so. Der Vertrag, den wir unterschrieben haben, behandelt ausschließlich die Studien. Gegen den Bau der Staudämme aber werden wir mit allen Kräften kämpfen.“ Doch folgt man Mario Paniagua, dann darf daran gezweifelt werden, dass die indigenen Gemeinden die Staudämme noch verhindern könnten, falls sich ENDE definitiv für den Bau entscheidet.

Unsichere Zukunft Die Kinder aus dem „gallischen Dorf“ Asunción de Quiquibey

Angesichts dessen stellt sich natürlich die Frage, warum der CRTM und die Mehrheit der Flussgemeinden diesen Vertrag überhaupt unterschrieben haben. ENDE hat in diesem Zusammenhang auf eine bewährte Strategie zurückgegriffen und den Dörfern im Gegenzug in Aussicht gestellt, sie zu unterstützen. „Fast alle Dorfgemeinschaften in Bolivien – indigen oder nicht – haben bestimmte Probleme und bräuchten staatliche Unterstützung,“ erklärt Mario Paniagua. „Meist handelt es sich um den Zugang zu Bildung oder medizinischer Versorgung. Es kommt mir allerdings sehr unglaubwürdig vor, dass ein Unternehmen wie ENDE Unterstützung in diesen Bereichen verspricht. Ich kann mir nicht vorstellen, wie diese Unterstützung aussehen soll, denn dies wäre Aufgabe der Gemeinde- oder Departements-Regierungen. Wie da ein Elektrizitätskonzern helfen soll, ist mir schleierhaft.“

Die einzige Dorfgemeinschaft, die den Vertrag nicht unterschrieben hat, ist Asunción de Quiquibey – das gallische Dorf von Alto Beni. „Bis sie uns nicht ganz genau erklärt haben, was sie vorhaben, und uns umfassend informieren, werden wir nicht unterschreiben“, versichert Hermindo Vies Gutierrez. Damit macht sich Asunción allerdings nicht nur bei ENDE unbeliebt, sondern auch beim CRTM, der darauf wartet, dass ENDE seine Versprechen erfüllt. „Bisher ist dies nicht passiert“, gibt Ramon Cubo zu, doch er ist überzeugt, dass in nächster Zeit damit zu rechnen ist: „Wegen der Richterwahlen im Dezember hat ENDE die Termine verschoben, aber wir stehen mit den Verantwortlichen in Kontakt und sie haben uns zugesagt, dass im Februar alles in die Wege geleitet wird.“ Bleibt zu hoffen, dass er Recht behält und ENDE nicht einfach eine Verzögerungstaktik verfolgt. Denn inwiefern die Richterwahlen ENDE davon abgehalten haben sollen, seinen Teil der Abmachung einzuhalten, leuchtet eigentlich niemandem ein.

EIN ANDERES KONZEPT DES LEBENS

Kurz nach dem Mord an Berta Cáceres verteidigte der Weltbankpräsident Jim Yong Kim in Bezug auf Staudammprojekte das Recht auf Energie und Arbeit gegenüber dem Recht auf Land. Was würden Sie dieser Idee von „Entwicklung“ entgegensetzen?

Dieser Entwicklungsdiskurs basiert auf der Ausbeutung der Umwelt und hat schreckliche soziale Folgen. Den derzeitigen Funktionären der Weltbank ist vielleicht unbekannt, dass die Weltbank im Jahr 2000 den Bericht der Weltkommission für Staudämme finanziert hat. Das Resultat war für sie so schrecklich, dass sie den Bericht lieber verheimlichten. Durch die 45.000 großen Staudämme, die bis zum Jahr 2000 gebaut wurden, mussten 40 bis 80 Millionen Menschen umziehen. Außerdem sind tausende Hektar Wald und Mangroven verschwunden und die Bevölkerung ist nicht reicher, sondern ärmer geworden. Die Wasserkraftwerke haben 30 Prozent weniger Energie produziert als vorhergesagt, sodass sich die afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Staaten mit den Staudammbauten verschuldet haben. So lässt sich der wachsende Widerstand erklären, der sich nicht nur in Lateinamerika, sondern in vielen Ländern des Südens, gegen das uns verkaufte Entwicklungsmodell richtet. Sie wollen uns weismachen, dass mit den Staudämmen Arbeitsplätze geschaffen werden, aber das stimmt nicht. Sie sagen, die Gemeinden würden elektrischen Strom erhalten, aber es gibt Gemeinden, die vor 40 Jahren umgesiedelt wurden und immer noch keinen Strom und kein Wasser haben, geschweige denn entschädigt wurden. Vor allem wird die Energie für weitere Megaprojekte gebraucht. Die Bergbauprojekte, die in Lateinamerika angeschoben werden, verbrauchen gigantische Mengen an Strom und Wasser, das dient als Rechtfertigung für die Staudämme.

Sind Ihnen Beispiele aus Honduras bekannt, bei denen die Energie aus einem Megaprojekt für den Bergbau oder eine andere Industrie genutzt wird?

In Honduras haben viele Menschen kein Trinkwasser und keinen Strom. Im Zuge des Staatsstreichs 2009 wurden viele Konzessionen für den Bau von Staudämmen und Minen vergeben. Dieser Prozess beinhaltet die Erkundung des Gebietes, bevor eine Mine oder ein Staudamm dann wirklich gebaut werden. In dieser Zeit müssen die Unternehmen ihre Finanzierung und den Grundbesitz sicherstellen. Das ist es, was die Leute derzeit in Honduras erleben: Gemeinden werden für den Bau von Wasserkraftwerken vertrieben. Der öffentliche Diskurs bleibt jedoch, dass ein Projekt wie Agua Zarca Elektrizität in die indigenen Gemeinden bringe. Und warum ist das bislang nicht geschehen?

Es gibt Gemeinden, die sich als frei von Bergbau erklärt haben. Haben diese Gemeinden bereits ihr eigenes Modell des „Guten Lebens”, des „Buen Vivir“?

Genau darüber hatte ich mit Berta angesichts der Welle von Konzessionen, die ja alle nach Grundbesitz verlangen, gesprochen. In Mexiko wurden 45.000 Bergbaukonzessionen vergeben, was 25 Millionen Hektar und damit der halben Landesfläche entspricht. In Guatemala sind es 30 Prozent, in Honduras ist man noch in der Konzessionsvergabe. Wir haben darüber gesprochen, dass wir immer erst reagieren, wenn wir bereits die Auswirkungen spüren. Aber wir bemerken nicht, dass das Projekt schon fünf Jahre früher begonnen hat. Das bedeutet, dass es auf Unternehmensseite bereits starke Interessen gibt und Millionen von Dollar oder Euro investiert worden sind: in die Erkundung, in Bestechungsgelder, in Verträge mit Transportunternehmen. Das Unternehmen wird das Projekt nicht mehr einfach so aufgeben. Statt direkten Widerstand zu leisten, sollten wir vorbeugen, indem wir von bergbaufreie und staudammenfreie Territorien schaffen. Wenn die Gemeinden reflektieren und analysieren, welche Ressourcen bei ihnen vorhanden sind, merken sie, dass diese früher oder später konzessioniert werden. Und wenn die Unternehmen einmal da sind, wird es sehr schwer, sie wieder loszuwerden. Das impliziert Mobilisierung, Repression, Tote, Gefängnis, all das, was wir tausendfach erlebt haben. Schützen wir unser Territorium also vorher!

Was heißt das konkret?

Bei den Treffen mit dem Lateinamerikanischen Netzwerk gegen Staudämme oder der Mesoamerikanischen Bewegung gegen Extraktivismus und Bergbau tauschen wir Erfahrungen aus und begeben uns an die Orte konkreter Bergbauprojekte. Wir sprechen mit den Betroffenen. So beginnen wir, Bewusstsein für Widerstand und Prävention zu schaffen. Aber das Problem bleibt immer: Was ist die Alternative, die wir uns wünschen, wenn wir nicht auf diese Weise Wasser und Energie haben wollen? Wir denken zumeist, dass das Problem technischer Natur ist, dass wir also nur die Energiequelle wechseln müssen. Die Bergbauunternehmen versichern daher, dass sie grünen Bergbau betreiben. In jedem Fall roden sie tausende Hektar Wald, weil sie immer noch Tagebau betreiben. Sie benutzen trotzdem eine Million Liter Wasser pro Stunde und 15 Tonnen Zyanid am Tag. Wenn die Leute an Krebs sterben, was ist grün an der Sache? Nun, die Maschinen werden nicht mit Benzin oder Diesel betrieben, sondern mit Biotreibstoffen.
Es geht daher nicht darum, die Energiequelle zu wechseln, um das Gleiche zu tun wie vorher. Das Problem ist politischer Art. Beispielsweise ist nicht die Windkraft problematisch, sondern die Verteilung. Baut man einen riesigen, zentralisierten Windpark oder gewinnen wir die Energie auf unseren eigenen Dächern? Dezentrale Lösungen werden vielfach bestraft. In Spanien gibt es eine Steuer auf Solarenergie. In Arizona ist es verboten, Regenwasser aufzufangen und zu nutzen, das Wasser muss bei den Wasserbetrieben gekauft werden. Das Problem ist auch, wie man mit den verschiedenen Ressourcen Energie erzeugt, ob man beispielsweise einen riesigen Stausee baut, und damit tausende Hektar Land überflutet und die Bevölkerung vertreibt. Nur weil Wasser „natürlich“ ist, wird diese Energie als grün und sauber angesehen. Das Schmutzige daran ist aber, wie die Dinge vonstattengehen.
Wenn wir nach Alternativen suchen, wollen wir immer, dass uns die Gemeinden die Lösung präsentieren. Es gibt keine globale Lösung. Jede Region muss zunächst herausfinden, was ihr politisches Problem ist, und nicht, was ihr technisches Problem ist. Wir müssen uns fragen, welche Art von Projekt wir aufbauen wollen, und dann erst, welche Art von Energie wir dafür brauchen. Und das nicht nur bei der Erzeugung von Strom, sondern auch bei der Erzeugung von Nahrungsmitteln.

