Beton und Fluten

Anfang Februar traf die brasilianische Umweltbehörde IBAMA eine historische Entscheidung: Der Großstaudamm Belo Monte, am Xingu Fluss mitten im Amazonasgebiet, erhielt die Umweltlizenz. Damit steht dem Baubeginn kein größeres Hindernis mehr im Weg, bis spätestens Ende April soll entschieden werden, welche Baufirma den Zuschlag erhält.
Mit einer Maximalleistung von 11.233 Megawatt wird Belo Monte das drittgrößte Wasserkraftwerk der Welt. 512 Quadratkilometer Amazonaswald werden überschwemmt. 210 Millionen Kubikmeter Erde müssen ausgebaggert werden – fast die gleiche Menge wie beim Bau des Panama-Kanals. Die brasilianische Bundesregierung schätzt die Baukosten auf 20 Milliarden Reais (etwa elf Milliarden US-Dollar), die interessierten Bauunternehmen gehen von 30 Milliarden aus (etwa 16 Milliarden US$) (siehe LN 418).
Angesichts dieser Dimensionen kann es nicht überraschen, dass der Baugenehmigung eine lange Auseinandersetzung vorangegangen war. Mehr als zwanzig Jahre geht das Ringen um den Staudamm, Ende der achtziger Jahre sang der Rocksänger Sting in Altamira, der größten Stadt im Baugebiet. Damals zog die Weltbank ihren Kredit zurück und das Bauvorhaben wurde zunächst aufgegeben. Es ist bittere Ironie, dass dieses Projekt nun ausgerechnet in der Lula-Regierung durchgesetzt wird. Umweltminister Minc argumentiert, dass das neue Projekt erheblich besser geworden ist. Tatsächlich werde eine viel kleinere Fläche überschwemmt als ursprünglich vorgesehen. Die Regierung sprach von einem „Unentschieden zwischen Umweltschützern und dem Energiesektor“.
Die KritikerInnen des Staudamms sind mit diesem angeblichen Unentschieden allerdings überhaupt nicht zufrieden. Viele befürchten, dass Belo Monte nur der erste Schritte von weiteren Baumaßnahmen ist. Die Maximalleistung von 11.233 Megawatt kann tatsächlich nur während der Regenzeit erreicht werden. Über das ganze Jahr ist nur eine Leistung von 4.428 Megawatt garantiert. Dies könnte durch eine Regulierung des Flusslaufes ausgeglichen werden, was allerdings den Bau von drei weiteren Staudämmen in Gebieten, die zu 40 Prozent indigenen Völkern gehören, notwendig machen würde.
Aber auch die Konsequenzen des jetzigen Projektes sind gravierend: „Ich bin davon überzeugt, dass das Wasserkraftwerk unvorhersehbare und nicht korrigierbare Folgen für die Region bringt. Da helfen keine Bauauflagen”, erklärt Erwin Kräutler, Bischof von Altamira und einer der entschiedensten Kritiker des Bauvorhabens. Er sieht “Chaos und Tod” auf die Region zukommen.
So wird erwartet, dass die Bauarbeiten etwa 100.000 Menschen in die Region locken werden – Altamira hat zur Zeit etwa 110.000 Einwohner. Für Marina Silva, ehemalige Umweltministerin und nun Kandidatin der Grünen Partei (PV) bei den Ende des Jahres anstehenden Präsidentschaftswahlen, ist das Fehlen einer umfassenden Regionalplanung einer der Hauptkritikpunkte: „Es ist unglaublich, dass ein Unterfangen mit solchen Auswirkungen auf die Umwelt ohne eine angemessene Planung in Hinsicht auf die Landnutzung umgesetzt werden soll. Die Lösung kann nicht einfach einem Unternehmen überlassen werden, das lediglich Energie erzeugen will.“
Es fehlt in Brasilien nicht an kritischen Stimmen. Der im Dezember verstorbene Vertreter vom International Rivers Network, Glenn Switkes, hatte ein alternatives Expertenpanel organisiert, das umfangreiche Kritik an dem offiziellen Umweltgutachten formulierte. Im Mai 2008 hatte ein großes Treffen indigener und lokaler Gruppen gegen den Staudammbau protestiert (siehe LN 409/410). Aber anders als vor zwanzig Jahren, formiert sich nun weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene eine sichtbare und wirksame Protestbewegung. Die Gründe dafür sind vielfältig: In Zeiten, in denen Umweltfragen dazu tendieren, zu Kohlendioxid-Fragen zu degenerieren, erscheinen Wasserkraftwerke leicht eher als Lösung, denn als Problem – trotz offener Fragen bezüglich der Methanbilanz von Großstaudämmen, die den Fäulnisprozessen der im Stausee gefluteten Biomasse zuzuschreiben ist. Methan gilt als noch klimaschädlicher als Kohlendioxid.
Noch vor zwanzig Jahren bot die Weltbank ein viel besseres Feindbild als heutige komplizierte Finanzierungskonglomerate, bei denen die brasilianische Entwicklungsbank BNDES die Federführung hat. Und nicht zuletzt konnten die sozialen Bewegungen in der Region kaum Wirkungskraft entfalten, weil Teile von ihnen nicht in Konflikt mit der Lula–Regierung treten wollen oder gar das Projekt offen als wichtig für das Wirtschaftswachstum begrüßen. Auch der Bundesstaat Pará, in dem der Staudamm gebaut werden soll, wird von der Partei des Präsidenten (PT) regiert. Die Gouverneurin Ana Julia wird zwar eigentlich dem eher linken Flügel der PT zugerechnet – ist aber auch eine leidenschaftliche Befürworterin des Großprojektes. Sie drängt darauf, dass möglichst schnell mit dem Bau begonnen wird, schließlich naht der Wahltermin: im Oktober werden der Präsident und die Gouverneure neu gewählt und rege Bautätigkeit – das heißt eben auch Arbeitsplätze – ist anscheinend immer noch für Stimmen gut.
Mit dem Insistieren auf Großprojekten wie Belo Monte zeigt die brasilianische Regierung, dass sie nach wie vor einem traditionellen Entwicklungsmodell anhängt. „Belo Monte bringt keine neuen Technologien, es bereitet das Land nicht für die Zukunft vor. Es ist ein Bau aus Zement und Eisen, typisch für das vergangene Jahrhundert”, resümiert der brasilianische Greenpeace-Chef Marcelo Furtado. Solange Brasilien Milliardenbeträge in den Ausbau von Großstaudämmen und Atomenergie steckt, haben alternative, dezentrale Energiequellen kaum eine Chance, über eine Nischenexistenz hinauszukommen.
Lokale Gruppen und nationale Organisationen haben die Hoffnung noch nicht ganz verloren. Tatsächlich ist die Erteilung der Umweltlizenz zwar ein entscheidender, aber noch nicht der letzte Schritt im Bauverfahren. Als nächstes steht die Entscheidung an, welche Firmen den Staudamm bauen werden. Bisher haben sich zwei Konsortien gebildet. Das erste wird von den brasilianischen Bauunternehmen Odebrecht und Camargo Correa formiert, beim zweiten sind neben dem Bauunternehmen Andrade Gutierrez auch der Bergbaukonzern Vale sowie Neoenergia beteiligt. Die spanische Iberdrola ist der größte Aktionär von Neoenergia. Vale ist der neue Name der Companhia Vale do Rio Doce, dem zweitgrößte Bergwerkskonzern der Welt, der unter der Regierung Fernando Henrique Cardoso privatisiert worden war. Investitionen der Vale haben in den letzten Jahren vielfache Proteste von UmweltschützerInnen und sozialen Bewegungen provoziert. Und auch die österreichische Andritz AG erhofft sich einen Anteil des Kuchens: Sie ließ in einer Pressemitteilung ihr Interesse an der anstehenden Ausschreibung verkünden.
Die Baugenehmigung wird versteigert, es gewinnt die Firma, die den günstigsten Energiepreis anbietet. Danach muss dann die endgültige Baugenehmigung beantragt und erteilt werden. Die Regierung will die Versteigerung noch im März, spätestens aber im April durchziehen.
Unterdessen bereiten sich Menschenrechtsgruppen auf eine letzte juristische Schlacht vor. Die Menschenrechtsorganisationen SDDH aus Belém und Justiça Global aus Rio de Janeiro wollen den Fall Belo Monte vor den internationalen Gerichtshof der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) bringen. Andressa Caldas von Justiça Global sieht eine reale Chance, auf diesen Weg den Bau zu verhindern oder wenigstens zu verzögern. „Wir haben schon in anderen Fällen Erfolge erzielt.” Brasilien hat die Resolution 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) unterzeichnet, die weitgehende Einspruchsrechte von indigenen und traditionellen Völkern bei Bauvorhaben festlegt. Das zuletzt sehr hektisch durchgezogene Genehmigungsverfahren dürfte kaum den ILO-Anforderungen entsprechen.
Für Guilherme Carvalho von der brasilianischen Nichtregierungsorganisation Fase hängt hingegen alles von den indigenen Völkern ab: „Wenn diese sich zu einem entschlossenen und koordinierten Widerstand zusammenfinden, kann es für die Regierung noch kompliziert werden.”

Ein Gespenst geht um

Ganz Asunción schien in Weiß gehüllt zu sein. Es war jedoch kein Schnee, sondern eine Vielzahl von Schleifen, Plakaten und Aufklebern, die das Hauptstadtpanorama derart prägten. Geziert mit Schriftzügen wie „Wir alle sind Fidel“, „Kraft für Fidel“ oder „Für ein friedliches Paraguay“ sollten diese Solidarität mit dem Großgrundbeseitzer und Viehzüchter Fidel Zavala demonstrieren. Dieser erlangte dann Mitte Januar seine Freiheit wieder, nachdem er 94 Tage zuvor von einer Guerilla, die sich Streitkräfte des Paraguayischen Volkes (EPP) nennt, entführt worden war. Lösegeld in Höhe von einer halben Million US-Dollar sowie die Übergabe 30 geschlachteter Rinder an arme Gemeinden ließen seine EntführerInnen schließlich einlenken.
Es war nicht das erste Mal, dass die EPP in Erscheinung trat. Doch das meiste, was über sie bekannt ist, bleibt Spekulation, die meisten ihrer aktiven Mitglieder in Freiheit ohne Gesicht. Ihre Zahl wird auf 15 bis 60 geschätzt. Der Kreis der SympathisantInnen und UnterstützerInnen sei um einiges größer. Ziel ist die Umgestaltung der Gesellschaft, da diese laut EPP auf der extremen Armut der Massen aufbaue.
Die Wurzeln der Gruppe liegen in der linksradikalen Partei Patria Libre. In den 1990er Jahren beteiligte sich die Partei auf legale Weise am politischen Geschehen und wurde geleitet von den Führungsfiguren Juan Arrom und Anuncio Martí. Als der erhoffte Erfolg ausblieb, wechselten sie 2001 die Strategie: Teile der Partei waren in die Entführung von María Bordón de Debernardi verwickelt, der Schwiegertochter des ehemaligen Direktors des Wasserkraftwerks Itaipú, Enzo Debernardi. Die Entführte wurde nach Zahlung von zwei Millionen US-Dollar Lösegeld freigelassen.
Die Staatsgewalt wusste sich damals nicht anders zu helfen, als ihrerseits Arrom und Martí zu entführen und in einer leerstehenden Wohnung in den Außenbezirken von Asunción zu foltern. Dunkle Erinnerungen an die Militärdiktaturen werden hier wach. Beide kamen schließlich auf Druck von Angehörigen und der Presse frei, und flüchteten kurz darauf nach Brasilien.
Doch die Entführungen gingen weiter. Im September 2004 traf es Cecilia Cubas, die Tochter des ehemaligen Präsidenten Raúl Cubas. Verhandlungen blieben erfolglos, und fünf Monate später wurde die tote Cubas nackt und gefesselt in einem Erdloch aufgefunden. Angehörige von Patria Libre bestreiten bis heute ihre Beteiligung an der Tat. Osmar Martínez wurde als Drahtzieher zu 35 Jahren Haft verurteilt, doch er bezeichnet die gegen ihn vorliegenden Beweise als fingiert. Ein angeblich aufgefundenes Instruktionsvideo sowie diverse Emails sollen außerdem die Verwicklung der kolumbianischen FARC beweisen. Doch die ehemalige Guerillera Carmen Villalba widerspricht dem. Nach der Debernardi-Entführung wurde sie verhaftet und zu 18 Jahren hinter Gittern verurteilt und stellt seitdem aus dem Gefängnis heraus eine Art Stimme der bewaffneten Gruppe dar. Sie behauptet, die Verbindung zur FARC sei erfunden worden, um Gelder aus Kolumbien und den USA zur Terrorismusbekämpfung einzuwerben.
In den folgenden Jahren wurde es ruhiger um die Gruppe. Im März 2008 trat sie dann unter ihrem heutigen Namen EPP erneut in Erscheinung. Damals zerstörten die gueriller@s mehrere Produktions‑
anlagen einer Sojaplantage, gegen deren Besitzer zuvor Vorwürfe wegen Pestizideinsatzes erhoben worden waren. Einen Monat später folgte ein Überfall auf eine Polizeistation in Hugua Ñandu, bei dem Waffen erbeutet wurden. Im Juli wurde der Großgrundbesitzer Luis Lindstroem entführt, der nach einer Zahlung von 350.000 US-Dollar freigelassen wurde. Ende 2008 attackierte die Gruppe einen Militärposten in Tacuatí und ließ diesen in Flammen aufgehen. Auf massiven Druck der Medien hin wurde von staatlicher Seite der „Plan Jerovia“ (Guaraní für „Glaube“) ins Leben gerufen. Eine Hundertschaft von Polizisten und Spezial‑
einheiten durchpflügte den Norden des Landes. Während es dabei zu Misshandlungen von campesin@s kam, konnten die Sicherheitskräfte keine Spuren der Guerilla finden. Zuletzt war im März 2009 von der EPP zu hören, als ihr ein glimpflich abgelaufener Bombenanschlag auf den Justizpalast von Asunción zugeschrieben wurde.
Das operative Zentrum der Gruppe soll sich im Norden des Landes befinden. In dieser Region im Dreieck der Departamentos San Pedro, Concepción und Amambay ist die ungleiche Landverteilung besonders ausgeprägt, es gibt viele GroßgrundbesitzerInnen, die Wälder abholzen, sich der extensiven Viehzucht und dem Anbau von gentechnisch manipulierten Soja widmen. Präsident Fernando Lugo machte sich vor seinem Wahlsieg in diesem Gebiet als Armenbischof einen Namen. Die Armut der Masse der Kleinbäuerinnen und -bauern stellt einen reichen Nährboden für politische Gruppierungen dar, die Besserung versprechen. Ihre sozialrevolutionäre Rhetorik verschafft der EPP natürlich auch Sympathie von Seiten der Kleinbäuerinnen und -bauern. Manche sprechen gar von einer Symbiose à la Robin Hood. Nach dieser Interpretation steckt die EPP das von ihr erbeutete Geld in Hilfsprojekte und finanziert soziale Proteste. Zu dieser Darstellung der Guerilla passt die Forderung der EPP, die Familie Zavalas solle 30 geschlachtete Rinder an indigene Gemeinden und Armensiedlungen abgeben. Dass es aber erst einer Guerilla für solch ein soziales Engagement bedürfe, spricht Bände über die schwache Zivilgesellschaft des Landes.
Die staatliche Seite spricht der Gruppe dennoch jegliche politische Intention ab. Keine Guerilla, sondern eine verbrecherische Bande treibe ihr Unwesen in einem Land, in dem Entführungen gut betuchter Personen so unüblich ja auch nicht sind. So wird behauptet, die EPP sei in Wirklichkeit eine Drogenmafia, die für ihre kriminellen Machenschaften nur ein politisches Käppchen aufgesetzt habe. Eigentlich legitime soziale Forderungen lassen sich so natürlich leicht kriminalisieren.
Präsident Fernando Lugo bleibt bei all dieser Spekulation auch nicht verschont. Rechte Kreise in Paraguay werfen ihm wegen seiner vermeintlich klassenkämpferischen Rhetorik die Anstachelung sozialer Verwerfungen und eine Mitschuld an der Gewalt vor. Andere sehen seine angebliche Tatenlosigkeit als Beweis für eine Sympathie mit der Guerilla oder meinen gar persönliche Kontakte zwischen ihm und der Gruppe ausmachen zu können, da einige der Beteiligten ehemalige Schüler seines Priesterseminars sein sollen. Arrom, der charismatische, ehemalige Chef von Patria Libre, den viele trotz seines Exils in Brasilien in Verbindung mit den Entführungen sehen, wird ebenfalls eine sehr enge Beziehung zum Präsident nachgesagt. Angeblich soll er auf einer Feier einer der Frauen gesehen worden sein, die den ehemaligen Bischof Lugo als Vater ihres Kindes proklamieren. Der Sinn einer solchen Verbindung dürfte sich allerdings ausschließlich MitarbeiterInnen der Regenbogenpresse erschließen.
Die einzigen Zusammenhänge, die sich zwischen Lugo und der Guerilla ausmachen lassen, liegen in den Stellungnahmen der EPP. Dort wird die sehr unbefriedigend verlaufende Agrarreform als einer der Gründe für die Aktionen genannt. Der Präsident seinerseits distanziert sich von jeglichem gewaltsamen Extremismus.
Die Linke nimmt Lugo dagegen die von dem ihm treuen Innenminister Rafael Fillizola eingeleitete „Operativo Triangulo“ übel, die ähnlich dem „Plan Jerovia“ erneut mehrere hundert Spezialkräfte in den Norden verlagert. Bei vielen weckt dies schlimme Erinnerungen an vergangene Tage. Erst nach der Zahlung des Lösegeldes im Fall Zavalas kam es zur Verhaftung einer Reihe vermeintlicher gueriller@s, welche die EPP logistisch unterstützt haben sollen. Es traf unter anderem die Tochter eines bekannten Funktionärs der Bauernorganisation OCN, die in Kuba studiert hatte.
Mag die Erfolglosigkeit bei der Suche nach den zentralen Aktiven der EPP vielleicht daran liegen, dass die EPP letztlich gar nicht existiert? Ist sie gar eine Fantasiegeburt der Presse und konservativer Kräfte, um Lugo in Verlegenheit zu bringen? Allzu dünn seien die Beweise, die auf die Existenz der Guerilla hinweisen, glauben die VertreterInnen dieser Theorie. Auch wenn diese Version sich einigen Zuspruchs erfreut, scheint sie angesichts des betriebenen Aufwands doch sehr abwegig.
Auf jeden Fall nutzt die Rechte dieses Durcheinander nur allzu gerne aus, um das schon seit einiger Zeit in der Luft schwebende Amtsenthebungsverfahren gegen Lugo voranzutreiben. Neben dem Wirken der Guerilla – die jedoch schon lange vor Lugo aktiv war – werfen sie Lugo den Bruch zentraler Wahlversprechen vor. Dabei wird unterschlagen, dass Reformen nun einmal Zeit brauchen und Lugo mit der Neuaushandlung des Vertrages mit Brasilien über den Itaipú-Staudamm, sowie den Maßnahmen im Gesundheitsbereich wichtige Schritte gelungen sind. Sein „Programa Abrazo“ brachte außerdem bis heute über tausend Straßenkinder in sozialen Heimen unter.
Trotz der gezielt verzerrten Berichterstattung der mit den UnternehmerInnen des Landes verflochtenen Massenmedien fehlen für das Amtsenthebungsverfahren bisher noch die notwendigen Stimmen. Teile der Liberalen Partei PRLA, die Lugo ursprünglich unterstützte, fahren daher weiterhin schwere Angriffe gegen ihn. Vizepräsident Federico Franco, der als Teil der Exekutive den Präsidenten zwar kontrollieren, aber eigentlich unterstützen sollte, spinnt fleißig Intrigen und sieht sich wohl bereits als Lugos Erbe. Damit will die Colorado-Partei, die wegen Lugo ihre 68 Jahre dauernde Alleinherrschaft beenden musste, nicht leben. Doch mit der Ankündigung ihres Angeordneten Luis Alberto Castiglioni, mit seiner Gefolgschaft künftig das Amtsenthebungsverfahren zu unterstützen, könnte Francos Wunsch bald in Erfüllung gehen.
Offen ist, wie sich das Militär verhalten wird. Die Streitkräfte halten sich zwar seit den verheerenden Ereignissen um ihren damaligen Oberbefehlshaber Lino Oviedo, der 1996 und 1999 beinahe putschte, mit ihrer Einflussnahme auf die Politik zurück. Aber Spannungen zwischen Lugo und den Streitkräften sind offensichtlich. Und seit seinem Amtsantritt besetzte Lugo bereits mehrfach führende Generalsposten in den Streikräften neu.
Gerade die jüngsten Ereignisse in Honduras haben auch gezeigt, wie verfassungswidrige militärische Einflussnahme innerhalb kurzer Zeit per Wahlen nachträglich legitimiert werden kann. Diese Erfahrung könnte die Militärs zusätzlich anstacheln. Mit oder ohne Guerilla, dem Präsidenten stehen schwere Zeiten bevor.

