RAUCH FREI IN URUGUAY

Für eine lateinamerikanische Hauptstadt ist Montevideo ziemlich entspannt. Der Autoverkehr hält sich in Grenzen, die Kriminalität ist vergleichsweise gering und viele Menschen trinken im Gehen ihren geliebten Mate. Oder ziehen einen durch. Denn überall dort, wo in Uruguay Rauchen noch erlaubt ist, dürfen auch porros angezündet werden, wie die Joints hier meist bezeichnet werden.
Ausgerechnet die uruguayische Militärdiktatur hatte im Sinne ihrer wirtschaftsliberalen Vordenker*innen aus den USA bereits 1974 den Konsum von Drogen entkriminalisiert. Anbau, Kauf und Verkauf blieben hingegen auch für weiche Rauschmittel wie Cannabis verboten. „Um etwas zu tun, das legal ist, musste man also zunächst etwas Illegales machen“, bringt die Cannabis-Aktivistin Florencia Lemos den juristischen Widerspruch auf den Punkt. Doch diese Zeiten sind für die 25-Jährige und ihre Mitstreiter*innen vorbei. Seit Ende 2013 hat Uruguay, das mit circa 3,4 Millionen weniger Einwohner*innen als Berlin verzeichnet, als erstes Land überhaupt den Markt für Marihuana staatlich reguliert (siehe Kasten).
Zuvor konnten Gerichte selbst auslegen, welche Menge sie als Eigenkonsum ansehen. Vor allem in den ärmeren Vierteln machten sie aus Kiffer*innen so oft Dealer*innen. „Mit zehn Gramm konnte man vor dem Gesetz als Drogenhändler gelten. Mit 20 Gramm und einem guten Anwalt aber vielleicht als Konsument“, sagt Lemos. Dass es heute klare Regeln gibt, ist nicht zuletzt das Verdienst von Proderechos, der Bewegung in welcher sie sich engagiert.
Im Jahr 2006 gründeten einige Aktivist*innen das politische Kollektiv zunächst unter dem Namen Prolegal, um sich für eine Legalisierung des Cannabis-Anbaus einzusetzen. Heute arbeitet Proderechos auch zu Themen wie sexueller Vielfalt oder der Aufarbeitung der Militärdiktatur. Ihren Sitz hat die Organisation in einem alternativen Kulturzentrum mitten in Montevideo. Im Eingangsbereich finden Veranstaltungen statt, im hinteren Teil Versammlungen politischer und kultureller Gruppen.
Geraucht wird vor der Tür, wie fast überall in Uruguay. Der heute wieder amtierende Präsident Tabaré Vázquez hatte in seiner ersten Amtszeit ab 2005 weitgehende Rauchverbote in öffentlich zugänglichen Räumen durchgesetzt. „Als die linke Frente Amplio an die Regierung kam, haben wir uns gemeinsam mit anderen Organisationen verstärkt für die Legalisierung engagiert, Konzerte und Diskussionsrunden organisiert“, erzählt Diego Pieri, Gründungsmitglied von Proderechos. Waren es zuvor nur wenige hunderte Menschen, die regelmäßig für die Legalisierung des Eigenanbaus demonstriert hatten, gingen nun Tausende auf die Straße.
Vázquez selbst sprach sich wiederholt gegen eine Legalisierung aus, doch unter seinem Nachfolger José „Pepe“ Mujica, dem legendären Veteranen der ehemaligen Stadtguerilla Tupamaros, hatte der Druck aus der Zivilgesellschaft Erfolg. Nachdem im Sommer 2011 eine 65-jährige Cannabis-Aktivistin und ein 45-jähriger Artesano wegen des Besitzes jeweils mehrerer Cannabis-Pflanzen verhaftet wurden, kochte die Stimmung hoch. „Es ist absurd, die beiden haben für niemanden eine Gefahr dargestellt, aber der Anbau von Marihuana war eben strafbar“, so Pieri. Eine Parlamentskommission erarbeitete daraufhin einen Gesetzesentwurf. Dieser sollte den Eigenanbau sowie die medizinische und wissenschaftliche Nutzung von Cannabis regeln. Der entscheidende Impuls ging dann aber von Mujica selbst aus, wenn auch mit einer anderen Absicht. Als Teil eines umstrittenen Sicherheitspaketes schlug er im Juni 2012 vor, den Verkauf von Marihuana unter staatliche Kontrolle zu stellen. „Irgendjemand muss den Anfang machen, denn wir sind dabei, den Krieg gegen die Drogen und die Kriminalität auf dem Kontinent zu verlieren“, begründete Mujica damals den Legalisierungsvorstoß. Die Parlamentskommission griff den Vorschlag auf. „Von da an haben wir daran gearbeitet, die beiden Vorschläge zusammenzubringen“, erinnert sich deren damaliger Vorsitzender Sebastián „Tati“ Sabini. Seit 2010 sitzt der heute 35-Jährige für Mujicas Partei „Bewegung für die Beteiligung des Volkes“ (MPP), die aus den Tupamaros hervorgegangen ist, im Parlament.
Am Ende enthielt der Gesetzentwurf drei legale Wege, um an Marihuana zu gelangen: den individuellen Eigenanbau, den gemeinschaftlichen Anbau in Cannabis-Clubs sowie den Kauf in Apotheken. Da die Abgeordneten der Opposition das Gesetz aus Fraktionszwang ablehnten und die Frente Amplio im Abgeordnetenhaus nur über eine hauchdünne Mehrheit verfügte, mussten vor allem Kritiker*innen aus den eigenen Reihen überzeugt werden. Zudem lehnte die Bevölkerung damals eine Legalisierung laut Umfragen mehrheitlich ab. Neben den Konservativen waren insbesondere ältere Menschen skeptisch, auch unter den Linken. „Wir sind damals durchs ganze Land gereist, um über die Regulierung zu informieren und  haben mit Jugendlichen, Studierenden, Ärzten, Professoren  und Juristen gesprochen“, so Sabini. Nach langen, zähen Diskussionen brachte die Frente Amplio mit ihrer Mehrheit in beiden Parlamentskammern das Gesetz im Jahr 2013 schließlich durch. Der Abgeordnete ist rückblickend zufrieden: „Das Gesetz weitet nicht nur die Rechte der Konsumenten aus, sondern enthält auch die Aspekte Prävention, Information und Gesundheitsversorgung.“ Nur ändere ein Gesetz alleine eben noch nicht die Realität. „Wir brechen nicht nur mit einer jahrzehntelang praktizierten Politik, sondern auch einer institutionellen Kultur“, gibt Sabini zu bedenken.
Auch bei Proderechos loben sie den ganzheitlichen Ansatz der Regulierung. „Es geht über das hinaus, was wir uns erhofft haben“, sagt Diego Pieri. Doch dass die Veränderungen nicht von heute auf Morgen geschehen, wissen auch die Aktivist*innen. „Es ist noch viel Aufklärung nötig“, erklärt Florencia Lemos. „Zum Beispiel, wenn Richter auf Anzeigen wegen Cannabispflanzen in Privathäusern eine Durchsuchung anordnen, anstatt zu überprüfen, ob die Person registriert ist.“ Kritik üben die Aktivist*innen auch an einzelnen Details, etwa der obligatorischen Registrierung. „Man muss sich für einen Zugang entscheiden, das heißt, wer individuell anbaut, kann nicht in der Apotheke kaufen oder gleichzeitig einem Club beitreten“, bemängelt Lemos. Für viele sei die Registrierung zudem paternalistisch. „Vor allem in den marginalisierten Vierteln, wo die Menschen den Staat nur als repressiv wahrnehmen, erschwert der Zwang zur Registrierung die Umsetzung des Gesetzes.“ Auch beim Reglement der Cannabis-Clubs, in denen zwischen 15 und 45 Personen gemeinschaftlich Marihuana anbauen dürfen, sieht Lemos Nachholbedarf. „In der Praxis ist die Mitgliederzahl zu klein, denn die Fixkosten sind hoch.“ Mit 45 Mitgliedern werde es schon schwierig am Ende einigermaßen kostengünstiges Gras zu erhalten. Ihr Kollege Pieri sieht das ähnlich. „Um niedrige Preise zu erreichen, müssen die Mitglieder selbst arbeiten und können niemanden dafür bezahlen“. Für die Aktivist*innen ist das kein Problem. Um die Pflanzen in ihrem Club CLUC (Cultivando la Libertad Uruguay Crece), der sich in den ländlichen Randzonen Montevideos dem outdoor-Anbau (im Freiland) widmet, kümmern sie sich gemeinsam. „Aber auch weil uns klar ist, dass der Anbau nicht für alle relevant ist, haben wir uns immer auch für den freien Verkauf eingesetzt“, betont Pieri.
Tatsächlich dürfte der Bezug über die Apotheken für die meisten Kiffer*innen der einfachste Weg sein, um sich mit legalem Gras zu versorgen. Die uruguayische Regierung schätzt die Gesamtzahl derer, die zumindest gelegentlich zum porro greifen auf 160.000. Laut offiziellen Zahlen bauen fast 5.000 Personen zu Hause an. Zudem sind offiziell 20 Cannabis-Clubs bereits registriert oder befinden sich im Prozess der Registrierung. Das dafür notwendige bürokratische Prozedere scheint einige abzuschrecken.
Doch der Verkauf in Apotheken hat sich immer wieder verzögert. Nun soll es in der zweiten Jahreshälfte 2016 tatsächlich losgehen. Da das Institut für die Regulierung und Kontrolle von Cannabis (IRCCA) 2014 erst kurz nach Verabschiedung des Staatshaushaltes gegründet wurde, musste es fast ein Jahr auf ausreichende Finanzmittel warten. Der erneute Wahlsieg von Mujicas Vorgänger Vázquez ließ anschließend Zweifel an der Umsetzung aufkommen.
Im vergangenen Herbst vergab die uruguayische Regierung schließlich die ersten zwei Anbaulizenzen an die Joint-Venture-Unternehmen Simbiosys und ICCorp, die sich gegen 20 andere Bewerber*innen durchsetzen konnten. „Das Regulierungsinstitut musste sicherstellen, dass die Unternehmen keine Verbindungen zum Drogenhandel aufweisen, und sie daher sehr genau überprüfen“, erklärt Sebastián Sabini den langen Vorlauf. Auf staatlichem Ackerland werden sie nun jeweils zwei Tonnen Marihuana jährlich anbauen, laut offiziellen Angaben ohne Gentechnik.
Umgerechnet etwa einen Euro soll ein Gramm qualitativ hochwertigen Marihuanas am Ende kosten. Das ist deutlich günstiger als das gepresste, auf dem Schwarzmarkt verbreitete Gras aus Paraguay, das in der Regel mit ungenießbaren Zusätzen wie Neopren, Hundefutter oder Ammoniak gestreckt ist. Vom Verkaufserlös erhalten die Unternehmen 60 Prozent. Weitere 30 Prozent gehen an die Apotheken, während zehn Prozent beim Staat verbleiben, der damit Präventions- und Aufklärungsprogramme finanzieren soll.
Auch wenn viele Apotheker*innen Angst vor Überfällen und Repressalien durch Drogenhändler*innen haben, meldeten landesweit bisher hunderte Apotheken Interesse an dem freiwilligen Verkauf an. Für Proderechos ist dies jedoch allenfalls ein Anfang. „Wir gehen auf Basis von Umfragen und Studien davon aus, dass der Markt 36 Tonnen umfasst. Der Eigenanbau ist schwer zu beziffern, aber ausreichen wird die Menge von vier Tonnen kaum“, rechnet Diego Pieri vor. Er fordert, dass zukünftig auch kleinere, ländliche Produzent*innen mit einbezogen werden.
Wie gut das uruguayische Modell der Regulierung funktioniert, wird sich erst zeigen, wenn der Apotheken-Verkauf etabliert ist. Damit wird Uruguay zum Vorreiter einer alternativen Drogenpolitik. Für Florencia Lebus ist die Frage nicht, ob, sondern wie die Welt zukünftig aus der Falle des Prohibitionismus herauskommt: „Geht es dann um eine Marktliberalisierung oder eine staatliche Regulierung mit Partizipation sozialer Organisationen und Konsumenten? In Uruguay steckt keine Industrie dahinter und der Staat verfolgt nicht das Ziel, den Konsum auszuweiten.“ Auch Sebastían Sabini sieht in der uruguayischen Drogenpolitik einen wichtigen Beitrag für die internationale Debatte: „Wobei es etwas paradox ist, dass wir überhaupt zeigen sollen, dass eine Politik gut funktioniert, wenn offensichtlich ist, dass die andere Politik sehr schlecht funktioniert“, fügt er lachend hinzu. „Aber es scheint, als stünden die Dinge auf dem Kopf.“

Tabaré Vázquez bietet Frente die Stirn

Die Siegesjubel war kaum verklungen, da überraschte Tabaré Vázquez bereits mit der kompletten Namensliste seines künftigen Kabinetts. Ohne Rücksprache mit dem Mitte-Links-Bündnis Frente Amplio, dem er zu einem erheblichen Teil seinen Wahlerfolg zu verdanken hat. Enttäuscht oder wütend bedauerten nicht wenige, ihm die Stimme gegeben zu haben. Es war ein Vorgeschmack auf kommende Regierungszeiten. Er bestätigte damit seinen autoritären Stil, mit dem er bereits während seiner ersten Präsidentschaft (2005 – 2010) manchen compañero aufgebracht hatte. Dialog ist nicht die Stärke des 74-jährigen caudillo. Bedingungslose Gefolgschaft schätzt er mehr, wie sich in der Auswahl der künftigen Minister*innen zeigte. Mehrere waren schon in seiner ersten Regierung im Amt und hielten ihm auch später gegen alle Kritik unverbrüchliche Treue.
Tabaré Vázquez sei eigentlich ein Fremdkörper in der uruguayischen Linken, denn „er teilt deren wichtigste Werte nicht“, meint der Politologe und Meinungsforscher Oscar Botinelli.
Bestärkt in seinem Vorgehen fühlt sich Tabaré Vázquez wohl auch durch die Tatsache, dass er in der Stichwahl am 30. November mit 53,6 Prozent der Stimmen den jungen Rivalen der konservativen Blanco-Partei (41,1 Prozent), Luis Lacalle Pou, klar abgehängt und die höchste Stimmenzahl seit dem Ende der Diktatur 1985 erzielt hatte.
Das Movimiento de Participación Popular (MPP) mit dem scheidenden Präsidenten José „Pepe“ Mujica als Aushängeschild war wieder stärkste Kraft in der Frente Amplio geworden und die sozialdemokratische Frente Liber Seregni um den früheren und künftigen Wirtschaftsminister Danilo Astori musste bei den Parlamentswahlen am 26. Oktober empfindliche Stimmeneinbußen hinnehmen. Doch wer geglaubt hatte, dass es deshalb einen Schwenk nach links geben würde, sah sich eines Besseren belehrt. Es geht eher in die umgekehrte Richtung, vor allem mit dem neuen Außenminister Rodolfo Nin Novoa. Der Agrotechniker und ehemalige Blanco-Politiker war Vizepräsident in der ersten Präsidentschaft Vázquez‘. Kaum ernannt machte der Vázquez-Getreue klar, wo die Prioritäten liegen: Sein Interesse gelte der „Allianz des Pazifiks“. Vollmitglieder sind Mexiko, Kolumbien, Peru und Chile, allesamt geprägt von (neo)liberaler Wirtschaftspolitik. Uruguay ist assoziiertes Mitglied. Im Hintergrund ziehen die USA die Fäden. Gegen China, den wichtigsten Handelspartner Uruguays. Ein Hindernis für die angestrebte Vollmitgliedschaft in der Allianz ist der Gemeinsame Markt Südamerikas (Mercosur), in dem rund 75 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts des Subkontinents erwirtschaftet werden. Nur gemeinsam oder mit Zustimmung aller Mitglieder (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Venezuela) können Freihandelsverträge mit anderen Ländern ausgehandelt werden. Uruguay fühlt sich gegenüber den Großen benachteiligt und verlangt mehr Handlungsspielraum für Alleingänge. Die Statuten müssten flexibilisiert werden, fordert der künftige Außenminister. Er nennt das „verantwortungsbewussten Pragmatismus“. Oppositionelle und Unternehmer*innen zeigten sich „beruhigt“, zumal Marktfundamentalist Danilo Astori das Wirtschaftsministerium wieder übernimmt.
Freimütig bekannte sich Nin Novoa zu einem Freihandelsvertrag mit Washington, obwohl in der ersten Amtszeit von Vázquez ein entsprechender Anlauf am Widerstand einer Frente-Mehrheit gescheitert war. Da war Antiimperialismus noch zu keinem Fremdwort verkommen. Als US-Präsident Obama kürzlich forderte, man müsse „anachronistische Stereotypen überwinden“, denn „gemeinsam können wir mehr“, signalisierte Tabaré Vázquez totale Übereinstimmung. Er sprach sich für eine „gemeinsame Agenda“ mit Washington aus.
Mit dem Trio Vázquez-Astori-Nin Novoa dürfte der bisherige betont lateinamerikanische Kurs in der Außenpolitik Uruguays ab- wenn nicht gar ausgebremst werden. Das trifft vor allem UNASUR, die 2008 auf Initiative Brasiliens hin gegründete Union Südamerikanischer Staaten. In ihr sind alle südamerikanischen Länder organisiert, außer Französisch-Guayana. Die USA wurden nicht einmal als Beobachter eingeladen. Die Union strebt langfristig eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik sowie die wirtschaftliche Integration an. Zwischenstaatliche Konflikte sollen friedlich beigelegt und die immensen Naturressourcen gegen fremde Begehrlichkeiten geschützt werden. Die Pazifik-Allianz droht nun einen Keil zwischen die UNASUR-Mitglieder zu treiben. Wohl nicht im Sinne von „Pepe“ Mujica, der in Quito auf einer Tagung der UNASUR weilte, als Tabaré Vázquez seine Ministerriege vorstellte. Der künftige Senator will nicht von der Politik lassen – bis er in der „Kiste“ abtransportiert werde.
Siegessicher konzentrierten sich schon vor der Stichwahl enge Mitarbeiter von Tabaré Vázquez auf kommende Regierungsaufgaben. Beispielsweise die Fragen nach dem Ausbau der erfolgreichen Sozialpolitik und der Verbesserung der öffentlichen Sicherheit. Und danach, wie die defizitäre öffentliche Infrastruktur, vor allem Straßen, Eisenbahn und Häfen, in den Griff zu bekommen sind. Schwerlaster, voller Soja und Baumstämme für Zellulosefabriken, haben die Straßen ramponiert. Kollateralschäden eines Rohstoffexporteurs. Mehrere Milliarden Dollar sind erforderlich, auch wenn nicht mehr wie bisher mit üppigen Wachstumsraten zu rechnen ist. Private Kapitalgeber sind gefragt. Auf jeden Fall wird sich der öffentliche Schuldenberg von derzeit rund 35 Milliarden Dollar noch höher auftürmen.
Ebenso gewaltig werden die Anstrengungen für eine Reform des einst vorbildlichen Erziehungswesens sein. Eine Aufgabe, die sich kaum in einer Legislaturperiode bewältigen lässt. Darin sind sich alle Parteien einig. Die Frente Amplio will sechs Prozent des Bruttosozialprodukts in die Erziehung stecken. Doch über das Wie der Reform gehen die Meinungen weit auseinander. Ob beispielsweise Schule und Universität stärker auf die Bedürfnisse der „Märkte“ zugeschnitten werden oder ob auch auf mehr Kritikfähigkeit und Kreativität Wert gelegt wird. Die Bedeutung der öffentlichen Schulen wird dabei immer wieder beschworen. Der Vorschlag von Vázquez, „Voucher“, also Gutscheine, für Privatschulen in Armenvierteln auszugeben, lässt Zweifel aufkommen. Viele Politiker*innen, auch aus dem linken Spektrum, schicken ihre Kinder auf Privatschulen.
Steuererhöhungen hat Tabaré Vázquez allerdings ausgeschlossen. Auch das außergewöhnlich boomende Agrobusiness, Stütze des exportorientierten Wirtschaftsmodells, muss nicht mit steuerlichen Belastungen rechnen. Damit war schon der scheidende Präsident José „Pepe“ Mujica gescheitert. Er wollte ein wenig von den explodierenden Gewinnen abschöpfen – für den Straßenbau in ländlichen Gebieten. Doch der Oberste Gerichtshof legte sich quer und erklärte die geplante Abgabe für verfassungswidrig. Die derzeitige Verfassung „verteidigt die Rechte der Großgrundbesitzer“, klagte Mujica. Das Gemeinwohl müsse „Vorrang vor dem Privaten“ haben, forderte deshalb Lucia Topolansky, einflussreiche Senatorin und Ehefrau Mujicas. Ermuntert durch den siegreichen ersten Wahlgang im Oktober holten führende „Frente“-Politiker ein altes Vorhaben wieder aus der Schublade: die Reform einer Verfassung, die aus dem Jahre 1967 stammt. Dann würden beispielsweise internationale Verträge über Menschenrechte automatisch Verfassungsrang erhalten. Die rechte Opposition werde die Frente mit „schwerer Artillerie unter Beschuss nehmen“, befürchtet der Abgeordnete Luis Puig. Tatsächlich malten politische Gegner*innen Gefahren für die Demokratie an die Wand. Die Forderung nach einem eigenen Verfassungsgericht gefährde gar die Unabhängigkeit der Justiz.
Kritisiert wird die Frente auch von sozialen Bewegungen und der Opposition wegen eines milliardenschweren Großprojekts im Bergbau. Aratirí, ein Konzern der indischen Unternehmensgruppe Zamin Ferrous, will etwa 20 Jahre lang Eisenerz im Tagebau ausbeuten. Der Vertrag muss noch von Tabaré Vázquez unterzeichnet werden. Doch mit Händen und Füßen sträubt sich die gegenwärtige Regierung dagegen, das Vertragswerk öffentlich zu machen. Nicht so sehr wegen der erheblichen Steuergeschenke, sondern wohl wegen der Konsequenzen für die Umwelt. Was geschieht beispielsweise mit den mehrere hundert Meter tiefen riesigen Kratern, wenn die Lagerstätte erschöpft ist?
Für viele nicht so überraschend hat die Frente Amplio bislang Umweltthemen eher auf die leichte Schulter genommen und als lästiges Hemmnis für die wirtschaftliche Entwicklung angesehen. Pestizide werden als notwendiges Übel hingenommen, auch wenn immer mehr Wasser verseucht wird. Uruguay hat bis heute kein eigenes Umweltministerium. Mujica war sich nicht zu schade, sich über die ecologistas lustig zu machen. Doch nun hat die Oppositionspartei der Blancos das sträflich vernachlässigte Thema aufgegriffen und eine eigene ökologische Gruppierung ins Leben gerufen. Und die neue Partei Partido Ecologico Radical Intransigente (PERI) schrammte knapp an einem Abgeordnetensitz vorbei.
Das Problem vieler Frente Amplio-Politiker*innen ist, dass sie überholten orthodoxen Ideen nachhängen. So der unerschütterliche Glaube an den technologischen Fortschritt, der Umweltsünden und -schäden ohne weiteres beheben werde. Das sei letztlich neoliberale Mentalität, meinte ein Kritiker.
Die Mega-Investition Aratirís befürworten sowohl Mujica als auch sein Nachfolger Tabaré Vázquez. Der zum politischen Zentrum neigende Wahlsieger hatte den extraktivistischen Wirtschaftskurs schon in seiner ersten Amtszeit mit der Zellulosefabrik „Botnia“ gefestigt. Auf der Strecke bleibt der selbst gewählte Slogan „Uruguay natural“.