Stehen beispielsweise Kaffeekooperativen für die Vision einer anderen ökonomischen Basis? Dabei geht es ja darum, im solidarischen Handel einen gerechten Preis zu erzielen.

Wir tauschen nur die Feldfrucht aus, aber die Logik bleibt gleich. In einigen Gemeinden wird bereits diskutiert, ob das Problem mit dem Palmöls ist, dass sie dir viel oder wenig zahlen, oder ob es das System an sich ist. Genauso beim Kaffee oder beim Mais oder jeder anderen Monokultur. Eine andere Logik wäre es zu sagen: Lasst uns nicht nach außen denken! Es gibt schon fantastische Erfahrungen, wie in Kolumbien, und in Chiapas versuchen wir nun, Ähnliches umzusetzen. Wir werden für uns, für den Eigenbedarf produzieren. Als erstes müssen wir den Anbau diversifizieren und die Biodiversität erhöhen. Dann beginnt man Kriterien zu entwickeln, wie man ein agrarökologisches Projekt aufzieht, in dem keine Chemikalien eingesetzt werden und eine Vielzahl von Nahrungsmitteln erzeugt werden, die wiederum auf einem lokalen Markt verteilt werden. Das ist eine andere Herangehensweise als die, an die wir gewöhnt sind, nämlich die der Spezialisierung, der Monokulturen und des Exports. Dazu gehört auch der Kaffee. Wenn wir in Chiapas einen guten Preis erzielen, liegt es vielleicht daran, dass die Indigenen in Vietnam, in Brasilien oder in Guatemala von einem Hurrikan betroffen waren. Wir freuen uns, weil wir bessere Preise erzielen, aber auf wessen Kosten?

Sie wollen auf ein anderes Konzept von Entwicklung hinaus …

Ein anderes Konzept des Lebens, weil der Begriff Entwicklung aus dem Diskurs der Unternehmen und der Staaten stammt. Diese unendliche Entwicklung ist nicht nachhaltig, wir können damit nicht weitermachen. Das Bild ist zwar abgedroschen, aber wenn wir die gleiche Entwicklung für alle wollen, brauchen wir fünf Planeten. Deswegen hat man das Konzept des “Buen Vivir”, des “Guten Lebens”, entwickelt. Aber wie erhält es einen politischen Inhalt? Ich habe keine Ahnung, was das Gute Leben ist. Das Konzept muss erst entwickelt werden. In den indigenen Gemeinden von Chiapas gibt es das Lekil Kuxlejal, ein Konzept, unter dem die Indigenen eine gesunde Umwelt verstehen, die sich im Gleichgewicht befindet: Leben, Wasser, ausreichend Nahrungsmittel und dass es allen gut geht. Andere, in Oaxaca, sprechen von Kommunalität „comunalidad“, andere davon, eine gemeinsame Einheit, die „comun unidad“ aufzubauen. In jeder Region beginnen Menschen neue Konzepte zu entwickeln oder wiederzuentdecken, die nicht diesem Begriff der linearen, kapitalistischen Entwicklung entsprechen. Grundlegend erscheint mir dabei die Tatsache, dass es nicht um ein Konzept geht, das global angewendet wird. In jeder Region folgt es den eigenen Erfahrungen und Bräuchen. Und ich glaube, es gibt viele Arten glücklich zu sein. Es gibt viele Formen, das gute Leben aufzubauen.

 

 

PARALLELE ERMITTLUNGEN

Als Berta Cáceres in der Nacht vom 2. auf den 3. März 2016 ermordet wurde, bestand sofort der Verdacht, dass das Energieunternehmen DESA (Desarrollos Energéticos) in die Tat verwickelt sein könnte. Die Morddrohungen gegen Berta Cáceres und die indigene Nichtregierungsorganisation COPINH waren im Laufe der Protestaktionen gegen den Bau des Staudamms Agua Zarca immer massiver geworden. Sicherheitskräfte der DESA gingen gewaltsam gegen die Protestierenden vor, drei Mitglieder von COPINH waren bereits ermordet worden.

Die Staatsanwaltschaft in Honduras ermittelte ebenfalls in diese Richtung und stellte acht Honduraner unter Mordanklage, darunter zwei Angestellte von DESA und einen Militär. Doch auch acht Monate nach der Tat gab es keine Hinweise, dass die Staatsanwaltschaft nicht nur gegen die direkten Täter, sondern auch gegen die Auftraggeber des Mordes ermittelte. Gleichzeitig wurde der Familie die Einsicht in Akten und gesicherte Beweismittel trotz Rechtsanspruchs als Nebenklägerin verweigert.

Im November 2016 nahm daher ein Team von fünf internationalen Anwält*innen aus den USA, Kolumbien und Guatemala, die das Vertrauen der Familie von Berta Cáceres besitzen, eigene Ermittlungen auf. Die internationale Expert*innenkommission GAIPE (Grupo Asesor Internacional de Personas Expertas) sichtete rund 40.000 WhatsApp-Nachrichten, Anrufe und Videos eines Telefons aus dem Büro der DESA sowie von zwei Telefonen der Angeklagten, interviewte mehr als 30 Beteiligte auf vier Reisen nach Honduras und erhielt Zugang zu Teilen der Beweisen der Staatsanwaltschaft. Die Expert*innen kamen zu dem Schluss: „Die vorhandenen Indizien beweisen eindeutig die Beteiligung von zahlreichen staatlichen Vertretern (Polizei, Militär, Beamte) sowie ranghohen Managern und Angestellten von DESA an der Planung, Durchführung und Vertuschung des Mordes.“ Ziel der Operation seien die Auflösung von COPINH und das Ende des Widerstandes gegen das Wasserkraftwerk Agua Zarca gewesen.

GAIPE dokumentierte außerdem zahlreiche Unregelmäßigkeiten bei der Untersuchung des Mordes und kritisierte die bis heute nicht erfolgte Weitergabe von Informationen an die Nebenklage, die im Gegensatz dazu an Teilhaber*innen und Direktoren von DESA weitergeleitet wurden. GAIPE konstatiert auch eine „vorsätzliche Fahrlässigkeit“ der Finanzpartner, darunter die holländische Entwicklungsbank FMO und Finnfund. Diese hätten vorab Kenntnis der Strategien von DESA erhalten, Studien von Menschenrechtler*innen und internationalen Berater*innen aber ignoriert. Angemessene Maßnahmen zum Schutz der Rechte der indigenen Gemeinden, die von dem Staudammbau betroffen sind, hätten sie nicht ergriffen. FMO und Finnfund wiesen öffentlich „jede Behauptung von Ungesetzlichkeit in unserer Beteiligung an irgendeinem Projekt“ zurück.
Die strafrechtlichen Ermittlungen sind weiterhin nicht abgeschlossen. Die Staatsanwaltschaft in Honduras bestätigte, dass die Auftraggeber des Mordes noch nicht identifiziert wurden. DESA reagierte nicht auf den Bericht von GAIPE, wies aber bisher jede Verantwortung für die Gewalt gegen COPINH und den Mord zurück. Der Bau des Staudamms ist seit Juli 2017 für unbestimmte Zeit ausgesetzt, nachdem sich Finnfund und FMO von dem Projekt zurückgezogen hatten.

 

“DIE REPRESSIVEN STRATEGIEN HABEN SICH VERÄNDERT”

Ist ein nachhaltiger und verantwortungsvoller Bergbau im großen Umfang überhaupt möglich?

Danilo Urrea: Einen nachhaltigen und verantwortungsvollen Bergbau gibt es nicht. Das einzige, wofür der Bergbau verantwortlich ist, ist die Vertreibung und die Kriminalisierung von Gegnern, die Verschmutzung von Luft und Wasser sowie daraus resultierende Atemwegs- und Magenerkrankungen. Alles andere ist eine Täuschung. Die Unternehmen haben ein Modell der sozialen Verantwortung konstruiert, das allerdings nur ihr korporatives Modell selbst fördert. Wenn ein Unternehmen etwa ein Heiligenfest sponsert oder Schulen baut – in denen den indigenen Kindern dann eingetrichtert wird, dass sie im Bergbau arbeiten sollen – oder eine Gesundheitsstation ohne Strom für die Geräte errichtet, dann will das Unternehmen eindeutig sein Image reinwaschen. Dadurch sollen einerseits Steuerzahlungen verringert werden, andererseits will sich das Unternehmen dadurch den Zugang in die Gebiete sichern.

Was passiert mit Menschen, die Megaprojekten in ihrer Region verhindern wollen?

D.U.: In den letzten zehn Jahren haben sich die repressiven Strategien verändert – was nicht heißt, dass Menschen nicht mehr ermordet oder verhaftet werden. Neu ist, dass die Arbeit der Menschen delegitimiert und sie selbst stigmatisiert werden. Das hat zu einem großen Misstrauen bei der lokalen Bevölkerung geführt. Diese neue Form der Repression ist bisher sehr effektiv und das Ergebnis einer sehr guten Koordination zwischen den Medien und den sie finanzierenden Unternehmen.

Blanca Nubia Anaya: Als das Unternehmen [in Sogamoso; Anm. der Red.] begann, gewaltsam in das Gebiet vorzudringen, um den Staudamm zu bauen, wurden vier führende Persönlichkeiten ermordet. Bei diesen und in anderen Fällen wurde nach wie vor niemand zur Rechenschaft gezogen. Manche Gefährtinnen und Gefährten haben eine derartige Rufschädigung erlitten, dass es ihnen fast unmöglich geworden ist, das Vertrauen der anderen zurückzugewinnen.

Jonathan Ospina: In Cajamarca ist das Gleiche passiert, 2013 wurden zwei Menschen ermordet und 2014 ein weiterer. Den Ermittlungen zufolge soll es sich um isolierte Straftaten handeln, die nichts mit der führenden Rolle der Ermordeten beim Kampf um ihr Territorium zu tun haben. Allerdings zeigten sich bei diesen Ermittlungen auch Widersprüche. Außerdem erhielten die Bewegung und ihre Protagonisten vielfache Drohungen von Seiten paramilitärischer Gruppen oder unbekannter Personen. Das Unternehmen war früher in Skandale wegen Verbindungen zu paramilitärischen Gruppen in anderen Teilen der Welt verstrickt, in Ghana und Südafrika zum Beispiel. Es ist auffällig, dass die paramilitärische Gruppe Las Águilas Negras („Schwarze Adler“) bei ihren Drohungen die gleiche Sprache verwendet wie das Unternehmen: die berühmte Rede vom Fortschritt.