„Wir müssen Belo Monte unbedingt verhindern“

Die Stiftung, bei der Sie mitarbeiten, verfolgt das Ziel, eine nachhaltige Entwicklung in der Region Altamira voranzutreiben, gemeinsam mit Kleinbauern an der Transamazônica, den Frauen in der Stadt Altamira, Flussanwohner und indigenen Gemeinden. Inwiefern steht das Staudammprojekt diesem Ziel entgegen?
Die Regierung hat zwar ankündigt, eine Summe von fast sieben Milliarden Reais (rund 2,3 Milliarden Euro, Anm.d. Red.) öffentlicher Gelder zu investieren, um die Staudämme von Belo Monte zu bauen. Doch weder wurde vorher die Landfrage noch die Ansiedlung von Kleinbauern geklärt. Hunderte Familien warten bisher vergeblich auf Land und Unterstützung. Der Staat hat sich hier in Altamira noch nicht im geringsten um Infrastruktur, Sozial- oder Umweltpolitik gekümmert. Es ist eine Schande. Denn um eine Verbesserung der Situation der Menschen von Altamira zu erreichen, ist es unabdingbar, dass eine ganzheitliche Politik entwickelt und umgesetzt wird. Die muss Bildung, Gesundheit, eine Landreform und die Landregulierung einschließen. Vor allem die Kleinbauern brauchen technische Begleitung, Kredite und Fortbildung.

Welche sozialen Auswirkungen befürchtet Ihr, wenn das Wasserkraftwerk Belo Monte kommt?
Der Bau von Belo Monte würde alles in Frage stellen, was wir bisher erreicht haben. Wir setzen uns seit 15 Jahren für die Entwicklung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft ein. Für uns bedeutet das Wasserkraftwerk den Verlust des Landes für sehr viele Familien. Es führt dazu, dass neue Gebiete für Ackerland gerodet werden. Es bedeutet zudem, dass zehntausende Menschen hierher kommen werden, um dem Geist der angeblich durch die Staudämme geschaffenen Arbeitsplätze nachzujagen. Die Folgen wären eine zunehmende Armut, die umliegende Orte werden aufgebläht, das dünne soziale Netz zerreißt und die ländliche Bevölkerung, Indigene und Flussanwohner werden hier stranden. Wir wissen aus dem Beispiel des Tucuruí-Staudamms (gebaut 1984 im Bundesstaat Pará, Anm. d. Red.), dass ein derartiges Projekt der lokalen Bevölkerung nicht nützt.

Welche ökologischen Auswirkungen sind zu erwarten?
Es ist eine kaum kalkulierbare Katastrophe. Der Xingu wird sich komplett verändern, da der Wasserfluss durch zwei Kanäle kontrolliert werden soll, für deren Konstruktion hunderte Millionen Kubikmeter Erdreich und Felsgestein ausgehoben werden müssen. Fische und Wasservögel werden massiv betroffen sein, wie wir bereits in Tucuruí beobachten konnten. Am oberen Teil des Xingu wird es konstante Überschwemmungen geben, während der Xingu unterhalb der Staumauern zum Rinnsal wird. Teile der Volta Grande do Xingu (unter staatlichem Naturschutz stehendes Gebiet, Anm. d. Red.) werden somit trocken fallen und damit wird der Schiffsverkehr zum Rio Bacajá unterbrochen, dem einzigen Zugang zu den Gemeinden der Flussanwohner und Indigenen.
Es gibt aber noch ein weiteres Problem. Da der Xingu sechs Monate im Jahr Niedrigwasser führt, geht es nicht nur um einen, sondern um mehrere Staudämme. Das zeigt ganz klar eine Untersuchung der Universität von Campinas, die besagt, dass nur durch weitere Stauseen der Wasserstand gehalten werden kann, den die Turbinen von Belo Monte brauchen.
Und wenn der Wald durch den sich bildenden Stausee geflutet wird, kommt es zur Fäulnis der Holzbestände, die dann klimaschädliche Gase freisetzt. In Tucuruí gab es ein zusätzliches Problem: Als der Wald überschwemmt wurde, entstanden durch die Fäulnis Insektenplagen, welche die Flussanwohner zwangen, ihr Land am Ufer zu verlassen.

Wie viele Menschen werden schätzungsweise von Umsiedlung betroffenen sein?
In der Region leben rund 250.000 Menschen. Das Rückgrat bilden die Transamazônica, der Xingu sowie die Stadt Altamira mit ihren 80.000 Einwohner. In Altamira ist mit der Umsiedlung von 2.000 Familien zu rechnen. Die leben bereits heute unter schwierigen Bedingungen am Stadtrand. Weitere 800 Familien aus Vitória do Xingu und 400 Familien, die direkt am Flussufer als Kleinbauern leben, würde die Umsiedlung betreffen. In der Volta Grande do Xingu werden mindestens 6.000 Bewohner ihr Zuhause verlassen und ein Leben an einem anderen Ort neu beginnen müssen.

Welche Position hat die Bewegung für eine nachhaltige Entwicklung an Transamazônica und Xingu-Fluss (MDTX) zum Argument der Schaffung von Arbeitsplätzen durch das Wasserkraftwerk?
Die Betreiberfirma Eletronorte spricht von 100.000 Arbeitsplätzen. Doch nur ein Viertel davon sind direkte Arbeitsplätze, der Rest indirekte. Sie sollen für eine Dauer von fünf bis zehn Jahren entstehen. Wir gehen hingegen von maximal 5.000 Arbeitsplätzen aus, die neu geschaffen werden. In Altamira allein gibt es bereits 20.000 Arbeitslose. Wo sollen die vielen Menschen arbeiten, die auf der Suche nach Arbeit nach Altamira kommen werden? Es wird letztlich die Gewalt verschärfen, Unsicherheit und Elend steigern. Eletronorte wird diesen sozialen Prozess nicht steuern können.

Aus den bisherigen Erfahrungen mit Großprojekten: Wer hat durch dieses Großprojekt am meisten zu verlieren?
Es sind die, die ohnehin schon am Rande der Gesellschaft leben: Indigene, Flussanwohner und Frauen. Projekte dieser Größenordnung haben erhebliche Konsequenzen vor allem für arme Frauen: Sie und ihre Kinder werden vertrieben. Sofern sie einen Mann haben, geht dieser auf die Suche nach Arbeit weg und die Familie bleibt allein zurück. Die Frauen kämpfen darum, die Kinder groß zu ziehen, ohne dazu die Mittel zu haben. Aus Tucuruí und Balbina kennen wir den Anstieg von Armut, Gewalt, Prostitution und Perspektivlosigkeit für ihre Kinder.

José Muniz Lopes, ehemaliger Präsident von Eletronorte, nun von Eletrobrás, hat gegenüber brasilianischen Medien zugegeben, dass die Indigenen unterhalb der Staudämme betroffen seien. Auch sagte er, dass eine Umsiedlung ihres Dorfes an den Rand des Stausees das Problem zügig lösen könne. Wie sehen Sie dies?
Diese lapidaren Aussagen, dass man Indigene einfach umsiedeln könne, lassen tief blicken. Sie zeigen, wie wenig Respekt ihnen entgegengebracht wird. Wir erlebten das auch anlässlich von Protestveranstaltungen gegen Belo Monte. Im Mai 2008 trafen sich 3.000 Vertreter verschiedener vom Staudamm betroffener Gruppen, darunter viele Kayapó Indigene. Der Eletronorte-Vertreter ging in seinem Vortrag über sämtliche Bedenken hinweg, hat die wissenschaftlichen Studien der Universität von Campinas, die das Projekt unter mehreren Gesichtspunkten in Frage stellen, lächerlich gemacht und den Bau des Kraftwerks als unumstößlichen Fakt präsentiert. Daraufhin haben einige der Kayapó den Ingenieur mit einer Machete bedroht und leicht verletzt. Erst durch diesen Zwischenfall kam das Protesttreffen überhaupt in die Medien. (Siehe dazu LN 409/410)

Die Rede ist auch von hohen Kompensationssummen für soziale und ökologische Kosten …
Es geht um Lizenzgebühren. Sie sollen als Entschädigung für Umweltschäden und die soziale Zerstörung an die Gemeinden gezahlt werden. Es fehlt aber jegliche öffentliche Kontrolle. Nicht nur in Tucuruí, auch in Parauapebas, Oriximará und Barcarena werden Unsummen gezahlt. Und hat die Bevölkerung dort Arbeit? Hat sie Kanalisation, Schulen, eine Gesundheitsversorgung? Gibt es Ausbildung für die Jugendlichen? Kompensation kann nur mit öffentlicher Kontrolle und Transparenz im Mitteleinsatz erfolgen. Andernfalls profitieren davon lediglich die amtierenden Bürgermeister. Ausserdem reichen diese Gelder nie, um den tatsächlichen Schaden zu kompensieren.

Wie sollten alternative Modelle für die Transamazônica und den Xingu aussehen?
Die Flusslandschaft des Xingu ist eine der wertvollsten des Landes, sowohl in ökologischer als in ästhetischer Hinsicht. Die wirtschaftliche Entwicklung des Flusses für die Sportfischerei, für Wassersport oder Ökotourismus könnte viele Arbeitsplätze schaffen. Diese Gegend ist eine der reichsten des Bundesstaates Pará, sie besitzt eine der größten Kaffee- und Kakaoproduktionen, Rinderfarmen und andere Agrarprodukte. Sie verfügt zudem noch immer über 75 Prozent ihres Waldbestandes. Wenn diese Ressourcen schonend genutzt würden, könnten mit entsprechenden Anreizen verarbeitete Sammelprodukte und Möbelherstellung diese Gegend zu einer der reichsten Brasiliens machen.

Welche Vorschläge bestehen seitens der MTDX?
Die Bewegung schlägt die nachhaltige Nutzung von Naturressourcen vor, um neue Einkommensquellen zu erschließen und die Lebensbedingungen der Bevölkerung zu verbessern. Wir brauchen ausgebildete Fachkräfte, eine Agentur für die wirtschaftliche Entwicklung der Region mit entsprechenden Mitteln. Damit sollen Kleinunternehmen gefördert und ländlichen Produzenten und Produzentinnen Investitionen ermöglicht werden. Warum sollen wir die Flusslandschaft des Xingu für die Stromerzeugung opfern, wenn sie in ihrer jetzigen Form ein so wichtiges ökologisches Kapital darstellt? Ist es nicht zudem absurd, wenn die G7 (Gruppe der sieben wirtschaftlich mächtigsten Staaten, A.d.R.) auf der einen Seite 300 Millionen US-Dollar investieren, um die Abholzung in Amazonien zu verhindern und auf der anderen Seite deren Banken gleichzeitig Milliarden in Projekte investieren, die gigantische Ökosysteme zerstören?

// Interview: Tina Kleiber

Kasten:
Antonia Melo (rechts im Bild) ist Gründerin der Frauenorganisation Bewegung der arbeitenden Frauen Altamiras (MMTA-CC) und eine von drei Direktorinnen der Stiftung Leben, Produzieren, Bewahren (FVPP). Auf der Flucht vor der Trockenheit im Nordosten Brasiliens kam sie gemeinsam mit ihren Eltern und ihren zwölf Geschwistern in den 1950er Jahren in den Bundesstaat Pará. Sie kämpft insbesondere gegen das Staudamm- und Wasserkraftprojekt Belo Monte und für eine nachhaltige Entwicklung entlang der Transamazônica und am Xingu-Fluss. Für ihr Engagement wurde sie 2006 mit dem Menschenrechtspreis der brasilianischen Menschenrechtsbewegung MNDH ausgezeichnet.

Kasten:
Das Staudamm- und Wasserkraftprojekt Belo Monte
Max.Kapazität: 11.181,3 MW. Kritiker sagen, dass wegen Niedrigstand des Flusses 7-8 Monate keine Energie erzeugt werden kann. Durchschnittliche Kapazität: 4.796 MW. Höhe: 97 m. Zahl der Staudämme: Ursprünglich geplant: 5-6, jetzt nur noch 1. Befürchtet wird, dass erst ein Staudamm gebaut wird und dann die anderen folgen, da technisch mit einem Staudamm nicht genügend Gefälle zu produzieren ist. Baukosten: 7 Milliarden Reais. Überschwemmte Fläche: Ursprünglich 1.225 km² jetzt runter gerechnet nur noch 440 km², davon 200 km² regulärer jährlicher Wasserhochstand. Überschwemmtes indigenes Land: Keines, laut Eletrobrás (Mutterfirma von Eletronorte). Umzusiedelnde Anwohner: 3.200 Familien, laut Eletrobrás. Größte Protesttreffen: 1989: 650 Kayapó und 400 VertreterInnen der Zivilgesellschaft, 2006: 19 von 21 Kayapó-Gemeinden, 2008: 4.000 Beteiligte. Größte Energieabnehmer: Aluminiumindustrie ALCOA Verletzte internationale Abkommen: ILO- Konvention 169 zum Schutz Indigener Völker und traditioneller Bevölkerung. Saubere Energie?: Wasserkraftwerke mit Staudämmen wie Belo Monte sind keinesfalls klimafreundlich. Durch die enorme Abholzung, die ihr Bau verursacht, tragen sie negativ zur CO2-Bilanz bei. Die Überflutung von Regenwaldflächen für die Stauseen führt zu Fäulnisprozessen, die klimaschädliche Gase freisetzen. // TK