„Lasst uns das System verändern, nicht das Klima”

„El pueblo unido, jamás sera vencido“ („Das einige Volk wird nie besiegt werden“) – Laut und bunt, mit Trommeln, Tanz und Gesang zieht der Demonstrationszug zur Verteidigung der Mutter Erde durch Lima. Endpunkt ist die nach Perus historischem Befreier benannte Plaza San Martín. Hier soll heute die Mutter Erde befreit werden, von den drohenden Folgen des Klimawandels und dem dafür verantwortlichen Kapitalismus.
Der Himmel über Lima spannt sich weit und blau über der anwesenden Menschenmenge. 5.000 sind zusammengekommen, um an der Gran Marcha, dem Protestmarsch im Zentrum der peruanischen Hauptstadt, teilzunehmen. Der Marsch ist das Herzstück des viertägigen „Gipfel der Völker“, der vom 8. bis 11. Dezember in Lima parallel zur offiziellen UN-Klimakonferenz (COP20) stattfand und auf die Dringlichkeit des globalen Klimaschutzes aufmerksam machen soll. Auf Postern und Plakaten ziehen Evo Morales, Ché Guevara und Máxima Acuna vorüber. Acuna ist eine heldenhafte Bäuerin aus der Region Cajamarca, wo dem Landgrabbing durch ein Megabergbauprojekt Widerstand geleistet wird. „Es nuestro clima, no tu negocio – la tierra no se vende, la tierra se defende“, fordern die Teilnehmenden lautstark: Unser Klima ist nicht dein Geschäft – die Erde wird nicht verkauft, sondern verteidigt. Eine Gruppe von Bäuerinnen aus Puno singt „Wir sind ein Fluss, nicht nur bloße Tropfen“ und andere tragen vor sich ein Plakat mit der Aufschrift „Aus einem Samen wächst ein Wald“. Viele regionale Gruppen aus den peruanischen Provinzen sind angereist, um auf sich aufmerksam zu machen.
„Wir müssen Zeichen setzen“, sagt eine junge Frau aus der peruanischen Amazonasregion, „auf der offiziellen Klimakonferenz geschieht ja nichts“. Eine Gruppe von Studierenden, bunt bemalt und als Blumen verkleidet, legt auf der Plaza San Martín ihr Plakat auf den Boden. Die Aufschrift: „Sie wollten uns unter die Erde bringen, aber sie wussten nicht, dass wir Samenkörner sind.“
Die große Stärke des Parallelgipfels liegt darin, die unterschiedlichen Gruppierungen, sozialen Bewegungen und NGOs zusammenzubringen. „Hier müssen wir uns vereinigen und mit einer Stimme sprechen. Nur dann können wir wirklich etwas verändern“, sagt Johanna aus Frankreich, die angereist ist, um für Proteste in Paris nächstes Jahr zu mobilisieren, wo der COP21 stattfinden wird, die nächste entscheidende UN-Klimakonferenz.
Seit 2005 gibt es den Cumbre de los Pueblos in Lateinamerika. Die fast jährlich stattfindende Veranstaltung hat zum Ziel, zivilgesellschaftliche Organisationen und soziale Bewegungen zusammenzubringen, auf soziale und ökologische Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen und – ähnlich wie beim Weltsozialforum – den Neoliberalismus mit seinen Unterdrückungsmechanismen anzuprangern. In diesem Jahr geht es um den Klimawandel, für den das aktuelle neoliberale, auf ständiges Wachstum ausgerichtete Entwicklungsmodell als Hauptursache verantwortlich gemacht wird. „Lasst uns das System verändern, nicht das Klima!“ lautet daher die nicht zu überhörende Parole. Die auf der Weltklimakonferenz diskutierten Möglichkeiten von Schutzstrategien angesichts des Klimawandels halten die Organisator*innen des Parallelgipfels für nicht ausreichend. Eine Green Economy und die Privatisierung der natürlichen Ressourcen der Erde mit dem Zweck, sie als Waren auf den Markt zu bringen, kritisieren sie als eine gefährliche Entwicklung. Die Teilnehmer*innen fordern wirkliche Lösungen für das Problem des Klimawandels. Auf dem Gipfel werden daher konkrete Alternativen zum System des Neoliberalismus und Kapitalismus so wie Postextraktivismus, Buen Vivir, Ernährungssouveränität und Klimagerechtigkeit diskutiert.
Peru ist eines der vom Klimawandel am stärksten betroffenen Länder. Die bäuerliche und indigene Landbevölkerung spürt die Veränderungen am härtesten. „Eine ehrliche Anpassung an die durch den Klimawandel verursachte Lage wäre die konsequente Unterstützung der familiären Landwirtschaft und der Ernährungssouveränität“, so eine Kleinbäuerin aus der Region Ancash. In Peru zeigt sich die Regierung allerdings alles andere als unterstützend für die Belange der Landbevölkerung. Der Bergbausektor wird gestärkt, die Landrechte werden unterminiert.
„Es lebe die Mutter Erde!“ steht auf einem Schild, getragen von zwei Bäuerinnen aus der Sierra – der Andenregion. In der andinen Lebenswelt nimmt die Pachamama, die Mutter Erde, eine zentrale Rolle ein. Die Erde gibt alles, was die Menschen zum Leben brauchen: Land, Wasser, Nahrung. Auf einer begleitenden Agrarausstellung lassen sich die Schätze der Erde mit den Händen greifen, wie verschiedenste Mais- und Quinoa-Sorten. Die Pachamama gilt als unantastbar. Umso härter trifft es gerade die ländliche Bevölkerung Perus, mitansehen zu müssen, wie transnationale Unternehmen mit der Zustimmung von Regierungen das Land ausbeuten.
Während einer Paneldiskussion spricht Lourdes Huanca, Vorsitzende von FENMUCARINAP, einer peruanischen Frauenrechtsorganisation. „Der Bergbau zerstört unser Leben auf dem Land und das Leben der Frauen. Wir sind hier auf dem Gipfel, um mehr Allianzen mit anderen sozialen Bewegungen zu knüpfen“. Lourdes Huanca ist eine charismatische Frau mit rundem Gesicht, buntem Hut und funkelndem Blick. Sie weiß wofür und wie sie kämpft: „Mit Prinzipien und Überzeugung gegen die Ausbeutung unseres Landes und gegen die Kriminalisierung von sozialen Protesten“. Sie fordert mehr Rechte für Bäuerinnen, das Recht auf Ernährungssouveränität und auf ein würdiges Leben auf dem Lande.
Als der Alternativgipfel am Montagabend mit einer Zeremonie und Ehrung der Madre Tierra begann und mit einigen Worten der Bürgermeisterin von Lima, Susana Villarán, eröffnet wurde, konnte man bereits erahnen, dass die nächsten Tage ereignisreich, aber auch friedlich ablaufen würden. Die Stimmung im Parque de la Exposición, wo der Alternativgipfel in den darauffolgenden Tagen stattfindet, ist heiter. Das liegt möglicherweise nicht nur am frühsommerlichen Wetter, sondern vielleicht auch an dem bisher recht konstruktiv verlaufenden COP 20, der weniger Zündstoff bietet als auf vergangenen Klimakonferenzen in Warschau oder Kopenhagen.
„Wir sind alle hier, um für mehr Klimagerechtigkeit zu kämpfen“, sagt Marco, ein Aktivist aus Lima. Im Hintergrund protestiert eine Gruppe gegen die umstrittene Erweiterung der Goldmine Yanacocha in der Region Cajamarca. Künstler*innen, Aktivist*innen und Passant*innen sind hier versammelt. T-Shirts werden bedruckt und große Fahrräder zusammengebaut. Vor einem Brunnen wird mit Reis und Früchten ein Bild von einem Baum ausgelegt. Währenddessen finden in den verschiedenen Zelten und Räumen Vorträge statt, es gibt Foren, Workshops und Musik. Alberto Acosta aus Ecuador (ehemaliger Minister für Energie und Bergbau) und Eduardo Gudynas (Professor) aus Uruguay diskutieren über eine postextraktivistische Gesellschaft. Im Pressezelt überträgt Radio Cumbre Live-Interviews mit Anwesenden aus Politik und sozialen Bewegungen. Erst spricht Nicaraguas Umweltminister Augusto César Flores Fonseca, dann folgt ein Gespräch mit einer peruanischen NGO über die Gefahren des Fracking im Amazonas-Gebiet. Nebenan tippen Blogger*innen und Presseleute in ihre Laptops, fotografieren und notieren.
Der Gipfel bietet einen von Regierungen und dem Privatsektor unabhängigen Raum für Dialog und Aktionen der sozialen Bewegungen und der indigenen Völker, die hier ihre Erfahrungen, Probleme und Vorschläge zum Vorgehen gegen den Klimawandel austauschen. Das gemeinsame Ziel ist, Druck auf die Entscheidungsträger des COP20 auszuüben, darauf hinzuarbeiten, dass die Kritik und Stimmen der Zivilgesellschaft in den offiziellen Verhandlungen der Konferenz berücksichtigt werden.
Es ist ein wichtiger Moment, die Gelegenheit, Stimmen der unterschiedlichen Gruppierungen in Peru bzw. ganz aus Lateinamerika und darüberhinaus zu vereinen. Das ist nicht einfach. Gerade im Gastgeberland sind die sozialen Gegenbewegungen stark fragmentiert. So gilt es, starke Allianzen zu schließen, die auch nach dem Gipfel Bestand haben können im gemeinsamen Kampf um Rechte und den Erhalt der Madre Tierra. Auf dem Parallelgipfel manifestiert sich der Wille nach Veränderung, die Überzeugung, dass eine andere Welt möglich ist. Die Teilnehmer*innen eint das Bewusstsein, auf die gegebene „eine Welt“ aufpassen zu müssen, da sonst die Folgen der Ausbeutung und Zerstörung irgendwann nicht mehr aufzuhalten sind. Auch nicht mit gutgemeinten Klimakonferenzen.