Sie sind Repräsentant*innen lokaler Widerstandsprozesse: In Cajamarca sprachen sich bei einem Referendum 97 Prozent der Beteiligten gegen die Goldmine La Colosa aus. Am Staudammprojekt Hidrosogamoso wurde festgehalten, der Widerstand der lokalen Gemeinde zwang Regierung und Unternehmen jedoch zu Verhandlungen mit der Bevölkerung. Wie hat sich diese Situation ergeben?

B.N.A.: Es war nicht einfach in Sogamoso. Wir protestierten und streikten sechs Monate lang in einem Park vor Ort. Zuletzt bot uns die Gewerkschaftszentrale CUT, vor allem für die Alten und Kinder unter uns, ein Dach und Schutz in ihrer Niederlassung an. Das Unternehmen bot uns 1.300 Millionen Pesos (etwa 37.000 Euro) an, damit wir den Protest beenden. Aber das war überhaupt keine Lösung. Wir sind mehr als 2.000 Familien und uns werden weder Grundstücke für die landwirtschaftliche Nutzung noch Wohnungen angeboten. Nach sechs Monaten brachen wir den Protest ab, weil wir nicht mehr konnten. Wir mobilisierten uns aber weiter und sprachen unsere Forderungen aus.

J.O.: Für diesen Fall wurden Unterstützernetzwerke von der lokalen über die nationale bis zur internationalen Ebene gebildet. Ganz besonders kam die „Mund-zu-Mund-Propaganda“ zum Einsatz und es entstanden Bürger-initiativen wie die Karnevalsmärsche. Hand-bücher, jede Art von informativem und didaktischem Material wurde erstellt, um die Auswirkungen des großangelegten Tagebaus zu erklären. Wir ließen uns von Rechtsanwälten beraten und wendeten jegliche juristischen Mittel an, damit Vertreter der Bürgergemeinde bei Sitzungen der lokalen Räte anwesend sein konnten.

Es wurde breit diskutiert, dass nach dem Rückzug der Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) Megaprojekte in die Gebiete Einzug halten könnten. Bedeutet das womöglich eine soziale und ökologische Katastrophe für diese Gebiete?

B.N.A.: Tatsächlich waren die Menschen in mehreren Ortschaften gegen den Rückzug der Guerilla. Sie haben Angst. Viele Einwohner haben Drohungen erhalten, bei denen es hieß, sobald die FARC weg seien, würden sie hingerichtet. Können Sie sich vorstellen, wie viele Menschen umgebracht werden, nur weil sie in einem ehemaligem Guerilla-Gebiet leben?

D.U.: Es ist wichtig, klarzustellen, dass wir einhundert Prozent hinter dem Abkommen stehen als Möglichkeit, den langen bewaffneten Konflikt zu beenden. Aber das heißt nicht, dass wir einverstanden wären mit dem, was dieser Frieden bedeuten soll. Die Gemeinden haben seit jeher Frieden konstruiert, allein durch die Art und Weise, wie sie die Gebiete bewohnen. Das geht in eine ganz andere Richtung als das korporative Modell der Regierung.

 

DIFFAMIERUNG STATT AUFKLÄRUNG

Ein Jahr ist seit dem Mord an Berta Cáceres vergangen. Der Schock über den Verlust und die grausame Tat ist längst nicht überwunden. Berta Cáceres war eine nicht nur in Honduras herausragende Persönlichkeit, die sich schwer in Kategorien einordnen ließ. Sie war mehr als eine Umweltschützerin oder Menschenrechtsverteidigerin, sie war Kämpferin für indigene Rechte, Feministin, Antikapitalistin. Sie hatte den Zivilen Rat für Indigene und Basisbewegungen Honduras (COPINH) maßgeblich mit aufgebaut und dafür gesorgt, dass nicht nur die Verteidigung der Territorien der indigenen Gruppe der Lenca auf dem Programm stand, sondern auch ein kritischer Umgang mit patriarchalen Strukturen innerhalb der eigenen Organisation. Sie war trotz all ihrer Reisen am liebsten vor Ort in den Lenca-Gemeinden.

Die Botschaft der Mörder bleibt: Wenn wir Berta töten können, können wir jeden töten.

„Sie haben geglaubt, dass sie auf diese Art nicht nur die in Lateinamerika und weltweit bekannte Führungspersönlichkeit vernichten, sondern zugleich auch die Idee, den Kampf, das politische Projekt und die Organisation COPINH, dessen Mitbegründerin und Tochter Berta war“, schreibt COPINH über die Intention der Mörder. Gelungen ist ihnen das nicht, nach wie vor fordern solidarische Gruppen weltweit Gerechtigkeit für Berta. Berta Cáceres’ Name fand sich bereits im Jahr 2013 auf einer Todesliste. Sie erhielt über die Jahre eine Vielzahl von Morddrohungen. Viele glaubten, dass man es nicht wagen würde, Berta Cáceres zu ermorden, weil sie zu bekannt war. Doch in der Nacht vom 2. auf den 3. März 2016 erschossen Auftragsmörder sie in ihrem eigenen Haus. Der Zeuge Gustavo Castro, mit dessen Anwesenheit die Mörder nicht gerechnet hatten, wurde angeschossen. Er überlebte, weil er sich tot stellte. Die schockierende Botschaft der Mörder an die Öffentlichkeit bleibt: Wenn wir Berta töten können, können wir jeden töten. In dem Jahr seit Bertas Tod wurden weitere Menschenrechts- und Umweltaktivist*innen ermordet: Nelson García und Lesbia Urquía von COPINH, José Ángel Flores und Silmer Dionisio George von der Bauernbewegung MUCA, José Santos Sevilla, aus der Führung des indigenen Volks der Tolúpan. Honduras ist, wie die internationale NGO Global Witness in ihrem Ende Januar erschienenen Bericht feststellt, das gefährlichste Land weltweit für Umweltschützer*innen und Kämpfer*innen für Landrechte. Der Mordfall Berta Cáceres droht sich als beispielhaft für eine Gesellschaft zu erweisen, in der Morde und Attentate durch die höchsten politischen und wirtschaftlichen Kreise gedeckt werden.

Global Witness stellt aktuell fünf Fälle von Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit Landkonflikten ausführlich dar und benennt Mitverantwortliche aus Politik, Wirtschaft und Militär. Seither läuft eine Diffamierungskampagne gegen die Verfasser*innen des Berichts sowie gegen die Gemeinden und Organisationen, die Informationen dazu beigetragen haben. Einmal mehr handeln die honduranischen Autoritäten nach dem Motto: diffamieren und kriminalisieren anstatt ernsthaft zu ermitteln. Am 8. Februar 2017 wurde Óscar Aroldo Torres Velásquez als achter Tatverdächtiger im Mordfall Berta Cáceres verhaftet. Er soll derjenige sein, der auf den einzigen Zeugen Gustavo Castro geschossen hat. Zwei der Beschuldigten haben Verbindungen zum Staudammunternehmen Desarrollos Energéticos S.A. (DESA), das für den Bau des von COPINH abgelehnten Wasserkraftprojekts Agua Zarca auf indigenem Territorium verantwortlich ist. Vier der Beschuldigten sind Militärs oder Ex-Militärs.

Bereits im Juni 2016 sprach ein weiterer ehemaliger Militärangehöriger gegenüber der Zeitung The Guardian von einer Todesliste, auf der Cáceres’ Name gestanden habe. Im September 2016 entdeckten Mitglieder von COPINH einen Militärspion in ihren Reihen, der Informationen über ihre Aktivitäten an das Präsidialamt schickte. „DESAs Verflechtungen mit dem honduranischen Militär reichen bis in die obersten Ränge. Dem Unternehmensregister zufolge, in das Global Witness Einsicht hatte, ist DESAs Präsident Roberto David Castillo Mejía ein ehemaliger Geheimdienstoffizier und Angestellter des staatlichen Energieunternehmens Empresa Nacional de Energía Eléctrica“, so Global Witness. Bereits 2009 habe es Indizien für korrupte Geschäfte Castillos gegeben. Unter anderem bezog er noch ein Gehalt der Armee, nachdem er dort ausgeschieden war und verkaufte überteuerte Waren an seinen ehemaligen Arbeitgeber. In DESAs Vorstand sitzen Vertreter der gut vernetzten wirtschaftlich-politischen Elite wie Ex-Minister Roberto Pacheco Reyes oder der Präsident der Bank BAC Honduras, Jacobo Nicolás Atala Zablah, der zu einer der reichsten und einflussreichsten Familien des Landes gehört.

Die international investigativ tätige NGO Global Witness zeigt sich in ihrem Bericht davon überzeugt, dass die Auftraggeber*innen im Mordfall Cáceres in der gesellschaftlichen Hierarchie weiter oben stehen als die bisher Verhafteten. Die Verfasser*innen der Recherchen halten es jedoch für unwahrscheinlich, dass die Hintermänner gefasst werden, wenn sie wirklich Verbindungen in die oberen Ebenen des Staudammprojekts oder des Militärs besitzen.