Infrastruktur im Dienste des Großkapitals

Seit ihrer Gründung im Jahr 2000 verfolgt die Initiative zur regionalen Infrastrukturintegration in Südamerika (IIRSA) eine Strategie der Einbindung Südamerikas in die Weltwirtschaft in den Bereichen Transport, Energie und Kommunikation. Die Region soll den dynamischen Zentren des Kapitalismus als Lieferantin von Agrarprodukten, Rohstoffen und Energie dienen. IIRSA umfasst 348 Projekte in einem Zeitraum von 20 Jahren bei annähernd 38 Milliarden Dollar Investitionskosten. Die Projekte verlaufen dabei entlang der so genannten zwölf Integrationsachsen, die sich, über ganz Südamerika erstreckend, miteinander verbinden.
Diese „Achsen“ fungieren als Korridore für den Rohstoffexport in die Industrieländer. Eine der wichtigsten Achsen ist die Amazoniens, welche die Pazifikhäfen Paita in Peru, Esmeraldas in Ecuador und Tumaco in Kolumbien mit der Amazonasmündung bei Belém verbinden soll. Durch diesen Korridor sollen vor allem Mineralien aus dem Andenraum nach Europa sowie in der Gegenrichtung Produkte Amazoniens wie Fleisch und Holz zu den Märkten Asiens und Nordamerikas transportiert werden.
Die zentrale interozeanische Achse zwischen Brasilien, Bolivien und Peru soll die Transportkosten des brasilianischen Agrobusiness für den Export zum Pazifik enorm reduzieren. Dies ist das erklärte Ziel zwei der umstrittensten Bauvorhaben: Rio Madeira, wo neben den Staudämmen eine Wasserstraße geplant ist, und die Interozeanische Straße, die bei 2.586 Kilometern Länge durch Peru die Anden überqueren soll. Des weiteren umfasst IIRSA ein Netz von Gaspipelines nach Bolivien und Peru sowie die Wasserstraße Paraná-Paraguay. Sie soll auf einer Länge von 3.442 km den Flusshafen Cáceres im brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso mit Buenos Aires am Atlantik für den Export von Soja und anderen Rohstoffen verbinden.
IIRSA entstand auf Betreiben der IDB im August 2000 in Kooperation mit der Andinen Entwicklungskooperation (CAF) und dem Finanzfonds für die Entwicklung des Rio de la Plata Beckens (FONPLATA). Der damalige Präsident Brasiliens, Fernando Henrique Cardoso, wurde Schirmherr der IIRSA-Gründungsversammlung aller südamerikanischen Länder – mit Ausnahme von Französisch-Guyana. Seither hat sich zwar das Politikszenario in der Region deutlich gewandelt, aber die IIRSA besteht fort, mit Unterstützung aller Regierungen und ohne grundlegendes Hinterfragen durch die als links geltenden PräsidentInnen. IIRSA wurde hingegen von den sozialen Bewegungen, von WissenschaftlerInnen und Umwelt-NRO scharf kritisiert. Die Kritik bezieht sich auf die grundlegende Ausrichtung der IIRSA und auf die sozialen, ökonomischen und ökologischen Auswirkungen der Projekte: Sie wurden ohne Rücksicht auf die Belange der von den Bauten Betroffenen geplant.
Aus Sicht der KritikerInnen folgt IIRSA der gleichen Logik wie zuvor: Es werde die Abhängigkeit Südamerikas vom Norden erhöhen, die Ungleichheiten in der Region noch verschärfen und dabei den Aderlass an reichen Rohstoffen auf Kosten künftiger Generationen ausweiten. Außerdem erregt die Hegemonie brasilianischer Unternehmen – vor allem des Agrobusiness‘ und der großen Baufirmen – Argwohn, da diese voraussichtlich mit IIRSA am meisten zu gewinnen haben.
Die KritikerInnen haben von Beginn an auf die harschen Auswirkungen auf FlussanwohnerInnen, Indigene sowie Bäuerinnen und Bauern hingewiesen. „Die bisherigen Integrationsmodelle missachten die Identitäten der lokalen Bevölkerung, ihrer Kulturen und ihres Landes“, kritisiert Magnólia Said, Vorsitzende der NRO Esplar aus Fortaleza. Anstatt gefragt zu werden, ergänzt sie, werden die AnwohnerInnen aufgefordert, „sich einer Entwicklungslogik anzupassen, deren einziges fortwährendes Interesse die Interessen des Marktes sind“.
Der Großteil der IIRSA-Projekte findet sich in Regionen mit reicher Biodiversität, fragilen Ökosystemen und mit einer Bevölkerung, die Umweltveränderungen schutzlos ausgeliefert ist. Obwohl die Vorhaben als „nachhaltig“ deklariert werden, sind die Umweltfolgen unleugbar, in einigen Fällen gar zerstörerisch. Die Wasserstraßen und Dämme verändern die Flüsse, beeinträchtigen die Fischerei und bedrohen eine große Anzahl der Fische mit dem Aussterben. Die Straßen führen zwangsläufig zu weiterer Waldrodung. Bezeichnenderweise erfolgten seit 2006 die Bewilligungen zum Bau der Interozeanischen Straße ohne vorhergehende Umweltfolgenstudie. Es handelt sich um eine der an Biodiversität reichsten Regionen, die zur Zeit noch weitestgehend unberührt ist. Laut einer Studie der peruanischen Zivilgesellschaft werden der Region in zehn Jahren alle Zerstörungen durch Straßenbau widerfahren. Hinzu wird die geplante Straße ein Gebiet durchschneiden, in dem mehrere indigene Völker in selbstgewählter Isolation leben.
In der Technokratensprache der IIRSA werden geographische Gegebenheiten wie die Anden und der Amazonaswald als „Barrieren“ tituliert, die es im Namen des Fortschritts zu „überwinden“ gelte. Naturressourcen werden zu Lagerbeständen von zukünftig an den Terminmärkten zu handelnden Rohstoffen. Magnólia Said warnt, dass „die Umsetzung dieser Projekte die Beseitigung all dessen, was als Hindernis gilt, bewirken wird: jahrhunderte alte Bäume, kleine Ansiedlungen, Indigenengebiete, Quiolombolagemeinden, gemeinschaftliche Landwirtschaft sowie kulturelle Traditionen. Gleichzeitig aber bleibt die soziale Exklusion unberührt bestehen“.
Das brasilianische Amazonien durchlaufen vier der so genannten Integrationsachsen und beeinflussen damit ein Gebiet von 2,5 Millionen Hektar Land, ein Gebiet, in dem fast ein Viertel der indigenen Bevölkerung Brasiliens in 107 Indigenengebieten lebt. Weitere 484 Gebiete, die für den Erhalt der Biodiversität als prioritär klassifiziert sind, liegen in dieser Einflusszone. Der nordamerikanische Wissenschaftler Tim Killeen, Direktor des Nationalen Zentrums für Atmosphärenforschung nennt dieses Szenario den „perfekten Sturm im Wald Amazoniens“. Killeen kommt in einer Studie zu dem Schluss, dass die Auswirkungen der Transport-, Energie- und Kommunikationsprojekte von IIRSA den Großteil des Tropenwaldes Amazoniens in den nächsten Dekaden zerstören könnten.
Killeen skizziert den ansteigenden Druck auf das Ökosystem Amazoniens sowie seiner traditionellen BewohnerInnen und sieht die Ursachen in der Ausweitung von Land- und Viehwirtschaft, in der Ausbeute von Bodenschätzen und in der Rodung zur Holzgewinnung. Zudem werden die Anbauflächen für Bioenergie rapide ansteigen: „Fehlende Folgenabschätzung für IIRSA bedeutet einen perfekten Sturm der Umweltzerstörung. Der größte tropische Regenwald der Welt sowie die vielfachen Dienste, die er leistet, sind in Gefahr.“ Killeen resümiert, dass die größte Herausforderung in der Balance zwischen legitimen Entwicklungsaussichten und der Wahrung des amazonischen Ökosystems liege.
Hinzu kommt jedoch, dass IIRSA ein gewaltiges Demokratiedefizit innewohnt. Grundsätzlich werden die Projekte als bereits beschlossen bekannt gegeben. Die demokratische Debatte beschränkt sich dann auf die Wege und Mittel zur Anpassung an diese Unumkehrbarkeiten. In vielen Fällen wird die lokale Bevölkerung nicht über die direkten Konsequenzen der geplanten Bauten informiert.
Im ewigen Hader zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltschutz lautet die nur selten gestellte Frage, welches die eigentlichen Interessen hinter diesen gleichsam pharaonischen Infrastrukturprojekten sind: Wem dient die zu produzierende Energie? Wer gewinnt am Warentransport? Wer sind die NutznießerInnen der schiffbaren Flüsse? Welche Strategie steckt dahinter? Für den Soziologen Luiz Fernando Novoa von der NRO Rede Brasil wird IIRSA durch die Interessen großer Firmen – vor allem nordamerikanischer, aber auch brasilianischer – geleitet, Firmen, die eine nie gesehene Kontrolle über die Naturressourcen Südamerikas erlangen werden. „Die Projekte richten sich an der Wettbewerbsfähigkeit nach außen aus. Sie dienen nicht dazu, die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Ländern zu vertiefen“, so Novoa. „Es handelt sich hierbei um eine Hierarchie der Prioritäten, die nicht mit den Interessen unserer Bevölkerungen korrespondiert“.
Die Logik von IIRSA ist – so Novoa – die Schaffung regelrechter „Unternehmensterritorien“, befreit von Herkunft, Kultur und interner Dynamik der Völker selber. „Regierungshandeln soll im Sinne der Unternehmenskonglomerate die Regeln zur Ausweitung der fortschreitenden Unternehmensfront schaffen und ausüben“, kritisiert Novoa und fügt hinzu: „Der Nationalstaat, die Bevölkerung und die Umwelt hängen dann von der Gnade privater Investitionen ab. Gleichzeitig sollen sie deren Bedingungen und Forderungen folgen. So werden wir letztlich zu Ausländern in unseren eigenen Staaten“.
Der Sektor der Energieproduktion ist hierzu beispielhaft: „Die wachsende Nachfrage nach Energie ist direkt gekoppelt an die Ausweitung energieintensiver Produktion wie Aluminium und Zellulose“, erläutert Elisângela Soldatelli Paim von der NRO Núcleo Amigos da Terra Brasil aus Porto Alegre. Der Staudamm von Tucuruí, gebaut in den 1970er Jahren mit immenser Umweltzerstörung und der Vertreibung von mehr als zwanzigtausend Menschen, liefert den Strom vor allem für die drei großen Aluminiumfabriken, die im brasilianischen Bundesstaat Pará angesiedelt wurden. Eine der Fabriken ist nordamerikanisch, die beiden anderen gehören der brasilianischen CVRD als Joint-Venture mit japanischem Kapital. Die brasilianische Regierung subventioniert die drei Firmen, aber die umgesiedelten BewohnerInnen bekamen weder eine Entschädigung, noch erhalten sie Strom. Während das Aluminium ins Ausland transportiert wird, werden die „externen Kosten“ lokal beglichen.
Doch auch die sich als „links“ bezeichnenden Regierungen werden von den GegnerInnen der IIRSA kritisiert. Ein Venezuela mit Hugo Chávez, das auf der einen Seite gegen das neoliberale Modell Initiativen wie ALBA, den Sender Telesur oder die Bank des Südens ins Felde führt, beteiligt sich nicht nur an IIRSA, sondern schlägt auch noch den Bau der Gaspipeline des Südens vor. Dabei geht es um ein pharaonisches Projekt, das von der Karibik bis nach Argentinien den amazonischen Wald durchschneiden, die Umwelt beeinträchtigen und die Lebensform der lokalen Bevölkerungen gefährden wird. Die Präsidenten Boliviens und Ecuadors, Evo Morales und Rafael Correa, erklärten noch im Dezember 2006, dass IIRSA einer neuen Orientierung im Interesse der Völker zu folgen habe. Dennoch sind Bolivien und Ecuador an mehreren IIRSA-Projekten beteiligt – und nicht alle entsprechen annehmbaren sozialen oder umweltgerechten Kriterien. Zwar hat sich die Regierung Morales dem Bau der Staudämme am Rio Madeira wegen der zu erwartenden Auswirkungen auf der bolivianischen Seite, wie Flutung von Land durch Rückstau der Dämme, widersetzt, aber angesichts der Aussicht auf brasilianische Unterstützung bei anderen Projekten diese Meinung geändert. „Diese Regierungen sind noch immer gefangen vom Glauben an wirtschaftliche Entwicklung durch Raub an Natur und Bevölkerung“, meint Mariângela Soldatelli Paim: „Die Frage ist, ob dieses kapitalistische Wirtschaftsmodell, nicht eher in seinen Grundstrukturen zu bekämpfen ist“.
Das Überlaufen der „bolivarianischen“ Regierungen zu IIRSA lässt eine Frage im Raume: Gibt es eine Alternative? Luiz Fernando Novoa glaubt daran: „Indem wir IIRSA kritisieren, bestreiten wir nicht die Notwendigkeit, Straßen, Eisenbahnstrecken, Wasserwege, Häfen und Flughäfen zu bauen oder in den Energie- und Telekommunikationssektor zu investieren“, stellt er klar. Wichtig, so Novoa, sei ein Umdenken, ein neuer Konsens, eine neue Ausrichtung in Bezug auf Infrastruktur und Integration: Indem die Binnenmärkte und die soziale Entwicklung zuerst berücksichtigt werden. „Die Produktion und Verteilung von Energie im Kontinent muss im Hinblick auf die Förderung regionaler Wirtschaftsdynamik erfolgen – und nicht als reiner Nachschub für die transnationalen Produktionsketten“, führt Novoa aus.
Gleichzeitig weist er die Kritik zurück, dass gegen IIRSA zu sein bedeute, den externen Markt zu ignorieren. „Es ist möglich und notwendig, die Exportpalette dahingehend zu diversifizieren, dass Einkommen und Jobs bei einem Minimum an Umweltschäden geschaffen werden“. Das werde aber nur mit einer öffentlichen Planung für den Bereich Infrastruktur erreicht, mit einer Planung, die sich stützt auf öffentliche Institutionen, in denen auch die Zivilgesellschaft vertreten ist. „Das wäre also das genaue Gegenteil von dem, was wir heute in Brasilien durchleben“, urteilt Novoa.
// Igor Fuser
// Übersetzung: LN
Copyleft Le Monde Diplomatique Brasilien, März 2008

Militärs im Wald

Amazonien hat in den letzten Monaten eine Aufwertung in der internationalen Politik und Aufmerksamkeit erfahren. Spätestens seit der Klimakonferenz in Bali im Dezember 2007 ist die Frage der Walderhaltung in die erste Reihe der Prioritäten für ein neues Klimaregime gerückt. Und Brasilien hat in Bali zumindest Verhandlungsbereitschaft signalisiert, eine Kehrtwende zu der bisherigen Politik, die keine internationalen Mechanismen zu Fragen der Entwaldung diskutieren wollte. Allerdings führt die Veröffentlichung von neuen Zahlen in diesem Jahr, die einen drastischen Anstieg der Entwaldung in Amazonien anzeigen, eine eigentlich altbekannte Tatsache vor Augen: Es gibt keine integrierte Amazonienpolitik Brasiliens, die auf Walderhaltung ausgerichtet ist.
Dies weist auf die höchst unterschiedlichen Interessen in Brasilien hin, die beim Thema Amazonien aufeinanderprallen. Denn der Kampf um Amazonien ist nicht nur ein Kampf um Bäume, es ist zunächst ein Kampf um die Definitionsmacht. Sehen die einen einen großen Wald mit Biodiversität und indigenem Kulturraum, sehen andere das große Potential für Wasserkraft. Brave WaldschützerInnen stehen Personen wie Blairo Maggi, Gouverneur des Bundesstaats Mato Grosso gegenüber, der auf den entwaldeten Flächen mit Sojaanbau glänzende Geschäfte macht. Die Holzlobby hingegen sieht in Amazonien eine „Berufung zur Holzwirtschaft” – nachhaltig natürlich.
In diesem Debattenfeld haben sich in letzter Zeit alte Bekannte wieder massiv zu Wort gemeldet: die Militärs. Für sie ist Amazonien zunächst ein riesiges, schwer kontrollierbares Grenzgebiet, das Unterschlupf für SchmugglerInnen und ausländische Guerillas – besonders der Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens FARC – bietet und Ort permanenter Landkonflikte ist. Finstere Mächte könnten gar Amazonien internationalisieren wollen. Kurz: Amazonien ist primär eine Frage der nationalen Sicherheit und Souveränität, und zwar die wichtigste für ein Land ohne feindliche Nachbarn.
Diese Sichtweise hat eine Geschichte, die weit in die Militärdiktatur (1964-1985) zurückreicht. Aber auch die erste zivile Regierung unter José Sarney (1985-1990) hat die Militarisierung Amazoniens durch das Projekt Calha Norte (PCN) weiter betrieben (siehe LN 174). Das Vorhaben definiert ein riesiges Gebiet entlang der 6.500 km langen Landesgrenzen im Amazonasgebiet als militärisches Entwicklungsgebiet. 14 Prozent der Fläche Brasiliens und 24 Prozent der Fläche Amazoniens sind betroffen. Wie viele Großvorhaben blieb PCN Stückwerk und geriet schließlich in Vergessenheit. Doch die wiederaufflammenden internationalen Debatten und neue Entwicklungen in der Region haben die Militärs dazu gebracht, sich wieder lautstark zu Wort zu melden.
Mit überraschender Deutlichkeit hat der oberste Kommandeur der Streitkräfte in Amazonien, General Augusto Heleno, die Indigenenpolitik der Regierung kritisiert: „Die brasilianische Indigenenpolitik ist völlig losgelöst vom historischen Prozess der Kolonialisierung unseres Landes. Sie muss dringend korrigiert werden.“ Ein anderer hoher Militär, General Mario Madureira, ließ im April dieses Jahres in der Tageszeitung O Globo keine Zweifel, warum die Militärs alarmiert sind: „Die Gefahr für die Souveränität besteht in den Gebieten, die vom brasilianischen Territorium abgetrennt werden können. Internationale Nichtregierungsorganisationen und indigene Gruppen können eine Aufteilung des Territoriums fordern. Es könnte dasselbe wie im Kosovo passieren.“
Amazonien – ein neues Kosovo? Das ist eine erstaunliche Sichtweise auf den Kosovokonflikt und die Situation in Amazonien. Die Äußerungen der Militärs haben durchaus politische Unterstützung bekommen. Im Regierungslager haben sich Verteidigungsminister Nelson Jobim und die Kommunistische Partei von Brasilien (PCdoB), ein treuer Bündnispartner der Regierung, zustimmend geäußert. Gerade vom linken Flügel, der stark linksnationalistisch geprägt ist, gab es viel Beifall für die Äußerungen der Militärs. Das Eingreifen der Militärs in Amazonien wird so auch von zwei neuen zivilen Ministern der Regierung Lula unterstützt, welche ihre Wurzeln im linken politischen Spektrum haben. Der neue Umweltminister Carlos Minc schlug bereits vor seinem Amtsantritt vor, Sonderkommandos innerhalb der Streitkräfte zu bilden, um in den großen (National-)Parks und Nutzreservaten Amazoniens zu operieren. Auch der Minister für Strategische Angelegenheiten und Koordinator des „Plans für ein Nachhaltiges Amazonien“, Mangabeira Unger, hält ein militärisches Eingreifen für notwendig, um die Landkonflikte in Amazonien zu lösen.
Anlass für die aktuelle Debatte ist die Auseinandersetzung um die Demarkierung des indigenen Gebietes Raposa/Serra do Sol im Bundesstaat Roraima, an der Grenze zu Venezuela. Raposa/Serra do Sol ist mit 1,7 Millionen Hektar das letzte große Indigenengebiet in Amazonien, dessen Demarkierung noch nicht abgeschlossen ist (siehe LN 373/374). Um dieses Gebiet hat sich in Roraima eine besonders heftige Debatte entfacht. GroßgrundbesitzerInnen, die sich dort angesiedelt haben, leisten militanten Widerstand und werden von der lokalen Politik unterstützt. Diese beklagt, dass mit der vorgesehenen Grenzziehung 46 Prozent des Territoriums des Bundesstaates indigenes Gebiet werden. Damit ist auch die Debatte „Viel Land für wenige Indigene“ wiederbelebt. „Der brasilianische Staat hat nicht die geringste Idee, was in den indigenen Gebieten passiert. Nie ist eine Erhebung gemacht worden, die Reichtümer sind unbekannt und unberührbar. Die Reservate bilden 12,5 Prozent des nationalen Territoriums. […] Die indigenen Gebiete in Roraima sind größer als Portugal.“ Dieses Zitat stammt aus der Titelreportage des auflagenstarken Magazins Istoé vom 28.Mai 2008. Unter der Überschrift „Amazonien gehört uns“ resümiert die Ausgabe die aktuelle Debatte um das Gebiet.
Neben der Bedrohung durch indigene Territorien werden die Nichtregierungsorganisationen (NRO) als Feinbild aufgebaut. Europäische und nordamerikanische NRO würden ein Horrorszenario von Ausrottungspolitik gegenüber der indigenen Bevölkerung an die Wand malen: „Unter diesem Vorwand verteidigen die (Pseudo-)NRO mit aller Kraft die aktuelle Indigenenpolitik, die einigen Stämmen Gebiete zuspricht, die größer sind als europäische Staaten.“ So könnten sie dann ihren nebulösen Geschäften nachgehen, darunter die Biopiraterie. Der Artikel resümiert: „Die aktuelle Indigenenpolitik führt dazu, dass Indios und NRO immer mehr nationales Territorium besetzen. So muss Brasilien, lange bevor es auf Invasoren von Außen trifft, einen Teil Brasiliens erobern, um die territoriale Integrität seines Landes wiederherzustellen.“ Laut Istoé soll die phantastische Zahl von 100.000 NRO in Amazonien tätig sein.
Rückenwind bekommen solche Szenarien durch Äußerungen internationaler Politiker, die immer wieder zitiert werden. So soll der US-amerikanische Politiker Al Gore 1989 gesagt haben: „Die Brasilianer denken, dass Amazonien ihnen gehört. Nein, es gehört uns allen.“ Nüchterner ist die Analyse, dass die natürlichen Ressourcen Amazoniens eine strategische Bedeutung haben, die in Zukunft auch Teil internationaler Konflikte werden könnten. So verfügt Amazonien über 21 Prozent der weltweiten Süßwasservorkommen.
Die Befürchtungen brasilianischer Militärs und PolitikerInnen, die auch von großen Teilen der Bevölkerung geteilt werden, müssen ernst genommen werden. Das Interesse Brasiliens, seine nationale Integrität und Souveränität zu bewahren, ist genauso legitim wie die Bekämpfung von Biopiraterie. Aber warum sollen die indigenen Völker eine Bedrohung für die nationale Souveränität darstellen? Gerade sie sind es, die den Wald schützen – und damit einen der größten Reichtümer Brasiliens. Eine Übersicht des Instituto Socioambiental zeigt, dass in fast allen indigenen Gebieten die Entwaldungsrate gering ist. In den größten Indigenengebieten Brasiliens, Yanomami und Vale do Javarí, sind lediglich 0,26 bzw. 0,27 Prozent der Fläche entwaldet. Und bisher gibt es keine indigene Bewegung, die Unabhängigkeit von Brasilien anstrebt.
Ein anderer Kontext der Debatte um indigene Gebiete ist wohl realistischer. Die auf Großprojekte ausgerichtete Entwicklungspolitik der brasilianischen Regierung wird zunehmend mit dem Schutz indigener Gebiete in Konflikt geraten. 20 Prozent Amazoniens sind indigene Gebiete. Es ist auch kein Zufall, dass die zitierte Reportage von Istoé unmittelbar nach einem Treffen von indigenen Völkern und sozialen Bewegungen gegen einen Staudamm am Xingu-Fluss veröffentlicht wurde (siehe LN 409/410). Auf diesem Treffen hatten Indigene einen Vertreter der staatlichen Energiefirma und Staudammbetreiber Eletronorte mit Messern angegriffen und verletzt. Die Bilder des blutenden Ingenieurs wurden zu besten Sendezeiten vom Fernsehen gezeigt und wiederholt. Sie sind ein drastisches Signal, dass Amazonien vor neuen sozio-ökologischen Konflikten steht, in denen indigene Völker immer mehr als Akteure sichtbar werden. Die brasilianische Regierung zeigt sich angesichts des internationalen Interesses an Amazonien zunehmend irritiert. Präsident Lula verglich Amazonien mit Weihwasser: Alle wollten ihre Finger reinstecken.
Der Friedensforscher Clóvis Brigagão erkennt in der aktuellen Debatte eine neue Rollenwahrnehmung der Militärs: „Sie handeln nicht nur wie strategische Akteure in Verteidigungsangelegenheiten, sondern werden auch zu bedeutenden strategischen Akteuren der Public Policies”. Militärische Interventionen in Amazonien würden so das Handlungsfeld der Streitkräfte auf zivile Bereiche der Politik, die eigentlich anderen Ministerien unterliegen, ausweiten. Den Grund für diese Machtausweitung und den erhöhten politischen Einfluss sieht Brigagão in einem Machtvakuum auf Seiten der zivilen Politik. Dieses Vakuum lasse zu, dass „die strategischen Fragen Amazoniens aus militärischer Perspektive betrachtet werden”. Das Militär werde somit die Formen nachhaltiger Entwicklung in Amazonien entscheidend mitprägen.
// Anne Schnieders/Thomas Fatheuer