Korrekturen statt Revolution

Es war eine peinliche Blamage für die Demoskop_innen in Uruguay. Wiederholt hatten sie eine Niederlage des Linksbündnisses Frente Amplio („Breite Front“) und vier Prozentpunkte Vorsprung für die beiden konservativen Traditionsparteien der Blancos und Colorados bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Oktober vorausgesagt. Es kam genau umgekehrt: 47,8 Prozent für die Frente Amplio, 30,9 Prozent für die Blancos, 12,9 Prozent für die Colorados.
Nicht nur in diesem Fall irrten die Umfrageinstitute. Schon als eine Mehrheit der Blanco-Partei den 41-jährigen Luis Lacalle Pou im Juni überraschend zum Präsidentschaftskandidaten wählten, wollten zahlreiche Umfragen glauben machen, der junge Senkrechtstarter habe vor allem in der jüngeren Generation ein Stein im Brett. Der 74-jährige Tabaré Vazquez erkor daraufhin den 52-jährigen Raúl Sendic zu seinem Vize. Der Sohn des gleichnamigen legendären Gründers der Stadtguerilla Tupamaros hat längst allen revolutionären Ideen abgeschworen. Doch entgegen den Politmythen von Analyst_innen und Demoskop_innen schnitt die Frente mit 58,8 Prozent bei den 18- bis 30-jährigen noch besser ab als im Gesamtergebnis. In der Hauptstadt Montevideo zog das Linksbündnis gar 71 Prozent der 18- bis 24-jährigen Wähler_innen an. Für die Fehlprognosen der Umfrageinstitute könnte die veraltete Methodik, mit der einige arbeiten, verantwortlich sein. Oder – wie nicht wenige vermuten – der Versuch, „gezielt“ Stimmung und Wahlen zu beeinflussen.
Lange Gesichter waren folglich bei den beiden rechten Traditionsparteien zu sehen, blieben sie doch bei den jüngeren Wähler_innen hinter dem Gesamtergebnis ihrer jeweiligen Parteien zurück. Für den modern, dynamisch und liberal auftretenden Lacalle Pou stimmten nur schlappe 27,2 Prozent der jungen Wähler_innen! Mit einem Novum können die Blancos allerdings aufwarten: Ein evangelikaler Pastor zieht für sie ins Abgeordnetenhaus ein.
Dem Ex-Präsidenten (2005-2010) und Präsidentschaftskandidaten der Frente, Tabaré Vázquez dürfte der Sieg in der Stichwahl am 30. November gegen den enttäuschenden Lacalle Pou kaum zu nehmen sein. Da hilft auch die Unterstützung durch Pedro Bordaberry, den unterlegenen Präsidentschaftskandidaten der oppositionellen Colorado-Partei, nicht mehr. Bordaberry ist extrem geschwächt, denn er hat der Traditionspartei das zweitschlechteste Ergebnis in ihrer langen Geschichte beschert. Versteinert wirkte das Gesicht Bordaberrys in der Wahlnacht aber nicht nur, weil die Wähler_innen ihm und seiner Partei eine schallende Ohrfeige verpassten, sondern auch, weil er das von ihm vorangetriebene Plebiszit zur Senkung der Strafmündigkeit verloren hatte.
Wiederum entgegen den Umfragen der Demoskopen! Damit die Bevölkerung „in Frieden leben“ könne, wollte Bordaberry die Strafmündigkeit von 18 auf 16 Jahre senken, das heißt junge Straftäter_innen nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilen lassen. Für Mord sollten sie beispielsweise 30 Jahre statt wie bisher fünf Jahre hinter Gittern verschwinden. Gewaltverbrechen sind tatsächlich angestiegen. Doch 94 Prozent aller Delikte gehen auf das Konto von Erwachsenen.
Die Colorado-Partei hat wie andere Rechte und Reaktionäre in Südamerika „Öffentliche Sicherheit“ als zentrales Thema für sich gepachtet. Sie schüren ein Klima der Angst. Repression und weniger Rehabilitation ist zumeist ihre Antwort.
Mehr Sicherheit gebe es vor allem durch verbesserte Lebensbedingungen, hielt Tabaré Vázquez entgegen. In den bald zehn Jahren von Frente-Regierungen sind umfangreiche Sozialprogramme aufgelegt worden. Das zahlte sich aus: In ärmeren Vierteln glänzte das Bündnis mit teilweise hohen Stimmengewinnen. Unbestritten ist, dass die Armut deutlich gesenkt wurde. Offiziell von 34 auf 11 Prozent. Und das sei „gut so“, meint Gustavo Melazzi, Mitbegründer des Netzes linker Wirtschaftswissenschaftler_innen. Aber es handele sich „letztlich um Assistenzialismus“. Gefördert werden müsste eine industrielle Entwicklung, „die Qualitätsjobs schafft, mit entsprechenden Löhnen.“
Uruguay brauche deshalb Investitionen, betont immer wieder Danilo Astori, Wirtschaftsminister in der ersten Frente-Regierung und erneut heißer Kandidat auf dieses Amt: Die entsprechenden Investitionen könnten allerdings nur aus dem Ausland kommen, im eigenen Land gebe es nicht genügend Kapital. Geködert werden Auslandsinvestitionen mit großzügigen Subventionen, Steuerbefreiungen, Zollfreizonen und Investitionsschutzabkommen. Auch Melazzi lehnt Auslandskapital keineswegs ab. Es sollte aber „in Wirtschaftszweige investiert werden, an denen Uruguay interessiert ist, also im Rahmen eines nationalen Entwicklungsprogramms. Aber das existiert leider nicht.“
Früher verbanden Wähler_innen der linken Frente Amplio das Versprechen von cambio, Wandel, mit tiefgreifenden Wirtschaftsreformen. Nun ist stattdessen Kontinuität angesagt. Uruguay wird von Ratingagenturen und neoliberal gestimmten Medien mit Lob überhäuft. Sie attestieren dem kleinen Land „politische Reife“. Es habe, so Moodys, „Willen als auch Fähigkeit besessen, die konservative Wirtschaftspolitik beizubehalten“. Die Frente sei, so Melazzi, in dieser Frage zu einem unausgesprochenen Konsens mit der Rechten gelangt. Sie scheint sich mit sozialdemokratischen Korrekturen am Kapitalismus abgefunden zu haben – ohne sozialistische Zukunft vor Augen.
Das Linksbündnis hat allerdings nie Sozialismus zum Ziel erklärt. Wohl auch, weil sich in der Frente Amplio sehr unterschiedliche politische Kräfte zusammengefunden haben, von Sozialliberalen, christdemokratisch und sozialdemokratisch geprägten Reformer_innen über Kommunist_innen bis hin zur MPP, der Partei der ehemaligen Stadtguerilla Tupamaros. Aber die Parteienkoalition habe sich ursprünglich „für gewichtige Strukturreformen in der Wirtschaft ausgesprochen“, erinnert sich Melazzi, der am ersten Regierungsprogramm mitgewirkt hat. So beispielsweise „für einen Staat, der in die Wirtschaft eingreift.“ Anstatt poruzierende Industriekomplexe zu schaffen, seien aber Investor_innen gefördert worden, die vor allem mit Rohstoffen – wie beispielsweise Soja, Zellulose und Mineralien – Dollar im Ausland verdienen. „Damit verfestigt sich unsere Rolle als Rohstoffexporteur“, sagt Melazzi. Das wird sich auch unter Tabaré Vázquez nicht ändern. Die Umwelt spielt bei der Ausbeutung der Rohstoffe dagegen eine untergeordnete Rolle.
Die Verteidiger_innen der bisherigen Politik verweisen auf ununterbrochenes Wachstum (zeitweise beachtliche 5,8 Prozent), steigende Lebensqualität, auch auf dem Lande, und eine niedrige Arbeitslosigkeit, die um sechs Prozent pendelt. Doch rund 40 Prozent der Arbeiter_innen verdienen weniger als 14.000 Pesos (etwa 470 Euro) monatlich – in einem Land, das zu den teuersten Ländern in Lateinamerika zählt.
Was passiert, wenn das auf Wachstum basierende Modell Risse bekommt? Ohne Wachstum „könne man auch nichts verteilen“, ist der wohl künftige Wirtschaftsminister Astori überzeugt. Wie dann die von allen Parteien geforderte Reform des teilweise desolaten Bildungssystems finanzieren? Wie den jährlichen milliardenschweren Schuldendienst (4,2 Prozent des Bruttosozialprodukts) leisten ohne soziale Abstriche? Wie die weitgehend verschwiegene Ungleichheit mildern? Eine Untersuchung von uruguayischen Wirtschaftswissenschaftler_innen hat jüngst ergeben, dass sich Uruguays „Elite“ (ein Prozent der Bevölkerung) 14 Prozent der Gesamteinkommen einsteckt. Mehr als in Großbritannien (12,9 Prozent) und in der Schweiz (10,5 Prozent)! Umverteilen? Höhere oder neue Steuern, beispielsweise auf Supergewinne im Agrobusiness, lehnt Marktfundamentalist Astori ab. José „Pepe“ Mujica möchte zumindest darüber nachdenken.
Das letzte Wort hat sein künftiger Nachfolger. Tabaré Vázquez sei ein Mann, urteilt der angesehene Politologe Oscar Botinelli, der „auf Hierarchie und Unterordnung“ baue. Reibungsloses Regieren ist ihm allerdings nicht garantiert. Nicht etwa weil die linke Unidad Popular überraschend mit einem Abgeordneten ins Parlament einzieht. In ihr haben vor allem enttäuschte Frente-Wähler_innen eine neue politische Heimat gefunden, die die frühere antikapitalistische und antiimperialistische Fahne der Frente Amplio hochhalten. Widersprüche sind vielmehr von José „Pepe“ Mujica, dem bisherigen Präsidenten und künftigen Senator, zu erwarten. Seine MPP ist wieder als stärkste Gruppierung aus den Wahlen hervorgegangen, während Astoris Frente Liber Seregni erheblich Federn lassen musste. Die ersten verbalen Scharmützel zwischen Tabaré Vázquez und dem 79-jährigen Mujica gab es bereits vor den Wahlen. Zum Beispiel um das Marihuana-Gesetz, das Anbau, Verkauf und Konsum von Cannabis legalisiert.
Zündstoff bietet auch die Außenpolitik. Mujica trommelte für die Integration, für Brasiliens Führungsrolle auf dem Subkontinent, herzte den verstorbenen Präsidenten Venezuelas und Freund Hugo Chávez. Gleichzeitig tritt er vehement für eine Vollmitgliedschaft Uruguays in der Pazifik-Allianz, einem Kind Washingtons, ein. Alle Mitglieder – Chile, Peru, Kolumbien und Mexiko – haben Freihandelsverträge mit den USA abgeschlossen. Die Allianz ist letztlich gegen die Vormachtstellung Brasiliens und den Einfluss Chinas auf dem Subkontinent gerichtet. Mujica schwant, dass Uruguay vor einem Dilemma steht, über das „aber keiner spricht“. Da würden Verträge zwischen Staaten abgeschlossen, um China auszubooten, aber „keiner sagt das“. China ist jedoch der wichtigste Handelspartner des kleinen Landes am Río de la Plata. Können wir etwa auf den Handel mit China verzichten? Sein wahrscheinlicher Nachfolger schielt eher nach Norden. Tabaré Vázquez überraschte vor einigen Monaten die frentistas mit einem Bekenntnis: Als es während seiner Amtszeit zu heftigen Unstimmigkeiten mit Argentinien wegen eines Zellulosewerkes am Grenzfluss kam, habe er über einen Hilferuf an die USA nachgedacht. Über bewaffneten Beistand gegen den Nachbarn. Starker Tobak für eingefleischte Antiimperialist_innen, die allerdings immer seltener in der Frente ihre Stimme erheben.

Ausgleich statt Radikalität

Der 12. Oktober könnte ein Sieg für die Geschichtsbücher gewesen sein. Sollte Evo Morales seine nunmehr dritte Amtszeit zu Ende bringen, wird er 14 Jahre an der Spitze des bolivianischen Staates gestanden haben, länger als jeder Präsident vor ihm. Dazu passend plant Morales ein neues Gebäude für die Inszenierung seiner Macht. Das auf 29 Stockwerke angelegte „Volkshaus“ soll den aktuellen Regierungspalast ersetzen. Dieser wird sich dann in ein „Museum des kolonialen Staats“ verwandeln, ein Beispiel für die üble Vergangenheit, für das alte Bolivien. Die Geschichte des Landes und seines Volkes wird unter der Regierung von Morales neu geschrieben.
Laut der offiziellen Interpretation der historischen Verhältnisse hat Bolivien seit dem ersten Wahlsieg der Regierungspartei Bewegung zum Sozialismus (MAS) im Jahr 2006 einen Neuanfang erlebt. Der koloniale Staat liegt in der Vergangenheit. Der „plurinationale“ Staat hat sich durchgesetzt und zwar mit einer Verfassung, die zum ersten Mal seit der spanischen Eroberung die indigenen Völker als gleichberechtigte Subjekte anerkennt und in politische Entscheidungsprozesse mit einbezieht. Morales Alleinstellungsmerkmal in der Geschichte der politischen Repräsentation beruht nicht nur auf seiner ethnischen Identität, sondern auch auf der Tatsache, dass er als erster Präsident aus der Arbeiterklasse kommt.
1982 gelang der bolivianischen Linken erstmals ein Sieg an den Urnen. Begleitet von einer der schlimmsten Wirtschaftskrisen des 20.Jahrhunderts endete diese Erfahrung schon nach drei Jahren. Damals kontrollierte die Kommunistische Partei drei Ministerien, trotz des Widerstands der amerikanischen Botschaft. Im Kontext des Kalten Krieges war es das Ziel der bolivianischen Linken, das Militär in die Kasernen zurück zu drängen und auf diese Weise die demokratische Grundordnung des Landes wieder herzustellen. Damals war keine Rede vom Sozialismus.
25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer hat sich die bolivianische Linke an der Regierungsmacht etabliert. Evo Morales wurde mit einer Wahlbeteiligung von 89 Prozent zum zweiten Mal wiedergewählt. Laut offiziellen Angaben konnte sich seine Partei MAS mit 61 Prozent der Stimmen auch in der kommenden Legislaturperiode 2015 bis 2020 eine Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern des Kongresses sichern. Die Regierung kann weiterhin jedes ihrer Vorhaben mit den eigenen Stimmen verabschieden. Die beiden stärksten Oppositionsparteien schnitten hingegen wesentlich schlechter ab, die Demokratische Union (UD) erhielt 24 Prozent und die Christdemokraten (PDC) 9 Prozent der Stimmen.
Bereits in ihrem Parteinamen propagiert die Regierungspartei MAS den Weg zum Sozialismus.Der Vizepräsident des Landes, Álvaro García Linera, ist ein ehemaliger Guerrillero, der sich selbst als Kommunist versteht. Porträts von Che Guevara säumen die Wände des Regierungsgebäudes und die Beziehungen zu Kuba und Venezuela sind enger denn je. Ist Boliviens Regierung seit 2006 auf dem Weg, ein sozialistisches Modell zu implementieren?
Nach Meinung der aktuellen Zentren des Kapitalismus ist die klare Antwort ein Nein. Sowohl die Weltbank als auch der Internationale Währungsfonds, ehemalige Erzfeinde Morales‘, haben ihre Sympathie für das bisherige bolivianische Wachstumsmodell gezeigt. Die konservativen Meinungszirkel der USA, vertreten durch die New York Times oder das Wall Street Journal, applaudieren der Politik Morales. Sie sehen durch dessen Form des Sozialismus keine kapitalistischen Interessen gefährdet.
In Bolivien fällt die Antwort auf diese Frage jedoch wesentlich komplexer aus. An den Ergebnissen der letzten Wahl wird die eindeutige Unterstützung der Bevölkerung deutlich, die MAS gewann acht der neun großen Wahlbezirke des Landes. Ihre Wähler_innen konstituieren sich jedoch nicht nur aus den prekarisierten oder indigenen Teilen der Bevölkerung, sondern kommen auch aus den konservativen Regionen des Flachlandes wie Santa Cruz oder Tarija. Die dort ansässigen Großunternehmer_innen machen Gewinne und stabilisieren so die Macht der Regierung, die dabei ist, ein Machtmonopol in der Politik zu etablieren. Vor fünf Jahren war die Opposition der Meinung, die Regierung würde eine kommunistische Revolution in Gang bringen. Heute besteht die Erkenntnis, dass dies in keiner Weise die Absicht ist.
Tatsache ist, dass die Bewegung zum Sozialismus ihren eigenen Weg zur Modernisierung gefunden hat. Anfangs versprach sie, Großgrundbesitz zu enteignen und an die armen Landarbeiter_innen zu verteilen. Auch die Marktreformen der neunziger Jahre sollten rückgängig gemacht werden. Viele fürchteten die Radikalisierung des Klassenkampfes in einem Land, in dessen Geschichte die Gegensätze zwischen Arm und Reich tief verwurzelt sind. Um den damals radikalen Protest abzuschmälern, der das Land an den Rand eines Bürgerkriegs brachte , entschloss sich die Regierung dazu, die Armut zu reduzieren, ohne die Vermögen und Privilegien der Reichen anzurühren. Eine umfangreiche Sozialpolitik hat in den letzten Jahren die Revolution ersetzt. Das hat klare Folgen für die Wahlergebnisse gehabt.
Die zweite große Frage, die sich in diesem Kontext stellt, ist, ob die MAS ihre Ideale verraten hat. Hat sie sich an die Machtverhältnisse in der Welt einfach angepasst? Hat sie das Ziel des Sozialismus gegen Stabilität eingetauscht?
Eine der möglichen Antworten ist, dass der durch die positive wirtschaftliche Lage bedingte finanzielle Handlungsspielraum von der Regierung sinnvoll genutzt werden konnte, um soziale Spannungen abzuschwächen. Die neue Mittelschicht, aus der Verteilungspolitik des letzten Jahrzehntes entstanden, wird zunehmend konservativ. In einigen Ländern des Kontinents mit Linksregierung, wie Brasilien, hat sich die neue Mittelschicht von der Regierung distanziert. In Bolivien ist das Gegenteil geschehen, die Ausrichtung der Regierung hat sich geändert. Geschickt hat die bolivianische Linke, ähnlich wie in Uruguay, den veränderten gesellschaftlichen Grundkonsens begleitet und ist mit einem Teil der Bevölkerung zur politischen Mitte gewechselt.
Die bolivianische Gesellschaft wünscht sich den Sozialismus nicht mehr und und die Regierunghat dies rechtzeitig erkannt. Basierend auf dieser Grundstimmung in der Bevölkerung hat sie dann die Wahlkampagne initiiert. Keine Veränderungen mehr, das war die Parole während der aktuellen Wahlperiode. Eine verblüffende Entwicklung, die nur in einer funktionierenden repräsentativen Demokratie möglich ist.

Verlasst die Städte!