Nicht nur im Mordfall Berta Cáceres hat Global Witness belastendes Material gegen führende Unternehmer*innen, Politiker*innen oder Militärs zusammengetragen, etwa gegen die Vorsitzende der Nationalen Partei, Gladis Aurora López. So ist die Diffamierungskampagne, die bereits vor der Vorstellung der Studie begann, kaum verwunderlich. Es tauchten manipulierte Plakate im Internet auf, auf denen die Lenca- Organisationen MILPAH und COPINH, das Honduranische Zentrum zur Förderung der Gemeindeentwicklung CEHPRODEC sowie die NGO Global Witness bezichtigt werden, Honduras in Misskredit zu bringen sowie ökonomisch davon zu profitieren. Auf einem solchen Plakat abgebildet ist unter anderem Berta Isabel Zúñiga, Tochter von Berta Cáceres. Während eines Auftritts in der Fernsehtalkshow Frente a frente wurden Billy Kyte von Global Witness sowie zwei Vertreter von MILPAH als „Lügner“, „Entwicklungsfeinde“ und „Feinde des honduranischen Volkes“ verbal attackiert. Der Staatssekretär für Energie, Ressourcen, Umwelt und Bergbau, José Antonio Galdames, forderte in einem Telefonanruf während der Sendung, dass die Staatsanwaltschaft Kyte verhaften solle.

Auch dem Mord an Berta Cáceres war eine Diffamierungskampagne vorausgegangen, in der die Koordinatorin des COPINH der Lüge bezichtigt wurde und COPINH-Mitgliedern Vandalismus unterstellt wurde. Besonders im Monat vor dem Mord häuften sich die Diffamierungen. Global Witness betonte nach der jüngsten Rufmordkampagne, dass ihre Mitarbeiter* innen durchaus ein positives Bild der honduranischen Bevölkerung hätten: „In der vergangenen Woche haben uns die Führungspersonen der Gemeinden und der Indigenen erneut inspiriert, die Frauen und Männer, die die Menschenrechte verteidigen, die Mitglieder der Nichtregierungsorganisationen. Sie sind Heldinnen und Helden. Wenn der Regierung ein besseres Honduras wirklich am Herzen liegen würde, würde sie deren Sicherheit garantieren und ihre Stimmen anhören.“

DIE ROTE WAND AM XINGU

„Dieses Werk ist so groß wie dieses Volk. Es ist großartig. Es ist ein großartiges Werk. Das ist die beste Art, Belo Monte zu beschreiben: großartig“. Mit diesen Worten lobte Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff am 5. Mai dieses Jahres die Inbetriebnahme der ersten Turbine des Wasserkraftwerkes Belo Monte. Es liegt direkt am Xingu-Fluss, hinter der großen Flusschleife der Volta Grande, im Bundesstaat Pará. Es war eine ihrer letzten Handlungen, bevor sie durch das Senatsvotum vorläufig aus dem Amt geputscht wurde.
Es war keine glückliche Vorstellung, die sie in der Stadt Altamira abgab. Kaum angekommen auf dem Flughafen in Altamira flog sie der Helikopter über Belo Monte, setzte sie beim Werk ab, sie hielt ihre Lobesrede – und war wieder weg. Sie erwarteten noch viele Termine in diesen für Brasiliens Politik turbulenten Tagen.
Wahrscheinlich hätte es sich aber für die Noch-Präsidentin gelohnt, wenn sie auch mit den Bewohner*innen vom Xingu gesprochen und ihnen zugehört hätte. Dann hätte sie die andere Seite dieser „großartigen“ Geschichte hören können.

Anfang März randvoll geflutet: Das große Staureservoir von Belo Monte (Fotos: Christian Russau)

Die Bedenken und Sorgen der Betroffenen konnte man derweil schon anderthalb Monate zuvor kennen lernen. In der Volta Grande am Xingu: Dunkelgrüne Farne und Moose, vereinzelte Bromelien und Orchideen bedecken den Grund, Aronstabgewächse wie die Philodendren wachsen dicht neben Ölpalmen, verschlungene Lianen hangeln sich an den Borken der nur noch wenigen Jatobá- und Babaçu-Nussbäumen entlang. Ab und an ragt hoch über allem die Castanheira, der Paranussbaum.
Der Wald öffnet sich, weicht einer Langgraswiese und dann kommt die Wand in den Blick. Eine rote Mauer, die selbst die Castanheiras überragen würde, gäbe es sie an dieser Stelle noch. Die Wand ist an dieser Stelle über 65 Meter hoch, die noch vorhandenen Baumkronen erreichen hier noch an die 25 Meter. Die rote Farbe kommt von der heimischen Erde, die auf die Beton-, Geröll- und Sand­schichten als oberste Schicht aufgetragen wurde, um ihren Oberflächenbewuchs mit heimischen Pflanzen zu ermöglichen.
Die Wand, das ist die schräg abfallende Fläche des Außendeichs mit der Nummer 6C. Er ist der höchste der hier vorhandenen Deiche. Er begrenzt die südliche Flanke des Staureservoirs des künftig drittgrößten Staudamms der Welt, Belo Monte. Er soll Arbeitsplätze schaffen. Entwicklung vorantreiben. Er soll die Energieprobleme Brasiliens lösen. Nichts weniger ist der Anspruch.
Das sagen die Befürworter*innen des Wasserkraftwerkes.
Die Kritiker*innen entgegnen, der Strom gehe in die energieintensive Bergbauindustrie, in die exportorientierte Industrie und in die weit entfernten Ballungszentren im Süden des Landes. Hier im Norden, in Amazonien, im Bundesstaat Pará, werde der Strom jedenfalls nicht gebraucht – und auch nicht verbraucht, erzählen Bewohner*innen vom Xingu.
Wenige Kilometer weiter: Rinderweiden grenzen an Palmölkulturen. Dann wieder ein halbwegs intaktes Waldstück. Doch dann wird der Wald wie mit dem Trennmesser auf einmal durchschnitten. Eine über 100 Meter breite Trasse wurde hier geschlagen, eine am Horizont sich in der Perspektive verlierende Grasfläche. Hier stehen die Masten der Überlandleitung gen Süden in vier Reihen nebeneinander, 300 Meter weiter zieht sich noch eine Trasse durch die Landschaft, auch gen Süden. Männer in blauen Overalls klettern an den Masten hoch und runter, schrauben, rufen sich zu und winken dem anhaltenden Fahrzeug. Einmal fürs Foto aus luftiger Höhe posieren. Sehr gerne. Sie lächeln. Sie haben doch ein Einkommen, werden nicht schlecht bezahlt für das Verlegen der Überlandleitungen über mehrere tausend Kilometer, immer gen Süden.
Zé Carlos Arara lächelt nicht. Er ist wütend. Aufgebracht. Aber er versucht, sich klar und deutlich auszudrücken. Muss er doch in wenigen Minuten zusammenfassen, was seiner aldeia, seinem indigenen Dorf, vor wenigen Wochen passiert ist. Bisher hatte niemand über diesen Vorfall berichtet, einfach, weil ihn bisher kein*e Journalist*in dazu befragt hatte. Es war niemand von der Presse bei ihm gewesen. Die Wege sind weit in Amazonien.
Zé Carlos ist der Kazike der Terra Indígena Arara, die in der Volta Grande, der großen Flusschleife des Xingu-Flusses, an der rechten Seite des Ufers liegt. Die Volta Grande ist eine rund 100 Kilometer natürliche Flusschleife des Xingu, die flussabwärts der ersten Staustufe von Belo Monte, Pimental, und flussaufwärts des Hauptturbinenhauses liegt. Als Abkürzung des Flusslaufes haben der Staudammbetreiber und die Baufirmen einen kilometerlangen Kanal gezogen, der den Großteil des Flusswasser in ein rund 500 Quadratkilometer großes, neugeschaffenes Staureservoir leitet, dort, wo der Deich Nr. 6C das Reservoir sichert. Ende Februar war der sich zum Hauptwasserkraftwerk hin zuspitzende Stausee bis oben randvoll. Es hatte so viel geregnet, dass der Staubereich augenscheinlich schneller als von den Ingenieur*innen geplant, voll lief. Oder aber die Ingenieur*innen haben sich gründlich verrechnet. Zé Carlos weiß das nicht.
In der aldeia der Arara leben über 100 Menschen und sie verfügen über Radiofunk, mit dem sie mit der Außenwelt kommunizieren. Immer morgens zwischen acht und elf Uhr sowie am Nachmittag gegen drei Uhr steht die Verbindung. Zé Carlos hat ein Handy, über das er, wenn er Empfang hat, meistens erreichbar ist. Vor einigen Wochen war er in der Stadt Altamira, einige Bootsstunden flussaufwärts, um Besorgungen für die aldeia zu machen. Da klingelte am Abend sein Handy. Ein Mitarbeiter der Staudammfirma Norte Energia rief ihn an, um ihm mitzuteilen, dass sie jetzt die Schleusentore bei der ersten Staustufe Pimental öffnen und dort viel Wasser in die Volta Grande ablassen würden, sodass der dortige Wasserstand rapide steigen werde. Ob er die Anwohner*innen davon in Kenntnis setzen könnte?

