“Diese Verfassung ist schlimmer und gefährlich”

“Für meine Oma, für meine Mama, für meine Schwester” Feministischer Demonstrationszug am 8. März 2022 auf der Alameda in Santiago (Foto: Josefa Jiménez)

Die feministische Bewegung gehörte zu den ersten Akteur*innen, die sich gegen die neue Verfassung ausgesprochen haben. Warum? Was war der entscheidende Moment?
Wir haben von Anfang an kritisch auf bestimmte Aspekte hingewiesen. Zuerst einmal darauf, dass alle sozialen Bewegungen von diesem Ver­fassungs­­­prozess ausgeschlossen waren. Der Prozess wurde von jenen politischen Kräften getragen, die in den vergangenen 30 Jahren das neoliberale System verwaltet und während der sozialen Revolte breite Ablehnung erfahren haben. Er sah keine Geschlechter­parität vor, keine reservierten Sitze für Indigene. Er war in gewisser Weise das Gegenteil des ersten verfassung­gebenden Pro­zesses und eine fast schon strafende Antwort darauf. Das war das erste Alarmsignal. Zum zweiten Mal schlugen wir Alarm, als mit der Republikanischen Partei eine ultrarechte und neoliberale Kraft eine Mehrheit im Verfassungsrat gewann. Das dritte Alarmsignal war für uns das Ergebnis ihrer Arbeit im Verfassungsrat.

Welches sind – aus feministischer Perspektive – die kritischsten Punkte des Textes?
Wir sehen darin Verfassungsnormen, die unsere Leben als Frauen in Gefahr bringen und unsere Lage sogar verschlechtern würden. Zum Beispiel die Norm, die das Recht auf Abtreibung in drei Fällen in Gefahr bringt. Eine weitere Verfassungsnorm könnte das sogenannte Papito Corazón-Gesetz außer Kraft setzen. Das Gesetz ist erst im Mai 2023 in Kraft getreten und ermöglicht es dem Staat, unterhaltspflichtige Personen – in Chile sind das zu 95 Prozent Männer – dazu zu bringen, ihrer Verantwortung nachzukommen. Das Gesetz ist ein historischer Erfolg der Mütter in Chile und steht jetzt auf dem Spiel. Kritisch sehen wir auch den Umgang mit Sorgearbeit in der Verfassung. Sorgear­beit wird darin aus­schließlich auf den familiären Rahmen bezogen, nicht etwa auf die Gesellschaft als Ganzes wie etwa im ersten Verfassungsentwurf. Als feministische Bewegung kämpfen wir seit langem für die Anerkennung einer gesellschaftlichen Verantwortung von Sorgearbeit.

Als Coordinadora 8M konntet ihr nicht aktiv auf die Ausarbeitung dieser Normen einwirken. Wie habt ihr den Prozess von außen begleitet?
Wir haben an diesem Prozess nicht teilgenommen, denn wir waren davon ausgeschlossen. Unsere Rolle bestand vor allem darin, über die Gefahren dieses Verfassungsprojekts zu infor­mieren. Wir sehen das als unsere Pflicht an, denn der Entwurf ist nicht nur eine Gefahr für Frauen, Kinder und Queers, sondern auch für das ganze Land: Er behält die neoliberalen Elemente bei, die wir seit 30 Jahren kritisieren und die unsere Leben arm gemacht haben, oder vertieft sie sogar noch.

Wie sieht eure aktuelle Arbeit aus?
Wir haben die „Kampagne von Frauen und Queers für das Dagegen“ gestartet, die sich vor allem an Frauen und Jugendliche richtet, die noch unentschieden sind. Unter dem Motto „Die Verfassung ist noch schlimmer und gefährlich“ arbeiten wir mit anderen feministischen Organi­sationen zusammen, zum Beispiel ABOFEM, einer Vereinigung feministischer Anwältinnen, oder den compañeras von La Rebelión del Cuerpo. Unsere Arbeit folgt zwei Achsen: erstens die Verbreitung über soziale Netzwerke und Medien, zweitens die Arbeit vor Ort mit Frauen, Nachbar­schaftsgruppen und lokalen gemeinschaftlichen Zusammen-hängen. Letzte Woche waren wir zusammen mit Universitätsstudierenden unter­wegs, denn für sie steht auch das staatliche System für Hochschulbildung auf dem Spiel. Außerdem könnte die Verfassung die jüngsten Fortschritte beim Umgang mit Missbrauch in Bildungs-einrichtungen zunichtemachen.
Es ist eine mühsame Arbeit, aber wir sind überzeugt, dass wir die Ultrarechten nicht gewinnen lassen dürfen, denn das würde eine direkte Gefahr für die Leben von Frauen und Queers bedeuten.

Wie stehen die Chancen für den 17. Dezember?
Im Allgemeinen sehen die Prognosen einen Vorsprung für das „Nein” voraus. Wir haben aber beschlossen, den Umfragen nicht zu vertrauen und uns nicht darauf auszuruhen. Denn es gibt noch immer einen großen Anteil unentschiedener Wähler*innen, der das Ergebnis umdrehen könnte. Wir haben also noch nicht gewonnen, sondern müssen unsere Anstrengungen verdoppeln, um mit der Kampagne noch mehr Menschen zu erreichen.