Machetenschlag gegen Eletronorte

600 Indios – die meisten in traditioneller Bekleidung – verwandelten die nüchterne Turnhalle der Stadt Altamira in einen Festsaal. Mit den Indios hatten sich soziale Bewegungen der Amazonasregion versammelt, um gegen die Staudammpläne „Belo Monte” der brasilianischen Regierung zu protestieren. Das Treffen hatte einen Déjà-vu-Charakter: Schon 1989 hatten sich indigene Völker und soziale Bewegungen gegen erste Pläne eines Staudammes am Xingu-Fluss mobilisiert. Damals verschafften Persönlichkeiten wie Rockstar Sting dem Treffen internationale Aufmerksamkeit. Die Zeiten haben sich geändert und so war dieses Mal kaum nationale und wenig internationale Presse zu sehen – bis zu dem Moment, in dem Tuíra, Stammesführerin aus dem Volk der Kayapó, in Szene trat.
Selbige Tuíra hatte bereits 1989 den Präsidenten der für das Projekt verantwortlichen staatlichen Energiefirma Eletronorte, José Antônio Muniz Lopez, mit einem Messer bedroht – das Bild ging um die Welt (siehe LN 180). Diesmal waren die Bilder dramatischer. Nach der Rede von Eletronorte-Vertreter Paulo Fernando Rezende griffen ihn Kayapós, darunter Tuíra, mit einer Machete an und verletzten ihn schwer am Oberarm. Für die brasilianische Presse ein gefundenes Fressen – nun hatten sie sensationelle Bilder, um über die Gewalt der Indios polemisch zu berichten. Ausschlaggebend für die Tat war vor allem der Ton von Rezende, der alle Kritik am Staudamm als „schlecht informiert” vom Tisch wischte und den Protest der Indios damit nicht genügend ernst nahm.
Die Logik von Regierung, Eletronorte und Betreiberfirmen ist klar: Brasilien braucht mehr Energie, da Bevölkerung und Wirtschaft wachsen. Fast 80 Prozent der Stromerzeugung in Brasilien beruht auf Wasserkraft. Das Land rühmt sich mit dieser sauberen Energie in Zeiten des Klimawandels und will die Nutzung der Wasserkraft weiter ausbauen. Tatsächlich ist es der Regierung im Dezember letzten Jahres gelungen, wieder ein Staudammprojekt in Amazonien am Rio Madeira in die Umsetzungsphase zu bringen (siehe LN 403).
Der lukrativste Standort der geplanten Staudämme liegt jedoch am Xingu. Deshalb versucht Eletronorte nun bereits im dritten Anlauf das Belo-Monte-Projekt umzusetzen. Es ist offensichtlich, dass es diesmal ernst gemeint ist: Belo Monte soll 11.182 Megawatt (MW) produzieren, soviel wie neun „normale” Atomkraftwerke. Es ist damit viel größer als zwei bereits bewilligte Kraftwerke am Rio Madeira – und auch schwieriger umzusetzen.
Der Parque Nacional do Xingu ist eines der wichtigsten indigenen Gebiete Brasiliens, in dem der Regenwald fast unversehrt erhalten ist. Nicht nur der Xingu fließt hier, auch die Transamazônica-Route durchschneidet die Region, die eine für Amazonien vergleichsweise hohe Bevölkerung mit vielen aktiven sozialen Bewegungen aufweist. VerteidigerInnen und KritikerInnen des Staudammprojekts sind sich in einem Punkt einig: Am Xingu wird die Zukunft der Wasserkraft in Amazonien entschieden.
Wenn es nicht gelingt, diesen Staudamm zu verhindern, werden weitere Projekte mit schweren Konsequenzen folgen. Zwar entspricht das Projekt längst nicht mehr den Erstplänen von 1989, denn die Größe des Stausees konnte von über 1000 auf etwa 400 Quadratkilometer gesenkt werden. Dennoch bleiben große Zweifel. „Das geplante Wasserkraftwerk Belo Monte wird nur drei Monate im Jahr mit 11.182 MW operieren können. Für den Rest des Jahres garantiert der Wasserfluss nur etwa 4.670 MW. Um also Belo Monte überhaupt erst lohnend zu machen, müssten vier weitere Kraftwerke gebaut werden, mit Stauseen, die eine so große Fläche betreffen würden, dass sich Eletronorte scheut, die Pläne zu veröffentlichen”, so die Kritik des Energiespezialisten Célio Bermann. Es wird klar: Das aktuelle Projekt macht nur Sinn, sofern es die erste Stufe von etwas noch weit Größerem wird.
Aber allein das aktuelle Projekt ist gigantisch und die sozialen und ökologischen Folgen sind so komplex, dass sie sich nicht lediglich auf die Größe des Stausees reduzieren lassen. So werden etwa 20.000 Arbeitskräfte für den Bau benötigt. Altamira hat etwa 80.000 Einwohner. Die legendäre Transamazônica-Route müsste dazu endlich fertiggestellt werden, der Druck auf indigene Territorien und Schutzgebiete würde sich drastisch erhöhen.
Am 21. Mai dieses Jahres überreichten etwa 50 Häuptlinge der Region dem Bundesrichter Antonio Campelo eine Petition: „Wir akzeptieren den Bau von Staudämmen in unserem Fluss nicht. Wir werden nicht mehr den Verlust unseres Landes akzeptieren, denn wir wissen, dass Staudämme niemals Vorteile für unsere Gemeinschaften gebracht haben oder bringen werden. Falls wir dieses Projekt nicht verhindern können, dann werden wir bis zu den Baustellen gehen und das Projekt auf unsere Weise stoppen. Wir werden unser Leben und unser Land verteidigen. Wir sind es leid, zu hören und nicht gehört zu werden.”
Mit diesen Positionierungen der indianischen Völker können Regierung und Eletronorte nichts anfangen. Ihre Logik des Dialogs ist die Logik der Umsetzung des Projekts. Es geht um das „wie” und nicht um das „ob”. Eletronorte verspricht geringe Umweltschäden, ein viel besseres Projekt als vor 20 Jahren, großzügige Entschädigungen und dauerhafte Kompensationszahlungen. Die PlanerInnen können nicht verstehen, wenn ein Indio darauf erwidert: „Der Xingu ist mein Vater und meine Mutter. Ohne den Xingu, was wird aus uns?”
Es ist dieser Abgrund von Unverständnis, der die Messerstiche der Kayapós provozierte. War also das Treffen von Altamira der Auftakt zu einer neuen, militanten Phase indigenen Widerstands? Dies ist schwer einzuschätzen, deutlich aber wird, dass Konflikte mit indigenen Völker wieder ins Zentrum der brasilianischen Politik rücken. Etwa 20 Prozent des gesamten Territoriums Amazoniens ist indigenes Gebiet. Raposa Serra do Sol, das letzte große indigene Territorium, dessen Demarkierung nicht abgeschlossen ist, hat jetzt einen Streit provoziert, bei dem sich auch die Militärs einmischten. Da das Gebiet an der Grenze zu Venezuela und Guayana liegt, befürchten Militärs eine Gefahr für die nationale Sicherheit und greifen zum Teil offensiv die Indigenen­politik der Regierung an. Dies ist sicherlich auch der Reflex einer neuen Konjunktur in Amazonien. Die neue Welle von Großprojekten, die Ausbeutung der Bodenschätze, sowie das sich massiv ausdehnende Agrobusiness stoßen zunehmend an die Grenzen von Schutzgebieten und indigenen Territorien. Dort stehen den InvestorInnen dann die einheimische Bevölkerung und die Gesetze zum Erhalt des Naturraums im Wege.

Tod am Fluss

Ein dichter weißer Schaumteppich bedeckt das Wasser des Flusses Santiago, der sich einer Skipiste ähnelnd an der Peripherie Guadalajaras entlang schlängelt. An manchen Tagen weht der Wind dicke Flocken in die nahe gelegenen Siedlungen. Früher galt der Santiago an jener Stelle zwischen El Salto und Juanacatlán als beliebter Touristenort – bekannt als die „Niagarafälle Mexikos“. Am 13. Februar 2008 waren die BürgerInnen Guadalajaras, der zweitgrößten Stadt Mexikos, in Aufruhr geraten, da der achtjährige Miguel Ángel López Rocha nach fast dreiwöchigem Koma an den Folgen einer Arsenvergiftung starb. Ursache war wahrscheinlich das hochgradig verschmutzte Wasser des Río Santiago, der die östlichen und südöstlichen Ränder der Stadt passiert. Das Haus seiner Familie liegt nur wenige Blocks vom Fluss entfernt. Vermutlich war er beim Spielen am 26. Januar mit dem trüben Flusswasser in Berührung gekommen und hatte etwas davon geschluckt, wie die Mutter des Kindes bekannt gab. Nach mehreren Stunden Erbrechen, Durchfall, Halluzinationen und Bewusstseinsstörungen fiel Miguel Ángel am Folgetag im örtlichen Krankenhaus ins Koma. Kurz vor seinem Tod stellten die ÄrztInnen einen Anteil von 51 Mikrogramm Arsen in Urinproben des Kindes fest, was er bis zu zehnmal über dem Normalwert lag.
Auch wenn der Gouverneur Jaliscos, Emilio González Márquez, ebenso wie die zuständigen Behörden, vehement einen Zusammenhang zwischen der Verschmutzung des Flusses und Miguel Ángels tödlicher Vergiftung herunterspielten oder gar dementierten, schien die Ursache für viele klar. Seit nunmehr fünf Jahren weisen die BewohnerInnen der südöstlich von Guadalajara gelegenen Gemeinden Juanacatlán und El Salto die lokale Regierung auf gesundheitliche Schädigungen an der Bevölkerung in Folge der hochgradigen Verschmutzung des Flusses hin. Der Río Santiago gilt als eines der am stärksten kontaminierten Gewässer Mexikos und gefährdet die Gesundheit von insgesamt 120.000 Menschen, die in der Nähe des Flusses wohnen. ÄrztInnen vor Ort sowie das Lateinamerikanische Wassertribunal bestätigten ein erhöhtes Auftreten von Atemwegs- und Hauterkrankungen, Kopfschmerzen, Müdigkeit und Schlaflosigkeit bei der Bevölkerung. Im Jahr 2005 waren Atemwegserkrankungen und verschiedene Krebsarten die Haupttodesursache in den beiden Gemeinden. Auch der Expertin und Gründerin des Toxikologischen Instituts in Jalisco, Luz María Cueto Sánchez, zufolge, ließe das Krankheitsbild des Jungen auf eine orale Einnahme von Arsen schließen. Das Gift werde heute vor allem in der verarbeitenden Industrie, zum Beispiel in Gerbereien und in der Glas- und Metallverarbeitung, verwendet.
Tatsächlich beginnt ganz in der Nähe der betroffenen Gemeinden einer der wichtigsten Industriekorridore Jaliscos und Mexikos. Die knapp 300 Unternehmen des Industrieparks in Guadalajara aus der chemisch-pharmazeutischen Industrie, der Lebensmittel- und Getränkeherstellung sowie der metallverarbeitenden und Elektroindustrie, darunter bekannte Namen wie IBM Mexico, Nestlé und Ciba, leiten ihre Abwässer – so wird vermutet – größtenteils ungereinigt in den Fluss. Sie vermischen sich dort mit den Abwässern der Fünf-Millionen-Metropole, die über den Ahogado-Kanal ungeklärt in den Fluss eingeleitet werden. Die Verschmutzung des Flusses hat die Einnahmequelle aus dem einst landwirtschaftlichen Zentrum und damit die Nahrungsgrundlagen der BewohnerInnen der an den Fluss angrenzenden Dörfer teilweise bis vollständig zerstört. Vereinzelte Studien haben eine Verschmutzung des Wassers mit diversen Schwermetallen, darunter Chrom, Blei, Kobalt, Quecksilber und Arsen festgestellt. Um jedoch einen konkreten Zusammenhang zwischen dem hochgradig verschmutzten Flusswasser und den Erkrankungen der BewohnerInnen sowie Miguel Ángels tödlicher Vergiftung nachzuweisen, fehlt es bislang an Langzeitstudien.

Der Río Santiago ist eines der am stärksten kontaminierten Gewässer Mexikos.

Und politischem Willen. Zwar bezeichnete die Wasserkommission Jaliscos CEA (Comisión Estatal del Agua; erst vor kurzem strich man das S für Saneamiento (Abwassersanierung) aus dem Namen) das Wasser des Santiago noch im Jahr 2003 als übermäßig verschmutzt und ungeeignet zur Trinkwasserversorgung. Nichtsdestotrotz hält diese gemeinsam mit der konservativen PAN-Regierung Jaliscos am Bau des umstrittenen Arcediano-Staudamms fest. Geplant ist das Flusswasser zunächst zu reinigen und anschließend zu stauen, um die Stadt mit Trinkwasser zu versorgen (siehe LN 399/400). So bestätigt die nationale Wasserkommission Conagua in einem Antwortschreiben auf eine Briefaktion der Nichtregierungsorganisation FIAN, diverse Aktivitäten hinsichtlich der Kontrolle und Reinigung der Abwässer geplant und begonnen zu haben. Anlässlich des Todes von Miguel Ángel stellte jedoch die Menschenrechtskommission Jaliscos fest, dass bisher keine der involvierten Behörden eine adäquate Antwort darauf gegeben hätte, wie das schwerwiegende Verschmutzungsproblem zu lösen wäre. Auch lokale Nichtregierungsorganisationen kritisierten in einem Maßnahmenkatalog Anfang März, das von CEA geplante Programm zur Abwasserreinigung sei unzureichend und berücksichtige lediglich Schmutzwasser der Stadt und einiger weniger Industrien. Sie verlangten neben der vollständigen Überwachung der Abwassereinleitung und Sanktionen für Unternehmen, die gegen die derzeitige Norm verstoßen, auch eine Novellierung bisheriger Umweltgesetze, die bis dato nicht alle kontaminierenden Stoffe berücksichtigen. Im Zusammenhang mit dem geplanten Arcediano-Staudamm forderte ein Zusammenschluss zivilgesellschaftlicher Organisationen mit dem in Guadalajara ansässigen Mexikanischen Institut für Gemeindeentwicklung (IMDEC) auf lokaler, regionaler nationaler und internationaler Ebene den sofortigen Baustopp des Projekts. Der Bau hat jedoch längst begonnen, während die Regierung verlautbaren ließ, noch in diesem Jahr mit dem ursprünglich für 2006 vorgesehenen Bau einer Kläranlage zu beginnen. Auch hat das Gesundheitsministerium Jaliscos nach mehreren Wochen Verzögerung begonnen, Urinproben von Kindern und nicht erwerbstätigen Müttern zu nehmen, um sie auf Schwermetalle zu prüfen. Dies ist zwar ein wichtiger Schritt, um gesundheitliche Folgen der Umweltverschmutzung der BewohnerInnen El Saltos und Juanacatláns zu untersuchen, allerdings unterliegt diese Untersuchung keiner unabhängigen Überprüfung, so dass über die Qualität der Ergebnisse keine Aussagen getroffen werden können. KritikerInnen des Staudammprojektes gehen davon aus, dass eine Manipulation der Ergebnisse auch dazu führen könne, gesundheitliche Risiken auszuschließen und damit schlussendlich den Bau des Staudamms zu legitimieren.
Immerhin hat die Kontamination des Santiago nun auch auf nationaler Ebene Aufmerksamkeit erregt. Eine Delegation von SenatorInnen bemerkte nach einem Besuch in den betroffenen Gemeinden Anfang März das Ausmaß der Verschmutzung und die Gefährdung der Bevölkerung und bemängelte die Versäumnisse der zuständigen Behörden. Vorgesehen ist nun eine Kommission der beiden Kongresskammern aufzustellen, um die Problematik der Flusskontamination durch die Industrie zu untersuchen.
Somit hat der tragische Tod des kleinen Miguel Ángel auch Prozesse angestoßen, die neue Hoffnungen wecken oder, wie man in Mexiko sagen würde, „no hay mal que por bien no venga“– es gibt kein Übel, das nicht auch zu etwas Gutem taugt. Den Kindern in Juanacatlán und El Salto, die noch immer den Gasen des Río Santiago ausgeliefert sind und den Müttern leukämiekranker Säuglinge wünscht man es. Ebenso all den neuen BewohnerInnen der Siedlung. Und zumindest das Immobiliengeschäft am Fluss floriert.