Jorge Belanko hat Hände wie Bärentatzen und wenn er spricht, lohnt es sich zuzuhören. „Die Biokonstruktion steht in direktem Zusammenhang mit dem Recht auf ein Stück Land. Denn ohne Land keine Erde und ohne Erde keine Biokonstruktion.” Jorge Belanko ist sowas wie der Lionel Messi des Lehmbaus und normalerweise haben die Worte des schlanken, hohen Mannes aus Patagonien Gewicht. Normalerweise. Doch in diesen windigen Spätherbsttagen an der argentinischen Atlantikküste folgte dem Gesagten keine vertiefte Diskussion. Weder bei der Präsentation einer Lehmbauverordnung im Parlament der Küstenstadt Mar del Plata, in der seit Monaten Lehmhäuser wie Pilze aus dem Boden schießen, noch danach beim Kongress zu Energieeffizienz in der Biokonstruktion, dem ersten in dieser Form in Argentinien.
Der gut 60-jährige Poliermeister insistierte dennoch und tat Entwaffnendes: Er erzählte seine eigene Geschichte. Davon, dass er mit seiner Familie in den 1980er Jahren nach El Bolsón (Patagonien) gezogen war, sich dort ein Stück Land aussuchte, sein Haus baute und dies ohne Plan oder Genehmigung der Gemeinde tat. „Man drohte mir mit der Gendarmerie, mit der Polizei, mit Bußgeld, und auch mit dem Abriss des Hauses – doch ich wohne nach wie vor dort.”
Während des Kongresses in Mar del Plata wurde eines ans Licht gefördert: Das Recht auf ein Stück Land ist ein wichtiges Puzzleteil der Biokonstruktion. Man spürte während den drei Kongresstagen, zu denen Expert_innen aus ganz Argentinien, Uruguay, Chile und selbst aus Deutschland angereist waren, dass es nicht nur um die Konstruktion mit nachwachsenden Materialien ging, sondern um die Konstruktion einer Lebensform – jener in Harmonie mit der Natur. Es machte zwischenzeitlich gar den Eindruck, als dass sich in der Küstenstadt Außerirdische trafen, die den Kontakt zur Erde verloren hatten, diesen nun aber unbedingt wieder herstellen wollten. Wohlgemerkt, im Konferenzsaal eines Dreisternehotels sitzend…
Um die Distanz zwischen Mensch und Erde zu verstehen, hilft vielleicht ein Blick auf die Weltkarte. Dieser zeigt, dass heute über die Hälfte der Erdbewohner_innen in Städten oder stadtnahen Gebieten lebt; in Lateinamerika sind es beinahe 80 Prozent. Realitäten wie jene des Land Grabbings sind daher schwierig zu erkennen. Land Grabbing bezeichnet den großflächigen Erwerb von landwirtschaftlich nutzbarem Land – vorwiegend im globalen Süden durch Firmen oder Regierungen aus Industrie- und Schwellenländern. Die Folgen sind unter anderem Vertreibungen der ansässigen Kleinbauern und -bäuerinnen und ökologisch problematische Monokulturen. Land Grabbing gleich Kolonialisierung gleich Unterdrückung. Realitäten, die die Stadtbewohner_innen des 21. Jahrhunderts, egal ob Berlin oder Buenos Aires, entweder nicht mitbekommen oder nicht mitbekommen wollen. Sie haben die Industrie komplett akzeptiert genauso wie den Ausverkauf der Erde.
Einschätzungen wie diese kamen nicht von Globalisierungskritiker_innen, sondern von Personen wie Jorge Czajkowski. Der Direktor des Laboratoriums für Architektur und nachhaltigen Wohnraum der Universität La Plata drückte sich unmissverständlich aus. „Was den Energieverbrauch betrifft, befindet sich unsere Konsumgesellschaft auf direktem Weg in den Suizid.”
Deutliche Worte wählte auch Architektin Isabel Donato, Koordinatorin einer Öko-Wohnüberbauung und neben Belanko eine der Vorreiterinnen der Biokonstruktion in Argentinien. „Die Städte haben ihren Zweck erfüllt”, sagte Donato vor den rund 100 Teilnehmer_innen. „Heute dienen sie höchstens noch als Museum.” Sie erwähnte zwar die Projekte des US-Architekten Paolo Soleri, der bereits in den 1960-Jahren in der Städteplanung die Nutzung von Sonnen- und Windenergie vorschlug und damit den Begriff Arcology maßgeblich prägte, doch der Aufruf von Donato war eindeutig: Verlasst die Städte!
Doch wer die Stadt verlässt, der braucht ein Stück Land. Und dieses ist teuer geworden in Argentinien, insbesondere an der nördlichen Atlantikküste, an der in den vergangenen Jahren unablässig gebaut wurde. 500 Quadratmeter Land kosten dort heute gut und gerne 40 000 Dollar und sind also unerschwinglich für die Mehrheit der Argentinier_innen. Der hiesige Durchschnittslohn liegt unter 1000 Dollar pro Monat und verliert angesichts der anhaltenden Inflation wöchentlich an Wert. Es zeichnet sich an der Atlantikküste eine ähnliche Entwicklung ab, wie an den Stadträndern von Buenos Aires, Rosario oder Cordoba: Es wachsen nicht nur die Armenghettos, sondern auch jene Viertel der Reichen. In sogenannten barrios cerrados (geschlossene Viertel) hat sich die argentinische Oberschicht abzuschotten begonnen. Neuerdings, und dies entbehrt nicht ganz der Ironie, sogar in Lehmhäusern. Denn diese sind in Mode, auch die Massenmedien postulieren diesen Trend wie ein Accessoire.
Natürlich hat sich das Jorge Belanko so nicht vorgestellt, als er 2008 vor die Kamera trat und der Lehrfilm „El barro, las manos, la casa“ („Der Lehm, die Hände, das Haus“) gedreht wurde.Während der zwei Stunden gibt Belanko dort jenes Kulturgut weiter, das angesichts der Flucht vom Land in die Stadt und vom Realen zum Digitalen zu verloren gehen droht: der Bau des Eigenheims. Die Dokumentation ist eine Anleitung zum Selberbauen und sie ist der Ursprung der aktuellen Lehmbau-Euphorie im Land.
Seither ist Belanko fast ununterbrochen unterwegs und wird gefeiert wie ein Popstar. Egal ob an Workshops in Mexiko oder Feuerland oder eben an Kongressen wie in Mar del Plata. Sein Anliegen bezüglich Landbesitz geht im Enthusiasmus um die Wiederentdeckung des Baustoffs Erde und dem unerbittlichen Personenkult oftmals unter.
Indirekt aufgenommen wurde Belankos Anliegen am letzten Kongresstag von Gernot Minke, Leiter des Forschungslabors für Experimentelles Bauen an der Universität Kassel, Autor zahlreicher Bücher und weltweit Ansprechpartner im Lehmbau. Während der Diskussion zur staatlichen Regulierung des Lehmbaus sagte er: „Vorsicht mit Gesetzen. Sie dienen meistens der Industrie und berücksichtigen nicht die Ideen von kleinen Firmen.“ Der 77-jährige bezog sich auf seine Erfahrungen aus Deutschland, wo die Industrie längst Teil der Lehmbaukultur ist und wo staatliche Gesetze wichtiger sind als universelle Gesetze, etwa jenes wonach jeder das Recht auf ein Stück Land hat. In Lateinamerika leben weniger Menschen auf mehr Raum, weshalb Industrie und Staat eine andere Rolle spielen als in Europa. Hier regiert trotz Land Grabbing und Flucht in die Stadt nach wie vor der Spirit der autoconstrucción, des Selbstbauens. Man baut mit lo que hay – also damit, was einem zu Verfügung steht. Ob mit oder ohne staatliche Regelung.
„Die Biokonstruktion ist ein Prolog“, pflegt Jorge Belanko zu sagen und er sagte es auch während des Kongresses. „Sie ist ein Prolog dafür, dass wir Menschen uns wieder zusammentun, und versuchen in Harmonie mit unserem Umfeld zu leben.“

Uruguay am Scheideweg

Der Sieger bei den Präsidentschaftswahlen in Uruguay steht fest: das politische Establishment. Alle drei großen Parteien beziehungsweise Parteienbündnisse treten mit Kandidaten an, die seit langem selbst Teil der offiziösen Politik sind oder aus einschlägig politisch vorbelasteten Familien stammen. Der 74-jährige ehemalige Präsident Tabaré Vázquez, der zwischen 2005 und 2010 die erste Regierung der Frente Amplio (Breite Front) anführte, wird vom 41-jährigen Luis Alberto Lacalle Pou, dem Sohn des liberalkonservativen ehemaligen Staatspräsidenten Luis Alberto Lacalle (1990-1995) von der Nationalpartei (Blancos) herausgefordert. Der dritte im Bunde ist der 54-jährige Pedro Bordaberry, Kandidat der rechtskonservativen Colorado-Partei und Sohn des 2011 verstorbenen, ehemaligen Diktators Juan María Bordaberry (1972-1976).
Welche Partei das Rennen macht, ist weniger klar: Anfang Oktober wurden vom führenden uruguayischen Meinungsforschungsinstitut factum für die Wahl am 26. Oktober für die Frente Amplio 42 Prozent, für die Blancos 32 und für die Colorados 15 Prozent ermittelt. Mit einer erneuten Mehrheit der Frente Amplio in beiden Kammern des uruguayischen Parlaments ist demnach nicht zu rechnen.
Ebenso wie in Brasilien steht daher auch in Uruguay eine der linken, progressiven Regierungen des Subkontinents auf der Kippe. Die Folgen für den regionalen Integrationsprozess in Südamerika würden sich bei einer Niederlage von Dilma Roussef und Tabaré Vázquez schnell bemerkbar machen. Ein Panorama der „Linken Regierungen in Lateinamerika“, oder des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ wäre dann sicher so nicht mehr zu halten. Eines ist aber schon mit dem Abgang des amtierenden Staatspräsidenten José „Pepe“ Mujica, der laut uruguayischer Verfassung nicht unmittelbar wiedergewählt werden darf, gewiss: Vorbei ist definitiv die Ära der charismatischen, caudillo-haften, populistischen – derlei Benennungen gibt es viele – Typen in Lateinamerika. Nach dem (vorläufigen) Rückzug von Luiz Inácio „Lula“ da Silva und dem Tod von Néstor Kirchner und Hugo Chávez war der knorrige 79-jährige ehemalige Stadtguerillero der Tupamaros sowohl wegen seiner ungewöhnlichen Biographie als auch wegen seines Amtsstils eines der letzten verbleibenden „Originale“. Das spiegelt sich auch in seiner Wahrnehmung sowohl im Ausland als auch in Uruguay selbst wider. Die internationale Presse ist voller Lobeshymnen für den „ärmsten Präsidenten der Welt“ (Mujica spendet fast 90 Prozent seines Präsidentengehalts).
Das, was seit dem Amtsantritt von Pepe Mujica im März 2010 erreicht wurde, kann sich durchaus sehen lassen. Die Programme zur Armutsbekämpfung wirken: Der Anteil der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, ging von 2006 bis 2013 von 34 auf 11 Prozent zurück und nach Angaben der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) gibt es in Uruguay den niedrigsten Armutsindex in Lateinamerika. Ebenso greifen die Maßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit, aktuell liegt die Rate bei sechs Prozent. Die Einkommen der Uruguayer_innen haben sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt, der Mindestlohn liegt bei 500 US-Dollar, und das Land steht an der Spitze im Ranking bei der sozialen Inklusion. Auf der anderen Seite sind allerdings die Verbraucherpreise angestiegen, die Inflationsrate liegt bei 8,5 Prozent. Für Uruguay eher hoch, im Vergleich mit anderen lateinamerikanischen Ländern aber immer noch sehr niedrig. Aber seit etwa zehn Jahren wird ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum verzeichnet. Es gibt ein funktionierendes nationales Gesundheits- und Rentensystem und keinen nennenswerten Analphabetismus mehr im Land. 98 Prozent der Menschen haben Zugang zu sauberem Trinkwasser, 70 Prozent sind an die öffentliche Abwasserversorgung angeschlossen. Auch in der Gesellschaftspolitik gab es wegweisende Fortschritte: Eingetragene Lebenspartnerschaften wurden legalisiert, 2009 wurde auch gleichgeschlechtlichen Paaren ein Adoptionsrecht zugestanden. 2013 wurde das Gesetz zur Legalisierung der Schwangerschaftsunterbrechung verabschiedet.
All das, die Popularität von Pepe, die durchaus beeindruckenden Daten, garantieren nicht die Wiederwahl seines Parteienbündnisses Frente Amplio. Tabaré Vázquez, der mit Rául Sendic, dem Sohn des legendären gleichnamigen Gründers der Tupamaro-Stadtguerilla als Vizepräsidentschaftskandidat antritt, kann nicht davon profitieren. Sein Wahlslogan Vamos bien („Wir sind auf dem richtigen Weg“) ist so blutleer wie der Kandidat selbst, die Frente Amplio kann kaum noch wie bei früheren Wahlen ihre Basis aktivieren, geschweige denn begeistern. Weder Vázquez noch dem mit 52 Jahren deutlich jüngeren Sendic gelingt es, die Jugend zu motivieren – nicht von der Ansprache her, nicht mit ihren Inhalten. Und die Mittelklasse, die aufgrund der erfolgreichen Wirtschafts- und Sozialpolitik der letzten Jahre stark angewachsen ist, wendet sich von der Frente Amplio ab.
Nicht wenigen kommt das Bündnis nach zehn Jahren an der Macht schon verbraucht vor. Eine Welle, auf der Lacalle Pou erfolgreich reitet. Zudem gelingt es ihm, ein frisches, dynamisches Image zu vermitteln. Und die Blancos profitieren davon, dass auch in Uruguay das Thema Sicherheit bei der Mehrheit der Wähler_innen ganz oben auf der Agenda steht. Weit von den Kriminalitätsraten in den Nachbarländern Argentinien und Brasilien entfernt, ist auch im traditionell sehr friedlichen Uruguay die Gewaltrate angestiegen. Das wird auch dadurch deutlich, dass die Uruguayer_innen in einer Volksabstimmung am 26. Oktober darüber entscheiden, ob die Strafmündigkeit auf 16 Jahre herabgesetzt wird. Eine Initiative, die von der rechten Colorado-Partei eingebracht wurde – ein Novum. Die Plebiszite der letzten Jahrzehnte wurden bis dato immer von progressiven breiten gesellschaftlichen Bündnissen initiiert und durchgesetzt. Der Ausgang ist völlig offen, die letzten Umfragen sprechen von einer absoluten Pattsituation bei diesem Thema.
Mujica hat sich im letzten Jahr seiner Präsidentschaft dem Thema auf andere Art angenommen: Im Mai 2014 wurde auf seine Initiative hin ein Gesetz verabschiedet, das den staatlich kontrollierten Marihuana-Anbau und den Handel legalisiert, weltweit das erste Gesetz dieser Art. Mujica erhofft sich dadurch eine effizientere Bekämpfung der Drogenkartelle sowie einen Rückgang der Kriminalitätsrate, die auch wegen der Zunahme der Beschaffungskriminalität ansteigt. Trotz internationaler Anerkennung, lehnt in Uruguay selbst eine Mehrheit der Bevölkerung das Gesetz ab. Eine weitere Leerstelle der Politik der letzten fünf Jahre ist die ausbleibende Reform des Bildungssystems. Von Menschenrechtsgruppen wird die Regierung zudem wegen ihres eher zögerlichen Einsatzes gegen die Straffreiheit für Verbrechen während der Militärdiktatur kritisiert, von ökologischen Bewegungen für die Förderung von milliardenschweren Auslandsinvestitionen mit ökologischen Folgen, wie zum Beispiel den Übertage-Abbau von Eisenerz und den ungezügelten Anbau von Gensoja und der damit einhergehenden Verdrängung der traditionellen extensiven Viehzucht-Kultur Uruguays.
Nach der Wahl ist auch in Uruguay vor der Wahl. Für die Kommunalwahlen 2015 wollen die Blancos und Colorados eine neue Partei gründen, um die seit fast 25 Jahren andauernde Dominanz der Frente Amplio in Montevideo, in der fast die Hälfte der uruguayischen Bevölkerung lebt, zu brechen. Mit dem Rückenwind eines möglichen Sieges bei der Stichwahl am 30. November könnte ihnen das gelingen.