Welche Themen werden gerade am meisten diskutiert?
Die Rechte setzt Themen und Diskurse, die wir widerlegen müssen. Dazu gehört die Behauptung: „Wenn das ‚Ja’ gewinnt, werden wir als Land stabiler.“ Wir vertreten die Ansicht, dass das nicht stimmt. Denn die Probleme, die seit 30 Jahren ungelöst sind, werden damit nicht gelöst. Die Rechte spielt mit der Idee, den Verfassungs­konflikt abzuschließen und bringt viele Leute dazu, für die neue Verfassung zu stimmen – ganz unabhängig von ihrem Inhalt, sondern nur, weil die Leute es müde sind, in ständigem Konflikt zu sein. Wir sagen klar: Dieser Konflikt bleibt ungelöst, denn wir haben als Land noch keine Lösung für die Probleme gefunden, die während der sozialen Revolte, aber auch schon davor eine Rolle spielten: seit 2000 mit der Schüler*innen- und Studierenden­ewegung und mit den sozialen und Umwelt­bewegungen. Denn das ist das Gefährliche an der Verfassung: Sie stärkt das System der Privati­sierung unserer Rechte, die komplette Kontrolle des Marktes.

Ein Nein zur neuen Verfassung ist ein Ja dazu, die Pinochet-Verfassung zu erhalten. Wie geht ihr mit diesem Dilemma um?
Wir stehen vor der Wahl, entweder die Verfassung von Pinochet zu erhalten oder eine Verfassung anzunehmen, die von Pinochetisten geschrieben wurde. Aber diese Verfassung kann 50 Jahre nach dem Putsch nicht die Alternative sein. Sie ist das Ergebnis des Scheiterns der Demokratie in den vergangenen 30 Jahren und zeigt, dass wir es nicht geschafft haben, wiederaufkommenden pinochetistischen Kräften klare Grenzen aufzuzeigen. Dazu gehört es, Diskurse, die Menschenrechtsverletzungen gutheißen, nicht einfach zuzulassen. Es fehlt auch eine Politik gegen die Straflosigkeit, für die Entschädigung der Opfer und Bildung in Sachen Menschenrechte und Erinnerungspolitik. Im jetzigen Moment können wir uns nicht erlauben, Rückschritte zu machen. Wir können keine Verfassung verabschieden, die noch schlimmer ist, wir können die kleinen Fortschritte, die wir als soziale Bewegungen gemacht haben, nicht einbüßen. Aber ja, natürlich ist das eine brutale Entscheidung.

Mit der Arbeit im Verfassungskonvent haben 2021/2022 viele Bewegungen wie die Coordi­nadora aktiv an einem institutionellen Prozess teilgenommen. Wie seht ihr das heute?
Als Coordinadora sind wir eine undogmatische Organisation. Wir haben damals die Möglichkeit erkannt, die Lage analysiert und bereuen es nicht, in die Institution gegangen zu sein, denn es handelte sich beim Verfassungskonvent um eine außerordentliche Institution. Uns war es aber immer wichtig, unseren eigenständigen Charakter nicht zu verlieren: die Unabhängigkeit von politischen Kräften in Machtpositionen, auch linken Parteien. Jetzt gerade sehen wir, dass es keine Möglichkeit gibt, auf die Institutionen einzuwirken. Wir sehen weder kurz- noch langfristig eine Chance darin, wieder in die Institutionen zu gehen. Unsere Anstrengungen werden sich weiterhin auf die Arbeit vor Ort, auf den Dialog und die Eigenständigkeit beziehen, die schon seit langem die Arbeit der femi­nistischen Bewegung in Chile auszeichnet.

In Chile und vielen anderen Ländern gewinnt die Rechte gerade an Kraft. Wie versucht ihr, dieser Entwicklung entgegenzutreten?
Eine der wichtigsten Aufgaben für feministische und andere soziale Bewegungen ist es jetzt, wieder eigene Alternativen zu schaffen und attraktive politische Projekte aufzubauen. Wir haben zu lange nur reagiert, statt selbst die Initiative zu ergreifen. Eine andere unmittelbare Aufgabe ist die des Zuhörens. Wir müssen die Menschen, die Probleme und Nöte, die wir alle erleben, wieder hören, aufmerksam sein und in Dialog darüber treten. Außerdem müssen wir breite Bildungsprozesse von unten schaffen. Darauf konzentrieren wir uns als Coordinadora und wollen ein Ausbildungs­zentrum aufbauen. Es soll nicht darauf ausgelegt sein, dass die Leute nichts wissen und wir schon, sondern zu einem Dialog einladen.
Bei alledem geht es darum, die Rebellion und Frustration der Menschen aufzufangen. Die Rechte hat genau das geschafft: Sie hat der Aufsässigkeit und dem Ärger der Leute einen Sinn gegeben und ihnen eine Alternative angeboten. Wir wissen, dass uns diese Alternative am Ende nicht helfen wird, denn zumindest in Latein­amerika bedeutet sie den Erhalt und Ausbau des neoliberalen Systems. Die Linke und wir soziale Bewegungen scheitern immer nur. Wir müssen dieses Scheitern jetzt als Möglichkeit sehen, als Impuls. Denn noch können wir uns neue Welten, neue Arten des Zusammenlebens miteinander und mit der Umwelt erträumen. Diesen Wunsch nach einer anderen Welt müssen wir uns wieder aneignen. Und dafür ist jetzt ein fruchtbarer Moment.

Backlash nach dem Aufbruch

Flor Lazo Maldonado Präsidentin des Angehörigenverbandes vor dem Memorial in Paine (Foto: Ute Löhning)

Laut einer Studie von März dieses Jahres teilt gut ein Drittel der Bevölkerung in Chile die Einschätzung, dass das Land durch den Staatsstreich am 11. September 1973 „vom Marxismus befreit“ worden wäre. Nach Umfrage­ergebnissen des Meinungsforschungs­unter­nehmens MORI sagen nur 42 Prozent, dass der Putsch „die Demokratie zerstört“ habe. Vor allem junge Erwachsene hätten bedenklich geringes Wissen über die Geschichte und es gebe keinen Konsens in der Bewertung der Diktatur, so das Fazit der Urheber*innen der Studie.