Sternenspucke in der Rupununi

Tage später zieht ein Sturm auf über Lethem, von einer Art, wie ihn noch keiner der Dorfbewohner so knapp über dem Äquator erlebt hat: Terry* Melville sitzt unter seinem Palmdach, zwei der fingernagelgroßen Hagelkörner lutschend, die zu Millionen so plötzlich vom Himmel gekommen sind; die Kinder aber, die nicht wissen, was Eis ist, lauschen von den dunkelsten Ecken des Adobehauses aus Angst geschüttelt auf das anbrandende Trommeln der weißen Kristalle. Terry schnalzt mit der Zunge und isst zwei weitere Eisstücke.
Die Rupununi – das sind zwei in sich geschlossene Savannengebiete im Südwesten Guyanas, zusammen fast so groß wie Schleswig-Holstein, voneinander getrennt durch das abrupt aufsteigende, schroffe Bergmassiv der Kanukus. Dieser von dichtem Dschungel bedeckte Gebirgszug wird seinerseits durchschnitten vom Rupununi River. In den nördlichen Savannen leben die Makushi, in den Südsavannen die Wapishana – ein fast vergessener Stammeskrieg, so sagt man, hat die Völker irgendwann entzweit. Lethem, der einzige größere Ort der Region, benannt nach einem englischen Kolonialbeamten, liegt strategisch günstig westlich der Kanukus und östlich des an Brasilien grenzenden Flusses Río Takutu auf einem schmalen Savannenstreifen, der beide Hälften der Rupununi miteinander verbindet.
Bis auf den erst 1991 geöffneten „Trail“ zwischen Lethem und Georgetown, auf welchem die Fahrt in den ersten Jahren eine Woche dauerte und nur in Bedford Trucks gemeistert wurde, durchschneiden keine Straßen die Savanne, lediglich die Spuren weniger motorisierter Fahrzeuge, die – chronisch unterversorgt mit Benzin – Ranchs und Dörfer versorgen. Die zersiedelten Dörfer der Amerindians – allesamt wegen der saisonalen Überschwemmungen auf Anhöhen errichtet – haben klangvolle Namen, heißen Morurawanao (Hügel des Riesengürteltieres), Patarina (Hügel der Großen Farine-Pfanne) oder Shea (Geschwollener Rücken). Sämtliche Hütten bestehen aus verflochtenem, mit ockerfarbenem Lehm verkleidetem Astwerk oder Lehmziegeln und tragen steile Dächer aus Palmwedeln. Küche und Schlafgemach sind in separaten Hütten untergebracht. Wie Spinnweben führen schmale Trampelpfade von jeder Behausung sternförmig zu Wasserstelle, Plumpsklo, Gemüsegarten, Jagdgrund, dorfeigenem Fußball- und Cricketplatz.
Die 15.000 Rupununi-BewohnerInnen leben von Fischfang und Jagd, sammeln proteinreiche Insektenlarven aus faulenden Palmstämmen, bauen auf kleinen Waldlichtungen Maniok an, ernten Mangos, Cashews und Erdnüsse, halten Hühner und teilweise sogar Schweine und Rinder. Besonders zu schätzen wissen sie Farine (in der Pfanne geröstetes, stärkehaltiges Maniokmehl) und Tasso (pulverisiertes, sonnengetrocknetes Fleisch) – über Monate haltbarer Proviant, der – mit Zucker und Wasser gemixt – einen nahrhaften Brei ergibt. Auf ihren legendären Trinkorgien füllen die Amerindians sich mit Parakari – selbstgemachtem Maniokwein – ab.
Geld ist in der Rupununi fast so rar wie Hagel. Man kann es nur im Gebiet um Lethem verdienen, wo es ein Postbüro, eine Krankenstation, ein Schlachthaus, eine Sekundärschule und ein paar Läden gibt, als Goldgräber in den angrenzenden Bergregionen oder als vaqueiro einer der wenigen großen Rinderfarmen. Kein Wunder, dass es die meisten Jugendlichen nach Brasilien drängt: Dort gibt es modernes Leben, Elektrizität, Straßen, Diskos, in denen Forró gespielt wird, tolle Klamotten, käufliche Frauen, Drogen – doch wird Land nicht so einfach vergeben wie in Guyana, und so kehren viele geläutert zurück in ihr altes Heimatdorf.
Terry Melville geht nicht gern in Diskos. Überhaupt sind ihm Menschenansammlungen über fünf Personen zuwider. Nur einmal im Jahr, beim großen Oster-Rodeo von Lethem, mischt er sich unters Volk, um die ungezähmten Pferde von der Pirara-Ranch, die wilden Milchkühe von der Manari-Ranch und die vor Kraft strotzenden Stiere von der Dadanawa-Ranch zu sehen, Brahman-Mischlinge, Limousin, Short Horn, Charolais. Zu den wichtigsten von Preisrichtern überwachten Disziplinen des Rodeos gehören das Reiten auf Bullen und wilden Pferden, das Lasso-Werfen auf Stiere, das Fesseln von Pferden und Kälbern, das Melken wilder Kühe, das Fangen mit Fett eingeriebener Schweine.
„Lethems Rodeo ist nicht mehr, was es mal war“, seufzt Terry. In der Tat genießt es mittlerweile überregionale Bekanntheit und hat sogar Ölgesellschaften als Sponsoren, die ein Auge auf die unausgebeutete Region geworfen haben. Nicht nur die bannahs – die Kumpels – aus der Rupununi, sondern viele BrasilianerInnen und so genannte coastlanders, indisch- und afrikanischstämmige KüstenbewohnerInnen Guyanas, reisen eigens nach Lethem, um während der zwei, drei Tage des Rodeos bei bassschwerem Reggae zu feiern, zu saufen, Geschäfte zu schließen. Die plötzliche Anwesenheit so vieler Fremder verunsichert die zurückhaltenden Rupununi-BewohnerInnen, denen ihre Abgeschiedenheit vom Rest der Welt sehr am Herzen liegt. Während des Rodeos kommt es überall verstärkt zu cow rustling, einem von alters her praktizierten „Volkssport“: Rinder werden von den schlecht bewachten Naturweiden gestohlen und nach Brasilien geschmuggelt. Wer sich dabei erwischen lässt, braucht nicht mit Milde zu rechnen: Kuhdiebe kriegen eine Kugel durch die Brust.
„Früher“, erinnert sich Terry wehmütig, „versammelten sich alle vaqueiros der Rupununi zu den legendären Round-ups, mal in Imprenza, wo ich geboren wurde und aufwuchs, mal sonst wo auf einer Ranch, wann immer dort Rinder gezählt, gebrandmarkt, kastriert und Pferde zugeritten werden sollten. Das war stets ein Ereignis; alle bannahs halfen, dann wurde für sie eine Kuh geschlachtet, und es gab einen Festschmaus. Kaum ausgenüchtert ging es ab zur nächsten Ranch; die vaqueiros führten ein wildes, unbändiges, freies Leben.“
Die Rupununi – jahrtausendelang war sie nur von Amerindians bewohnt. Ab dem 16. Jahrhundert kursierte in Europa die Legende von El Dorado: Irgendwo im Innern Südamerikas liege ein riesiger See, der Parima oder Amuku, an dessen Ufern sich die goldene Stadt Manoa befinde. Ungezählte Expeditionen rüsteten sich daraufhin, dieses Goldland zu finden und auszubeuten – alle vergebens. Heute geht man davon aus, dass der geheimnisvolle See nichts anderes als die während der Regenzeit überschwemmte Rupununi gewesen sein könne. Und die goldene Stadt – ein Hirngespinst. Auch nach der Kolonisierung Guyanas durch Holländer und Briten blieb die Rupununi für Fremde beinahe unerreichbar: dichte Dschungel verwehrten potenziellen Eindringlingen aus der kultivierten Küstenregion den Durchgang. Und doch gelangten entflohene Sklaven, Gewaltverbrecher, Menschenjäger, Goldschürfer, Forschungsreisende und Missionare bis hierher. Aus Brasilien kamen regelmäßig Menschenhändler, raubten ganze Familien der Amerindians, um sie bei sich zu Hause zu verkaufen, und entvölkerten so ganze Landstriche.
Unter den ersten Weißen, die in der Rupununi siedelten, befand sich Terrys Großvater Harry Pradey Colan Melville, ein schottischer Abenteurer, der noch zu Lebzeiten zur Legende wurde und wie kein zweiter Mensch die Rupununi prägte. Alles begann damit, dass Wapishana-Amerindians ihn, einen todkranken jungen Mann, im Ufergebüsch eines Schwarzwasserbaches entdeckten. Er war dort von seinen Begleitern – Goldsuchern – zum Sterben zurückgelassen worden. Die Wapishana trugen ihn ins Dorf, pflegten ihn, integrierten ihn in ihre Gemeinschaft, gaben ihm sogar zwei Schwestern als Frauen, deren Namen er nicht auszusprechen lernte und die er darum Janet und Mary nannte. Die erste gebar vier, die zweite sechs Kinder, darunter Terrys Vater Charles. Nach missglückten Versuchen, über den reißenden Essequibo River Handelsbeziehungen mit Georgetown aufzubauen, ließ sich Melville erst in Wichabai, dann in Dadanawa nieder, begann ab 1892 mit der Rinderzucht – und gelangte als Fleischlieferant des im Kautschukrausch aufblühenden Manaus zu beträchtlichem Wohlstand. Reichtum bescherte ihm die Idee, in Guyanas Dschungeln Kautschuk zu gewinnen, sowie sein Einfluss auf die Amerindians und die britische Kolonialregierung, die ihn 1911 zum Commissioner und Magistrat der Rupununi ernannt hatte.
Mit seinem Schwiegersohn Ben L. Hart, einem geborenen US-Amerikaner, der die Pirara-Ranch bewirtschaftete, versuchte der alte Melville sein waghalsigstes Unternehmen: eine Bresche zu schlagen in die Urwaldmauer, die ihn von der dicht besiedelten Küste trennte, um auf diesem Weg Rinder in die Schlachthäuser der Kolonie zu treiben. Der oft überwachsene und unpassierbare so genannte Cattle Trail stellte über Jahrzehnte die einzige Überlandverbindung dar und wurde schließlich vom Dschungel zurückerobert.
Der alte Melville war Begründer einer Dynastie, eines Geschlechtes so zahlreich und lebenstüchtig, dass es keine Familie gab, die im Süden Guyanas mehr Macht besaß. Die etwa 5.000 Quadratkilometer große Dadanawa-Ranch übergab er nach dem ersten Weltkrieg den Kolonialbehörden. Sie existiert seitdem als Aktienunternehmen, anfangs noch mit bis zu 40.000 Rindern, heute mit höchstens 4.000. Melvilles Söhne und Töchter übernahmen fast sämtliche anderen Rupununi-Ranchs und sorgten für immensen Nachwuchs. Er selbst aber wurde im Alter von den Gespenstern seiner Vergangenheit eingeholt, brach mit allem, was ihn mit der Rupununi verband, reiste nach Schottland, heiratete eine Schottin und starb dort kurz darauf, im Jahre 1927.
Terrys Vater Charles Melville, der die Imprenza-Ranch führte, nahm sich zunächst Mamai Maria zur Frau, eine der letzten überlebenden Atorad-Amerindians, und zeugte mit ihr fünf Kinder. Dann heiratete er eine walisischstämmige Arawak, die ihm weitere Kinder schenkte – darunter: Terry, der seinen englischen Tee schlürft, der den Sternenhimmel jede Nacht nach Satelliten absucht, der es genießt, stundenlang den Blattschneiderameisen zuzuschauen, der Brahman-Rinder und Phoenix-101-Bullen liebt, der nichts, aber auch gar nichts hält von der „Giraffenbrut“ – das heißt den Kühen mit den langen Beinen: Die haben nämlich zu wenig Fleisch, und von der Unruhe, die die ungeliebten Coastlanders in die Rupununi tragen, seit der „Trail“ nach Georgetown eröffnet wurde: „Der hat die Rupununi auf ewig verdorben!“
Terrys Mutter Edwina verstand es, die Zukunft aus dem Teesatz zu lesen. Sie sagte voraus, ob ein Mann nicht vom Balata-Sammeln zurückkehren, das Vieh von Vampiren bedroht, der Regen ausbleiben, eine Frau Zwillinge gebären, deren zukünftiger Ehemann Trinker werden würde. Was sie nicht voraussagte, war die harte Zeit des Exils, die den Melvilles bevorstehen sollte.
Am 2. Januar 1969 – gerade haben Staatschef Forbes Burnham und seine afro-guyanisch dominierte sozialistische Partei dank dreister Manipulationen die politischen Wahlen im seit kurzen unabhängigen Guyana gewonnen – stürmen Gruppen schwer bewaffneter Männer in einer von Pirara ausgehenden Blitzattacke Lethems Polizeistation und die Außenposten Annai und Good Hope. Die Angreifer – später wird die Regierung sie „Terroristen“ nennen – sind sämtlich Mitglieder der Hart- und Melville-Familien beziehungsweise deren Angestellte. Sie haben Bazookas und Maschinengewehre bei sich, töten fünf der zwölf in Lethem anwesenden Polizisten, legen, noch bevor Nachricht nach Georgetown gegeben werden kann, die Funkstation lahm, jagen schließlich das Gebäude in die Luft. Der District Commissioner der Rupununi, seine Frau und andere Beamte werden ins Schlachthaus gesperrt. Vorsorglich blockieren die Rebellen sämtliche Landepisten der Umgebung – bis auf Manari. Dennoch gelingt es einem kleinen Flugzeug, nach Georgetown durchzubrechen und dort die Nachricht vom „Rupununi Uprising“ zu verbreiten. Sofort fliegt ein Armeesonderkommando, ausgerüstet mit Granaten und Flammenwerfern, in die Krisenregion, landet in Manari. Die Soldaten schlagen die Rebellen in die Flucht, verhaften achtundzwanzig von ihnen. Etwa siebzig Rebellen entkommen nach Brasilien und Venezuela, wo sie bereitwillig Asyl erhalten. Sieben Amerindians bleiben tot zurück. Tausende BewohnerInnen der Rupununi sind durch die Ereignisse so verstört, dass sie sich tagelang in den Kanuku-Bergen, den Pakaraimas oder in Brasilien versteckt halten.
Die genauen Hintergründe des Aufstandes sind bis heute nicht völlig geklärt. Sicher ist, dass die Harts und Melvilles ihren eigenen unabhängigen Staat ausrufen wollten. Den beteiligten Amerindians ging es um Landrechte. Sie befürchteten eine staatlich legalisierte Invasion ihrer Stammesgebiete durch die westindische Küstenbevölkerung. Kurz vor Weihnachten 1968 hatte es eine Lagebesprechung der Rancher gegeben. Über die Feiertage waren einige von ihnen in ihrer Privatmaschine von Pirara nach Venezuela geflogen, wo sie eine Woche im Gebrauch moderner Waffen ausgebildet wurden, bevor sie am Neujahrstag zurückkehrten – mit schwerem Gepäck. Unter den aktiv Beteiligten waren auch Söhne von Charles Melville und Mamai Maria.
Terry war damals 17 Jahre alt. Wie alle übrigen Familienmitglieder musste er seine Rupununi verlassen und ins brasilianische Exil gehen, und es sollten fünf Jahre verstreichen, bis er seine Heimat wieder sah. Viele Melvilles der älteren Generation sahen sie nie mehr. Die Glanzzeit der großen Rancher-Familien war vorüber.
Das Talglicht flackert. Terry schlürft seinen Tee, und in sein Schlürfen mischen sich die Schreie der Eulen und fernes Aufheulen eines Hundes. Terry ohne englischen Tee, das wäre fast so schlimm wie Terry ohne seine Rupununi.
„Vor einigen Jahren“, erzählt Terry, „ kamen ein paar Verwandte aus Georgetown auf Besuch, mit denen war ich bei Pirara fischen. Auf dem nächtlichen Weg zurück hatten wir mehrere Hügel zu überqueren, von denen man einen weiten Ausblick hat. Auf dem ersten Hügel sagten die bannahs zueinander: ‚Schau, die Lichter da hinten am Horizont – das ist Lethem!’ Ich daraufhin: ‚Entschuldigung, bannahs, das ist nicht Lethem, sondern Bonfim!’ Beim nächsten Hügel sahen sie wieder Lichter in der Ferne und riefen: ‚Schau, Lethem!’ Und ich: ‚Tut mir leid, bannahs, das ist nicht Lethem, sondern ein Savannenbrand!’ Sie sahen mich irritiert an. Ich: ‚Bannahs, seht ihr die dunkle Stelle zwischen dem Buschfeuer und Bonfim? Das ist Lethem!’“ So war es. In der ganzen Rupununi gab es bis 1999 keinen elektrischen Strom. Mit den Ranchern war auch die Chance auf Fortschritt jahrzehntelang verschwunden. Lethems benzinbetriebener Generator funktionierte nur wenige Stunden pro Tag. Erst der mit chinesischer Hilfe errichtete kleine Staudamm am Moco-Moco Creek erlaubte eine regelmäßige Energieversorgung Lethems und der umliegenden Siedlungen – doch schon seit Jahren sind die Generatoren mangels ausreichender Wartung nicht mehr in Betrieb.
Weitere Entwicklungsprojekte sind im Gange: Binnen kurzem soll eine Brücke über den Río Takutu, die Guyana und Brasilien miteinander verbindet, fertig gestellt werden. Dann wird Lethem endgültig aus seinem Dornröschenschlaf erwachen.
Sektenmissionare dringen inzwischen bis in entlegenste Teile der Savannen vor, WissenschaftlerInnen horchen im Auftrag der Pharmaindustrie die Amerindians aus. Wen wundert es da, dass manche Tuschaus (Häuptlinge) Fremde ohne Genehmigung nicht in ihren Dörfern dulden und sofort verjagen? Terry will umziehen, weg aus der Umgebung von Lethem, dem Fortschritt entgehen, ungestört sein in seiner Rupununi. Doch längst schon ist sie nicht mehr wirklich „seine“ Rupununi: Bereits 1998 erhielt Vannessa Ventures Ltd., ein kanadisches Bergbauunternehmen, vom guyanischen Staat Explorationsrechte für ein riesiges Gebiet, in dem Gold und Diamanten in großen Mengen vermutet werden. Teil dieses Gebietes ist die Rupununi. Die Suche nach El Dorado geht also weiter. Mittlerweile hat Vannessa Ventures mit der Ausbeutung der Bodenschätze begonnen.
Die Hunde heulen die ganze Nacht. Am nächsten Morgen perlt kühler Tau von den Gräsern der Savanne: Speichel der Sterne – so nennen ihn die Makushi in ihrer Sprache. „Sammle schon mal Feuerholz!“, ruft Terry seiner Frau Paulette* zu, um sich Mut zu machen, denn er möchte die Fischfalle kontrollieren, die er am Vorabend im Moco-Moco Creek gebaut hat. Er hofft auf einen reichen Fang: Ein Nachbar will gestern am Oberlauf des Baches Kutis und Yakatus gesehen haben. So eine Nachricht verbreitet sich schnell. Terry lacht Paulette an: „Hast du auch genug Salz für die Fische?“ Er spannt seine Brust und bahnt sich den Weg durch das Ufergebüsch am schwarzen Bach. Er weiß, seine Frau schaut ihm nach – stolz.
Doch die Fischfalle ist leer.