Der Höhenflug der Raben

Alle reden vom Papst, die Lateinamerika Nachrichten von Osvaldo Soriano. Nach dem Triumph bei der Copa Libertadores, quasi der südamerikanischen Fußball-Champions League, Mitte August unterließ keine Zeitung in Deutschland den Hinweis auf das berühmteste Mitglied des Club Atlético San Lorenzo de Almagro: Jorge Mario Bergoglio, einst Kardinal von Buenos Aires und inzwischen als Papst Franziskus in Rom tätig: Mitgliedsnummer 88235N-1, Eintrittsjahr 2008. 2008 war Osvaldo Soriano schon elf Jahre tot und so fiel 2014 in deutschen Gefilden der Name des zu Lebzeiten enorm populären Schriftstellers nicht, obwohl davon ausgegangen werden muss, dass Soriano im Himmel weit eher den gängigsten Schlachtruf der cuervos (die Raben) in die Realität umzusetzen pflegt, als der Stellvertreter des Herrn auf Erden: „Wir trinken den besten Wein aus Flaschen, und rauchen alles Gras, das wir kriegen können. Ohhh San Lorenzo. Ohhh San Lorenzo.“
In Madrid gibt es einen nach Osvaldo Soriano benannten Fanclub von San Lorenzo und selbst der Papst dürfte nicht bestreiten, dass Sorianos Zeugnisse der Leidenschaft nicht zu übertreffen sind: „Im Fußball wählt man sich keinen Siegerclub aus. Fan von San Lorenzo zu sein, ist ein Schrecken ohne Ende, eine Last, die man das ganze Leben mit sich schleppt, mit derselben Mischung aus Bestürzung und Stolz wie die Last, ein Argentinier zu sein.“ Der 1943 geborene Soriano hat zwar einige Erfolge erlebt, ein paar argentinische Meisterschaften zum Beispiel und vor allem die Ära, in der sein Idol José Sanfilippo von 1958 bis 1961 viermal in Folge Torschützenkönig wurde – mehr als die Meisterschaft 1959 sprang an Trophäen dabei aber nicht heraus.
San Lorenzo, das neben cuervos auch als ciclón (Wirbelsturm) firmiert, gehört zwar neben Boca Juniors, River Plate, Racing Club, Independiente zu den großen fünf Traditionsvereinen aus Buenos Aires, doch das verdankt der Club mehr seiner treuen Anhängerschaft als allzu großen Erfolgen. Da haben die anderen vier und noch ein paar weitere Vereine aus der Hauptstadt, wie z.B. Vélez Sársfield, mehr zu bieten als bis dato San Lorenzo. Umso enthusiastischer wurde den beiden Finalspielen der durch die Fußballweltmeisterschaft unterbrochenen Copa Libertadores entgegengefiebert. San Lorenzo konnte sich in der Gruppe nur mit Mühen und mit der niedrigsten Punktzahl ins Achtelfinale retten, von da an lief es aber immer besser, bis das Finale gegen Nacional Asunción aus Paraguay erreicht wurde. Und nach dem 1:1 beim Hinspiel in Asunción gab es kein Halten mehr. Bereits direkt nach dem Abpfiff pilgerten die ersten Fans in Buenos Aires zu den Ticketschaltern, in der Hoffnung, eine Karte fürs Rückspiel zu ergattern. Bis zu zwölf Stunden lang zelteten 100.000 Anhänger_innen bei winterlichen Temperaturen vor dem Nuevo-Gasómetro-Stadion im Stadteil Bajo Flores. Die Warteschlange war mehr als zehn Häuserblocks lang. Im Internet wurden 15.000 US-Dollar für eine Karte verlangt. Ein Besitzer wollte als Tausch gar einen Arbeitsplatz. Ob dieses Tauschgeschäft zustande kam, ist bislang nicht publik geworden.
Das Nuevo-Gasómetro-Stadion, indem San Lorenzo seit 1993 seine Heimspiele in Sichtweite zu einem villa miseria (Elendsviertel) in Bajo Flores auszutragen pflegt, fasst nur gut 40.000 Zuschauer_innen. So war klar, dass die meisten leer ausgehen mussten, zumal Klubmitglieder und Dauerkarteninhaber_innen vorrangiges Zugriffsrecht hatten. Umso größer dann die Feier nach dem 1:0-Zittersieg, die vor allem in den drei nebeneinanderliegenden Stadtteilen Boedo, Caballito und Almagro zelebriert wurde, an deren Schnittstelle das Viejo-Gasómetro-Stadion lag, das Herz des Vereins, bevor es einem Supermarkt weichen musste. Osvaldo Soriano hat wie kein anderer in seiner großartigen Kurzgeschichte Tor von Sanfilippo (siehe den Text in dieser LN-Ausgabe) diesen Verlust literarisch prägnant verewigt.
Der Traum von der Copa Libertadores ist Wirklichkeit geworden und der Traum vom Gewinn des Weltpokals, vorzugsweise gegen Real Madrid im Dezember bei der Clubweltmeisterschaft in Marokko, lebt ebenso wie der Traum der Träume: die Rückkehr an den Ort des alten Stadions einschließlich Neubaus. Was lange Zeit jenseits des Möglichen erschien, ist dank der Beharrlichkeit vieler Fans in den Bereich des Möglichen gerückt worden. Über 100.000 demonstrierten im Mai 2012 in Buenos Aires für die Rückübereignung des Stadiongeländes, zogen zur Plaza de Mayo und vor den Präsident_innenpalast Casa Rosada. Der für die Causa zuständige Stadtrat zeigte sich beeindruckt: Er beschloss Ende 2013 einstimmig, dass der Verein sein altes Gelände zurückerhalte. Das Unternehmen Carrefour solle sich mit San Lorenzo über einen Kaufpreis einigen, ansonsten werde der Supermarkt enteignet.
Just als Enteignung wird der Verlust des Stadions 1979 inmitten der Militärdiktatur (1976-83) von vielen Anhänger_innen betrachtet. „Haben Sie Kinder an der Universität?“, soll der von den Militärs eingesetzte Bürgermeister Osvaldo Cacciatore den San-Lorenzo-Präsidenten Vicente Bonina gefragt haben. Und als der bejahte, habe Cacciatore gesagt: „Dann rate ich Ihnen, das zu tun, worum ich Sie bitte.“ Solche Worte waren 1979 als unmissverständliche Drohung zu verstehen: Unter den 30.000 Todesopfern, die die Diktatur auf dem Gewissen hat, waren unzählige Student_innen.
San Lorenzo stimmte schließlich dem Verkauf zu. Das im Gegenzug erhaltene Ersatzgelände in Bajo Flores liegt weitab von den Ursprüngen des Vereins und dementsprechend fehlt es dort an sozialer Verwurzelung.
Der Deal rund ums Stadion hat weiteren unappetitlichen Beigeschmack. Aus dem von Cacciatore dem San Lorenzo-Präsidenten unterbreiteten Ansinnen, das Gelände für Straßen und Siedlungsbau dringlichst zu brauchen, war kurz nach dem Verkauf nicht mehr die Rede. Das Gelände wurde für 900.000 US-Dollar an eine Scheinfirma aus Uruguay verscherbelt. Diese wiederum reichte die rund 35.000 Quadratmeter zwei Jahre später für acht Millionen US-Dollar an den französischen Handelskonzern Carrefour weiter. Wer dabei alles die Hand aufhielt, ist ungeklärt. Carrefour errichtete dort seinen ersten Supermarkt in Argentinien und setzte seine Expansion in der Folgezeit fort.
Das nach dem benachbarten Gaswerk benannte Viejo Gasómetro, das Ende der 20er Jahre im vorigen Jahrhundert gebaut wurde, hatte in frühen Zeiten ein Fassungsvermögen von rund 80.000 Zuschauer_innen. Deshalb, wegen seiner Holztribünen und wegen der atemberaubenden Atmosphäre, galt es als „el wembley argentino“.
Bis zu seinem Wiederaufbau gilt es aber noch einige Steine aus dem Weg zu räumen. Der Verkaufspreis wurde von der Restitutionsbehörde mit 92 Millionen Peso angesetzt. An die 20 Millionen haben die auf vier Millionen geschätzten Fans und die 60.000 Mitglieder schon gesammelt, die ersten Raten an Carrefour sind geflossen. Zudem soll das Nuevo Gasómetro an die Stadt verkauft werden.
Vizepräsident Marcelo Tinelli, Kultfigur im argentinischen Fernsehen und Sponsor des Klubs, sowie sein Anwalt Matías Lammens, der als Präsident amtiert, sind auf alle Fälle optimistisch, dass es bereits 2016 mit dem Beginn des auf 75 Millionen US-Dollar veranschlagten Neubaus klappt und zwei Jahre später wieder in Boedo gespielt wird: Dann im Stadion „Papa Francisco“, wie der Klub per Twitter am 11. September bekanntgab. Der Gegner für das Wunscheröffnungsspiel ist unumstritten: der Erzrivale Huracán, der derzeit in der 2. Liga dümpelt.
Was die nach den rabenschwarzen Soutanen der Priester, die 1908 einst den ersten Vereinsfußballplatz auf einem Kirchengelände bereitstellten, benannten cuervos in ihrem Optimismus beflügelt, ist der sportliche Aufschwung, den der Verein nach seinem zwischenzeitlichen Abstieg in die zweite Liga vor allem seit dem Antritt von Papst Franziskus genommen hat: Seit Bergoglios Ernennung hat sich San Lorenzo vom hoch verschuldeten Abstiegskandidaten zum Verein mit Titelambitionen gewandelt. Im Dezember 2013 wurde schließlich der erste Meistertitel nach sechs Jahren errungen. Mannschaft und Klubführung reisten mit der Trophäe im Gepäck natürlich gleich mal in den Vatikan zur Audienz beim glücklichen Papst. In diesem Jahr setzte das Team dann seinen Siegeszug auch in der Copa Libertadores fort und auch danach gab es eine Papst-Audienz. In Argentinien ist schon vom Papsteffekt die Rede. Den Segen von Osvaldo Soriano hat diese Entwicklung gewiss.

„God save the queers“

„Yo no voy de vuelta yo voy siempre de ida“ („Ich gehe nicht zurück, sondern immer nur vorwärts“) ist das treffende Motto des aktuellen Albums von Miss Bolivia, das sie derzeit auf Europa-Tour präsentiert. Psychologin, DJane, Sängerin und Produzentin mit vier Veröffentlichungen in sechs Jahren und Konzerten in so ziemlich jedem kulturellen Zentrum von Uruguay bis Brasilien – das ist die Biographie von Paz Ferreyra aka Miss Bolivia. Cumbia trifft auf Funk, HipHop auf Dancehall, Poesie auf politische Forderung.
Miss Bolivia hat viel zu sagen und tut es auf angenehme Weise: Sie vermeidet es, als Sprachrohr einer politischen oder kulturellen Gruppe aufzutreten, und verzichtet auf Imperative. „Ich möchte nicht, dass meine Lieder Antworten liefern, da Antworten immer subjektiv sind. Ich möchte, dass die Menschen sich Gedanken machen, wenn sie meine Lieder hören.“ Ihre autobiographischen Erzählungen fungieren als gesellschaftlicher Spiegel: Es geht um Sexismus, Aktivismus, Diskriminierung und die Legalisierung von Marihuana. Miss Bolivia erzeugt durch ihre Fusion verschiedener Musikstile und Themen Irritation und durchbricht so die Komfortzone der unhinterfragten Illusion.
In den 90er Jahren wird Ferreyra Zeugin eines sich neu etablierenden Musikgenres in Argentinien. Die zu Zeiten des europäischen Sklavenhandels im Karibikraum entstandene Cumbia entwickelt sich zum Exportschlager. Traditionell als Gruppen- oder Paartanz aufgeführt, ergänzen nun elektronische Beats den durch Trommeln, Rasseln und Flöten vorgegebenen Rhythmus. Cumbia Villera heißt das neue Subgenre; Villera leitet sich von Villa Miseria ab, der argentinischen Bezeichnung für Slum. Von romantisierenden Inhalten distanzieren sich die Musiker nun und rücken stattdessen prekäre Lebensumstände, Polizeigewalt in den Vorstadtghettos und Drogenkonsum in den Vordergrund. Zugleich wird jedoch Machotum idealisiert: Die in den Außenbezirken von Buenos Aires herrschende Arbeitslosigkeit führt zu einem Identitätsverlust, da die traditionelle Rolle des Mannes als Haupternährer der Familie nicht gelebt werden kann. Die Betonung der Männlichkeit erfolgt nun auf anderen Wegen. Die Degradierung der Frau zum willenlosen und unterwürfigen Sexobjekt schien da offenbar die Alternative. Ein besonders groteskes Video der Gruppe Damas Gratis („Frauen gratis“) darf hier nicht unerwähnt bleiben: Während der Sänger lässig am Strand steht und „Man sieht deinen Tanga“ singt, tanzt ein blondes Girl glücklich um ihn herum und lässt dabei tief blicken. Die Stimmung ist ausgelassen, und alle verstehen sich blendend. In dem Stück „Maria Rosa“ der Band Yerba Brava (umgangssprachlich für Marihuana) heißt es: „Ella es … / Una chica así de facil / Es de bombachita floja“ („So ein leichtes Mädchen ist sie, eines mit locker sitzendem Höschen“). Das „Mädchen“ wird auch hier zum Lustobjekt des heterosexuellen Beobachters, mehr noch, ihr wird ein eindimensionales Interesse an flüchtigem Sex attestiert.
Maria José hingegen liebt das Gemetzel und hat es dem lyrischen Ich so angetan, dass es sie zum Kiffen nach Hause einlädt. Die Protagonistin bei Miss Bolivia ist eindeutig keine nur durch ein „Höschen“ verdinglichte Existenz, im Gegenteil. Maria José hat die Gabe, sich zu artikulieren, ist dementsprechend weder ein „leichtes Mädchen“ noch „leicht zu haben“. Der Handlungsrahmen aus dem Cumbia Villera bleibt bestehen, Miss Bolivia besetzt ihn jedoch mit neuem Inhalt, indem sie die Machoattitüde parodiert und in einen respektvollen Umgangston transformiert. Die Besitzlogik, die der Beschreibung von Maria Rosa immanent ist, führt die Künstlerin so ad absurdum. Gleichzeitig behandelt sie Begierden außerhalb eines heterosexuellen Kontextes und kritisiert somit das heterosexistische Selbstverständnis.
Trifft Intellekt auf Humor, entstehen Kumbia Queers, und trifft Punk auf Kumbia, entsteht ein eigener Musikstil: Tropipunk. Die Punk ’n’ Rollers aus Argentinien und Mexiko haben sich die musikalischen Produktionsmittel erkämpft, um misogyne Diskurse bloßzustellen. Ihre Parodie von „Maria Rosa“ heißt „Daniela“: „Y como nunca supe tu nombre / te llamo Daniela pero podrías llamarte Pamela / o sol o luna« („Und weil ich deinen Namen nie erfahren habe / nenne ich dich Daniela / ich könnte dich aber auch Pamela nennen / oder Sonne oder Mond“). Die Band Kumbia Queers macht Musik „von Frauen für Frauen“, ändert Madonnas „Isla Bonita“ in „La Isla con Chicas“ um und will weit weg von hier, zu diesem „sensationellen Ort, überfüllt mit schönen Mädchen“. Im Video zu diesem Cover wird auf einer Karte La Isla con Chicas eingekreist, anschließend lassen es sich die Musikerinnen im bräunlich schimmernden Wasser auf der Insel gutgehen und bearbeiten im Dickicht die Keyboardtasten. Eine selbstironische Performance mit der klugen Intention, lesbische Inhalte in die Öffentlichkeit zu tragen.
Doch von der 2007 entstandenen The-Cure-, The-Ramones- und Madonna-Coverband haben sich die Kumbia Queers nun schon lange emanzipiert. „Wir wollten die Rocker nerven, gleichzeitig missfiel uns die Marginalisierung und Ablehnung von Cumbia. Die Tatsache, dass der Rhythmus so gut war, die Inhalte aber unfassbar misogyn, motivierte uns, Cumbia mit anderen Texten zu machen.“ Neben der lucha armada (dem bewaffneten Kampf ) ist die größte Waffe der Kumbia Queers immer noch das Vergnügen. „El lunes a la noche me quiero matar / pensando que mañana tengo que ir a trabajar … el viernes la sonrisa no me la pueden sacar“ („In der Nacht zum Montag möchte ich mich umbringen / daran denkend, morgen arbeiten gehen zu müssen … / am Freitag können sie mir mein Lächeln nicht wegnehmen«). Die Forderung eines weiteren freien Tags ist keine revolutionäre, aber in Anbetracht der vielen Konzerte, die die Band geben muss, sicherlich eine sinnvolle: Ob im argentinischen Frauenknast, auf dem Fusion- oder auf dem South-by-South-West-Festival in Austin, Kumbia Queers haben sich in den vergangenen sieben Jahren eine solide Fanbase in Argentinien, Chile, Mexiko, den USA und Europa erspielt.
Die Dokumentation Kumbia Queers. More louder bitte bringt die Cumbia-Vibes nun auch auf (queere) Filmfestivals in Deutschland. Doch neben der positiven Rezeption diffamieren Verfechter der geschlechterspezifischen Abgrenzung in der Musikszene die Künstlerinnen als bichos raros und „Antifrauen“. Das Adjektiv „raro“ lässt sich etwa mit „queer“ übersetzen, gehört also zur Selbstbezeichnung der Band. „Queer ist für uns etwas, das keine Etiketten will und nicht klassifiziert werden kann“, sagen die Kumbia Queers. Tatsächlich haben sie jedoch mit der durch die Gesellschaft konstituierten binären Rollenstruktur in der Szene zu kämpfen: „Wir bewegen uns zwar für gewöhnlich in einem anderen Umfeld, aber wenn wir uns außerhalb dieser Kreise bewegen, bekommen wir mit, dass diese Sachen einfach weiter passieren. Also dass die Frau quasi der Minirock ist und heiraten muss.“ Für das Musikbusiness heißt das, realistisch gesehen, dass Frauen nur als Sängerin agieren dürfen, solange Männer die Instrumente spielen, Frauen nur als Lustobjekt in einem heterosexuellen Kontext benutzt werden und darüber hinaus keine weiteren Eigenschaften besitzen dürfen.
Dies alles erinnert stark an das Bild der US-amerikanischen und europäischen Punkszene der 90er Jahre, in der die Möglichkeit, Unzufriedenheit durch Musik zu äußern, für Frauen sehr rar war. Ähnlich wie Cumbia Villera prangerte der Punk gesellschaftliche Missstände an, Themen wie Sexismus oder Geschlechterdifferenz kamen jedoch nicht vor. Aus diesem Kontext heraus bildete sich das Riot-Grrrl-Movement mit Bands wie Bikini Kill und Bratmobile. Solidarität, Respekt und Konsens, DIY statt Anpassung an hegemoniale Normen, Kollektivismus statt Konkurrenz. In ihrem Manifest plädierten die Riot Grrrls für Mut zur Eigeninitiative und versuchten, die internalisierten Formen von Sexismus aus den Köpfen zu verbannen. „Und das Motiv, die Szene nun miteinander zu teilen, anstatt sie untereinander aufzuteilen, hilft uns sehr dabei, die Message, die eine Künstlerin sendet, dort auszubreiten, wo eine andere spielt. Und so schreiten wir als Kooperative voran.“ Dies sind nicht etwa Worte von Kathleen Hanna, der Verfasserin des Riot-Grrrl-Manifestes aus dem Jahr 1992, sondern von Miss Bolivia aus dem Jahr 2013. So verwundert es nicht, dassAli Gua Gua von den Kumbia Queers und Miss Bolivia gemeinsam an einem Projekt gearbeitet haben und weitere Projekte mit Künstlerinnen aus dem Umfeld, wie Sara Hebe oder Las Taradas, bestehen. Der Wunsch, Musik nicht nach normativen Genrebestimmungen zu komponieren, sondern Grenzen zu überschreiten und Stile zu mischen, ist eine weitere Parallele zu den Riot Grrrls, die an Frauen appellierten, sich einfach Instrumente zu schnappen und loszulegen.
Die argentinische Szene konstituiert sich zur Zeit neu und wächst stetig. In Europa kommt sie überaus gut an. Doch es bleibt abzuwarten, ob diese queerfeministischen Einflüsse am Gerüst des kolonial tradierten Selbstverständnisses des weißen Feminismus rütteln können.

Erstmals publiziert in Konkret 9/14

Der Film »Kumbia Queers. More louder bitte!« ist am 12. Oktober um 18 Uhr im City 46 beim Queerfilm-Festival in Bremen zu sehen.