„Die Umfrageergebnisse decken sich mit meinen Erfahrungen“, sagt Flor Lazo Maldonado, die Präsidentin des Angehörigenverbands von verschwundenen und ermordeten politischen Gefangenen aus Paine, einer Kleinstadt südlich von Santiago de Chile. Sie beobachtet ein Erstarken der politischen Rechten, vor allem seit dem Scheitern des verfassunggebenden Prozesses im Herbst letzten Jahres, bei dem die Bevölkerung einen progressiven Verfassungsentwurf ablehnte, der dem politischen Erbe der Diktatur hätte größtenteils ein Ende setzen können. Dem Referendum war eine soziale Revolte vorausgegangen, die den verfassungsgebenden Prozess ins Rollen brachte. „Von der Protest-bewegung und davon, dass Menschen durch Schüsse der Polizei damals ihr Augenlicht verloren haben, spricht heute kaum noch jemand. Nach dem Sieg der Gegner der neuen Verfassung im Referendum 2022 habe ich Fotos von Pinochet per WhatsApp zugeschickt bekommen“, berichtet die für ihren Kampf um Aufklärung der Verbrechen während der Diktatur bekannte Frau.

Flor Lazo vertritt die Angehörigen von siebzig in Paine ermordeten oder verschwundenen Landarbeitern. Die meisten von ihnen waren gewerkschaftlich organisiert und kämpften für die Umsetzung einer Landreform in einer von Großgrundbesitz geprägten Gegend. Im Herbst 1973 entführten Militärs – mit Unterstützung von Zivilisten, die Fahrzeuge zum Transport der Gefangenen bereitstellten – die Männer und Jungen und erschossen sie in abgelegenen Andentälern. Auch Lazos Vater, zwei Onkel und zwei ihrer Brüder waren darunter.

Anfang August bemerkte sie, dass eine aus Marmor angefertigte Gedenktafel mit den Namen von 17 ermordeten Landarbeitern des Landguts El Escorial mit einem Hammer in viele Stücke zerschlagen worden war. „Wir selbst hatten die Tafel an dem Felsen in der Schlucht von Chada angebracht“, erklärt sie. „Die Zerstörung ist ein Angriff auf unsere Erinnerungsarbeit.“ Sie erstattete Anzeige und fordert Aufklärung. Doch sie hat wenig Hoffnung. Denn bereits im September 2021 gab es in Paine einen Angriff auf einen Gedenkort für die ermordeten Landarbeiter. Auch damals habe sie Anzeige erstattet, doch die Polizei habe kaum etwas unternommen.

Die Angriffe in Paine sind keine Einzelfälle. Seit der Niederlage im Verfassungsreferendum 2022 gibt es verstärkt rechte Angriffe auf Erinnerungs­orte. „Der Stellenwert von Menschenrechtsfragen in Chile ist starken Schwankungen unterworfen, denn er leitet sich immer aus der Haltung der jeweiligen Regierungskonstellation ab“, sagt der Historiker und Experte für jüngere Geschichte und Menschenrechtsfragen Pablo Seguel.

Strukturell gab es in Chile nach dem Ende der Diktatur 1990 keinen wirklichen Bruch. „Der Übergang zur Demokratie wurde nach den Regeln der Verfassung der Diktatur von 1980 organisiert und hat den Protagonist*innen der Diktatur weitgehende Macht belassen“, erklärt Seguel. So war der formell abgesetzte Diktator Augusto Pinochet weiterhin Oberbefehlshaber des Heeres und wurde zum Senator auf Lebenszeit ernannt. Beide Funktionen verlor er erst mit seiner Verhaftung in London 1998. Er starb, ohne je verurteilt zu werden. „Weil Sektoren, die die Diktatur mitgetragen oder mitverantwortet hatten, weiterhin die Macht behielten, gegen politische Entscheidungen ein Veto einzulegen“, sei es sehr schwierig gewesen, das politische System zu verändern. Und weil sie auch in der Zivil-gesellschaft eine „laute Stimme“ hätten, habe sich auch die Gesellschaft nicht sehr viel geändert, so Seguel. Auch in ökonomischer Hinsicht gab es in Chile keinen Bruch. Nach 1990 setzten die demokratischen Regierungen die neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik der Diktatur fort. Im lateinamerikanischen Vergleich gilt Chiles Wirtschaft als stark und stabil und wird bisweilen als Erfolgsmodell bezeichnet. Zwar geht die Schere zwischen arm und reich weit auseinander. Aber wer genug Geld hat, kann sich in Chile alles leisten und auf eine funktionierende Infrastruktur zurückgreifen.

„Der Rückhalt Pinochets in der Bevölkerung ist seit Ende der Diktatur 1990 nur wenig gesunken“, erklärt der Historiker Seguel. „Mehrere rechte Parteien bezeichnen den Putsch noch immer als gerechtfertigt.“ Die 2019 von José Antonio Kast gegründete extrem rechte Republikanische Partei verteidige sogar den Putsch, die Diktatur und auch diejenigen, die massive Menschen­rechtsver-letzungen begangen haben. Mehr als 3.000 Personen waren zwischen 1973 und 1990 ermordet worden, über 1.000 sind bis heute verschwunden. Über 40.000 wurden gefoltert, rund 200.000 mussten ins Exil gehen.