Schrauben, Klettern, Lächeln: Strommast bei Belo Monte

„Ich sagte Norte Energia, ich bin jetzt in Altamira. Ich habe Norte Energia am Telefon gefragt, ‚Kann man das nicht morgen machen‘? Jetzt kann ich die aldeia nicht erreichen und meine Leute nicht warnen, wenn wir das Morgen am Vormittag machen, alles kein Problem.‘ Und die Antwort von Norte Energia: ‚Keine Chance. Wir müssen das jetzt machen‘“, berichtet Zé Carlos Arara in Altamira bei der Bundesanwältin Thaís Santi. Diese nimmt die Aussage gewissenhaft auf, ist besorgt und empört zugleich.
Zé Carlos war nach dem Telefonat in höchster Aufregung. Die Schleusentore zu öffnen, ohne dass die Bewohner*innen der aldeia vorher gewarnt würden, das ging doch nicht. Er war sehr unruhig, konnte nicht einschlafen. „Ich bin früh am Morgen aufgestanden und habe versucht rauszufinden, was denn nun passiert ist. Um acht Uhr am Morgen habe ich es dann geschafft, die aldeia per Radio zu erreichen. Die haben mir dann sofort erzählt, dass in der Nacht auf einmal all das Wasser den Fluss runterkam und vieles von den Fluten mitgerissen wurde. Boote, Motoren, Netze, alles, was da abgelegt worden war. Und was nicht mitgerissen wurde, wurde oftmals zerstört von den Wassermassen. Die Zementmischung zum Beispiel, komplett aufgeweicht und somit nutzlos.“
Die Menschen rannten in Panik weg. Sie dachten, der Damm sei gebrochen. Bei Pimental sind die umgebenden Deiche rund elf Meter hoch, weiter flussabwärts kommen die Deiche an die 50 und 60 Meter Höhe. Das geht bis zu den 65 Metern bei Deich Nummer 6C. Nicht auszumalen, was passiert, wenn hier ein Deich Risse aufweisen sollte.
„Das zeigt ganz klar: Norte Energia handelt unverantwortlich!“, sagt die Bundesstaatsanwältin Thaís Santi, nachdem sie Zé Carlos Araras Aussage aufgenommen hat. „Die haben nicht den geringsten Notfallkommunikationsplan! Und das betrifft die ganze Volta Grande.“
„Beim Bau von Belo Monte war von Anfang an festgelegt worden, dass sofort nach der Versteigerung, wer die Lizenz zum Bauen von Belo Monte bekäme, die Umsetzung des Planes zum Schutz der indigenen Bevölkerungen beginnen müsste. Das hätte schon 2010 erfolgen müssen. Eigentlich.“ Sagt Thaís Santi. Am Rio Xingu gibt es laut dem Schutzplan mehr als 30 indigene Dörfer und Territorien. „Aber bis heute wurde davon rein gar nichts umgesetzt“, beschreibt die Bundesstaatsanwältin das Desaster am Xingu.
Was umgesetzt wurde, waren „Computer, Cars and Cash“, so kommentiert es Todd Southgate, kanadischer Dokumentarfilmer, der am Xingu gerade seine Langzeitbeobachtung von Belo Monte zu Ende führt. Diese ganzen Geschenke aber, das brächte die Indigenen in Abhängigkeiten, so Southgate. Seit Jahren dokumentiert er die Veränderungen in den aldeias der Volta Grande. Wo die Indigenen am Xingu zuvor fischten und sich selbst versorgen konnten, trinken sie nun gelieferte Softdrinks aus PET-Flaschen, schauen unterirdische Fernsehshows der Medienzentralen aus dem Süden des Landes und können Fisch meist nur noch essen, wenn sie in die Stadt fahren und dort im Supermarkt Tiefkühlfisch aus Thailand oder dem Nordatlantik kaufen. „Die vielfältige indigene Kultur am Xingu wurde durch Belo Monte in all ihren Facetten zerstört“, so Southgate.
Die neuen Motoren für die Boote, die Autos, die Mopeds, das Benzin, die Flachbildschirme und die Computer, die der Staudammbetreiber Norte Energia an die verschiedenen indigenen Dörfer entlang des Xingu-Flusses als Entschädigungen für den Bau von Belo Monte verteilt hat, haben Streit gebracht. „Vorher waren wir hier 18 indigene Dörfer, dann kamen die vielen Geschenke von Norte Energia und es gab Neid und Streit zwischen den verschiedenen Gruppen, so dass sich einige abgesplittet haben“, sagt Gilliard Juruna, Kazike der Juruna im kleinen Dorf Muratu am Xingu-Fluss. „Heute sind es 45 aldeias“, so Gilliard.
Das alte Teile und Herrsche?
„Ja“, sagt Gilliard, „das war die Strategie, sie wollten uns spalten, um unseren Widerstand zu schwächen.“
Thaís Santi, die Bundesstaatsanwältin, spitzt den Vorwurf noch weiter zu. Santi spricht von Ethnozid. „Meine staatsanwaltlichen Untersuchungen des Falles haben ergeben, dass die Auswirkungen des Staudammbaus nicht wie vorgeschrieben gemindert, sondern im Gegenteil sogar ausgeweitet wurden. Die Untersuchungen aller Dokumente, aller Zeugen- und Betroffenenaussagen sowie selbst die Studien der Indigenenbehörde Funai ergeben das gleiche Bild: Bei Belo Monte handelt es sich um einen Ethnozid“, beschreibt Santi die Sachlage. Sie schlussfolgert, es ist „ein Ethnozid, den der brasilianische Staat und die Staudammbetreiberin Norte Energia hier durchführen.“