1:7

Die These, dass Nation und Fußball in Brasilien eine besondere Synthese bilden, steht seit langem im Raum – und unabhängig davon, ob sie stimmt oder nicht, sie war und ist sehr einflussreich. So liegt es nahe, die Frage zu stellen, ob historische Niederlagen wie das 1:7 gegen Deutschland etwas über Brasilien aussagen oder der Zustand Brasiliens gar die Niederlage zu erklären vermag. In Brasilien gibt es eine lange Tradition, sie zu stellen und sie zu beantworten.
Ausgangspunkt dafür ist natürlich die Mutter aller Niederlagen – das 1:2 gegen Uruguay im entscheidenden Spiel bei der Weltmeisterschaft 1950 im Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro. Der große Chronist des Schicksalspiels, der Journalist Paulo Perdigão, fasste die Stimmung nach der Niederlage folgendermaßen zusammen: „Wir waren minderwertig: Das verlorene Finale war nicht einfach nur eine Niederlage der Nationalmannschaft – es war eine Niederlage der Nation aufgrund eines undankbaren Schicksals.“ Hier ist sie klar erkennbar – die Gleichsetzung von Nation und Fußball. Der Ball wurde dankbar von Nelson Rodrigues aufgriffen, popularisiert und dramatisiert. Rodrigues war einer der wichtigsten brasilianischen Intellektuellen und Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts. Wie viel Ironie und wie viel Ernst in seinen oft übertrieben polemischen Chroniken zur Lage der (Fußball-)Nation steckte, ist selbst für Kenner_innen schwer zu beurteilen. Doch eines ist klar: Rodrigues genoss es, Brasiliens Fußball und die Nation als untrennbar miteinander verwoben darzustellen: „Ich kann nicht anders als mit mitleidiger Ironie auf diejenigen zu schauen, die jegliche Beziehung zwischen der Nationalmannschaft und dem Vaterland leugnen. Die Mannschaft ist nichts anderes als das Vaterland.“
Im Rückblick auf die 2:4-Niederlage Brasiliens in einem Spiel gegen die Engländer, das am 9. Mai 1956 in London stattgefunden hatte, entwickelte Rodrigues seine berühmte Theorie des sogenannten complexo vira lata, des Straßenköterkomplexes. „Unter Straßenköterkomplex verstehe ich das Unterlegenheitsgefühl, in dem der Brasilianer sich aus freien Stücken gegenüber dem Rest der Welt einrichtet. Und zwar auf allen Gebieten, vor allem aber beim Fußball. […] Warum haben wir in Wembley verloren? Weil die brasilianische Mannschaft vor dem blonden, sommersprossigen englischen Kader kuschte und winselte. […] Der Brasilianer muss sich klar werden, dass er kein Straßenköter ist. […] Ich wiederhole: Straßenköter sein oder nicht, das ist die Frage.“
Damit hatte Rodrigues die gesamte Nation auf die Couch gelegt und die wohl wirkungsmächtigste Kurzinterpretation Brasiliens formuliert. Seit 1956 zieht sich der complexo vira lata durch unzählige Artikel und Analysen. Je nach (fußballerischem) Erfolg und Misserfolg erhielt die Theorie entweder Auftrieb oder wurde zu den Akten gelegt. Durch die ersten WM Titel Brasiliens wurde der Komplex scheinbar besiegt. An seine Stelle trat etwas anderes: Die Hybris, Brasilien sei durch eben diese Überwindung nun so gut wie unschlagbar geworden. Als die seleção im Endspiel von 1958 mit 5:2 über Gastgeber Schweden triumphierte, schrieb Nelson Rodrigues euphorisch: „Brasilien hat sich selbst entdeckt. […] Der Sieg wird alle unsere Beziehungen mit der Welt beeinflussen. […] Der Brasilianer hielt sich immer für einen unheilbaren Halunken und beneidete den Engländer. Heute, mit unserer untadeligen Disziplin, der WM, haben wir bewiesen: Der wahre Engländer, der einzige Engländer ist der Brasilianer.“ Aber bereits 1966, als Brasiilien bei der WM-Endrunde vorzeitig scheiterte, überschrieb Rodrigues seine Kolumne schon wieder mit den Worten: Voltamos a ser vira-latas („Wir sind wieder Straßenköter“). Als Brasilien dann 2002 Deutschland (beziehungsweise Oliver Kahn) im Endspiel überwand, diskutierten die Fernsehreporter unmittelbar nach Abpfiff wiederum, ob Brasilien nun endgültig den complexo vira lata los sei. Und seit 2013 ist die Anspielung auf den Komplex ein Lieblingsthema der Präsidentin Dilma Rousseff geworden, die die Erfolge ihrer Regierung als dessen endgültige Überwindung sehen wollte und eine triumphalistische Rhetorik etablierte: Brasilien sei nun ein Siegerland, proklamierte sie in einer Rede im April 2013, kurz vor den Massenprotesten.
Nun das 1:7 im Halbfinale der WM ein Jahr später. Kann diese Niederlage durch den complexo vira lata erklärt werden? Kommt das alte Minderwertigkeitsgefühl in entscheidenden Augenblicken gegen die früher so überhöhten europäischen Mannschaften zurück?
Die klare Antwort lautet: Nein. Der Schlüssel für die Erklärung liegt woanders. Erhellend dafür war eine Äußerung von José Maria Marin, dem Präsidenten des braslianischen Fußballverbandes CBF. Gefragt nach der möglichen Einstellung eines ausländischen Trainers lautete seine Antwort: „Ich kann versichern, dass wir nichts von einem Ausländer lernen können, insbesondere beim Fußball. Wir hatten immer die besten der Welt in Brasilien. Wir haben schon fünfmal die WM gewonnen.“ Blinde Arroganz war schon vor der WM bei einigen Verantwortlichen Trumpf gewesen: „Der Weltmeister ist gekommen. Wir haben die Hand am Pokal. Die CBF ist das Brasilien, das Erfolg hat,“ verkündete der Technische Direktor der brasilianischen Mannschaft, Carlos Alberto Parreira. Diese Siegesrhetorik wurde täglich im Fernsehen verstärkt. Die WM wurde damit unglaublich emotional aufgeladen, die Emotion zum letzten gedanklichen Horizont, wie schon der argentinische Philosoph Pablo Alabarces messerscharf konstatierte. Dadurch verschwand jeder Blick auf eigene und fremde Schwächen und Stärken. Den brasilianischen Niedergang erklärt also in diesem Fall nicht der vira-lata-Komplex, sondern eher die andere Seite seiner Medaille – die Hybris. Diese hat offensichtlich trotz der Niederlage weiter Bestand. Beispielhaft dafür steht Brasiliens Fußball-Idol Pelé, das noch am Tag der Schmach in aller Bescheidenheit twitterte: „Jetzt werden wir eben 2018 unseren sechsten WM Titel holen!“
Aber noch etwas anderes hat sich gegenüber den Zeiten von Nelson Rodrigues geändert. Die imaginierte Identität von Fußball und Nation ist nicht mehr unumstritten. Fußball vereinigt nur noch im Erfolg. Die Nation ist gespalten, Opposition und Regierungsseite sind im Wahlkampf und dies ruft diverse Bewertungen der Niederlage hervor.
Symptomatisch ist hierfür der Brief einer brasilianischen Reiseführerin nach dem 1:7, den das Fachmagazin 11 Freunde veröffentlichte: „Das war mehr als nur ein Fußballspiel. Es ist der Endpunkt in der Geschichte von brasilianischen Schwindlern, die meinen, ihr Geld zu verdienen, ohne zu schwitzen, die Staatsmänner werden wollen, ohne ein Studium zu absolvieren.“ Ein deutliche Anspielung auf Brasiliens Ex-Präsidenten Lula, den die Opposition immer wieder als Semi-Analphabeten zu diffamieren versuchte. So ist es also nun für manche nicht mehr die Nation, die auf dem Spiel steht, sondern die aktuelle Regierung. Eine solche Kritik missbraucht den Fußball auf das Übelste.
Aber eine Parallele zwischen Politik und Fußball gibt es tatsächlich: Die Rhetorik vom „Siegerland“ und das Abtun aller Kritik als bloße Miesmacherei vereinigten Präsidentin Dilma Rousseff und die Führungsriege des brasilianischen Fußballs. Nutzen kann aus der Niederlage nur gezogen werden, wenn wieder ein realistischer, kritischer Blick auf das Land und seinen Fußball Einzug hält – jenseits aktueller politischer Kämpfe oder Triumphalismus und Aggressionen der rechten Opposition.

„Versteckte Wiederwahl“ gescheitert

Der 1. Juli wird kein leichter Tag für Ricardo Martinelli. An diesem Tag scheidet er als Präsident Panamas aus dem Amt; vor allem aber wird er erneut auf Juan Carlos Varela treffen, seinen ärgsten Widersacher. An den wird er dann den Stab der Macht weiterreichen. Nicht, dass man Martinelli dafür bemitleiden müsste – die Geschichte um die ehemaligen politischen Weggefährten, die zu erbitterten Feinden wurden, verleiht dem Machtwechsel in Panama jedoch eine besondere Note.
Juan Carlos Varela, unter der paradoxen Titulierung „Oppositionskandidat und Vizepräsident“ für die rechtsskonservative Allianz El Pueblo Primero („Das Volk zuerst“) aus der christdemokratischen Volkspartei und Partido Panameñista bei der Wahl am 4. Mai angetreten, hatte überraschend mit 39 Prozent der Stimmen den Sieg davon getragen. Zuvor hatten ihn alle Umfragen – wenn auch knapp – lediglich auf dem dritten Platz gesehen.
Varela war nach der Wahl 2009 zunächst selbst Teil der Regierung gewesen: als Außenminister und Vizepräsident unter Martinelli, ehe er sich mit ihm überwarf. Die Koalition zerbrach 2011 wegen Korruptionsvorwürfen. Varela wurde zunächst als Außenminister abgesetzt, später forderte ihn Martinelli auf, auch sein Amt als Vizepräsident niederzulegen, da er „ohnehin nichts mache“. Varela antwortete, er diene „dem Volk und nicht einer korrupten Regierung“. Formal blieb er bis zu seiner Wahl Vizepräsident. Nur, dass aus politischen Freunden nun erbitterte Gegner geworden waren.
Varela verwies den Kandidat des Regierungslagers, José Domingo Arias von der Partei Demokratischer Wandel (CD), der 32 Prozent erzielte, sowie den ehemaligen Bürgermeister von Panama-Stadt, Juan Carlos Navarro von der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) mit 27 Prozent, auf die Plätze.
Weil der scheidende Präsident Ricardo Martinelli laut Verfassung nicht wiedergewählt werden durfte, hatte er Arias, seinen Wohnungsbauminister, zum Präsidentschaftskandidaten aufgebaut und diesem seine Gattin Marta Linares als Vizepräsidentschaftskandidatin an die Seite gestellt. Die Opposition sprach von einer „versteckten Wiederwahl“. Viele Wähler_innen durchschauten den Zug und straften das Regierungslager ab. Überhaupt verpassen die Panamaer_innen – schaut man sich vergangene Abstimmungen an – den Regierenden gerne einen Denkzettel.
Der Wahlsieg Varelas, laut BBC „Martinellis schlimmster Feind“, zerstört nun alle Hoffnungen Martinellis, weiterhin die Geschicke der Regierung – wenn auch indirekt – mitbestimmen zu können. Die Niederlage seines Kandidaten wird von den meisten Beobachter_innen vor allem als Ablehnung von Martinellis autoritärem Politikstil interpretiert.
Die Wahl vom 4. Mai war zugleich auch Parlaments- und Kommunalwahl. Varelas Wahlbündnis gewann dabei mit knappem Vorsprung auch das Bürgermeisteramt in Panama-Stadt, den zweitwichtigsten politischen Posten im Land. Darüber hinaus kann der neue Präsident im Parlament aber nur auf 12 von 71 Abgeordneten zählen. Auch in den Landkreisen ist seine Partei jeweils in der Minderheit. Varela hat zwar das Präsidentenamt gewonnen, seine Partei aber ist landesweit nur in der zweiten bzw. dritten Reihe gelandet.
Demgegenüber erzielte die von Martinelli selbst gegründete CD im Abgeordnetenhaus mit fast 30 Abgeordneten die relative Mehrheit, die PRD kam auf 23 Sitze. Beobachter_innen spekulieren über eine Koalition aus PRD und Varelas Partido Panameñista. Es wird aber auch nicht ausgeschlossen, dass sich der künftige Präsident mit der CD verständigt. Immerhin waren sie mal Verbündete und liegen inhaltlich nicht weit auseinander.
Bei den Kommunalwahlen wiederum siegte die PRD, die von General Torrijos nach dessen Machtergreifung 1968 gegründet wurde. Sie kann auf eine breite Mitgliederbasis bauen und gewann die meisten der 75 Landkreise. Der eigene Präsidentschaftskandidat Navarro dagegen fiel bei den PRD-Anhänger_innen durch. Trotz mehr als 600.000 Parteimitgliedern votierten nur gut 500.000 für ihn.
Die Linke konnte bei den Wahlen dagegen kaum nennenswert Stimmengewicht hinter sich versammeln. Linke Parteien sind in Panama traditionell schwach. Der unabhängige Kandidat Juan Jované erzielte weniger als ein Prozent der Stimmen. Immerhin gelang es ihm, soziale Probleme des Landes in die Wahlkampfdebatten einzubringen, wie den ruinösen Zustand des Bildungs- und Gesundheitswesens.
Auch der Kandidat der Breiten Front für die Demokratie (FAD), Genaro López, blieb hinter den Erwartungen zurück. Mit einem moderat linken Diskurs in Anlehnung an Lula in Brasilien, Sánchez Cerén in El Salvador oder Mujica in Uruguay versuchte er sich, von der radikalen Linken abzugrenzen. Eine Strategie, die in diesem Fall keinen Erfolg brachte. Mögliche Wähler_innen wechselten ins „Protestlager“, um die Abwahl Martinellis zu sichern.
Martinelli war immer wieder mit Korruption in Verbindung gebracht worden. Ein Silvio Berlusconi nahestehender Unternehmer soll Bestechungsgelder gezahlt haben, um an Staatsaufträge zu kommen. Bewiesen ist bislang nichts. Zudem wurde Martinelli die Einschränkung der Pressefreiheit, die Schwächung staatlicher Institutionen sowie die Verletzung der Gewaltenteilung vorgeworfen. „Die Regierung Martinelli hat die Institutionen des Landes ernsthaft beschädigt; mit der neuen Regierung hoffen wir, zum Respekt vor den Institutionen zurückzukehren“, erklärte die Anwältin María Fernanda Martiz gegenüber dem Nachrichtendienst PanAm Post mit Blick auf die anstehende Ernennung von Verfassungsrichter_innen und Postenvergabe in der Verwaltung des Panamakanals.
Martinelli selbst hatte im Wahlkampf dagegen vor allem die wirtschaftlichen Errungenschaften seiner Amtszeit hervorgehoben, inklusive diverser Infrastruktur-Großprojekte. Erst im April war publikumswirksam in Panama-Stadt die erste U-Bahn Zentralamerikas eröffnet worden. In den ersten Monaten ist die Benutzung kostenlos. Auch ein neues Fußballstadion wurde eingeweiht.
Panama hat sich in den vergangenen Jahren zum Finanzzentrum Mittelamerikas entwickelt. Der Immobilien-Boom der vergangenen Jahre hat der Baubranche volle Auftragsbücher beschert, zugleich aber die Grundstücksspekulation angeheizt. Während die Gewinne der Unternehmen exorbitant gestiegen sind (337 Prozent über die vergangenen acht Jahre), betrug der Lohnzuwachs bei den Bauarbeiter_innen im selben Zeitraum gerade einmal 18 Prozent. Der Bausektor ist einer wichtigsten Motoren von Panamas Wirtschaft, die Wachstumsrate ist mit neun Prozent die höchste in der Region. Auf der anderen Seite lebt jeder Dritte in Panama in Armut oder extremer Armut.
Diese soziale Schieflage wird eine der größten Herausforderungen für Varela werden. Wie zur Einstimmung wurde die Wahl von Lohnstreiks der Bauarbeitergewerkschaft Suntracs sowie Lehrerverbänden begleitet. Beide Arbeitskämpfe sind mittlerweile beigelegt, die sozialen Spannungen aber bestehen fort.
Varela gilt zwar als liberaler Konservativer, genießt aber eine gewisse Glaubwürdigkeit in der Sozialpolitik. Von ihm stammt unter anderem das Programm „100 por 70“ (100 für 70), nach dem über 70-Jährige ohne Einkommen monatliche Hilfen von 100 US-Dollar erhalten. Zudem hat er während seiner Zeit in der Regierung Martinelli die Anhebung des Mindestlohns, das Wohnungsbau-Projekt Curundú für einen der ärmsten Stadtteile der Hauptstadt sowie das Stipendienprogramm Beca Universal, von dem 800.000 Schüler_innen profitieren, mit vorangetrieben.
Als jungen Mann hätten ihn die Erziehung in der Jesuitenschule und die Bürgerkriege in El Salvador und Nicaragua geprägt, so Varela im Wahlkampf. Ein früherer Mathematiklehrer Varelas versicherte im Fernsehkanal Telemetro, dass Varela damals im Schulgebäude sandinistische Fahnen aufgehängt und Geld gesammelt habe, um die Revolution in Nicaragua zu unterstützen. Diese Anekdoten sollten vor der Wahl vor allem Varelas „soziale Ader“ hervorheben, um ihn auch von links wählbar zu machen.
Immer wieder hat sich Varela im Wahlkampf für höhere Sozialausgaben ausgesprochen. Eines seiner Hauptversprechen war die Preiskontrolle von 22 Basisprodukten, um die Inflation zu senken, neue Schulen, Zugang zu sauberem Trinkwasser für alle, sowie die Anhebung von Stipendien und Pensionen. Er setzte sich damit erfolgreich von Martinellis Modell ab, das Land nach unternehmerischen Kriterien zu regieren.
Er ist und bleibt aber ein konservativer Unternehmer, der der traditionellen Oligarchie in Panama entstammt. Seiner Familie gehört eine bekannte Rumfabrik, er selbst ist an mehreren Radiosendern beteiligt. Seinen Abschluss als Industrieingenieur hat er in den USA an der Georgia Tech gemacht. Darüber hinaus ist er Mitglied des Opus Dei, dem erzkonservativen Orden der katholischen Kirche.
Im Wahlkampf inszenierte sich Varela zudem als Kämpfer gegen die Korruption. Seine Regierung werde Leistungen erbringen und aufhören, ein Geschäft zu sein, so Varela noch in der Wahlnacht. „Wer Geschäfte machen will, sollte seine Sachen packen und Richtung Privatwirtschaft verschwinden.“ Und weiter: „Ich werde nicht zulassen, dass auch nur ein Centavo der Gelder, die den vier Millionen Panamaern gehören, ausgegeben wird, ohne dass er dem Volke zugute kommt.“ Dabei waren im Wahlkampf auch Korruptionsvorwürfe gegen Varela aufgetaucht. Die regierungsnahe Zeitung El Panamá América hatte Ende April Varela mit einem Geldwäsche-Netz in den USA in Verbindung gebracht, was von seiner Partei als Verleumdungskampagne zurückgewiesen wurde.
Allgemein wird erwartet, dass Varela die unternehmerfreundliche Freihandelspolitik seines Vorgängers fortsetzt. Seit der US-Invasion von 1989 verfolgt Panama ein neoliberales Wirtschaftsmodell, das auf den Kompontenten Reduzierung des Staates, Freihandel und Deregulierung aufbaut und von sozialer Repression von Gewerkschaften, Kleinbauern sowie Studierendenorganisationen begleitet wird. Der Politologe Marcos A. Gandásegui Jr. erwartet daher auch keinen radikalen Politikwechsel: „Der gewählte Präsident Varela verfolgt eine sehr ähnliche, wenn nicht gar identische Politik wie Martinelli. Varela unterliegt den Richtlinien, die aus den USA die wirtschaftlichen, sozialen und militärischen Belange vorgeben.“
Immerhin hat Varela angekündigt, nach seinem Amtsantritt die diplomatischen Beziehungen zu Venezuela wieder aufzunehmen und den Handel beider Länder anzukurbeln – und sich damit schon mal von seinem Amtsvorgänger abgesetzt. Auch mit Kolumbiens Präsidenten will er zusammentreffen, um Handelsstreitigkeiten beizulegen und das Projekt, die Stromnetze beider Länder zu verbinden, wieder aufzunehmen. Das Schwierigste aber hat Varela noch vor sich: Er muss nun seine zahlreichen Versprechen auch einlösen.