Luis Silva Irarrázaval von der Republikanischen Partei und Mitglied von Opus Dei sagte Ende Mai im chilenischen Fernsehen, er empfinde einen „Anflug von Bewunderung“ für Pinochet, „weil er ein Staatsmann war, ein Mann der den Staat führen, einen in Stücke zerrissenen Staat wieder aufbauen konnte“. Bei der Bewertung seiner Regierungszeit müsse heute genauer abgewogen werden, die 17 Jahre der Diktatur dürften „nicht auf die Menschen­rechtsverletzungen reduziert“ werden.

Dass dies keine vereinzelten Stimmen sind, sondern eine starke politische Strömung, zeigen die Aussagen des Gründers der Republikanischen Partei: „Wäre Pinochet noch am Leben, so würde er mich wählen“, erklärte José Antonio Kast, der 2021 nur knapp die Wahl zum Präsidenten verlor. Sein Vater, ein 1950 nach Chile ausgewanderter Offizier der deutschen Wehrmacht und NSDAP-Mitglied, sowie sein Bruder Christian Kast sollen nach dem Putsch 1973 Repressionsmaßnahmen der Militärs gegen Arbeiter*innen des Familien-unternehmens – einer Wurstfabrik und Restaurantkette in Paine – unterstützt haben. Das belegen ausführliche Recherchen des chilenischen Journalisten Javier Rebolledo. Ökonomisch profitierte die Familie Kast von der Diktatur und verfügt über weitreichende Rechte an dem in Chile privatisierten Wasser. Der 2019 ebenfalls von José Antonio Kast gegründete Thinktank Ideas Republicanas ist inzwischen im Zentrum der realpolitischen Macht angelangt: Fast die Hälfte aller externen Studien, die die Abgeordnetenkammer im ersten Halbjahr 2023 beauftragt hat, gingen an die Ideas Republicanas.

Kast läuft sich für die nächste Präsidentschaftswahl 2025 warm

Während die öffentliche Diskussion in Chile von Berichten über Kriminalität geprägt ist, die große Teile der Gesellschaft verunsichern, setzt die Republikanische Partei stark auf die Themen innere Sicherheit und Anti-Migration. Die traditionellen Rechtsparteien Renovación Nacional und Unión Demócrata Independiente reagieren darauf mit einer Verschiebung des eigenen Diskurses noch weiter nach rechts.

Die größten Erfolge fuhren zuletzt jedoch die Republikaner ein. Bei der Wahl zum Ver­fassungs­rat, der nach der Ablehnung des ersten Ver-fassungsentwurfs im Oktober 2022 nun einen zweiten Vorschlag bearbeitet, schnitten sie im Mai mit 35 Prozent der Stimmen am besten ab. Zusammen mit RN und UDI halten sie eine Zweidrittel-Mehrheit und können den Inhalt des Verfassungsentwurfs gegen jedes Veto absichern. Die Republikaner fordern, dass in einer neuen Verfassung die Bürger*innen verpflichtet werden sollen, „die Werte der chilenischen Tradition zu ehren“. Sie wollen Abtreibungen auch unter Ausschluss gängiger Ausnahme­regelungen verbieten und fordern in einem besonders umstrittenen Antrag, dass über 75-jährige oder gebrechliche Häftlinge ihre Strafe zuhause verbringen können sollen. „Die meisten Gefängnisinsassen diesen Alters sind wegen Diktaturverbrechen verurteilt“, empört sich Flor Lazo. Dieser und andere Menschenrechtsgruppen laufen Sturm und Teile der Linken kündigen bereits an, den neuen Verfassungsentwurf in dem für Dezember angesetzten erneuten Referendum abzulehnen.

Derweil verfolgt Kast eine längerfristige Perspektive: Zum einen läuft er sich für die nächste Präsidentschaftswahl 2025 warm. Zum anderen vernetzen sich die Republikaner auch international mit strategischen Partnern aus dem Umfeld von Trump in den USA, VOX in Spanien, Victor Orban in Ungarn, Jair Bolsonaro in Brasilien. Seit 2022 ist Kast Vorsitzender des Political Network for Values, das regelmäßig internationale Konferenzen rund um die Themen konservative Familienpolitik, religiöse Werte und Freiheit des Kapitals organisiert. Ziel dieses Netz­werks ist die Herausbildung eigener Kader und der Austausch über erfolgreiche rechte Strategien.

Bei einer Summer University des konservativen europäischen Thinktanks New Direction, die im Juli in Kroatien stattfand, präsentierten Kast und seine Parteifreunde die „Rechazo“-Kampagne gegen den 2021/2022 ausgearbeiteten Vorschlag für eine neue Verfassung. Diese mit enormen finanziellen und medialen Ressourcen geführte Kampagne, die öffentliche Debatten rund um das Referendum mit Falschaussagen und Fake News überschwemmte, sodass Fakten darin unter-gingen, gilt dabei als Erfolgsmodell für konservative Politik. Währenddessen traf sich Kast auch mit kroatischen und italienischen Parla-mentarier*innen und betonte die Bedeutung des chilenischen Falls für Europa.

Flor Lazo setzt derweil darauf, zusammen mit der aktuellen Mitte-Links-Regierung von Gabriel Boric, Menschenrechtspolitik als eine Politik des Staates stark zu machen und institutionell zu verankern. Und sie wird nicht müde, als Zeitzeugin an Unis und Schulen zu gehen, um über ihre Erfahrungen der Geschichte von Putsch und Diktatur zu berichten, damit diese sich nie wiederholt.