* Vornamen geändert

Viel Beton für Amazonien

Der Widerstand gegen das am Xingu Fluss geplante letzte große Staudammprojekt in Amazonien war 1990 aufgrund nationaler und internationaler Proteste noch erfolgreich. Damals gab Gordon Matthew Sumner alias Sting dem Protest noch seine Stimme. Jetzt jedoch dominieren die Stimmen der feiernden Staudammlobby. „Ich werde ’ne ganze Menge Champagnerflaschen köpfen, denn nun tritt Brasilien in eine neue Phase der wettbewerbsfähigen Energie ein”, jubelt Mauricio Tolmasquim, Chef der Energieplanungsbehörde EPE. Und Tolmasquim hat nicht Unrecht, wenn er feststellt: „Diese Versteigerung ist ein historisches Datum, weil sie ein Signal ist, dass Brasilien nicht die Tür für sein Wasserkraftpotenzial in Amazonien geschlossen hat.“
Soziale Bewegungen hatten es am Morgen des 10. Dezember noch geschafft durch Proteste und eine Gebäudebesetzung den Beginn der Versteigerung hinauszuzögern. Nach dem brutalen Einsatz und der Räumung durch eine Spezialeinheit der Polizei ging dann alles ganz schnell. Die Lizenz für Santo Antônio mit einer Leistung von 3.150 Megawatt (MW) ersteigerte das von dem staatlichen Energieversorger Furnas und der Baufirma Odebrecht angeführte Konsortium. Der angebotene günstigste Lieferpreis für die zu produzierende Energie garantierte den Erfolg. Damit sind zunächst alle Versuche das Staudammprojekt zu stoppen, gescheitert. Es gab zwar eine Reihe von regionalen Protesten und Aktionen – aber für eine große nationale oder gar internationale Kampagne hat es nicht gereicht. Zur sehr hat wohl das propagandistische Feuerwerk der Regierung gewirkt, dass der Bau neuer Großstaudämme unvermeidlich sei, um die Energiesicherheit des Landes zu garantieren. Das Comeback der Staudämme wird durch die Klimadebatte begünstigt, die Wasserkraft – ebenso wie Atomenergie – als saubere Energie einstuft, weil sie wenig Kohlendioxid freisetzt.
Die Kosten für den Staudammbau veranschlagt das ausführende Konsortium auf etwa sechs Milliarden US-Dollar. Im Mai 2008 soll der zweite Staudamm am Rio Madeira (Jirau), dem größten Zufluss des Amazonas, versteigert werden, mit einer etwas höheren Leistung von 3.300 MW. Damit kommt das Programm zur Beschleunigung des Wachstums (PAC) in Amazonien in Fahrt. Der Staudamm am Rio Madeira ist das bisher größte Einzelprojekt des PAC und repräsentiert perfekt die Philosophie des Programms: 49 Prozent beträgt die Beteiligung staatlicher Firmen (Furnas und Cemig) am Konsortium, der größte Teil der Finanzierung wird durch die staatliche Entwicklungsbank BNDES garantiert, den Rest besorgt die am Konsortium beteiligte spanische Banco Santander. Diese enge Verbindung zwischen Privat- und öffentlichem Sektor zugunsten einer offensiven Wachstumspolitik soll das Markenzeichen der zweiten Regierung Lula werden.
Zwar versuchen Betreiber und Regierung die Staudämme am Rio Madeira als eine neue Generation mit geringeren Umweltschäden zu verkaufen, aber die Probleme sind doch die altbekannten: Umsiedlung von Menschen, Überschwemmung von Regenwald, Einfluss auf Gebiete indigener Bevölkerung, schwerwiegende Schädigung des Flussökosystems und ein unkontrollierbarer Siedlungs- und Wachstumsschub für die Region. Erste Zahlen für die Saison 2007/08 zeigen bereits jetzt ein exorbitantes Ansteigen der Entwaldungsraten im Bundesstaat Rondonia. Die landwirtschaftliche „Entwicklung“ der Region zählt zu den ausdrücklichen Zielen des Staudammprojekts. Alle bisherigen Erfahrungen lehren, dass dies vor allem die Ausweitung des Anbaus von Monokulturen wie Soja sowie der Viehzucht bedeutet.
Diese Konsequenzen sind von UmweltschützerInnen und sozialen Bewegungen dargestellt worden. Der Erfolg blieb bescheiden. Zu stark ist ein großer „Wachstumsblock“, der fast schon wie eine Einheitsfront für Wachstum fungiert und aus einem Bündnis von UnternehmerInnen, Regierung, Mehrheit der Gewerkschaften und vielen linken Kräften besteht, die in der wachstumsorientierten Regierungspolitik die Überwindung des „neoliberalen Modells“ sehen.
Dennoch geben sich die KritikerInnen noch nicht ganz geschlagen. Die Versteigerung erfolgte (wie üblich) auf der Basis einer „vorläufigen Umweltlizenz“. Damit können noch neue Aspekte in das Genehmigungsverfahren eingebracht werden, und es besteht auch weiterhin die Möglichkeit, juristisch gegen das Projekt vorzugehen. Aber angesichts der Macht des Faktischen werden diese Handlungsspielräume wohl allenfalls das Vorhaben verzögern. Es besteht auch noch die Hoffnung, dass Bolivien auf die brasilianische Regierung Druck ausüben könnte, denn die Auswirkungen auf das Nachbarland sind im bisherigen Genehmigungsverfahren systematisch unterschlagen worden. Proteste der Regierung und der sozialen Bewegungen Boliviens waren die Folge, die bisher allerdings von brasilianischer Seite ignoriert wurden.
Die brasilianische Regierung hat wiederum Recht, wenn sie die erfolgreiche Versteigerung als Epochenwende für Amazonien bezeichnet. Denn Santo Antônio ist nur der Anfang. Jetzt werden mit neuem Schwung auch andere Staudammprojekte angegangen, allen voran Belo Monte am Xingu Fluss, das mit einer Leistung von 11.000 MW das mit Abstand größte der geplanten Wasserkraftwerke ist. Belo Monte soll 2010 versteigert werden ebenso wie Marabá (Rio Tocantins, 2.160 MW) und São Luis (Rio Tapajós, 9.000 MW). In den nächsten drei Jahren werden zudem weitere Projekte für Amazonien vorbereitet, die 43.360 MW produzieren sollen, was der Leistung von etwa 56 Atomkraftwerken vom Typus des zusätzlich geplanten Meilers Angra 3 entspricht. Dieser schier unvorstellbare Gigantismus hat durch die Versteigerung von Santo Antônio die Dimension einer realen Drohung erhalten.
Die Regierung Lula zeigt aber nicht nur in der Staudammfrage einen fatalen Hang zu „big is beautiful“. Die Ausweitung der Monokulturen für Agrar­treibstoffe, grünes Licht für das Atomkraftwerk Angra 3, der Beginn der Arbeiten zur Umleitung des Rio São Francisco – alles folgt derselben Logik einer bedingungslosen Wachstumspolitik, die auf Großprojekte setzt und lokale Ansätze genauso ignoriert wie Umweltaspekte. Ironischerweise nutzt aber die Regierung die globale Klimafrage als Rechtfertigung für diese Ansätze. Das Beispiel Brasilien zeigt, dass die Reduzierung der globalen Umweltkrise auf die Minderung von CO2-Emissionen fatale Konsequenzen haben kann.

Mehr Informationen unter www.irn.org

Wasser für Guadalajara – Zu welchem Preis?

Am Morgen des 20. Juni stürmen Angestellte der Regierung Jaliscos das Grundstück von Guadalupe Lara. Es ist das einzig verbliebene Haus eines ehemaligen Dorfes inmitten eines sattgrünen Flusstals am Rande der Metropole Guadalajaras. Als letzte Bewohnerin im unter Naturschutz stehenden Oblatos-Huentitlán-Canyon wurde Guadalupe Lara – kurz Lupita – zum Symbol des lokalen Widerstandes gegen ein gigantisches Staudammprojekt der Regierung. Jahrelang verteidigte sie das Recht auf Gesundheit und sauberes Trinkwasser für die mehr als vier Millionen EinwohnerInnen Guadalajaras. Jene illegale Enteignung von Lupitas Grundstück, das eigentlich unter dem Schutz zweier Dekrete des Bundesgerichtshofs steht, soll den Weg frei machen für den Bau des Arcediano-Staudamms.
Das seit 2003 geplante und höchst umstrittene Megaprojekt soll allen Kritiken und fehlenden Studien zum Trotz die Versorgung der BewohnerInnen Guadalajaras mit Trinkwasser für die nächsten 30 Jahre sichern. Der 125 Meter hohe Damm wird das Wasser des Santiago stauen, um mit einem hohen Energieaufwand 10,4 Kubikmeter Wasser pro Sekunde aus dem Tal des Canyon in die 580 Meter höher gelegene Kläranlage und von dort in das Versorgungsnetz der Stadt zu pumpen.
Dabei ist das Vorhaben, das bereits die früheren BewohnerInnen des Tals zur Umsiedlung zwang, nicht nur von ökologischer Seite höchst umstritten. Hauptsorge sind die gesundheitlichen Risiken, die auf die VerbraucherInnen des hochgradig verschmutzten Flusswassers zukommen könnten. Der Santiago passiert auf den circa 50 Kilometern von seinem Ursprung im Chapalasee bis zur Stadt zahlreiche Industriegebiete und Siedlungen an der Peripherie, deren Abwässer ungeklärt in den Fluss geleitet werden. Bisherige Wasseranalysen, wie beispielsweise von der Environmental Law Alliance (ELAW), bestätigen die Verschmutzung mit hochgiftigen Substanzen und Schwermetallen wie Chrom, Kobalt, Quecksilber, Blei und Arsen, die unter anderem zu Störungen des Nerven- und Reproduktionssystems und Krebs führen können. Ein Film der in Guadalajara ansässigen Nichtregierungsorganisation Instituto Mexicano para el Desarrollo Comunitario (IMDEC) dokumentiert die Auswirkungen in Juanacatlán, einem unmittelbar an den Fluss grenzenden Dorf. Dort liegt die Zahl der an Leukämie erkrankten BewohnerInnen und mit Missbildungen geborenen Säuglingen erschreckend höher als der nationale Durchschnitt.
Noch fehlen technische Studien und Pläne darüber, wie und zu welchem Preis die Qualität des Trinkwassers zur Versorgung der Bevölkerung gesichert und die Ausfilterung sämtlicher Giftstoffe und Schwermetalle durch das Klärwerk über der Schlucht realisiert werden könnte. Öffentlichen Schätzungen zufolge würde das Projekt aber mindestens 300 Mio. US-Dollar kosten.
Ebenso wenig löst das Arcediano-Projekt die Übernutzung des Chapalasees im Süden des Bundesstaates, derweil noch Mexikos größtes Süßwasserreservoir und drittgrößter See Lateinamerikas. Der Chapalasee bildet gemäß Angaben des lokalen Wasserversorgers SIAPA mit einem Anteil von 60 Prozent die Hauptquelle für die Trinkwasserversorgung der tapatíos/as, wie die BewohnerInnen Guadalajaras auch genannt werden. Der stetig sinkende Wasserpegel ist Ursache zahlreicher politischer Konflikte zwischen den insgesamt fünf an den See und das Flusstal Lerma-Chapala angrenzenden Bundesstaaten. Die Vielzahl der Nutzer und die nötige Menge zur Versorgung Guadalajaras sei, laut Salvador Peniche von der Universität Guadalajaras, angesichts der Größe des Sees nicht Ursache des Problems. Allein durch leckende Rohre einer veralteten Infrastruktur gehen schätzungsweise 40 Prozent des Wassers auf dem Weg in die Stadt verloren. Solange diese nicht saniert sind, kann es keine nachhaltige Trinkwasserversorgung geben. Neben der infrastrukturellen Sanierung fordern ExpertInnen wie Arturo Gleason ebenso die Nutzung des Regenwassers. Zwar ist die Regenzeit auf drei Monate im Jahr beschränkt, in dieser kurzen Zeit fällt jedoch eine Wassermenge, die jedes Jahr zahlreiche Überschwemmungen im urbanen Raum verursacht. Das Regenwasser in Guadalajara wird nicht für die weitere Nutzung aufgefangen sondern mit den von der Stadt produzierten Abwässern vermischt.
Auch der Bau des Arcediano-Staudammes wird weder die nachhaltige Trinkwasserversorgung der Stadt sichern, noch das derzeitige Missmanagement im Wassersektor lösen können. Es gibt bereits Kampagnen, die zum Wassersparen aufrufen. Fakt ist jedoch, dass der durchschnittliche Wasserverbrauch in Stadtteilen mit hohem Einkommen bei 250 Liter pro Tag und EinwohnerIn liegt, während in der kontinuierlich wachsenden Peripherie Guadalajaras die Versorgung mit privaten, teilweise auch kommunalen Tanklastern nur unzureichend gewährleistet wird. Die BewohnerInnen dort zahlen einen sehr viel höheren Preis für eine ungleich geringere Menge und fragwürdige Qualität als im Zentrum der Metropole.

Trinkwasser ist knapp – davon betroffen ist nicht nur Guadalajara im Zentrum Mexikos, sondern viele andere Städte in wasserarmen Regionen einkommensschwacher Bundesstaaten, vor allem des Südens. Doch liegt die Ursache dafür nur bedingt an mangelnden Ressourcen, als vielmehr an einem ineffizienten bis korrupten Wassermanagement, wie das Beispiel Guadalajaras zeigt. Die UN-Millenniumsentwicklungsziele sehen die Halbierung der Zahl der Menschen ohne Wasserversorgung und Abwasserentsorgung bis 2015 vor. Ein Ziel, das nur gemeinsam mit AkteurInnen aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft erreicht werden kann. Einige Schritte in diese Richtung sind bereits getan. So wurde das Projekt 2006 als Fall des lateinamerikanischen Wassertribunals, einer Parallelveranstaltung zum vierten Weltwasserforum in Mexiko-Stadt, aufgenommen. Dort wurden auch Forderungen nach einem sofortigen Planungsstopp laut, solange keine Studie zu gesundheitlichen Risiken vorliege. Der Baubeginn wurde mittlerweile auf Anfang 2008 verschoben. Aktuell schaltete sich das Tribunal im Juli als Vermittlungsinstanz der Gespräche zwischen Nichtregierungsorganisationen und der lokalen Regierung ein. Ende August schließlich hat sich die Wasserkommission hinsichtlich einiger Forderungen von Seiten der Panamerikanischen Gesundheitsbehörde – darunter eine Studie über kontaminierende Substanzen im Santiagofluss und deren Kontrolle sowie eine entsprechend technische Planung des Klärwerks – kooperationsbereit gezeigt. Mit der illegalen Enteignung von Lupitas Grundstück im für den Staudamm vorgesehenen Baugebiet scheint das von lokaler Regierung und CEA favorisierte Megaprojekt noch nicht die letzte Hürde genommen.

Wer gegen den Arcediano-Damm aktiv werden möchte, schreibt auf englisch oder spanisch an agua@imdec.org

Wasser statt Gold

Die Trauben sind süß und aromatisch, aber ein bisschen staubig. German Jofré, 78, spült sie in dem kleinen Bewässerungskanal ab, der über sein Grundstück fließt. Das Wasser kommt aus den Gletschern in den nordchilenischen Anden und fließt durch eine der schmalsten Stellen des Landes nach etwa 100 Kilometern ins Meer. Dabei durchquert es die Atacamawüste und macht aus dem Huascotal, in dem German Jofré in dem kleinen Ort Alto del Carmen Obst und Gemüse anbaut, eine Oase. Doch Jofré macht sich Sorgen, dass auf seinem Grundstück bald keine Trauben mehr wachsen und das Wasser vergiftet sein wird. Denn oberhalb des Tals, in dem Jofré lebt, will das transnationale kanadische Bergbauunternehmen Barrick ab 2010 im großen Stil Gold abbauen (siehe LN 390).
„Keine Sorge“, sagt trotz alledem die Direktorin der Umweltbehörde CONAMA, Ana Lya Uriarte. „Barrick ist gesetzlich verpflichtet, kein Wasser zu verschmutzen. Und die CONAMA wird dafür sorgen, dass die Auflagen eingehalten werden.“
Keine Sorge, sagen auch Vertreter von Barrick und der Bergbaulobby. Weil die chilenische Umweltbehörde ihr Okay gegeben hat, könne man sich darauf verlassen, dass strengste Sicherheitsvorkehrungen eingehalten werden. Barrick werde sich an diese Auflagen halten, versichert Unternehmenssprecher Vincent Borg. Es sei auch nicht zu befürchten, dass das Flusswasser verseucht werde, da man jeden Tropfen in einem geschlossenen System wiederverwenden wolle.
Das hält Cristian Andrade, Biologe mit Spezialgebiet Wasser, allerdings für Unsinn. Er hat schon zahlreiche Bergbauunternehmen in Umweltfragen beraten. „Es ist unmöglich, das Wasser im Pascua Lama-Projekt zu recyceln“, meint er. Denn Pascua Lama liege auf 5.000 Meter Höhe und die Flüsse stürzten in nur 100 Kilometern bis auf Meereshöhe. Eine Kraft, die nicht zu kontrollieren sei. „Da müsste man schon die ganzen Anden mit Plastik auskleiden“, so Andrade. Seiner Ansicht nach hat die Umweltbehörde weder die Kapazitäten noch den politischen Willen, die Umweltschäden zu beurteilen.