Fußball auf südamerikanisch

Die Argentine Football Association erlaubte nicht, dass in den Versammlungen ihrer Funktionäre spanisch gesprochen wurde, und die Uruguay Association Football League verbot, dass an Sonntagen Spiele ausgetragen wurden, da nach der englischen Sitte samstags gespielt wurde. Doch schon in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts begann der Fußball am Rio de la Plata populärer und einheimischer zu werden. Dieses importierte Vergnügen, das den Kindern vernünftig die Zeit vertrieb, war dem hochgehängten Blumentopf entsprungen, auf dem Boden gelandet und hatte dort schnell Wurzeln geschlagen.
Der Prozess war nicht mehr aufzuhalten. Wie der Tango, so wuchs auch der Fußball von den Vorstädten aus. Es war ein Sport, für den man kein Geld brauchte und den man mit nichts weiter als der puren Lust daran spielen konnte. In den Wiesen, auf den Straßen und an den Stränden organisierten die einheimischen Jungen und die Kinder der Immigranten im Handumdrehen Spiele mit Bällen, die aus alten Strümpfen gemacht waren, die sie mit Lumpen oder Altpapier füllten, und mit ein paar Steinen, die das Tor markierten. Dank der Sprache des Fußballs, die sich immer mehr verbreitete, verstanden sich die Arbeiter, die vom Lande in die Stadt vertrieben waren, blendend mit den Arbeitern, die aus Europa vertrieben worden waren. Das Ball-Esperanto einte die einheimischen Armen mit den Tagelöhnern, die das Meer von Vigo, Lissabon, Neapel, Beirut oder Bessarabien her überquert hatten und davon träumten, Amerikaner zu werden, indem sie Mauern hochzogen, Ballen schleppten, Brot buken oder Straßen fegten. Eine schöne Reise, die der Fußball da hinter sich gebracht hatte: In den englischen Internaten und Universitäten hatte man ihn zivilisiert, und in Südamerika erfreute er Menschen das Herz, die nie eine Schule von innen gesehen hatten.
Auf den Plätzen von Buenos Aires und Montevideo wurde ein eigener Stil geboren. Eine eigene, besondere Art Fußball zu spielen, schaffte sich Raum, während eine besondere, eigene Art zu tanzen auf den Milonga-Böden kreiert wurde. Die Tänzer zeichneten kunstvolle filigrane Figuren auf einer einzigen Fußbodenfliese, und die Fußballer erfanden ihre Sprache in dem winzigen Raum, in dem der Ball nicht getreten, sondern gehalten, besessen wurde, als seien die Füße Hände, die das Leder kneteten. Und so entstand an den Füßen der ersten virtuosen südamerikanischen Spieler der toque, die typisch südamerikanische Art des Dribbling: der Ball, der wie ein Instrument gespielt wird, wie eine Gitarre, wie eine Quelle der Musik.
Gleichzeitig tropikalisierte sich der Fußball in Rio de Janeiro und São Paulo. Es waren die Armen, die ihn bereicherten, während sie ihn enteigneten, ihn sich aneigneten. Dieser ausländische Sport wurde in dem Maße brasilianisch, wie er aufhörte, das Privileg einiger weniger wohlhabender junger Männer zu sein, die ihn nur nachahmten, und es befruchtete ihn die schöpferische Energie des Volkes, das ihn für sich entdeckte. Und so wurde der schönste Fußball der Welt geboren, der aus dem Abknicken des Oberkörpers besteht, dem Schwingen des ganzen Körpers, den fliegenden Beinen, die von der Capoeira herkamen, dem Kriegstanz der schwarzen Sklaven, und den fröhlichen Tänzen aus den Armenvierteln der großen Städte.
So wurde der Fußball schnell zur Leidenschaft der Massen und enthüllte seine heimlichen Schönheiten, wahrend er sich gleichzeitig als nobler Zeitvertreib disqualifizierte. 1915 ließ diese Demokratisierung des Fußballs die brasilianische Zeitschrift Sports aus Rio de Janeiro klagen: „Die, die wir eine Stellung in der Gesellschaft innehaben, sind gezwungen, mit einem Arbeiter zu spielen, mit einem Chauffeur … Diesen Sport zu betreiben, wird langsam zur Qual, zum Opfer, und hört auf, ein Vergnügen zu sein.“

Auszug aus dem Buch Der Ball ist rund und Tore lauern überall von Eduardo Galeano, Seite 43 – 45.
Wir danken dem Peter Hammer Verlag für die freundliche Abdruckerlaubnis.

Vom Autor ist zuletzt erschienen: Kinder der Tage, Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2013, 416 Seiten, 24 Euro

Zum Sieg gestreikt

Eigentlich war das rechte Eck anvisiert, aber „ich traf den Ball schlecht“, wie Juan Alberto Schiaffino später einräumte. Er versenkte das Leder stattdessen mit einem satten Schuss im linken Eck. Es bedeutete das 1 : 1, den Ausgleich gegen den haushohen Favoriten Brasilien, im entscheidenden Spiel um den Weltmeistertitel 1950 im Maracaná-Stadion. Zum „Tor des Jahrhunderts“ wurde es von vielen uruguayischen Fans verklärt. „Wie Papageien plappern sie immer wieder dieselbe Geschichte über 1950 nach“, kritisiert Sebastián Bednarik Landsleute, die sich „nicht im Geringsten auskennen.“ Er hat mit Andrés Varela den 75-minütigen Dokumentarfilm Maracaná zusammengestellt – basierend auf dem gleichnamigen Buch des Sportjournalisten Atilio Garrido. Mit manchen Mythen und Legenden, die sich bis heute um den so genannten Maracanazo, den „Schock von Maracaná“ ranken, räumen die beiden uruguayischen Dokumentarfilmer darin auf.
Der Doku-Streifen wurde erstmals auf einer Groß-Leinwand im legendären Centenario-Stadion in Montevideo aufgeführt, dem Schauplatz der ersten Fußballweltmeisterschaft 1930, die der Gastgeber gewann. Sie ist ein Höhepunkt im früh erfolgsverwöhnten Fußball des kleinen Landes (u.a. 1924 und 1928 Goldmedaille bei den Olympischen Spielen). Bei der Aufführung zugegen war der 87-jährige Alcides Ghiggia, Schütze des Siegtores zum 2 : 1 (er verdient bis heute Geld an Interviews, in denen er über sein Tor spricht) und letzter Überlebender einer bewunderten Mannschaft. Maracaná 1950 ist für viele nach wie vor ein Wunder, galt die uruguayische Elf damals doch als krasser Außenseiter. Unberechtigt, denn Uruguay war bis dahin neben Argentinien die erfolgreichste Mannschaft in Südamerika. Argentinien gewann neunmal die „Copa Suramericana“, Uruguay achtmal, Brasilien nur zweimal.
Weniger Schlagzeilen machte damals eine andere Tatsache: Die Spieler, die zumeist aus bescheidenen Verhältnissen stammten, wurden von ihren Klubs schlecht behandelt und bezahlt. 1946 schlossen sich die Profis deshalb zur gewerkschaftsähnlichen MUTUAL zusammen. Die Klubvereinigung AUF dachte zunächst nicht daran, die MUTUAL anzuerkennen. Einige Klubbosse rühmten sich, niemals einem Spieler die Hand geschüttelt zu haben.
Viele Fußballer waren es jedoch satt, wie Leibeigene behandelt zu werden. Sie pochten auf Vertragsfreiheit, stießen in den Vereinen aber auf taube Ohren. Am 14. Oktober 1948 rief die MUTUAL daraufhin zum Generalstreik auf. Er sollte fast sechs Monate dauern. Die Meisterschaft musste ausgesetzt werden. Eine aktive Rolle im Arbeitskampf spielte Obdulio Jacinto Varela, MUTUAL-Vizepräsident. Während des Arbeitskampfes musste er wie auch andere seiner kickenden Kollegen wieder auf dem Bau zur Schaufel greifen, um sich über Wasser zu halten. Die Ausdauer der Streikenden wurde belohnt: Sie rangen den Clubs einen Mindestlohn und eine fast vollständige Vertragsfreiheit ab.
Bald darauf begann sich die Celeste (die „Himmelblaue“, wie das Nationalteam Uruguays genannt wird“) auf die WM in Brasilien vorzubereiten. Spielerische Basis war das treffsichere Peñarol-Team. Im schwarz-gelben Trikot von Peñarol Montevideo war Obdulio die herausragende Figur. Doch der schwarze Mittelfeldspieler weigerte sich, in der Nationalelf zu spielen, solange ihm keine Arbeitsstelle im öffentlichen Dienst zugesichert würde. Uruguay spielte ohne ihn schlecht, verlor Vorbereitungsspiele. Da machte sich der Präsident Uruguays, Luis Battle Berres, auf den Weg zum „Negro Jefe“. „Obdulio, reisen Sie nach Brasilien!“, bekniete er den bockigen Star: „Wenn Sie zurückkommen, werden Sie Angestellter in ‚Los Casinos‘ (staatliche Spielcasinos, Anm. d. Red.) sein.“ Im März 1950 streifte sich Obdulio erstmals wieder das himmelblaue Trikot der Celeste über.
Nur wenige glaubten an ein erfolgreiches Abschneiden im Nachbarland. Doch der Streik hatte unter den Auswahlspielern so etwas wie eine solidarische Gemeinschaft geschmiedet, die sich im Laufe des Turniers zur schlagkräftigen Mannschaft entwickelte. Die unbestrittene Führungsfigur war ihr Kapitän Obdulio. Das Selbstvertrauen der Spieler war groß, schreibt Buchautor Atilio Garrido.
Weniger optimistisch waren einige AUF-Funktionäre. Sie gaben keinen Pfifferling auf die eigene Elf: „Wenn sie uns keine vier Tore machen, haben wir unsere Aufgabe erfüllt“, meinte ein AUF-Delegierter. „Erfüllt haben wir unsere Aufgabe, wenn wir Weltmeister werden“, entgegnete Obdulio.
Obdulios Mannschaft traf im entscheidenden Spiel auf die haushoch favorisierten Brasilianer. Nach den Kantersiegen der Seleção gegen Schweden und Spanien schien das Ergebnis festzustehen. Vergessen war, dass das Team vorher keineswegs überragend gespielt hatte. Brasilien sei nicht unschlagbar, ahnte Schiaffino.
Als am 16. Juli im mit 200.000 brasilianischen Fans überfüllten Maracaná-Stadion das 1:0 für die gefeierten Stars der Heimmannschaft fiel, schien allerdings alles gelaufen. Doch Obdulio trieb seine Mitspieler nach vorne. Sie bäumten sich auf, zeigten garra (Kampfgeist): Die uruguayischen Spieler unterbanden zunächst mit Defensivspiel das gekonnte Passspiel der Gastgeber. Deren Torjäger Ademir – er hatte bis dahin neun Tore im Turnier erzielt – brachte keinen Ball im Netz unter. Die Uruguayer kamen selber ins Spiel, sie wussten um die Achillesferse der Seleção: eine schwache Verteidigung.
Später verbreitete sich die Legende, die uruguayischen Balltreter hätten mit unfairem Foulspiel den Gegner in die Knie gezwungen. Doch Schiaffino erinnert sich anders, der Spielbericht bestätigt ihn: Tatsächlich pfiff der Schiedsrichter nur sechs Mal Foul gegen Uruguay, aber elf Mal gegen Brasilien.
Die garra ist von vielen auch als vorsätzliches Foulspiel missinterpretiert worden. Dieses wird auch heute noch gelegentlich als „garra charrúa“ gelobt, womit gleichzeitig die ausgerotteten Ureinwohner, das Volk der Charrúa, diskreditiert werden. Tausende von Kindern, die im „babyfutbol“ ihren großen Idolen nacheifern versuchen, wurden und werden noch immer im Training zum überharten rowdyhaften Spiel angehalten, vom Spielfeldrand von Eltern mit „Mach ihn fertig!“ und „Leg ihn um!“ angefeuert. International hatte Uruguay über Jahrzehnte nicht zu Unrecht den Ruf, besonders hart zu spielen. Erst seit dem Amtsantritt von Óscar Washington Tabárez als Nationaltrainer im Jahr 2006 demonstriert Uruguay wieder seine spielerischen Qualitäten.
Tatsächlich hatte Brasilien 1950 keine Supermannschaft wie diejenige, die eines Tages mit dem Namen Pelé verbunden sein sollte. Die Celeste-Spieler gewannen deswegen verdient: „Sie haben besser als wir gespielt“, erkannte der brasilianische Starstürmer Zizinho neidlos an: „Tatsächlich war uns die uruguayische Mannschaft überlegen.“
Dennoch kam ein weiterer Mythos auf: Die Obdulio-Mannen hätten gewonnen, weil sie mutiger, männlicher und pfiffiger seien. Das „pfiffiger“ wurde gar zur „viveza criolla“, zur Schlitzohrigkeit, veredelt. Die anderen opferten sich auf, rackerten sich ab, „wir vertrauen auf die Improvisation“, hieß es. Der Triumph im Maracaná hat im kleinen Land am Rio de la Plata auch zu Selbstüberschätzung und zu einem Gefühl der Überheblichkeit gegenüber anderen lateinamerikanischen Nationen beigetragen.
Überheblich und wenig großzügig zeigten sich nach dem Sieg die AUF-Oberen. Obdulio und Co mussten in den eigenen Reihen sammeln, um sich ein Festessen leisten zu können: Sandwiches und Bier. Die Verbandsbosse hatten keinen Peso hinterlassen, aber sie rechneten sich den Erfolg als eigenen an: Geplant war, den Funktionären in Montevideo goldene Medaillen zu überreichen – und den Weltmeistern silberne als „Mitarbeiter des Sieges“. Der Plan verschwand jedoch schnell in der Schublade.
Die erfolgreiche Mannschaft hat danach nie wieder in der weltmeisterlichen Aufstellung zusammengespielt. Aber sie gilt bis heute als Maßstab. Uruguays Fußball musste fortan mit einem ungeheuerlichen Druck leben. „La historia manda“ („Die Geschichte fordert es“), schwafeln bis auf den heutigen Tag nicht wenige uruguayische Sportreporter und meinen den WM-Sieg. Die Messlatte, die die Helden von 1950 gelegt haben, war dadurch für viele Jahre eher ein Stigma für ihre Nachfolger als ein Grund zum Stolz.