Bis zum letzten Tropfen

Para leer en español, haga clic aquí.

Wasser ist in Chile ein umkämpftes Gut – und seit der zivil-militärischen Diktatur, die vor 50 Jahren ihren blutigen Anfang nahm, weitestgehend privatisiert. Im September erinnern wir an den neoliberalen Umbau der chilenischen Gesellschaft unter Pinochet und blicken auf den Widerstand dagegen – früher wie heute. Dafür besuchen uns Aktivist:innen von MODATIMA (Bewegung zur Verteidigung des Zugangs zu Wasser, der Erde und des Umweltschutzes), die für das Recht auf Wasser kämpfen und letztes Jahr mit anderen versuchten, Chile eine neue Verfassung zu geben.

Programmübersicht (hier auch als Flyer oder Plakat)

7. September

20 Uhr // Bonn (Oscar-Romero-Haus, Heerstr. 205)

Avocados – Superfood und ökologisches Desaster

Die Nachfrage nach Avocados steigt weltweit. Die Plantagen für den Export führen jedoch aufgrund des hohen Wasserverbrauchs zu massiven sozialen und ökologischen Problemen. In der einst grünen Provinz Petorca, dem chilenischen Hauptanbaugebiet, herrscht heute Dürre, der Fluss ist ausgetrocknet, das Trinkwasser knapp, und Kleinbauern und -bäuerinnen müssen aufgeben. Seit 2010 kämpft die Bewegung MODATIMA gegen diese agrarindustrielle Verwüstung.

Mit: Carolina Vilches (MODATIMA)

Eine Veranstaltung von der Informationsstelle Lateinamerika (ila) und dem Oscar-Romero-Haus

8. September

19 Uhr // Frankfurt am Main (Instituto Cervantes, Staufenstraße 1)

Autoritarismus statt Feminismus und Klimagerechtigkeit?

Chile hätte eine der emanzipatorischsten Verfassungen der Welt bekommen können: feministisch und plurinational, ökologisch und sozial. Doch über 60 % der Bevölkerung lehnten den Entwurf 2022 ab. Nur wenige Jahre nach der großen Protestbewegung scheint der autoritäre Neoliberalismus, der mit dem Militärputsch vor 50 Jahren seinen Anfang nahm, heute wieder

gestärkt. Wie kommt es dazu? Welche Perspektiven haben soziale Bewegungen, die für Feminismus und Klimagerechtigkeit eintreten? Und was heißt das für die Zukunft – nicht nur in Chile?

Mit: Catalina Huerta (MODATIMA), Ana Cárdenas Tomažič (IfS), Moderation: Katja Maurer (medico international)

Eine Veranstaltung des Gleichstellungsrats des Fachbereichs 03 der Goethe-Universität Frankfurt, medico international, dem Institut für Sozialforschung und dem Instituto Cervantes

10. September

17 bis 19 Uhr // Berlin (FMP1, Franz-Mehring-Platz 1)

50 Jahre Putsch und die Privatisierung des Wassers in Chile

Der Militärputsch von Pinochet und der von ihm durchgesetzte Neoliberalismus haben sich auf Daseinsfürsorge und Menschenrechte in Chile ausgewirkt. Was waren die Folgen der Pinochet-Diktatur, die auch heute noch die Demokratie in Chile beeinträchtigen? Darüber wollen wir am Beispiel des ungleichen Zugangs zu Wasser diskutieren.

Mit: Jorge Díaz & Carolina Vilches (MODATIMA), Clarita Müller-Plantenberg (Mitbegründerin der Lateinamerika Nachrichten und Chile-Kennerin), Moderation: Nils Brock (npla)

Eine Veranstaltung von Lateinamerika Nachrichten, FDCL, npla, VVN-BdA (Im Rahmen des Tags der Erinnerung und Mahnung des Berliner VVN-BdA)

Gefördert von der Landesstelle für Entwicklungszusammenarbeit Berlin, Stiftung Umverteilen! und der Rosa Luxemburg Stiftung

11. September

21 Uhr // Berlin (b-ware! Ladenkino, Gärtnerstraße 19)

Der Perlmuttknopf. Filmvorführung und Publikumsgespräch

„Es wird gesagt, dass Wasser ein Gedächtnis hat. Ich glaube, es hat auch eine Stimme“, spricht Filmemacher Patricio Guzmán aus dem Off. Der Pazifik wurde in der chilenischen Geschichte wiederholt zum Massengrab. Guzmán lässt diesen Ort sprechen und erzählt die Geschichte indigenen Widerstands in Patagonien und des Widerstands gegen die zivil-militärische Diktatur. Im Anschluss laden wir zum Publikumsgespräch und sprechen über die Bedeutung der Erinnerung(en) 50 Jahre nach dem Putsch.

Mit: Jorge Díaz & Carolina Vilches (MODATIMA)

12. September

19 Uhr // Berlin (://about blank, Markgrafendamm 24c)

Back to normal? Chile ein Jahr nach der Abwahl des Entwurfs für eine neue Verfassung

50 Jahre nach dem Militärputsch und ein Jahr nach dem Scheitern der neuen Verfassung scheint die politische Lage in Chile festgefahren. Statt linker Kräfte arbeitet nun die Rechte an einer Alternative zur Diktaturverfassung. Welcher Spielraum bleibt sozialen Bewegungen nun? Und wie wird die neue Verfassung aussehen?