Das graue Monster: Die erste Turbine ist in Betrieb genommen worden

Thaís Santi macht eine Pause. Denn der Vorwurf des Ethnozids geht auch ihr nicht leicht über die Lippen. „Belo Monte ist ein Ethnozid, den der brasilianische Staat und die Staudammbetreiberin Norte Energia hier durchführen und der im Ziel den Indigenen assistenzialistische Sachspenden zugute kommen lässt, sie aber dadurch in Abhängigkeit vom Staat und von der Staudammbetreiberin bringt.“ Dadurch werde die Sozial- und Alltagsstruktur in den aldeias zerstört. „Was hier vorgeht, ist ein kompletter Umbruch des Lebenswandels, der Ernährung, der Arbeitswelt der Indigenen“, so Santi, die in São Bernardo do Campo südlich von São Paulo geboren wurde, in Curitiba in Südbrasilien aufwuchs und seit vier Jahren als Bundesstaatsanwältin in Altamira arbeitet. Ihr Fazit: „Die Bundesstaatsanwaltschaft hat deswegen den Schluss gezogen, dass es sich bei Belo Monte in der Tat um einen Ethnozid handelt. Deswegen haben wir die Klage eingereicht, um Belo Monte von Gerichts wegen zu dem zu erklären, was es ist: ein Ethnozid.“
Bevor die 37-Jährige als Bundesstaatsanwältin zu arbeiten anfing, war sie als Universitätsprofessorin für Philosophie tätig. Ihre Abschlussarbeit verfasste sie über Hannah Arendts Totalitarismustheorie, die sie in ihrem Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft 1955 herausgearbeitet hatte. Mit ihren Student*innen, erzählt sie, habe sie oft diskutiert über eine Welt, in der alles möglich ist, eine Welt am Rande der Legalität, eine Welt des Terrors. Und das, sagt Thaís Santi, habe sie am Xingu vorgefunden. „Belo Monte ist ein Ethnozid in einer Welt, in der alles möglich ist.“ Denn, so die Staatsanwältin, dieser Großstaudamm zeige die Extremseite eines als flexibel handhabbar verstandenen Rechts. Die Verletzung der Rechte der von Belo Monte betroffenen Menschen breche die Verfassung. Vor Gericht werde aber nicht mit dem Recht argumentiert, sondern mit der Kraft des Faktischen. „Der Staudammbetreiber argumentiert gegen die Rechtsklagen, was alles schon für das Bauwerk ausgegeben wurde, wie viele Bauarbeiter*innen ihren Job verlieren würden. Aber das alles ist nicht Teil von Recht und Gesetz, dies ist das Faktische. Dass der Bau von Belo Monte weiterläuft, das ist die terrorisierende Welt des Faktischen, in der alles möglich ist, in der das Recht keine Grenzen mehr setzt. Die Welt des ‚Alles ist möglich‘ – das ist Belo Monte“, so Thaís Santi.
Und das läuft so: Mittlerweile 25 Klagen haben die verschiedenen Bundesstaatsanwaltschaften bislang gegen Belo Monte vor Gericht eingereicht. Einige von diesen haben den Bau des Staudamms zwischenzeitlich gestoppt. Doch immer fand sich ein*e Richter*in am Obersten Gerichtshof in Brasília, der*die die Baustopps wieder aufhob und die Verfassungsklagen auf die lange Bank schob. Und dies, ohne dass die in den Klagen genannten Rechtsfragen selbst juristisch analysiert worden wären. Die Aushebelung der rechtsstaatlichen Vorgänge erfolgt dabei durch die Anwendung von Dekreten, die noch aus der Zeit der brasilianischen Militärdiktatur stammen. Die Rechtsansprüche  der vom Projekt betroffenen Menschen werden so durch den Verweis auf das vermeintlich „nationale Interesse“ auf die lange Bank geschoben. Und der Bau kann erstmal weitergehen.
Vielleicht werden in einigen Jahren die Gerichtsprozesse abgeschlossen und die Rechtsbrüche durch Belo Monte justiziabel sanktioniert. Aber dann ist der Staudamm schon lange in Betrieb, produziert Elektrizität im „nationalen Interesse“ und ein Rückbau ist durch die Kraft des Faktischen auf absehbare Zeit ausgeschlossen.
Den betroffenen Indigenen hilft das nicht weiter. Die Sozialstruktur erodiert.
Der Alkoholismus habe stark zugenommen, berichtet einen Tag später Leiliane Juruna in dem indigenen Dorf Muratu an der Volta Grande, flussabwärts der ersten Staustufe bei Pimental. „Die Männer sind früher zum Fischen raus, schon ganz früh, heute stehen viele von ihnen spät auf, und der Kater ist ihnen anzusehen“, klagt Leiliane, die umringt von den Kindern des Dorfes die Wäsche, vor dem Nieselregen unter dem Vordach hinter dem Haus gut geschützt, aufhängt. Bel, wie sie alle hier nennen, ist ebenfalls wie Gilliard Juruna Kazikin des kleinen Dorfes Muratu, hier in der Terra Indígena Paquiçamba. Bel wird gerade fertig damit, die Wäsche aufzuhängen, da kommt Gilliard mit drei gefangenen Fischen vorbei. „Das ist zur Zeit sehr selten geworden“, sagt er, „die Fische sind hier echt selten geworden, seit sie da den Damm hochgezogen haben.“ Anfang des Jahres konstatierte die Umweltbehörde Ibama, dass durch den Dammbau von Belo Monte 16 Tonnen Fisch starben.
Bel und Gilliard haben gerade beide nicht viel Zeit. Heute kommt Besuch nach Muratu. Angekündigt hat sich Victoria Tauli-Corpuz, die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen (UN) für die Rechte indigener Völker. Sie will von den Indigenen direkt erfahren, welche Folgen Belo Monte für das Leben in der Region hat. Bel, Gilliard und die anderen ziehen sich zurück, sie müssen sich noch bemalen, den traditionellen Federschmuck aufsetzen und sich auf das für eine Stunde angesetzte Gespräch vorbereiten.
Der Regen wird stärker. Er zerfurcht den roterdigen Boden in Rinnsale, die rotbraun gen Xingu fliessen.
Dann endlich kommt die Autokolonne, die die UN-Berichterstatterin nach Muratu begleitet. Drei Polizeifahrzeuge mit schwerbewaffneten Bundes­straßenpolizist*innen vorneweg, zwei hinter den Allradwagen mit Vertreter*innen der UN. Die Polizist*innen springen behände aus den Wagen, postieren sich im Halbkreis um die Wagen und halten die Schnellfeuerwaffen vor der Brust gekreuzt.
Schnell begreifen die zunächst grimmig die Situation überblickenden Polizist*innen, dass ihr Auftreten nicht nur nicht gut ankommt, hier in Muratu, schlimmer noch, es nimmt demonstrativ niemand weiter Notiz von ihnen. Bel und Gilliard Juruna gehen auf die Berichterstatterin Tauli-Corpuz zu und durchschneiden dabei elegant die Reihen der Polizei. Die Sonderberichterstatterin kommt auf die zwei zu und umarmt sie herzlich. Der Polizeikommandeur schickt seine Leute runter an den Fluss und erläutert Bel und Gilliard, dass die Polizeianwesenheit hier wohl nicht so vonnöten sei und dass sie sich weiter unten am Ufer hinsetzen werden und nicht beabsichtigen, das Treffen zu stören. Es ginge ja „nur um präventive Sicherheit“, sagt der Kommandeur. Da kann auch Victoria Tauli-Corpuz sich ihr Lächeln nicht verkneifen, als die Übersetzer*innen ihr die kurze Konversation übermitteln.
An die 50 Personen versammeln sich unter dem nach allen Seiten offenen Reetdach am oberen Ende der aldeia. Die Dolmetscher*innen verteilen an die aus Muratu und den umgebenden aldeias  Paquiçamba und Furo Seco Angereisten Headsets für die Simultanverdolmetschung Englisch-Portugiesisch. Nach der Begrüßung aller Anwesenden erläutert Tauli-Corpuz, wer sie ist.
„Ich bin Indígena und komme aus einer Bergregion auf den Philippinen, wo in den 1970er und 1980er Jahren ein großes Wasserkraftwerk 300.000 Indigene bedrohte“, so Tauli-Corpuz. Trotz des damals noch herrschenden Ausnahmezustands im Land hätten die Indigenen sich aber organisiert und zur Wehr gesetzt, „um zu verhindern, dass unsere angestammten Ländereien und unsere Reisfelder unter Wasser begraben werden.“ Trotz Tod und Folter damals hätten sie den Kampf geführt und gewonnen. „Wir zwangen die Weltbank zum Ausstieg, und die Regierung musste das Projekt 1986 einstellen. Das wollte ich Euch erzählen.“
Dann hört sie geduldig weit über eine Stunde den Indigenen zu. Ihr Staff schaut derweil besorgt auf die Uhr, wegen des engen Terminplans. Bel Juruna und Gilliard berichten von ihrer Situation, von den vielen „Geschenken“ der Firma, von den Folgen des neuen Konsums und des Endes des Fischens, von den toten Fischen, berichten vom stetig wechselnden Wasserstand des Xingu, je nach Öffnung und Schließung der Schleusen. Sie berichten davon, wie ihr Leben sich geändert hat, davon dass Norte Energia ihnen Strom gebracht hat, aber sie nun die horrenden Stromrechnungen nicht zahlen können. Sie berichten von den Anhörungen, die Norte Energia durchgeführt hatte, und wie wenig sie dort mitreden durften. Mitentscheiden schon gar nicht.
Vor allem das beunruhigt Tauli-Corpuz. Denn die Indigenen müssen angehört werden bei allen Großprojekten, die sie und ihr Land betreffen. Das legt die brasilianische Verfassung und die Konvention Nummer 169 der Internationalen Arbeitsorganisation der UN, die sogenannte ILO 169, fest. Brasilien hat diese 2002 unterzeichnet und 2004 ratifiziert. Dabei geht es um die Frage nach der sogenannten freien, vorherigen und informierten Zustimmung (FPIC) der Indigenen zu solchen Projekten.
Nachdem sie sich die Reden der Indigenen trotz des engen Terminplans geduldig und interessiert angehört hat, erwähnt Victoria Tauli-Corpuz die Klage der Staatsanwältin Thaís Santi zum Ethnozid an den Indigenen durch Belo Monte. „Was hier geschieht, ist nicht nur ein physischer Angriff, sondern ein Angriff auf eure Kultur“, sagt sie. Zustimmendes Raunen unter dem Reetdach. „Wenn ihr eure kulturelle Identität verliert, dann ist eure Identität als Indigene in ihrer Existenz bedroht“, so die Sonderberichterstatterin. „Was ihr macht, wenn ihr protestiert, ist richtig, denn ihr verteidigt damit alle künftigen Generationen hier.“
Ihre Mitarbeiter*innen erinnern Tauli-Corpuz an den komplett aus den Fugen geratenen Terminplan. Sie deutet an, dass sie noch länger hierbleiben und mit den betroffenen Indigenen reden will. Die Zeichen des Polizeikommandeurs sind dann aber doch zu eindeutig. Vor Sonnenuntergang müssen sie wieder in der Stadt sein, das sei von höchster Stelle der Vereinten Nationen so angeordnet. Nach Einbruch der Dunkelheit keine Fahrten mehr durch Dschungelgebiete.
Nun fühlen sich die Polizist*innen augenscheinlich wieder in ihrem Element. Mit vor der Brust gekreuzten Gewehren sichern sie den Abgang der UN-Sonderberichterstatterin. Mit röhrenden Motoren fährt die Autokolonne den Hügel zur Erdstraße hinauf. Die Polizeiwagen vor und hinter den UN-Mietwagen. Mit rotblinkenden Signallichtern verschwinden sie im spätnachmittäglichen Grün des Regenwalds am Xingu.

ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT FÜR DIE OLIGARCHIE

Hört man Esteban Binns über Barro Blanco sprechen, dann spürt man die Emotionen, die in ihm wühlen. Dennoch bleibt er ruhig, spricht mit einer klaren Besonnenheit. So, als habe er nichts mehr zu verlieren. Bereits mehr als ein Dutzend Tote hat der Konflikt um den Staudamm die indigene Gemeinschaft Ngäbe-Buglé gekostet, erzählt er, und auch er hätte beinahe nicht überlebt. Vor vier Jahren schlugen ihn Polizisten während einer Demonstration bewusstlos. Er hatte Glück. Und schwor sich, im Namen der Opfer für Gerechtigkeit zu kämpfen. Binns stammt aus Tabasará, der Region im Westen Panamas, durch die der gleichnamige Fluss fließt und die zugunsten eines Wasserkraftwerks geflutet werden soll. Er ist der Arbeit halber in die Hauptstadt gezogen, lehrt dort Mathematik an der Universität. Nun berät er gemeinsam mit sechs anderen Fachleuten die indigenen Repräsentanten, die derzeit am „Runden Tisch“ mit der panamaischen Regierung verhandeln.
Die Situation ist kompliziert: Es geht um ein indigenes Volk, das sich diskriminiert fühlt, ein Unternehmen, dessen Direktor in Honduras der Korruption angeklagt ist, es geht um eine deutsche und eine niederländische Bank – und um eine Regierung, deren Ziele nicht eindeutig sind. Die Bauarbeiten am Barro Blanco Staudamm am Tabasará wurden bereits abgeschlossen, die Flutungen haben begonnen. Die Dörfer, religiösen Stätten und landwirtschaftlich genutzten Flächen von vier Gemeinden sind in Gefahr.
Nachdem der erste Entwurf 1981 an den massiven Protesten der lokalen Bevölkerung gescheitert war, wurde das Projekt Ende der 1990er Jahre wieder aufgegriffen. Noch trug es den Namen Tabasará. 1999 mündeten erste Demonstrationen in Festnahmen, und die Ngäbe-Buglé begannen, sich als Movimiento 10 de Abril (M10) zu organisieren. Damalige Gesetze verhinderten schließlich die Umsetzung.

Damm oder Freiheit: Die Ngäbe-Buglé kündigen an, die Panamericana zu besetzen (Foto: Esteban Binns)