Verteidigung des Tals

Auch viele BewohnerInnen des Huascotals wollen sich nicht auf den Schutz des Staates verlassen. Unterstützung bekommen sie von UmweltaktivistInnen aus der Hauptstadt Santiago de Chile. Drei Stunden flussaufwärts von German Jofrés kleinem Bewässerungskanal haben sie sich für ein Wochenende in dem Dörfchen Conay getroffen, um Aktionen gegen den Goldtagebau zu planen. Neben ihrem Zeltlager plätschert der Fluss, am Ufer wächst Schilf. Etwa zehn Meter dahinter erheben sich die steinigen Berge. Um zu baden, bauen die AktivistInnen einen kleinen Staudamm. Eine von ihnen ist die 25-jährige Carolina Sandóval. Sie studiert in der Hauptstadt und arbeitet in einer Initiative, die Mikroökonomie im Tal stärken will: Ökotourismus, Tauschhandel, Export von biologisch angebauten Früchten. „Wir wollen den Menschen im Tal Mut machen“, sagt sie. Denn viele BewohnerInnen wüssten noch gar nicht, was die Mine für Konsequenzen haben kann. Oder sie seien Opfer der Propaganda von der Firma Barrick, die Arbeit und Wohlstand verspricht.
Das Umweltcamp in Conay endete mit 48 Festnahmen. Die AktivistInnen hatten eine Straße blockiert. Die Polizei löste das Lager gewaltsam auf und nahm die AnführerInnen der Protestierenden fest. Von drei Uhr nachmittags bis ein Uhr nachts saßen sie im Gefängnis, dann ließ man sie frei.

Wasser von „woanders“

Von einem „Haufen Vorteile gegenüber einigen kleinen Nachteilen“ spricht Javier Cox von der Bergbauvereinigung Chiles, die 17 Bergbaufirmen repräsentiert. Auch er ist aus Santiago. In dem gediegenen Bezirk Las Condes sitzt er im siebten Stock eines silbernen Hochhauses in einem mit schwarzen Ledersofas eingerichteten Konferenzraum und lässt Tee servieren. Die Mehrheit sei für das Bergbauprojekt, davon ist Cox überzeugt. Nur habe das Thema der Gletscher die Aufmerksamkeit von Medien und Öffentlichkeit auf die Minderheit gelenkt, die dagegen ist. Die Gründe dieser Minderheit kann er sich schon denken: Sorge um die Wasserversorgung. „Dabei wird die Mine sogar Wasser produzieren!“, meint er. Denn Barrick habe versprochen, in die Bewässerungssysteme der landwirtschaftlichen Betriebe zu investieren, um sie effizienter zu machen. So werde jeglicher Schaden kompensiert, so Cox. Und falls doch Wasser vergiftet werde, dann nehme man es eben „anderswoher“. Wo dieses anderswoher in einer Wüstenlandschaft, deren einzige Wasserquelle eben jene Flüsse sind, die Barrick bedroht, und in der es seit vier Jahren nicht geregnet hat, liegen soll, kann er auch nicht sagen. Statt dessen betont er, dass die Mine das Tal schließlich in jeder Hinsicht entwickeln und so Arbeitsplätze in Tourismus und Landwirtschaft schaffen werde.
Diese Entwicklung und die Jobs, die das Projekt mit sich bringt, seien unbedingt notwendig, meint auch Juan Santana. Er ist Bürgermeister von Vallenar, etwa eine Stunde flussabwärts von Jofrés Feld. In Vallenar ist der Fluss ein schmales Rinnsal in einem breiten Bett, über das die Autobahnbrücke führt. Die Stadt ist bedeckt vom Staub der sie umgebenden Berge.
Barrick habe sich verpflichtet, durch eine Stiftung soziale Projekte zu finanzieren. Was das Wasser angeht, seien ihm die Hände gebunden, so Santana, denn in Chile sei das Wasser privatisiert. Dabei erwähnt er jedoch nicht, dass die Kommunen gesetzlich dazu verpflichtet – und damit auch befähigt – sind, wirtschaftliche Aktivitäten auf Umweltverträglichkeit hin zu überprüfen. Das ist im Kommunalgesetz festgelegt und bildet auch die Grundlage für die Umweltstandards, die Chile und Kanada in ihrem Freihandelsvertrag festgelegt haben.
Santana sieht vor allem Sachzwänge: „Die Arbeitslosigkeit ist hier mit 18 Prozent viel höher als im Landesdurchschnitt.“, erklärt er, „deswegen sind wir für jede Investition dankbar.“ Die Landwirtschaft im Huascotal bringe zwar Arbeit, jedoch sei sie schlecht bezahlt und unattraktiv. In der Region arbeitet schon jetzt 60 Prozent der Bevölkerung im Bergbau. Mit gutem Grund, findet Santana: „Die Jugendlichen ziehen es vor, für eine Mine zu arbeiten“, ist er sich sicher, „sie wollen ein Auto haben und vielleicht ein Haus am Meer.“
Ein Auto und ein Haus am Meer sind allerdings für Elba Contreras, 16, völlig unattraktiv. Die Schülerin arbeitet in Alto del Carmen in einem der zwei Restaurants, die der Ort zu bieten hat. Sie kennt sich gut aus mit Gletschern und Flüssen. In der Schule habe sie gelernt, woher das Wasser in ihrem Tal kommt. Und Barrick habe sie und ihre MitschülerInnen eingeladen, den Gletscher und den Ort zu besichtigen, wo das Gold abgebaut werden soll. Sie sollten ihren Eltern die Vorteile der Mine erklären. „Außerdem versprachen sie jeder Familie ein Haus außerhalb des Tals, falls das Wasser verseucht würde“, erzählt sie. Doch in ihrer Klasse seien alle gegen das Pascua Lama-Projekt. „Wir Jugendlichen müssen um unsere Zukunft kämpfen“, ist sie überzeugt. „Vielleicht wird das Projekt für ein paar Jahre Arbeitsplätze schaffen, aber die Verschmutzung ist für immer.“

Besessen vom Wachstumsfetisch

In einer Resulution des Vorstands der regierenden Arbeiterpartei PT nach den Wahlen heißt es: „Wir haben eine linken Wahlkamf gemacht, in Einklang mit unseren Mitgliedern und unser kämpferischen Tradition.“ Maria do Rosario vom linken PT Flügel ist ebenfalls begeistert: „Mit dieser PT, die mit den sozialen Bewegungen verbündet ist, hat Lula die Wahlen gewonnen. Die negativen Handlungen einiger PTistas hatte fast zu seiner Niederlage geführt. Die Parteibasis war stärker, und sie muss nun der PT einen neuen Weg weisen.“
Die sozialen Bewegungen selbst sind nicht ganz so euphorisch, freuen sich aber über den Sieg über die Rechten: „Lula wird nicht unsere Probleme lösen, aber wir besiegen die Rechte. Lula zu wählen bereitet das Vergnügen, den Rechten eine Niederlage zuzufügen, die Bourgeoisie am Boden zu sehen, das hat schon den symbolischen Wert eines Sieges“, versichert João Paulo Rodriguez vom MST.

Mehr vom Alten

Aber nun ist die Begeisterung oder wenigstens Erleichterung der Tage unmittelbar nach den Wahlen verflogen, und schon zeichnet sich ein anderes Bild ab, als es die Linken wünschen können. Lula sieht sich und seinen Kurs bestätigt, es waren nur einige unglücklichen Handlungen von irregeleiteten Genossen, die ihm Schwierigkeiten bereitet haben, meint er. In der Bilanz der Regierung hat sich die Wirtschaftspolitik genauso bewährt wie die Sozialpolitik. Damit wird eher die Perspektive „mehr vom Selben“ als ein Kurswechsel wahrscheinlich. Nur in einem Punkt signalisieren die Erklärungen Lulas und des „harten Kerns“ der Regierungs – PT eine reale Änderung. Die Kritik, dass die Wachstumsraten Brasiliens im internationalen Vergleich lächerlich seien – 2005 wuchs nur Haiti in Lateinamerika weniger als Brasilien! – war eines der wenigen Felder, in der die Opposition punkten konnte. Hier verspricht nun die Regierung tatsächlich einen Kurswechsel.

Wachstum statt Umwelt

Tatsächlich geistert der Wachstumsfetisch durch alle politischen Diskurse. Während die erste Amtzeit Lulas eher durch Stabilitätspolitik plus Sozialprogramme geprägt war, soll nun endlich das „Wachstumsspektakel“, das Lula bereits 2004 versprochen hatte, Wirklichkeit werden. Die Regierung versichert zwar, dass eine wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik keineswegs zu Lasten der Stabilitätspolitik gehen soll, aber was das genau heißt, ist unklar. Zweifelsohne hat die Regierung einen gewissen Spielraum, die Hochzinspolitik zu lockern. Den wird sie wohl auch nutzen, aber ob dies reicht, um einen neuen Wachstumsschub zu provozieren, ist fraglich. Denn neben der Hochzinspolitik ist die geringe Anteil der staatlichen Investitionen ein weiteres Entwicklungshemmnis. Der Bundeshaushalt lässt aber wenig Spielraum zu, da fast alle Einnahmen durch Schuldendienst, Erhaltung des Staatsapparates und gesetzlich vorgeschrieben Ausgaben kompromittiert sind. Da die Steuerlast im letzten Jahrzehnt kontinuierlich gestiegen ist, sind weitere Steuererhöhungen politisch nicht durchsetzbar. Die Regierung müsste also irgendwo massiv einsparen, um die staatlichen Investitionen deutlich zu erhöhen. Aber auch dies ist politisch kaum möglich. So spricht alles für die Fortsetzung einer gradualistischen Politik, die die Zinsen vorsichtig senkt und die staatlichen Investitionen leicht anhebt – kaum ein Szenarium für ein Wachstumsspektakel, aber auch nicht für Katastrophen.
Präsidentalamtsministerin Dilma Rouseff hat in der Woche vor den Wahlen angekündigt, die brasilianische Regierung werde unmittelbar nach den Wahlen die Entscheidung treffen,das umstrittene Atomkraftwerk Angra 3 fertig zustellen und sechs (!) weitere kleinere Atomkraftwerke in Auftrag zu geben. Dies sei, so Dilma, ein Zeichen, für die „Wachstumsbesessenheit“ der neuen Regierung. Für ökologische Komponenten der Politik ist jedenfalls nichts Gutes zu erwarten. Die Regierung steht unter Druck, Großprojekte, die bisher in der Planungsphase stecken geblieben sind, nun ernsthaft anzugehen. Dazu gehören in erster Linie der Staudamm am Rio Madeira im Amazonasgebiet und die Umleitung des Rio São Francisco, zwei Mammutprojekte, die von brasilianischen und internationalen Umweltschützern massiv kritisiert werden. Auch wenn viele angekündigte Investitionsvorhaben, die Umweltschützer in den letzten Jahren in Alarmbereitschaft gesetzt haben, wegen Geldmangel nicht umgesetzt wurden lässt die Wachstumsbesessenheit der Lula Regierung für die Umwelt nichts Gutes erwarten.

Schreiben von den ZapatistInnen

Wären wir Politiker, dann würden wir in Hubschraubern herumfliegen und hätten eine gute Presse“, sagte Subcommandante Marcos im Januar in Yucatan. Da hatte er seine Rundreise durch Mexiko im Rahmen der „Anderen Kampagne“ gerade begonnen. Wie der junge Che Guevara hatte er sich auf einem Motorrad am 1. Januar 2006 aus der Autonomen Gemeinde La Garrucha in Chiapas aufgemacht. Bis Juni wird er noch unterwegs sein und in allen Bundesstaaten anhören, was für Probleme die Bevölkerung mit Korruption, Armut und Menschenrechtsverletzungen hat. 20 mexikanische Bundesstaaten hat er auf seiner dreieinhalb Monate andauernden Reise nun schon besucht. Mit Hunderten VertreterInnen von indigenen Organisationen, Bauernverbänden, mit SchülerInnen, StudentInnen und Frauenaktivistinnen hat er gesprochen.

Hofberichterstattung

Die mexikanische Presse verfolgt Marcos Reise durchaus. Immer dabei ist die linke Tageszeitung Jornada, die dazu jeden Tag eine Seite veröffentlicht. Detailliert beschreibt Reporter Hermann Bellinghausen, der schon seit Jahren über den Kampf der ZapatistInnen schreibt, jeden Schritt des Abgesandten, dokumentiert lange Passagen seiner Reden, erwähnt auch, wie viele Kilometer er an einem Tag gereist ist.
Bellinghausen beschränkt seine Berichterstattung auf die Perspektive der ZapatistInnen. „Nur ein Krieg im Südosten Mexikos kann den Staudamm La Parola durchsetzen“, zitierte er Marcos am 17. April. AktivistInnen aus Guerrero berichteten dem Sub von ihrem schwierigen Kampf gegen den ökonomisch wie ökologisch sinnlosen Staudamm, und vom Druck der Regierung, die damit droht, die Armee zu schicken. Am nächsten Tag reagierte Xochil Galvez, Direktorin des Instituts für indigene Angelegenheiten, auf Marcos’ Engagement gegen den Staudamm: Die Mehrheit der BewohnerInnen Guerreros seien für die Umsetzung des Projektes. Diese BefürworterInnen tauchen in Bellinghausens Artikel nicht auf. Zurecht, würde Marcos wohl sagen, denn seiner Ansicht nach spielen die Medien die Probleme um den Staudammbau normalerweise herunter.
Bellinghausens Artikel lesen sich wie zapatistische Hofberichterstattung. Doch sie wirken als Verstärker des wichtigsten Anliegens der „Anderen Kampagne“: Denen, die keiner hört, eine Stimme zu geben. Zugleich findet in der Jornada die lebendigste Debatte um die „Andere Kampagne“ statt. Dabei geht es weniger um ein für und wieder, ein ja oder nein zur Reise der ZapatistInnen, sondern eher um ein: „Ja, das ist nötig” und „Ja, aber.”
Die „Ja, aber”-VertreterInnen beziehen ihre Kritik meist auf den Umgang der Zapatistischen Armee zur Befreiung Mexikos (EZLN) mit der politisch organisierten Linken, also der PRD (Partei der Demokratischen Revolution) und deren Kandidat Andres Manuel Lopez Obrador (AMLO).
Nach dem Prinzip „Die Feinde meiner Feinde sind meine Freunde” entwickelte der argentinisch-mexikanische Philosoph Enrique Dussel, alter Verbündeter der ZapatistInnen, Anfang Januar die Theorie, dass eine Spaltung der Linken in „Andere Kampagne“ auf der einen und „Lopez Obradors Kampagne“ auf der anderen nur der Regierungspartei PAN zu Gute käme. Die beiden linken Bewegungen sollten jedoch zusammenarbeiten, so Dussel: Auf kurze Sicht muss AMLO die Wahlen gewinnen, auf lange Sicht können dann, mit dem PRD-Mann als Präsident, die ZapatistInnen ein besseres Mexiko schaffen. Diese Meinung vertritt auch der Philosoph Luis Villoro, der seinen Artikel Anfang April in der Jornada und auch im konservativen Diario de Yucatan veröffentlichte. In dem Regionalblatt erscheinen neben Debattenbeiträgen regelmäßig Fotokästen, die über Marcos Route und seine Treffen informieren.

Ja, aber

Für Villoro ist eine direkte Demokratie mit rotierenden Ämtern und Volksversammlungen, die auf Konsens basieren, ein Weg, aus Mexiko ein lebenswerteres Land zu machen. Doch wie kommt man dorthin? Laut dem Autor nur über den Weg der repräsentativen Demokratie, sprich, indem AMLO gewählt wird, um dann den ZapatistInnen einen Rahmen zu geben, in dem sie ihre Forderungen durchsetzen können. Die EZLN, so Villoro, rufe jedoch dazu auf, die Wahlen zu verweigern, was nur kontraproduktiv sei.
Marcos betonte dagegen immer wieder, dass die „Andere Kampagne“ mit den Wahlen schlicht nichts zu tun habe, dass jeder wählen könne, was er wolle und alle, die sich der anderen Kampagne angeschlossen haben, würden sowieso so weitermachen, wie bisher.
Diese Haltung findet der Historiker Leonardo Curzio „autistisch.” Ende Februar veröffentlichte er in der großen Tageszeitung Universal einen pessimistischen Kommentar. Keiner der drei Präsidentschaftskandidaten habe den MexikanerInnen Visionen oder Ideen zu bieten. Und die „Andere Kampagne“ sei autistisch, denn „letztlich ist Marcos’ Diskurs reine Bestandsaufnahme und politisch steril, weil er die Willensbildung der PAN und der PRI nicht beeinflusst, und noch viel weniger die der PRD.“ Das klingt nach: „Ja, aber“ – bitte gründet eine neue Partei.

Die Welle bricht

Auf der anderen Seite setzen AutorInnen Hoffnungen in die „Andere Kampagne“, sehen sie als etwas Unvermeidliches. „Die Welle bricht“ betitelte Luis Hernández de Navarro seinen Artikel Mitte Februar in der Jornada. Die Welle ist die „Andere Kampagne“, die immer mehr AnhängerInnen findet und sich Gehör verschafft. Hernández belegt das Interesse an der Reise der ZapatistInnen mit einem Blick auf die Homepage der Jornada:
Der Link zur Aktion der EZLN erhält mehr als doppelt so viele Anfragen wie der zu den offiziellen Präsidentschaftskandidaten. Das Wichtige an der Kampagne der ZapatistInnen und der zahllosen MitstreiterInnen ist für ihn, dass sie denen „von unten“ eine Stimme gibt, sie zu Subjekten macht: „Die Wahlkampagnen fragen sich: Was machen wir mit den Armen? Die „Andere Kampagne“ fragt sich: „Was machen wir mit den Reichen?“

Nixda PRD!

Die „Andere Kampagne“ kann nicht mit der PRD zusammenarbeiten, weil es keine Gemeinsamkeiten gibt, findet Gilberto Lopez y Rivas. Er antwortete damit eine Woche später in der Jornada auf Enrique Dussels „Ja, aber nur mit der PRD.“ In den vergangenen Jahren haben sich PRD und ZapatistInnen immer weiter distanziert, so López. Der völlige Bruch ging mit dem Scheitern des Autonomieabkommens von San Andres 2001 einher. PRD-Angeordnete stimmten damals für eine verwässerte Umsetzung, die den indigenen Gemeinden nicht den Status eines Subjekts öffentlichen Rechts einräumt.
Außerdem, so López weiter, sei die PRD in den letzten Jahren einem „ethischen Verfall“ anheim gefallen, während sich die ZapatistInnen treu blieben und in den autonomen Gemeinden mit ihren „guten Regierungsversammlungen“ ihre Visionen in die Realität umsetzten.
Noch bis Ende Juni wird Marcos – ohne Hubschrauber, mittlerweile aber mit Auto – durch Mexiko reisen und seinen GastgeberInnen zuhören. Was sie ihm erzählen, wird zumindest in der Jornada immer zu lesen sein.