Mit: Victor Bahamonde & Catalina Huerta (MODATIMA), Moderation: Ute Löhning (npla) & Susanne Brust (LN)

Eine Veranstaltung von Buchladen Schwarze Risse, npla, Naturfreundejugend Berlin, Lateinamerika Nachrichten

Gefördert vom Solidaritätsfonds der Hans-Böckler-Stiftung und der Rosa Luxemburg Stiftung

15. September

19 Uhr // Berlin (NFJ-Laden, Weichselstraße 13-14)

Gegenmacht von unten und Gemeingüter – Dialog zwischen MODATIMA und Bloque Latinoamericano Berlín

In Lateinamerika sind die Widerstandskämpfe gegen den Neoliberalismus auch Kämpfe für den Schutz der Natur und den universellen Zugang zu Gemeingütern, losgelöst von privaten Interessen. Hierbei bestärkt eine Gegenmacht von unten durch effektive und organisierte politische Praxis diese Kämpfe. Doch inwiefern stärkt und bestimmt Gegenmacht von unten den Kampf für Gemeingüter? Welche historischen und aktuellen Kämpfe gibt es? Welche gemeinsamen Perspektiven gibt es in Lateinamerika zu diesem Thema?

Mit: Victor Bahamonde, Jorge Díaz, Catalina Huerta & Carolina Vilches (MODATIMA)

Eine Veranstaltung von Bloque Latinoamericano Berlín und Naturfreundejugend Berlin

Hoffnungsvolle Revolte, gescheiterte Verfassung

Massenhaft Krach machen Diese Collage von cacerolas zierte im Dezember 2019 das Cover der LN (Foto: Moisés Sepúlveda)

Von der Gründungszeit der LN bis in die Gegenwart waren die politischen Entwicklungen in Chile stets für große Emotionen gut – im Positiven wie im Negativen. Als die Schüler*innen im Oktober 2019 den nach 30 Jahren Neoliberalismus angestauten Frust zur Explosion brachten, gewannen die Chilen*innen mit Begeisterung den Glauben daran zurück, in ihrem Land etwas zum Besseren verändern zu können.

Drei Jahre später hat sich Ernüchterung breitgemacht: Während linke Chilen*innen nach der Ablehnung der neuen Verfassung an der Urne in eine Art kollektive Depression verfallen sind, dominiert die chilenische Rechte die politische Dynamik und den Diskurs. Und wir bei LN, die seit Oktober 2019 mit den Protestierenden fieberten, fragen uns immer noch: Wie konnte das nach den ebenso lauten wie tiefgreifenden Forderungen der Revolte passieren?

Im Editorial vom Dezember 2019 blickten wir zurück auf das Referendum von 1988, das zwar die Diktatur beendete, nicht jedoch den Neoliberalismus. Denn Pinochet bestimmte und bestimmt durch die 1980 eingeführte Verfassung weiterhin die Spielregeln. Interessanterweise passierte nach der Revolte von 2019 etwas Ähnliches: Auch jetzt ist die Rechte tonangebend und hat – wie wir befürchteten – alles getan, um das neoliberale System zu retten: In dem „Übereinkommen für den sozialen Frieden und die neue Verfassung“ vom 15. November 2019 setzte sie dem Prozess inhaltliche und zeitliche Grenzen. Die rechtsgerichteten Medien polemisierten von Anfang an gegen die Arbeit des Verfassungskonvents und traten eine beispiellose Fake-News-Kampagne los, der der Konvent mangels finanzieller und personeller Ausstattung nie wirklich etwas entgegensetzen konnte. Dazu kamen Fehler der Linken: Es gab Skandale und Skandälchen um Konventsmitglieder, die linken Delegierten unterschätzten die Herausforderung, die Bedeutung der Inhalte der Verfassung für das konkrete Leben der Bürger*innen besser zu erklären. Und auch die Regierung Boric schafft es bislang nicht, die Vorteile linker politischer Ideen im alltäglichen Leben der Menschen greifbar zu machen.

Wenn sich Pinochets Putsch im September zum 50. Mal jährt, wird Chile noch immer seine Verfassung haben

Als Folge der niederschmetternden Ablehnung der neuen Verfassung im Jahr 2022 ist das zuvor so klare Nein zum neoliberalen System heute leiser geworden. Die Hoffnung auf eine progressive und demokratische Verfassung hat sich vorerst in Luft aufgelöst: Wenn sich Pinochets Putsch im September zum 50. Mal jährt, wird Chile noch immer seine Verfassung haben. Und auch der Entwurf einer Expert*innenkommission, der derzeit im Verfassungsrat diskutiert wird, verspricht keine Abkehr vom Neoliberalismus.

Nahezu ironisch ist, dass sich viele linke soziale Bewegungen nach Beginn der Revolte im Oktober 2019 gar nicht an dem Prozess hin zu einer neuen Verfassung beteiligen wollten – sie schätzten die Aussicht auf wirkliche Veränderung auf diesem Wege als zu gering ein. Das änderte sich mit Beginn der Covid-19-Pandemie wenige Monate später, als die Mobilisierung im öffentlichen Raum unmöglich wurde und der institutionelle Prozess fast die einzige Möglichkeit war, überhaupt noch etwas zu tun. Die überwältigende Zustimmung im Referendum vom Oktober 2020 war dann eine weitere Motivation.