In den darauffolgenden Jahren wurden wesentliche Teile des panamaischen Umweltrechts verändert. Das eigens für diesen Zweck gegründete Unternehmen GENISA erhielt 2007 die Genehmigung für den Bau des Staudamms, nun unter dem Namen Barro Blanco. GENISA führte zwar eine Studie über die Umweltverträglichkeit des Projekts durch und befragte die lokale Bevölkerung – doch wurden die Gemeinden, die entlang des Flusses leben und somit direkt von den Flutungen betroffen wären, niemals in Beratungen einbezogen. „Das Volk der Ngäbe-Buglé wurde zu keinem Zeitpunkt konsultiert. Es hat dieses Projekt nie akzeptiert“, so Binns. Der Congreso General, die höchste Entscheidungsinstanz des lokalen Verwaltungsdistrikts, habe nie über Barro Blanco entscheiden dürfen. Schlimmer noch: In der Umweltverträglichkeitsstudie heißt es, in dem Gebiet gäbe es „keine indigenen Gemeinden von Bedeutung“. Binns fühlt sich nicht nur ignoriert, er fühlt sich verleugnet.
Nach dem Amtsantritt der Regierung unter Ricardo Martinelli im Jahr 2009 spitzte sich die Lage deutlich zu: In einem höchst intransparenten Prozess wurde die ursprünglich geplante Kapazität des Staudamms von 19 Megawatt auf 29 Megawatt angehoben. Das heißt: Der Damm sollte 20 Meter höher, das Wasserreservoir um fast 30 Hektar größer und die umliegenden Gebiete zu einem fünf Meter höheren Level geflutet werden. Eine für solche Änderungen erforderliche neu aufgezogene Studie über mögliche Auswirkungen blieb aus, es wurde sich weiterhin auf die erste Studie bezogen. Anfang 2011 begannen die Bauarbeiten.
Manuel Zárate ist Mathematiker und Hydrologe. Als in den 1990er Jahren eine Bauwelle von Wasserkraftwerken durch das Land ging, war er der erste, der diese wissenschaftlich untersuchte. „Trotz der Wassermassen, die unser Land durchfließen, gibt es in Panama keine Kultur der Wasserwirtschaft. Es mangelt an Expertise“, berichtet er. Dadurch sei es während der Planung solcher Projekte immer wieder zu starken sozialen Konflikten gekommen. Meist mit indigenen Gemeinschaften, die in vielen Gebieten Panamas bis heute sehr traditionell und präkapitalistisch leben. Als technischer Berater am Runden Tisch möchte Zárate zwischen den beiden Visionen vermitteln, die dort aufeinanderprallen. Auf der anderen Seite sitzt eine Regierung, die historisch eng mit den Unternehmern der Region verstrickt ist und deren Mitglieder immer wieder der Korruption bezichtigt werden.
Als Oligarchie bezeichnet Zárate das System. Die Macht des Landes sei in den Händen einiger reicher Unternehmerfamilien konzentriert. Auch die Familie des Ex-Präsidenten Martinelli gehöre dazu. Dieser selbst war Teilhaber der Firma, die das Staudamm-Projekt am Tabasará an GENISA verkaufte. Während seiner Amtszeit von 2009 bis 2014 unterstützte er dann den GENISA-Vorstand: Die Kafie-Familie aus Honduras, deren Name vor allem für Korruption und Vetternwirtschaft steht. Martinelli ließ das Projekt durch die Umweltbehörde genehmigen, obwohl die Umweltfolgenabschätzung grundlegende Mängel aufwies. Als die indigenen Gemeinden dagegen klagten, hätte der Oberste Gerichtshof bloß mit den Schultern gezuckt, erzählt Zárate. „Das war ein Spiel für Martinelli.“ Ein Spiel mit schlimmen Folgen für die Ngäbe-Buglé: Auch Funktionär*innen aus ihren Reihen wurden bestochen, um Barro Blanco zu genehmigen. „In Panama herrscht eben das Gesetz des Geldes“, meint auch Esteban Binns. „Wer bezahlt wird, ist still“. Und es geht um sehr viel Geld.
Geld, dass sich GENISA zunächst einmal aus Deutschland und den Niederlanden geliehen hat: Die holländische FMO und die Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft (DEG), Tochter der KfW, finanzieren Barro Blanco mit jeweils 25 Millionen Dollar. Sie investieren dadurch in grünen Strom, der bis zu 70.000 Menschen versorgen würde. Auf ihrer Homepage erklärt die DEG, sie trage zu „dauerhaft besseren Lebensbedingungen in Entwicklungsländern“ bei. Was ist mit den Ngäbe-Buglé? Den Informationen der DEG nach hätte es eine Einigung zwischen GENISA und des Verwaltungsdistrikts der Ngäbe-Buglé gegeben. Das Unternehmen hätte Vertreter*innen der indigenen Bevölkerung mehrfach über das Vorhaben informiert. Erst später hätte sich herausgestellt, dass sich nicht alle Indigenen vertreten fühlten und dem Projekt zugestimmt hätten.
Fachreferentin Schrahe-Timera betont, die Bank nehme „Kritik an ihrer Arbeit sehr ernst“. Ein spezieller Beschwerdemechanismus stehe sowohl Organisationen als auch Einzelpersonen offen, die sich beeinträchtigt fühlen. Indigene aus Tabasará nahmen dies 2014 wahr, erzählt auch Esteban Binns. Allerdings kam das unabhängige Gremium, das die Beschwerde prüfte, zu dem Schluss, dass die Banken ihre Kredite im Einklang mit ihren Standards vergeben hätten. Auf diese verweist auch Schrahe-Timera: Umwelt- und Sozialprinzipien der europäischen Entwicklungsfinanzinstitutionen, Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, die Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte der Vereinten Nationen.

Foto: urgewald

Die deutsche Bundesregierung, deren Vertre­ter*innen im Aufsichtsrat der DEG sitzen, äußerte sich bis jetzt kaum zu dieser Angelegenheit. Auf eine Anfrage von Mitgliedern des Bundestages hin erklärte sie, „über eine etwaige Verletzung sozialer und ökologischer Belange“ habe sie keine Kenntnis. Auch sie beruft sich auf die Einhaltung der Standards, die in der Zwischenzeit sogar überarbeitet wurden. Diese Prinzipien würden ja gut und richtig sein, meint Zárate, aber sie könnten nicht einfach von Europa auf Lateinamerika übertragen werden. Der Wettkampf der Banken um neue Märkte für ihr Kapital sei der Grund für die Rückständigkeit dieser Länder. „Sie unterstützen Oligarchen und nennen das dann Entwicklungszusammenarbeit – dabei sehen sie nicht, dass ihr Geld den Korrupten direkt in die Hände fließt.“
Von den Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen urgewald und Rettet den Regenwald angetrieben, protestiert auch die deutsche Zivilgesellschaft. Vor der DEG-Zentrale in Köln fordert sie, die Flutungen sofort zu beenden und die Landrechte der Menschen vor Ort ernst zu nehmen. Die Bank solle eine unabhängige Delegation in das betroffene Gebiet schicken und für einen Neubeginn der Gespräche sorgen. Urgewald ist seit Jahren in der Divestment-Bewegung aktiv und bewegt Investor*innen dazu, ihr Kapital aus riskanten Vorhaben abzuziehen. Nach dem Motto: „Wer das Geld gibt, trägt die Verantwortung“.
Dienstag in Panama: Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen und die Regierung haben zu einer Veranstaltung eingeladen. Präsident Varela scheint sich in den Barro Blanco Gesprächen verheddert zu haben, er lässt sich lieber von Minister Alemán vertreten. Dieser erzählt von den Erfolgen des Varela-Kabinetts und erklärt schwungvoll: „Mit jeder Entscheidung, die wir treffen, beweisen wir unsere Loyalität dem Staat gegenüber. Wir garantieren, dass die panamaische Wirtschaft zu einem Fortschritt für alle Panamaer beiträgt.“ Zum Abschied erhält man einen Informationsatlas: Anhand bunter Grafiken und Diagramme wird darin der Status quo panamaischer Entwicklung zusammengefasst. Spätestens jetzt wird klar: Die indigene Bevölkerung bildet den ärmsten und verletzlichsten Teil der Gesellschaft. Nachzügler in beinahe jeder Kategorie ist der Distrikt der Ngäbe-Buglé. Ihre Einwohner*innen haben die geringste Lebenserwartung, die höchste Arbeitslosenrate, das niedrigste Durchschnittseinkommen und den langsamsten Fortschrittsrhythmus. Sie sind zu weniger als fünf Prozent mit Elektrizität versorgt – die Wasserkraftanlage, die vor ihren Nasen entsteht, wird daran jedoch wahrscheinlich nichts verändern. Oder doch?
Wenn es nach Esteban Binns ginge, würde der Staudamm auf der Stelle abgerissen. „Wir werden alles dafür tun, dass dieses Wasserkraftwerk nicht in Gang kommt“, verspricht er. Das Vertrauen in die Regierung sei längst gebrochen. Kein Wunder, nach jahrelangen Protesten, gewaltsamen Ausschreitungen der Polizei und mehreren erfolglosen Runden Tischen mit den Behörden. Im August vergangenen Jahres einigten sich beide Seiten, die Bauarbeiten zu unterbrechen, bis es eine für alle akzeptable Lösung gäbe – doch die Regierung ließ den Bau wenig später kommentarlos weiterführen. Auch die Flutungen haben mittlerweile begonnen. Die Proteste eskalierten, die Indigenen stellten ein Ultimatum. „Wenn die Regierung in der nächsten Woche nicht darauf eingeht, werden wir die Interamericana, den wichtigsten Verkehrsweg des Landes und Zentralamerikas, blockieren.“
„Die Wut und Enttäuschung ist sehr verständlich“, findet Manuel Zárate, „trotzdem darf man die Situation nicht schwarz-weiß sehen.“ Er möchte die Chance nutzen und Barro Blanco zu einem Motor des Fortschritts für die lokalen Gemeinden machen. Mit Beteiligung der Ngäbe-Buglé soll der Staat GENISA die Anteile am Projekt entziehen. So könnte garantiert werden, dass die lokalen Gemeinden Barro Blanco mitgestalten und selbst vom produzierten grünen Strom profitieren. Allerdings müssten dafür die Banken mitspielen und Druck auf GENISA ausüben. „Wenn sie ihr Kapital retten wollen, bleibt ihnen nichts anderes übrig“, meint Zárate. Denn alle sind sich einig: Bis vor das oberste internationale Gericht werden sie Barro Blanco treiben, sollte nicht bald eine Lösung möglich sein.