„Um Jungs streiten wir schon gar nicht!“

An diesem sonnigen Samstagmorgen sieht es im Stadtteil Corina Rodríguez fast idyllisch aus. Bescheidene Häuser mit Wellblechdächern, hinter den Metallgittern zur Straße hin winzige Vorgärten. Ein paar Bäume stehen am Straßenrand und im Hintergrund erheben sich die Berge der Küstenkordillere. Auf der anderen Seite glitzern die Fenster der Hochhäuser San Josés in der Morgensonne. Corina Rodríguez wirkt im ersten Moment gar nicht wie ein sozialer Brennpunkt der Hauptstadt Costa Ricas.
Der holperige Bolzplatz des Stadtteils hat sogar richtige Tore und abseits der Strafräume so etwas wie Rasen. Jeden Samstagmorgen treffen sich hier bis zu 50 Jugendliche – um mehr zu lernen als nur zu kicken. Das Sozialprojekt „Fútbol por la Vida“ (Fußball für das Leben) ist keine Fußballschule mit Talentscout-Abteilung, wie sie vielerorts in Lateinamerikas Armenvierteln nicht unbedingt aus altruistischen Motiven heraus gegründet wurden. Von hier aus werden auch keine europäischen Multimillionenvereine mit Frischfleisch versorgt, hier ist Fußball zunächst mal ein soziales Projekt.
Denn Corina Rodríaguez wird, wie große Teile des Stadtviertels Alajuelita, vom Staat oder der Privatwirtschaft weitgehend ignoriert. Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung sind der Regelfall, nur ein Drittel der Jugendlichen geht zur Schule. Nicht weil sie nicht wollten! Der Staat hat seit Jahren keine zusätzlichen Schulen für die stetig wachsende Bevölkerung gebaut. Die Kriminalitätsrate liegt weit über dem Landesschnitt, der Drogenkonsum ebenso, viele Mädchen sind schon mit 15 Jahren Mütter. Wie soll es da aufwärts gehen mit dem Barrio? Es mag hier idyllisch aussehen, aber nur wenig unterscheidet Corina Rodríguez von anderen Armenvierteln Lateinamerikas.
Die Sozialarbeiterin Carolina ist Projektkoordinatorin bei Fútbol por la Vida. Für sie ist jeder Samstag ein langer Tag, mit Fußball bis zwölf, gemeinsamem Mittagessen und diversen kulturellen Projekten am Nachmittag. Fußballspielen ist bei Fútbol por la Vida vor allem Vehikel für die Kinder- und Jugendarbeit der Organisation im Stadtteil. Gespielt wird nicht nach FIFA-Regeln, sondern nach eigenen. Und es geht nicht in erster Linie um Ballkünste, sondern um soziale Techniken. Die Jugendlichen sollen lernen, Konflikte friedlich statt mit Beleidigungen, Fäusten oder gar Waffen auszutragen, andere Meinungen, Verhaltensweisen, Altersgruppen, Geschlechter und sexuelle Orientierungen zu respektieren.
„Unser Fußballmodell basiert auf drei Stufen“, erläutert Carolina, „Die Teams vereinbaren zunächst Regeln.“ So könne zum Beispiel ein Schimpfwort oder jegliches Foul mit einem Strafstoß geahndet werden. In gemischten Teams könne geregelt werden, dass nur Tore zählen, die von den Jüngsten geschossen werden oder an denen Mädchen beteiligt sind. Fast eine positive Diskriminierung, mit der im Alltag wenig privilegierte Jugendliche, ob nicaraguanische Zugezogene oder junge Menschen mit Behinderungen, in das Spiel und damit in die Gemeinschaft eingebunden werden.
In Stufe zwei wird gespielt und zwar ohne Schiedsrichter_in. Alle Spieler_innen dürfen und sollen auf die Einhaltung der zuvor vereinbarten Regeln pochen. Weshalb sich nach dem Spiel in Stufe drei die Spieler_innen zusammensetzen und über das Spiel sprechen. „Das ist für uns der wichtigste Moment“, so Carolina, „denn hier erfahren wir, wie sich die Jugendlichen im Spiel gefühlt haben, wo zum Beispiel trotz aller Regeln einige im Spiel ignoriert oder bevorzugt wurden. Das ermöglicht uns, Themen wie Geschlecht und Gewalt, Männlichkeit und Machismus sowie alle mögliche Diskriminierungsformen anzusprechen.“ Meist sind die Begründungen, warum zum Beispiel die Mädchen weniger oft von den Jungen angespielt werden, so simpel wie entlarvend: Sie spielten einfach nicht gut genug. Was zum Haare raufen animiert, ist in der Jugendarbeit bei Fútbol por la Vida ein Startpunkt, um über gesellschaftliche Normen zu reden, die bei Männern Wert auf körperliche Stärke und Technik legen und die Frauen auch im 21. Jahrhundert noch zum Kümmern um Küche und Kinder verdonnern wollen.
Leicht ist es gerade für die Mädchen nicht, im Fußball ein Bein auf den Boden zu bekommen. Das fängt bereits in der Familie an. Die Reaktionen der Eltern und Geschwister sind bisweilen harsch, die Vorurteile gegenüber Fußball spielenden Frauen sind in Costa Rica so wie vielerorts. Die 16-jährige Heylyn hat da Glück gehabt. Ihre Eltern hatten kein Problem mit einer Tochter, die aus der Rolle fällt, sprich Fußball spielt. In dem kleinen Häuschen ist man froh, wenn die Kinder etwas Gesundes zu tun haben. Vielleicht hilft es auch, dass Heylyn zusätzlich in der Hip Hop- und der Mathegruppe von Fútbol por la Vida gut mitmischt.
Üblicherweise müssen Carolina und die anderen Teamer von Fútbol por la Vida aber erst Überzeugungsarbeit in den Familien leisten, damit auch die Mädchen zum Fußball dürfen. Auch wenn es in den begleitenden Workshops, die sich speziell an Mädchen und junge Frauen richten, um Sexualität, Schwangerschaftsverhütung, geschlechtsspezifische Gewalt, sexuelle Vielfalt oder HIV-Prävention geht, ist Fingerspitzengefühl gefordert. Die Eltern wissen oft nicht mit diesen Themen umzugehen in einem Land, in dem Sexualaufklärung erst im Jahr 2013 in die Lehrpläne der Schulen aufgenommen wurde.
Dabei hat die U-17 Frauenweltmeisterschaft, die im März in Costa Rica ausgetragen wurde, trotz einiger Kritikpunkte viel für den Frauenfußball und vielleicht auch etwas für mehr Gleichberechtigung im Land getan. Die 15-jährige Charol erzählt, die Jungs hätten zum ersten Mal gesehen, dass viele Frauen im Teenageralter verdammt gut am Ball sind. Auch wenn das Teams Costa Ricas bereits in der Vorrunde ausschied, waren die fußballerischen Leistungen durchaus ansprechend – und ob es die Männer in Brasilien weiter schaffen, ist mehr als fraglich. Wer professionell allenfalls Kreisklasseniveau erreichte, waren vor allem männliche TV-Moderatoren, deren Kommentare oft jenseits der Sexismusgrenze lagen. Das ist auch dem Publikum unangenehm aufgefallen, das für das Thema weniger sensibilisiert ist.
Der Frauenfußball in Costa Rica wächst jedenfalls, auch im Stadtteil Corina Rodríguez. Am Samstag ist bei Fútbol por la Vida ein gutes Drittel der Gruppe weiblich. Charol ist vom Zusammenhalt in der Gruppe begeistert: „Wir sind sehr geeint, wir streiten uns nicht, schon gar nicht um Jungs, wir sind sehr solidarisch.“ Seit drei Jahren dabei, war es auch ihr zunächst ein bisschen peinlich, Bälle zu treten, aber das gab sich schnell. Charol hat jedenfalls fest vor, auch mal im Nationalteam zu spielen. Zunächst ist ihr Traum jedoch bei Saprissa unterzukommen, einem der traditionsreichsten und populärsten Clubs des Landes, der auch eine kleine Frauenabteilung hat.
Und die Jungs? Santo de Jimenez Centeno ist mit seinen 20 Jahren einer der Routiniers bei Futból por la Vida. Seit sechs Jahren ist er dabei, mittlerweile ist er mehr Teamer als Teilnehmer. Im Projekt sei er sehr gewachsen, sagt Santo. Er selbst habe viel gelernt, Freundschaften geschlossen, auch mit Jungs aus anderen Vierteln. Vor allem mit Drogen habe er in den letzten Jahren kaum noch was zu tun gehabt. Santo will weiterhin „gesündere“ Sachen machen, sagt er, will weiter lernen, weiter lehren, sich weiterentwickeln. Und mit den Techniken und Kontakten mal einen richtigen Job ergattern.
Fútbol por la Vida, vor zehn Jahren von der recht überschaubaren Lutherischen Kirche Costa Ricas ins Leben gerufen, wächst und wächst. Mittlerweile ist das Projekt in vier Stadtteilen präsent und so kann man schon mal kleine Turniere spielen. Laut Carolina stellen sich schon nach einige Monaten Erfolge ein: Die Gewalt unter Jugendlichen, auch die verbale, nimmt deutlich ab, Frauen sind untereinander solidarischer, das Verhältnis der Geschlechter entspannt sich, schwule Jungs werden geschützt statt ausgegrenzt. Auch weil es eben nicht nur um Fußball geht, sondern auch um Interkulturalität, Kreativität und kritisches Denken. Und um jugendliche Teilhabe in den Stadtteilen. Alle Jugendlichen im Projekt, Jungs und Mädchen, Zehn- oder Zwanzigjährige, hier Geborene oder Zugezogene sollen sich einmischen, sollen sich an Entscheidungsprozessen beteiligen, im Barrio, in der Schule, in Vereinen. Partizipative Führungsqualitäten heranzubilden, ist die dritte Säule des Projekts, damit Jugendliche in Jugend-, Bildungs- oder Stadtteilpolitik mitreden und mitentscheiden können.
Und die Aussichten für die Fußball-WM? Santo und seine Kumpels sprechen von einer „Hammergruppe“, alle Gegner Costa Ricas seien schon einmal Weltmeister gewesen, aber immerhin gelte ihre Nationalmannschaft als gefährliches Team, eben weil es keiner kenne. „Gegen Uruguay sollten wir schon gewinnen“, meint der 17-Jährige Kevin, einer der technisch Versiertesten im Projekt, „um im ersten Spiel schon ein Türchen ins Achtelfinale aufzustoßen“. Santo hält auch gegen England ein Pünktchen für möglich, die Insulaner seien immer für ein maues Spiel gut. Nur Italien, naja, das werde wohl nichts.
Auch Charol und Heylyn werden bei der WM mitfiebern. Ein Weiterkommen wäre zwar eine dicke Überraschung, aber warum sollte es nicht wieder für einen Einzug in die zweite Runde reichen? Gut, beim letzten Mal, 2006, gab es bei drei Niederlagen nur ein denkwürdiges Match: das Eröffnungsspiel gegen Gastgeber Deutschland, in dem man immerhin zwei Tore erzielte, aber eben leider auch vier einstecken musste. Diesmal soll es zumindest so respektabel werden wie 2002, als man nur wegen des schlechteren Torverhältnisses gegen Brasilien und die Türkei, späterer WM-Sieger bzw. WM-Dritter, herausflog. Oder noch besser, so wie damals, 1990, als noch keiner der vier auf der Welt war. Da war erst im Achtelfinale Schluss.

Hürden auf dem Weg aus der Gewalt

Nichtregierungsorganisationen aus 14 Ländern der Amerikas haben Gruppenbefragungen von Geflüchteten und Interviews mit Vertreter_innen der Zivilgesellschaft durchgeführt, um herauszufinden, wie es um die Verwirklichung der Vereinbarungen steht, die mit der Erklärung von Cartagena 1984 getroffen wurden. Ab März dieses Jahres wird der Bericht Iniciativa Cartagena +30 („Initiative Cartagena +30”) im Internet zugänglich sein. Mit ihren Empfehlungen wollen die beteiligten Organisationen Einfluss auf die für Dezember geplante lateinamerikanische Ministerkonferenz in Brasilia nehmen, auf der ein flüchtlingspolitischer Aktionsplan verabschiedet werden soll.
Die „Erklärung von Cartagena über Flüchtlinge“ wurde vor dem Hintergrund des staatlichen und paramilitärischen Terrors in verschiedenen zentralamerikanischen Staaten Anfang der 1980er Jahre verabschiedet, als mehrere Millionen Menschen über die Grenzen ihrer Heimatländer vertrieben wurden. Die in ihr enthaltene Flüchtlingsdefinition geht über jene der Genfer Flüchtlingskonvention hinaus. Sie umfasst all jene Menschen, die sich zur Flucht veranlasst sehen „weil ihr Leben, ihre Sicherheit oder Freiheit durch allgemeine Gewalt, Aggression von außen, innere Konflikte, massive Menschenrechtsverletzungen oder andere Umstände, die zu schweren Störungen der öffentlichen Ordnung geführt haben, bedroht ist“. Die zehn lateinamerikanischen Erstunterzeichnerstaaten bekannten sich zum Verbot, Flüchtlinge an den Grenzen zurückzuweisen und dazu, sie in Bezug auf Gesundheitsversorgung, Bildung, Arbeit und Sicherheit zu unterstützen.
Im Gegensatz dazu zeugen die aktuellen Befragungsergebnisse der Nichtregierungsorganisationen nun davon, wie weit Diskriminierungen gegen Flüchtlinge verbreitet sind. Vielfach werden sie mit Kriminalität in Verbindung gebracht. Xenophobe Vorurteile in Gesellschaft und Medien verbinden sich mit staatlichen Sicherheitsdiskursen. So wird in vielen Staaten des Kontinents der Zugang zum Asylverfahren durch die zunehmende Orientierung der Migrationspolitik an Fragen der nationalen Sicherheit erschwert. Das hat zur Folge, dass an den Grenzen immer wieder Menschen zurückgewiesen werden, die eigentlich einen Rechtsanspruch auf internationalen Schutz hätten. Angesichts dieser Fokussierung auf Sicherheitsfragen ruft Pablo Asa vom argentinischen Centro de Estudios Legales y Sociales (Zentrum für Rechts- und Sozialwissenschaften) die Zivilgesellschaft dazu auf, ein Gegengewicht zu setzen, „damit das Thema der Rechte nicht auf der Strecke bleibt”.
Im Kontext der „Versicherheitlichung“ der Migrationspolitik ist auch die Praxis verbreitet, Migrant_innen und Asylsuchende zu inhaftieren. In Mexiko werden Asylsuchende häufig für den Zeitraum des Verfahrens ihrer Freiheit beraubt. Das führt dazu, dass viele Flüchtlinge den Prozess vorzeitig verlassen und darauf verzichten, von Rechtsmitteln gegen ihre Ablehnung Gebrauch zu machen. Gisele Bonnici und Elba Coria von der International Detention Coalition (Internationaler Zusammenschluss von Nichtregierungsorganisationen, die sich für die Menschenrechte inhaftierter Flüchtlinge, Asylsuchender und Migrant_innen einsetzen; Anm. der Red.) erklären deshalb: „Bei der Inhaftierung von Migrierenden handelt es sich um eine Maßnahme, die dazu dient, den Mangel an effektiven Werkzeugen zur Aufnahme seitens der Staaten aufzufangen”.
Allein den Zugang zum Asylverfahren erschweren einige Staaten durch kurze Antragsfristen, so zum Beispiel Ecuador (15 Tage) und Mexiko (30 Tage). Angesichts fehlender Informationen über das Verfahren und seine Fristen droht der betroffenen Person deshalb die Inhaftierung und Abschiebung ohne Prüfung der Risiken. Alejandra Macías von der mexikanischen Organisation Sin Fronteras („Ohne Grenzen“) beschreibt die Situation: „Häufig wissen die Menschen, die in Mexiko ankommen, nicht, dass sie das Recht haben, Asyl zu beantragen, und wenn sie davon erfahren, sind die 30 Tage meist schon abgelaufen und sie haben keinen Zugang mehr zum Verfahren”. In Panama wird der größte Teil der Antragsteller_innen aufgrund einer restriktiven Vorstufe der Zulässigkeitsprüfung gar nicht erst zum Asylverfahren zugelassen.
Die beiden Regionen, aus denen gegenwärtig die meisten Menschen vertrieben werden, sind Kolumbien und Zentralamerika. In Zentralamerika – insbesondere im ‚Norddreieck’ Honduras, Guatemala und El Salvador – ist es die zunehmende politische und gesellschaftliche Gewalt, die Menschen zur Flucht über internationale Grenzen drängt. In Honduras ist seit dem Staatsstreich 2009 die soziale Ungleichheit massiv angewachsen, das Land verfügt über die mit Abstand höchste Mordrate weltweit. In El Salvador und Guatemala finden Vertreibung und Gewalt, vor allem gegen bäuerliche und indigene Aktivist_innen, auch im Zuge von Konflikten um extraktive Industrie- und Megaprojekte, wie zum Beispiel Staudämme, statt. Die drei Staaten weisen auch die höchste Rate an Feminiziden, also geschlechtsbasierten Morden an Frauen, auf dem Kontinent auf.
So verzeichnet Mexiko seit einigen Jahren steigende Zahlen an Asylanträgen von Zentralamerikaner_innen. Jedoch hat die im Zuge des „Drogenkriegs” entfachte Gewalt seit 2006 in Mexiko mindestens 70.000 Menschen das Leben gekostet. Aufgrund der verbreiteten Korruption und Straflosigkeit können kriminelle Gruppen weitgehend risikolos Migrant_innen entführen, misshandeln und erpressen. Menschenrechtsverteidiger_innen, vor allem in den Herbergen entlang der Transitmigrationsrouten (siehe LN 475), werden bedroht.
In Kolumbien dauert der jahrzehntelange bewaffnete Konflikt an. Neben weiterhin aktiven paramilitärischen Gruppen haben sich in den letzten Jahren andere bewaffnete Akteure ausgebreitet, die mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung stehen. Zwar wurden im Rahmen der Friedensgespräche zwischen der FARC-Guerilla und der kolumbianischen Regierung erste Ergebnisse erzielt. Dies hat jedoch nicht zum Ende der Kampfhandlungen und der gewaltsamen Vertreibungen von Menschen geführt. Es ist unklar, inwieweit die Verhandlungen in Havanna überhaupt dazu beitragen werden, die Gewalt und die damit einhergehende Instabilität und Verletzlichkeit zu verringern, die Menschen zur Flucht innerhalb Kolumbiens oder über eine internationale Grenze, vor allem nach Ecuador, treiben.
Zusätzlich ist in den letzten Jahren auch die Zahl an Flüchtlingen und Migrant_innen aus Afrika und Asien in Lateinamerika gestiegen, teilweise als Reaktion auf die restriktive Migrationspolitik in Europa und Nordamerika. Nach einer Studie der Migrationsforscherin Luisa Feline Freier sind zum Beispiel viele Menschen aus dem Senegal nach Argentinien oder aus Pakistan nach Ecuador gekommen, um dort zu leben. Wie der Bericht der Cartagena-Initiative zeigt, stoßen Flüchtlinge aber auch in lateinamerikanischen Ländern auf eine restriktive Haltung. Und nicht nur was das Asylverfahren angeht.
Ein weiteres Problem, das vielen befragten Organisationen und Geflüchteten Sorge bereitet, ist die Frage der Dokumente, die Flüchtlingen und Asylsuchenden ausgestellt werden. So erweist sich zum Beispiel der Flüchtlingspass als mangelhaft, wenn es darum geht, ein Bankkonto zu eröffnen oder einen Kredit zu beantragen. Ein Flüchtling erzählt im Rahmen des Fokusgruppeninterviews in Venezuela: „Du musst meistens einen Venezolaner bitten, den Scheck auf seinen Namen ausstellen zu lassen, um ihn einlösen zu können, und für den Gefallen dann einen Anteil zahlen”. In Ecuador wurden Geflüchtete jahrelang in Einrichtungen des Sozial- und Bildungssystem abgewiesen, weil die Ziffernanzahl des Flüchtlingsdokuments nicht mit deren Computersystemen kompatibel war.
Auch bei der Arbeitssuche kommt es immer wieder zu Diskriminierungen, sei es aufgrund der Unkenntnis von Behördenmitarbeiter_innen und Arbeitgeber_innen über die Bedeutung des Flüchtlingsdokuments oder aufgrund von Fremdenfeindlichkeit. Im Gruppeninterview in Costa Rica erzählt ein Asylsuchender: „Obwohl wir eine Arbeitserlaubnis haben, verlangen sie die Aufenthaltspapiere. Die Leute erkennen das Dokument für Asylsuchende nicht als Arbeitserlaubnis an.” Noch prekärer ist die Situation, wenn Asylsuchende – wie in Guatemala, Panama, Mexiko oder der Dominikanischen Republik – rechtlich nicht arbeiten dürfen. Sie sind auf die Unterstützung sozialer Netzwerke oder informelle Arbeit angewiesen und damit in besonderem Maße von extremer Ausbeutung, Lohnbetrug und Übergriffen bedroht.
Was die ausgestellten Dokumente angeht, sticht Uruguay als positives Beispiel heraus: Flüchtlinge und Asylsuchende bekommen die gleichen Identitätsdokumente ausgestellt wie uruguayische Staatsbürger_innen. Damit wird Diskriminierungen beim Zugang zu Ressourcen unterschiedlicher Art entgegengewirkt. Im Gegensatz dazu fördert Belizes explizit homophobe Gesetzgebung die institutionelle Diskriminierung, indem sie sexuelle Beziehungen unter Männern mit einer Gefängnisstrafe belegt und homosexuellen Ausländer_innen die Einreise verbietet. Insgesamt sind von gesellschaftlicher und institutioneller Diskriminierung besonders diejenigen Geflüchteten betroffen, die zusätzlich wegen ihrer Geschlechtsidentität, ihrer sexuellen Orientierung, einer Behinderung, aus rassistischen oder anderen Gründen benachteiligt werden.
In der Dominikanischen Republik wurden 2010 per Entscheid des Verfassungsgerichts Tausende Nachkommen von Haitianer_innen, die zwischen 1929 und 2007 ins Land gekommen waren, zu Staatenlosen gemacht (siehe LN 474). Der massenhafte Entzug der Staatsangehörigkeit ist der bisherige Höhepunkt einer langen Geschichte von Diskriminierungen von Menschen aus Haiti in der Dominikanischen Republik. Ein Verbund von dominikanischen Organisationen der Zivilgesellschaft beklagt: „Die Ausweisungen und Massenabschiebungen von haitianischen Migrant_innen und ihren Angehörigen sind weiterhin die zentrale Achse der Anwendung der Migrationspolitik des dominikanischen Staates”.

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