Als der Konvent seine Arbeit aufnahm und die neue, progressive Verfassung Gestalt annahm, wuchs die Hoffnung auf dauerhafte Veränderung sowohl in Chile als auch in der internationalen Linken beständig. Im Rückblick müssen auch wir bei LN uns eingestehen, dass sich in unserem Editorial vom Juni 2021 pures Wunschdenken spiegelt: Zweifel hatten wir damals nicht an der Annahme der Verfassung im Referendum, sondern eher an ihrer vollständigen Implementierung. Damit waren wir nicht allein. Chile wurde zu dieser Zeit, wie schon zu Zeiten Allendes, zu einer Projektionsfläche der internationalen Linken, die aber im September 2022 abrupt in sich zusammenbrach. Diese Beobachtung teilte auch die chilenische Soziologin Pierina Feretti bei einem Besuch bei LN und FDCL im Mai dieses Jahres.

Viele fühlen also heute den „bleiernen Ballast vieler Jahre“ wieder auf ihren Schultern. Doch mit der Fokussierung auf die intensive Arbeit des Verfassungskonvents 2021/2022 ist etwas Wichtiges aus dem Blickfeld geraten: Das Scheitern der Verfassung konnte die Angst vor den Sicherheitskräften nicht zurückbringen. Das durch die Diktatur Pinochets zerstörte soziale Gefüge ist mit der Revolte in Asambleas, Basisorganisierung, durch die Politisierung der Jugend und die feministische Bewegung wiederaufgelebt und wird nun Bestand haben. Und das ist unabhängig vom Scheitern der neuen Verfassung bedeutsam: Denn langfristig wird die Revolte von 2019 vermutlich eine nachhaltigere Wirkung haben als die Arbeit des Verfassungskonvents.

Rückblickend sind sich viele darin einig, dass es strategisch vermutlich besser gewesen wäre, die Energie nicht allein in den Verfassungskonvent, sondern auch in eine nachhaltige Organisierung von links zu stecken. Nun, nach dem vorläufigen Scheitern einer möglichen Veränderung auf dem institutionellen Weg, bleibt der chilenischen Linken die Möglichkeit, andere politische Wege auszuloten. In diesem Prozess ist es umso wichtiger, dass wir als internationale Linke weiterhin auf Chile blicken und jenen, die für echte Veränderung kämpfen, dauerhaft unsere Unterstützung und Solidarität zeigen.

Martin Schäfer & Susanne Brust sind seit 2018 im LN-Kollektiv und behalten Chile nicht erst seit der Revolte 2019 im Blick.

Desde arriba

Für die deutschsprachige Version hier klicken.

(Foto: René Lescornez/Dip. via Flickr , CC BY-NC-ND 2.0)

“Mirar el proceso actual es bastante decepcionante”, dice Lucio Cuenca. Él es un reconocido socio ambientalista y fue asesor ad honoren de Camila Zárate, convencionalista electa al constituyente de 2020 por el Movimiento por las aguas y los territorios (MAT Chile). Cuenca dice que es un proceso que fue cooptado por el sistema político: “El sistema político chileno es parte del problema, es parte de la crisis que estamos viviendo, por lo tanto, el apropiarse e instalar este proceso, tiene en su ADN una cuestión no resuelta, que es sobretodo de legitimidad”. Sobre todo, critica la fuerte recaída en lo institucional. Esto ha llevado a los partidos conservadores, de derecha, pero también a los de la antigua Concertación (centroizquierda), que gobernó el país ininterrumpidamente entre 1990 y 2010, a adoptar el resultado del plebiscito del 4 de septiembre y a establecer ahora un proceso estrictamente limitado.

Los tres órganos del nuevo proceso constituyente tendrán una conformación paritaria. Lo más cuestionado por los sectores de la sociedad civil y movimientos sociales es la Comisión Experta que, con 24 integrantes, será elegida por los partidos con representación en el congreso, es decir, será proporcional a la cantidad de diputados por partido, lo que en Chile se denomina “cuoteo político” o repartición de cargos, sin elección popular, ni concurso público. “Es un eufemismo esto de los expertos, porque finalmente no hay expertos que sean inocuos, son expertos que representan posiciones políticas o corrientes políticas determinadas y a través de ellos, se van a plasmar en la redacción de la nueva constitución”, constata Cuenca. Por lo tanto, el proyecto de la nueva Constitución estará dominado por la opinión del Parlamento actual, pero no por la opinión del pueblo de Chile.

A finales de  enero, el Senado y la Cámara de Representantes  propuso 12 expertos cada uno para la comisión. La Comisión Experta, con representación paritaria, se reunirá por primera vez el 6 de marzo. Su tarea consiste en elaborar un primer borrador de la nueva Constitución, que luego se entregará al Consejo Constitucional, y será elegido en las elecciones fijadas para el domingo 7 de mayo de 2023. El Consejo Constitucional estará integrado por 50 personas, con carácter paritario y con representación supernumeraria de representantes de pueblos indígenas. La ley aprobada por el Congreso Nacional chileno y publicada en el Diario Oficial dice: “El Consejo Constitucional es un órgano que tiene por único objeto discutir y aprobar una propuesta de texto de nueva Constitución”. Lo que significa, que discutirán el anteproyecto producido por la Comisión Experta, en otras palabras, un texto que por su génesis (nace de un órgano acordado por Ley), pondrá los límites de la discusión.