“Es gibt noch Leute, die kämpfen”

1999 sprach man in Chile im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen mit den Mapuche im Süden bei dem Ralco Staudammprojekt (s. LN 342) von „unserem kleinen Chiapas“. Inwieweit kann man diesen Vergleich heute noch anstellen?

Sofía: Damals hat man nichts erreicht. Jetzt ist der Staudamm da und einmal gebaut kann man nichts mehr dagegen machen. Es war eine Demonstration des Widerstands, aber letztendlich haben zwei der fünf Mapuchefrauen, denen das Land gehörte, verkauft und die Front bröckelte.
Ivan: Heute hat jeder Einzelne seinen Besitz oder die Familie ist als Landbesitzer eingetragen. Aber es gibt keinen gemeinschaftlichen Boden mehr.
Raúl: Um es im größeren Zusammenhang zu sehen: Die neue indigene Bewegung begann sich 1997/98 herauszubilden. Es fing im Süden Chiles an, wo man versuchte, Land zurück zu gewinnen. Aufgrund des Vorgehens der Forstfirmen hatten sich die dortigen sozioökonomischen Bedingungen verschlechtert. Und wegen des Aufstandes war die Regierung gezwungen, ihre Politik gegenüber den Indigenen zu überprüfen. Daraufhin wurden verschiedene Kommissionen gegründet, von denen die letzte und wichtigste die „Kommission für Wahrheit und neuen Umgang“ von Präsident Lagos ist.

Gab es eine Fortsetzung des Widerstandes?
Sofía: Es gibt noch Leute, die kämpfen: um die Wälder und gegen Kiefern- und Eukalyptusmonokukturen. Diese schaden dem ökologischen Gleichgewicht, weil der Boden verödet. Das alles ist die Schuld dieser famosen Forstunternehmen, die den Mapuche ihr Land wegnehmen. Die Mapuche kämpfen dafür das Land zurückzubekommen, indem sie ungenutztes Land besetzen. Und dann kommt die Polizei und provoziert. Sie kommen mit Waffen und sogar mit Panzern und fangen an zu schießen. Die Mapuche dagegen haben nur Steine. Sie werden festgenommen und eingesperrt. Selbst das Obersten Gericht Chiles nennt uns Terroristen.

Wann war das?
Sofía: Das war 2002/03. Sie haben uns als Terroristen bezeichnet, die ihr Land wieder haben wollen (s. LN 335). Noch heute gibt es Mapuche, die im Gefängnis oder auf der Flucht sind (s. Kasten).

Wie hat sich die Situation der Indigenen in den letzten Jahrzehnten verändert?
Sofía: Auch unter Allende gab es Marginalisierung, aber man konnte Fortschritte für den Landbesitz der Mapuche sehen. Es gab Besetzungen. Unter Pinochet wurde uns dann wieder Land weggenommen. Seit dem Ende der Diktatur gibt es wieder ein wenig mehr Freiheiten und eine Wiederbelebung der Mapuche-Kultur. Sie suchen Räume – ihre Identität.
Raúl: Um die Diktatur zu überwinden haben die Indigenen damals dem Mitte-Links Regierungsbündnis die Hand gereicht. Man hat dem Demokratisierungsprozess den Rücken gestärkt und versucht, über die institutionellen Wege die Forderungen zu kanalisieren. Am 1.Dezember 1989 – als die Demokratie wiedererlangt war – kam es dann zum „Acto de Nueva Imperial“ (Abkommen von Nueca Imperial) [Stadt im Süden Chiles] unter Präsident Alwyin. In diesem ist das Verhältnis der Regierung mit den Indigenen geregelt und es wurden konkrete Maßnahmen geplant, wie beispielsweise das neue Indigenengesetz.

Heute sprechen die Mapuche von „Ahuincanación“ (Kulturverlust). Damit meinen sie, dass die Indigenen sich immer mehr der nicht ursprünglichen Bevölkerungsmehrheit anpassen….
Sofía: Ich sehe das ganz klar genauso – die Mehrheit ist „ahuincada“!

Woran kann man das im Alltag sehen?
Sofía: Bei einer kulturellen Zeremonie zum Beispiel. Im Stadion laden sie die Politiker ein, sie haben Mikrofone, es sprechen verschiedene Direktoren – man praktiziert die Spiritualität nicht richtig. Es ist nicht so, dass der Bürgermeister nicht zusehen kann, aber er braucht keine Rede zu halten, die überhaupt nichts damit zu tun hat. Ein anderes Beispiel sind Seminare. Dort reden alle Politiker spanisch, alle kommen in westlicher Kleidung, das Ambiente ist falsch. Die Sprache wird marginalisiert – die Kinder sprechen nicht mehr ihre eigene Sprache.

Es gibt also keine Förderung der indigenen Sprache in Chile?
Sofía: Doch, es gibt regionale Programme im Fernsehen und im Radio. Aber die haben keine große Reichweite. Und außerdem werden diese Programme vielleicht eine halbe Stunde am Tag gesendet – mit einem bisschen Kultur und etwas Information.

Die Tradition der Mapuche verliert sich demnach ebenso wie ihre Sprache?
Sofía: Ich muss zugeben, dass die Tradition sich verliert. Die Mapuche, die in den staatlichen Schulen erzogen werden, werden zu Chilenen herangezogen und nicht zu Mapuche. Sie verlieren ihr Wissen um die Kultur und die Traditionen – denn es gibt keine Erziehung, die dieses Wissen vermittelt.
Raúl: Auf der Grundlage des „Ley Indígena“ (Indigenengesetz) hat das Ministerium 1994 wenigstens zentrale Agenturen geschaffen: für Land und Wasser, für Entwicklung und viele Dinge. Dadurch konnten die Gemeinden zu juristischen Personen werden, sie bekamen einklagbare Rechte.

Welche Projekte wurden aufgrund dieser neuen Initiativen umgesetzt?
Raúl: Es wurden Lehrer ausgebildet und zweisprachige Texte wurden herausgegeben. In den öffentlichen Schulen ist man dabei, mit diesen Texten zu arbeiten und eine interkulturelle Ausbildung anzubieten. Aber es ist ein Finanz-Problem: Oft gibt es kein festes Ausbildungsprogramm, an den Schulen fehlt es an vielem.
Ivan: Wir als Gemeinde haben ein 30.000qm großes Grundstück für eine Schule gekauft. Wir wollen eine weiterführende Schule für Weiße und Indígenas gründen: eine polytechnische Schule für die ganze Küstenprovinz, an der die Sprache Mapuche, traditionelle Heilmethoden und verschiedene Kunsthandwerke sowie Gastronomie gelehrt werden.
Raúl: Die Effekte des Programms werden gerade erst deutlich. Es werden 635 indigene Gemeinden in fünf Regionen des Landes, mit Aymara, Atacameña und Mapuche Bevölkerung gefördert. Das staatliche Programm unterstützt die Produktion, das Gesundheitswesen, die Kultur sowie die Ausbildung von Führungskräften dort.
Ivan: Seit vier Jahren haben wir auf einem freien Gelände mit einem Ökotourismusprojekt begonnen: Es ist autochthon und sehr bescheiden: zehn Hütten, in denen echtes Mapucheessen gekocht wird – alles ist frisch und kommt aus der Gemeinde. Sonntags machen wir eine Führung, verkaufen lokales Kunsthandwerk, führen Volkstänze auf und vieles mehr.

Sind solch positive Beispiele auch auf nationaler Ebene zu beobachten?
Raúl: Der Präsident hat erst im April diesen Jahres in einer Verlautbarung auf die Verfassung und die Ratifikation von 1989 hingewiesen sowie auf deren Einhaltung bestanden. Es soll ein Sekretariat für indigene Angelegenheiten innerhalb des Ministeriums geben. Aber das muss durch das Parlament, was sehr schwierig werden wird. Denn dort gibt es keine Mehrheit, sondern eine Patt-Situation, die es sehr schwierig macht, das Gesetz zu verabschieden. Die Rechte ist sehr konservativ und hat bisher alle derartigen Initiativen abgelehnt.

Welche Perspektiven haben die indigenen Gemeinschaften?
Sofía: Sie müssen das chilenische Volk erreichen und ein Bewusstsein für die Probleme schaffen. Es gibt einige, die denken, wir wären generell schlecht und man sollte uns alle töten. Aber andere analysieren auch für sich selbst und sagen: Das sind keine Terroristen, die wollen nur ihr Land zurück.
Ivan: Ich bin nicht negativ eingestellt, man übersieht sonst das Positive. Wir haben an der Bildung, dem Kunsthandwerk und der Kultur gearbeitet. Wir haben einen kulturellen Reichtum, der viele Möglichkeiten bietet und uns viele Türen öffnet. Davon kann man in Zukunft profitieren.

Kasten:

Freispruch in Terror-Prozess
Die chilenische Justiz sprach eine Gruppe von Mapuche frei, die von der Regierung wegen “verbotener, terroristischer Vereinigung” angeklagt war, weil sie Felder in der Ortschaft Temuco abgebrannt haben soll. Die ihnen vorgeworfenen Delikte ließ man unter das Antiterrorgesetz fallen. Das Gericht von Temuco wies nun die Anklage gegen die sechs Mapuche aus der Region sowie die zwei SympathisantInnen ab. Es bemängelte, dass die Staatsanwaltschaft es nicht geschafft habe, “beweiskräftig zu belegen”, dass die Indígenas am Abbrennen der Felder beteiligt waren. Da der Fall Symbolcharakter bei der Anwendung des Antiterrorgesetzes hatte, wurden während des Verfahrens in Temuco die ZeugInnen der Staatsanwaltschaft gegen die Indígenas mit verhülltem Gesicht vernommen.
Die Amerikanische Juristenvereinigung (Asociación Americana de Juristas), die Organisation Internationale Verteidigung der Rechte der Völker (Defensoría Internacional de los Derechos de los Pueblos) sowie die Internationale Menschenrechtsvereinigung (Federación Internacional de Derechos Humanos) kritisierten die Anwendung des Antiterrorgesetzes – ein Vermächtnis der Pinochet-Diktatur – gegen die Mapuches. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat erst kürzlich einen ausführlichen Bericht über die Unrechtmäßigkeit der Prozesse gegen die Mapuche veröffentlicht.

“Das Vergessen ist immer auch intentional“

Wie kam es zu dem Film Geschichten aus Javé (Narradores de Javé)?

Irgendwann habe ich von Pedro Cordeiro Braga gehört, der im Dörfchen Vau in Minas Gerais lebte und in einem Postamt arbeitete, das geschlossen werden sollte. Da es die einzige Verbindung der Dorfbewohner zur Welt war, machte Senhor Pedro aus seiner Freude am Schreiben eine Tugend. Aus Angst, das Postamt könne schließen, schrieb er allen ihm bekannten Menschen Briefe. Für mich ist diese Geschichte unglaublich. Der Gedanke an die Initiative dieses Mannes, der diesen anonymen Briefwechsel führte, mit dem Ziel das dortige Postamt zu retten, ließ mich nicht mehr los.

Und wie entstand die Idee mit dem Staudamm?

Wir überlegten also, wie es wäre, wenn ein Dorf seine eigene Geschichte schreiben wollte. Dafür müsste es natürlich einen Grund geben. Ich erinnere mich, dass Luiz Abel Abreu hier insistierte und immer wieder fragte: „Was bringt ein Dörfchen dazu, seine Geschichte zu schreiben? Wenn die orale Kultur so verbreitet ist, muss es einen Anlass geben“. Da hatten wir die Idee mit dem Staudamm. Solch ein Schicksalsschlag rechtfertigt, die Erinnerung des Dorfes entsprechend dem Kanon zu bewahren. Um geschützt zu werden, braucht man eine große Geschichte. Dafür muss alles geschrieben und dokumentiert sein.

Ist der Film an den Ort Canudos, in dem Anfang des 20. Jahrhunderts der Aufstand des Wanderpredigers Antonio Conselheiro niedergeschlagen wurde, angelehnt?

Heute liegt die Stadt Canudos unter Wasser. Wenn es eine Geschichte gewesen wäre, an die erinnert werden sollte, dann hätten diese Ruinen, die vom Krieg übriggeblieben waren, geschützt werden können. Es wäre dann eine Gedenkstätte, die besucht werden könnte, um der Toten zu gedenken. Aber die Ruinen wurden nicht geschützt, sondern unter Wasser gesetzt. Dieses Vergessen ist provoziertes Vergessen. Wozu? Damit eine Version der Geschichte von Canudos zu Ende geht. Wenn sie vergessen wird, existiert sie nicht mehr. Und das Vergessen von Geschichte, von anderen Sichtweisen, hat meinen Film inspiriert. Neben der Hommage an die Geschichtenerzähler haben wir versucht zu untersuchen, wie ein historischer Text aufgebaut wird. Wenn ich heute die Geschichte Brasiliens lese, stelle ich mir vor, was alles geschehen ist, bis sie in dieser Form in den Schulen erzählt werden konnte. Wieviele Kriege hat es gegeben? Wie viele Interessen die untergegangen sind? Das Vergessen ist immer auch intentional.

Ungewöhnliche Wörter und Redensarten werden im Film eingesetzt, die in der Alltagssprache nicht immer üblich sind. Woher kommt diese besondere Art mit der Sprache zu arbeiten?

Der Gebrauch eines Wortes im Film muss Handlung beinhalten. Wir hatten bei diesem Projekt immer Angst. Es steht an einer sehr gefährlichen Grenze, da der Film in Wirklichkeit eine Arbeit mit dem Bild voraussetzt. Wir machten jedoch das Gegenteil und stellten das gesprochene Wort, die Rede, in den Vordergrund. Zum Glück schafften wir es, die Kraft und den Reichtum der Kunst der Geschichtenerzähler zum Ausdruck zu bringen. Nämlich dadurch, dass das Wort selbst das Bild generiert. Wie das geht? Wenn Antonio Biá sagt: „Das ist ein Mückensilvester“, dann liegen Witz und Komik in der Vorstellung, von einem Silvesterabend, an dem viele Mücken mit einem Glas auf das Neue Jahr anstoßen, wobei alle zur gleichen Zeit reden, ein riesiger Tumult also. Oder ein anderes Beispiel: „Exú eines Hühnerstalls“. Exú ist in der afrikanischen Tradition eine Gestalt, die manchmal ein Teufel sein und das Leben der Menschen provozieren, beunruhigen und verändern kann Wenn er von einem Exú aus dem Hühnerstall spricht, dann ist dieser so dekadent, dass er die Hühner in Aufregung versetzt, auf Menschen aber schon gar keine Wirkung mehr hat. Diese Worte suggerieren die Bilder in unseren Köpfen und in diesem Sinn ist das Wort aktiv.

Der Film ist ja insgesamt sehr ironisch. Dazu trägt auch der Balken über der Haustür des Protagonisten bei, auf dem geschrieben steht: „Eintritt für Analphabeten verboten.“ Das zeigt auch eine Überheblichkeit von Antonio Biá, nicht wahr?

Der Balken war eine Erfindung von José Dumont selbst, der ein ausgezeichneter und wunderbarer Schauspieler ist. Er ist ein Koautor dieses Films. Warum? Er hat in die dramatische Struktur der Geschichte selbst eingegriffen. Zum Beispiel hat er diese konfliktive Beziehung zwischen ihm und Maria Dalva Ladeia aus unserem Drehort Gameleira da Lapa geprägt. Sie spielte die Dona Maria in unserem Film. Er hat schnell gemerkt, wie sie ist, denn er ist ein guter Schauspieler, der scharf beobachtet. Er hatte mich zuvor gefragt, ob er sie im Film von Zeit zu Zeit provozieren könne. Ich war einverstanden, habe mir aber niemals vorstellen können, dass diese Provokation eine solche Dimension erreichen würde. Denn jedes Mal, wenn sie mit ihm zusammentrifft, beleidigt er sie. Das war allein Zé Dumonts Erfindung, ebenso wie die Inschrift des Türbalkens. Dieser Satz: „Eintritt für Analphabeten verboten“ stand nicht im Drehbuch. Ich habe ihn erst gesehen, als ich mit den Dreharbeiten anfing. Ebenso wie viele Dinge im Film seine oder die Erfindungen der übrigen Schauspieler und Bewohner von Gameleira sind. Anfangs habe ich mich nämlich in der Regie stark am Drehbuch orientiert und das Ergebnis war verheerend. Ich glaubte schon, der Film würde nichts werden, weil alles so theatralisch wirkte. Es machte alles keinen richtigen Spaß. Der kam erst, als die Schauspieler lockerer wurden, aus sich herausgingen und mir klar wurde, dass ich bei diesem Film offen sein musste für Improvisationen. So kamen viele Dinge hinzu und schließlich hat der Film eindeutig gewonnen.

Die alte Dame am Kiosk zu Beginn des Films möchte trotz des fortgeschrittenen Alters noch lesen lernen. War der Aspekt Analphabetismus bei der Enstehung des Films von großer Bedeutung?

Das ist wirklich unglaublich. Ich denke, dass Menschen, die nicht schreiben oder lesen können, sich dies besonders wünschen. Antonio Biá bringt jeden zum Schweigen, wenn er sagt: „Gut, sag erstmal deinen Namen, Nachnamen und Namenszusatz.“ Das ist der Augenblick, in dem Menschen klar wird, dass sie in das Buch kommen. Vicentino sagt dann: Vicentino Indalécio da Rocha. Da Rocha ist sein Familienname, der für ihn nicht so wichtig ist. Deshalb betont er vor allem Indalécio, um sich auf den Gründer von Javé zu beziehen. Seinen eigenen Namen geschrieben zu sehen, lässt die Faszination für die Schrift und für das Lesen sehr groß werden.

In Ihren Filmen Kenoma und Geschichten aus Javé spielt Brasilien immer eine wichtige Rolle. Könntest du dir auch vorstellen, einen Film im Ausland zu drehen?

Doch, ich hätte große Lust, bei einem Film Regie zu führen, der außerhalb Brasiliens entsteht. Entscheidend sind Thema, Geschichte und der Ort, an dem er spielt, und natürlich, was er über den Menschen und über menschliche Grundsatzfragen aussagen kann. Wenn dies in irgendeiner Form bei mir etwas auslöst, wäre ich dazu in der Lage. Es ist allerdings sehr schwer, nach langen Jahren der Berufserfahrung in denen man seine Richtung selbst gewählt hat, plötzlich Projekte zu bearbeiten, die einen überhaupt nicht ansprechen und die man nur macht um Geld zu verdienen. Ich stelle fest, dass meine Hemmschwelle immer höher liegt. Natürlich geht das, denn der Regie liegt eine Technik zu Grunde, die auf jeden Film anwendbar ist. Aber ich hätte schon Lust, einmal außerhalb von Brasilien zu arbeiten, wenn das Thema stimmt.

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