SPÄTER RÜCKZUG

 

Erste Erfolge  NGOs fordern seit Jahren den Rückzug der Unternehmen (Foto: CADEHO)
Erste Erfolge: NGOs fordern seit Jahren den Rückzug der Unternehmen (Foto: CADEHO)

Es ist zunächst eine gute Nachricht: Am 4. Mai kündigte das deutsche Joint Venture Voith Hydro an, aus dem Wasserkraftsprojekt Agua Zarca in Honduras auszusteigen. Es will vorläufig keine Turbinen mehr an das umstrittene Laufwasserkraftwerk liefern. Damit reagiert das Unternehmen auf die Festnahme von vier Tatverdächtigen im Fall des Mordes an der Menschenrechts- und Umweltaktivistin Berta Cáceres in Honduras. „Abhängig vom weiteren Verlauf und den Ergebnissen der Ermittlungen werden wir entscheiden, ob die Lieferungen wieder aufgenommen werden können“, hieß es in einer entsprechenden Pressemitteilung von Voith Hydro zur Zusammenarbeit mit der honduranischen DESA (Desarollo Energético S.A.). Zwei Tage zuvor hatten honduranische Sicherheitskräfte vier Verdächtige festgenommenen. Einer davon ist Sergio Rodríguez, Manager für soziale und Umweltfragen der DESA.
Der Schritt der Geschäftsführung von Voith Hydro, die Kooperation mit DESA im Projekt Agua Zarca zu beenden, ist kein Zeichen guten Willens. Seit Juli 2011 machen Nichtregierungsorganisationen die Geschäftsführung von Voith Hydro regelmäßig auf die Menschenrechtsverbrechen, die von DESA und honduranischen Sicherheitsbehörden ausgehen, aufmerksam. Entsprechende Briefe gingen an die Geschäftsführung der Voith GmbH und der Siemens AG, denen Voith Hydro gemeinschaftlich gehört. Auf den Jahreshauptversammlungen der Siemens AG wurde regelmäßig über die Repression, die von DESA und honduranischen Sicherheitskräften ausgeht und unter der Aktivist*innen von COPINH und andere Gegner*innen von Agua Zarca leiden, berichtet. Dennoch sah das Unternehmen keinen Anlass, sich vom Geschäft mit dem honduranischen Unternehmen zurückzuziehen. Erst nach den jüngsten Ereignissen und der weltweiten Aufmerksamkeit für den Mord an der Menschenrechtlerin und Umweltaktivistin Berta Cáceres im März dieses Jahres, sah Voith Hydro sich veranlasst, aus dem Projekt auszusteigen. Dabei hatte es im Kontext des Projektes bereits zuvor mindestens vier Morde und jahrelange Repression in den örtlichen Lenca-Gemeinden gegeben. Dass Voith in der Pressemitteilung vom 2. Mai nun schreibt, das Unternehmen habe sich „seit Jahren – federführend und im Dialog mit Nichtregierungsorganisationen – für hohe Standards bei der Umsetzung von Wasserkraftprojekten“ engagiert, klingt wie eine Verhöhnung aller, die sich seit Jahren für einen Lieferstopp engagiert haben. Gleichzeitig hat das Unternehmen nur einen vorläufigen Lieferstopp angekündigt – es ist also nicht ausgeschlossen, dass Voith Hydro seine Lieferungen an
DESA wieder aufnehmen wird.
Bereits im März hatten die europäischen Finanziers des Projektes – die niederländische Entwicklungsbank FMO und ihr finnisches Pendant FinnFund – sämtliche ausstehende Zahlungen gestoppt und eine erneute Untersuchung der Situation in Honduras angekündigt. Die FMO hat angesichts der prekären Menschenrechtslage vorerst alle Zahlungen an Projekte in Honduras auf Eis gelegt – auch hier kommt eine Reaktion viel zu spät.
Gemäß den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte sind Unternehmen dafür verantwortlich, dass bei all ihren Geschäften die Menschenrechte gewahrt bleiben. Diese Pflicht hat die Firma im vorliegenden Fall eklatant missachtet. Trotz wiederholten Hinweisen auf Menschenrechtsverbrechen hielt sie an dem Projekt fest. Durch die Aufrechterhaltung des Liefervertrages für drei Francis-Turbinen, Generatoren und Automatisierungstechnik hat Voith Hydro das honduranische Unternehmen DESA darin bestärkt, das Projekt Agua Zarca – auch mit Gewalt – durchzusetzen. Durch die jahrelange Tatenlosigkeit angesichts der Repression in Honduras trägt Voith Hydro eine Mitschuld für Konflikte und Morde, die im Umfeld von Agua Zarca stattgefunden haben und noch immer stattfinden. Die undemokratische und illegitime Durchsetzung des Projekts hat zu einer bis heute anhaltenden Spirale der Gewalt geführt. Das Territorium der Lenca wurde militarisiert und die Gemeinden sind durch Korruption und Bestechung von Seiten der Unternhemen tief gespalten.
Der Koordinator des Zivilen Indigenen- und Volksrat von Honduras (COPINH), José Asunción Martínez, fordert, dass Voith und Siemens die Opfer und ihre Angehörigen dafür angemessen entschädigen. Während der Rundreise einer Delegation von COPINH im Mai durch Europa, sprach er mit deutschen Politiker*innen und Pressevertreter*innen, um Druck auf die honduranische Regierung und auf die europäischen Finanziers und Zulieferer des Agua-Zarca-Projektes auszuüben. „Die FMO, FinnFund, Voith und Siemens sind mitverantwortlich für den Mord an Berta Cáceres und an anderen unserer Mitstreiter*innen! Sie müssen für diesen Schaden aufkommen!“ sagte er, als er gemeinsam mit Nichtregierungsorganisationen (NGOs) vor dem Firmensitz der Siemens AG in München am 4. Mai gegen Voith Hydros Beteiligung an Agua Zarca protestierte.
Doch das deutsche Recht beinhaltet kein Unternehmensstrafrecht. Die Bundesregierung setzt weiterhin auf Selbstverpflichtungen deutscher Unternehmen, Menschen- und Umweltrechte einzuhalten, auch im Rahmen des Nationalen Aktionsplans, mit dem die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte in Deutschland umgesetzt werden. Das Beispiel Agua Zarca und die langjährige Beteiligung von Voith Hydro zeigen eindrücklich, dass Selbstverpflichtungen nicht ausreichen. Wenn der Druck so groß wird, dass Unternehmen wirklich wegen Menschenrechts- und Umweltvergehen aus Projekten aussteigen, ist der Schaden schon angerichtet. Ein entsprechendes Strafrecht muss geschaffen werden, damit auch später Unternehmen für solche Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden können.

Das Erbe von Chico Mendes

Es war am späten Abend. Er wollte sich waschen. Dort, zehn Meter hinter seinem Haus, wo er selbst eine behelfsmäßige Dusche gebaut hatte. Kaum hatte er die Hintertür geöffnet, als die Kugeln ihn in die Brust trafen. 25 Jahre sind seither vergangen. Am 22. Dezember 1988 wurde Chico Mendes vor seinem Haus in Xapuri im amazonischen Bundesstaat Acre kaltblütig ermordet. Der Täter war der Sohn eines Großgrundbesitzers, in dessen Auftrag er handelte.

Chico Mendes hatte schon viele Morddrohungen erhalten. Von den fazendeiros, Großgrundbesitzer_innen, Holzfirmen, Viehfarmer_innen, Militärs. Zuerst störte sie die Unruhe, die er in der Gegend stiftete, da er die seringueiros, die Kautschukzapfer_innen, gewerkschaftlich organisierte. Dann erzürnte sie, dass er und seine Kolleg_innen die Urbarmachung des Waldes verhinderten mit ihren mittlerweile so erfolgreichen empates – Menschenketten, die gewaltfrei das Vordringen der Bulldozer verhinderten. Die Holzfirmen schäumten vor Wut, als er sogar nach Washington reiste und die Interamerikanische Entwicklungsbank davon überzeugte, keine Kredite mehr für Rodungsprojekte in Amazonien zu bewilligen. Sie warfen ihm vor, den „Fortschritt des Landes“ zu behindern. Als er die vormals verfeindeten Gruppen der seringueiros und Indigenen miteinander versöhnte, weil sie erkannten, dass der Kampf um den Wald ihre gemeinsame Herausforderung ist, da schrillten bei den traditionell Mächtigen der Region alle Alarmglocken. Und es störte sie seine Forderung nach neu zu schaffenden Schutzgebieten, den reservas extrativistas. Deren nachhaltige Waldnutzung durch die traditionellen Gruppen sollte den Wald erhalten – und den seringueiros, Babaçanuss-Sammler_innen und den Indigenen ihr Auskommen sichern.

Chico Mendes verband Umweltschutz und die sozialen Bewegungen, ohne es geplant zu haben. Er soll gesagt haben, er hätte gar nicht gewusst, dass das Umweltschutz sei, was er tue. Ihm sei es um den Kampf der sozialen Bewegungen der Sammler_innen gegangen und wenn das dann „Umweltschutz“ sei, dann sei das auch in Ordnung.

25 Jahre sind seit der Ermordung von Chico Mendes vergangen. Doch sein Name ist in Brasilien und in der Welt noch immer bekannt. Zwei Jahre nach seinem Tod wurde in Brasília das Gesetz über die von ihm geforderten Sammelschutzgebiete verabschiedet. Gegenwärtig gibt es allein in Amazonien 59 dieser Territorien mit einer Fläche von 19,1 Millionen Hektar. Das Instituto Chico Mendes zur Betreuung dieser Gebiete trägt seit 2007 seinen Namen. Die Entwaldungsraten Amazoniens von heute lassen sich nicht mit denen der 80er und 90er Jahre vergleichen. Ist Chico Mendes´ Erbe also eine Erfolgsgeschichte?

Nur zum Teil. Die seringueiros von heute werden weniger, da es noch immer deutlich lukrativer ist, den Wald illegal zu roden oder Viehzucht zu betreiben. Zudem rollt die Walze des Agrobusiness in Amazonien weiter voran. Ob Soja- oder Rinderfarmen, ob Bergbau oder Staudamm: Es geht noch immer um die Inwertsetzung von Land – und nicht in erster Linie um die nachhaltige Nutzung des Landes, wie es die seringueiros oder Indigenen betreiben. Und neben der erschreckenden Agenda des brasilianischen Kongresses bezüglich der Rücknahme demarkierter indigener Territorien oder der Ausdehnung des Bergbaus auch auf Schutzgebiete stehen nun auch die Sammelgebiete selbst unter Druck, diesmal im Namen „grünen Wirtschaftens“. Angetrieben von internationalen Geldgeber_innen legen sich derzeit die Landesregierungen vor allem von Acre, Amazonas und Pará mächtig ins Zeug, den Wald in Wert zu setzen. Diese wollen den seringueiros ein paar hundert Reais im Monat als „grünes Stipendium“ dafür zahlen, dass sie ihre so lang gepriesene Mischnutzung – Kleinackerbau und Viehwirtschaft in Subsistenz bei nachhaltiger Nutzung des Waldes – beenden und den Wald erst gar nicht mehr betreten. Der Regenwald als Park – das ist nicht im Sinne von Chico Mendes.

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