La Comisión Experta, no tiene derecho al voto en el Consejo Constitucional, pero claramente influirá en la discusión que se lleguen a suceder cuando el Consejo Constitucional sesione, puesto que será de su autoría el anteproyecto constitucional. “Adicionalmente, está el otro Comité de Admisibilidad, que va a hacer integrado por 14 abogados, también nombrados por el parlamento, y que finalmente será una especie de contraloría que va a determinar si los artículos que apruebe el consejo elegido (Consejo Constitucional), están o no, dentro del marco de los 12 puntos o principios acordados como límites para la nueva constitución”. Estos límites tienen de base los 12 principios que la Ley considera base en  la nueva carta fundamental, estableciendo, entre otros, que Chile es un Estado unitario, social y de derecho, donde también se consagra los tres poderes autónomos del Estado: Poder Judicial, Legislativo y Ejecutivo. Así, el  concepto de un país plurinacional, con un sistema judicial que se democratiza en su estructura, considerando entre otros elementos, una justicia que dé cuenta  a los pueblos originarios y a su cultura, queda excluido.

Para Lucio Cuenca y otros, los aspectos más críticos de este nuevo proceso, que busca superar la constitución pinochetista, se centra en estos límites establecidos. En su opinión, establecen la mantención de puntos críticos, que reproducen los pilares de la constitución del 80, para esta nueva constitución. Según él, eso es estratégico, “porque aceptar ese nivel de límites, es prácticamente cercenar la posibilidad de tener una constitución efectivamente democrática”.

Muchos de los principios de la anterior propuesta, discutidos democráticamente en la Convención Constituyente, no estarán presentes en la discusión. Por eso también es que la percepción que Cuenca tiene del proceso constitucional fallido es que fue quizá el más democrático que ha tenido Chile en estos procesos de construcción de una nueva constitución. Él evalúa que en el actual momento político se está con menos posibilidad de incidir desde el mundo social y la movilización social. Rescata sí, que las propuestas específicas del mundo socio ambiental, tuvieron importante presencia en el texto propuesto por la Convención Constitucional anterior (2021-2022). Particularmente, de 388 artículos 74 hacían mención a  “temas de la naturaleza y distinta institucionalidad y estaba instalado el tema ecológico desde el artículo Nº 1, cuando se define el carácter del Estado. Para nosotros, lo que se logró en la Convención Constitucional es de alto valor porque allí concurren distintas visiones del mundo socioambiental”.

La derrota sufrida del   ‘Apruebo’ el 4 de septiembre de 2022, ha tenido costos importantes en la legitimidad que puedan adquirir ciertos conceptos y principios que hablaban de un país más democrático, de la política y culturalmente. Poco de esto se reflejará en el nuevo proyecto de Constitución.

Se ha fijado un calendario preciso para el nuevo proceso constitucional: El Consejo Constitucional a partir del 7 de junio tiene un plazo de cinco meses para presentar una nueva propuesta constitucional. El plebiscito de apruebo o rechazo al nuevo texto se realizará el domingo 17 de diciembre de 2023, entonces es una vez más Apruebo (Sí) o Rechazo (No) a la nueva constitución. 

El signo de este acuerdo, expresa que Chile vuelve a los cauces netamente institucionales, donde es prerrogativa de los consejeros trabajar sobre un anteproyecto propuesto por una comisión de expertos nombrada a dedo. En este sentido, en nada se asemeja al proceso que, producto del estallido social, presenciamos desde el año 2019 en adelante. Se vuelve a la democracia “de las alturas”, dejando a la ciudadanía y los movimientos sociales como meros espectadores. 

Lo más grave está en la generación de los Consejeros: quienes quieran proponerse para candidatos/as a consejeros/as constitucionales, deben pertenecer a un partido legalmente inscrito y donde no se admiten candidaturas de independientes o representantes de movimientos sociales. Las elecciones de estos Consejeros, está dado por la norma que elige habitualmente a los senadores, donde el criterio de proporcionalidad propio de las elecciones de diputados/as, no se consideró: Ocurrirá, por ejemplo, que en la zona de la Araucanía, donde el conflicto entre mapuches, el Estado y las empresas forestales está en pleno desarrollo, se elegirán 5 consejeros, igual número que la Región Metropolitana, donde viven 8 millones de personas respecto del casi 1 millón de la Araucanía. Ninguna forma proporcional concurrirá en esa elección, más bien es retornar a las formas del antiguo sistema binominal, que estructuró las elecciones hasta 2013, lo que en la práctica a reponer las formas de alianzas, sobre la cuenta matemática de  quien concentre más votos tendrán mayor opción de elegir consejeros, perdiéndose los criterios de pluralismo y diversidad, donde candidatos con porcentajes menores, pueden optar a un sillón.

Si bien, los que “redacten” la constitución van a ser consejeros cien por ciento electos, la realidad de las cosas es que este consejo constitucional, es una entidad mixta que los chilenos rechazaron en el plebiscito de 2020. “El voto en ese momento fue un voto en contra de la participación del parlamento en el proceso,” dice Cuenca. 

Cabe señalar que la totalidad de los partidos con representación parlamentaria acordaron esta nueva modalidad para superar la constitución heredada de Pinochet. Con la excepción del Partido Republicano, asociado a la extrema derecha y el Partido de la Gente, nuevo conglomerado que se ubica en la centro-derecha populista.Los partidos impulsores del “Acuerdo por Chile” pretenden poner fin al legado de Pinochet con la nueva Constitución. Que esto vaya a tener éxito y que la nueva Constitución haga que Chile sea finalmente más democrático y más justo es algo que se pone en duda, especialmente en los círculos cercanos al movimiento. El “Acuerdo por Chile” es un acuerdo diseñado para que el parlamento redacte la nueva constitución. Y eso nos deja en una situación de mucha precariedad, desde el punto de vista del ejercicio de la soberanía de los pueblos. Es decepcionante las características del modelo y de los actores que ahora están tomando decisiones en este proceso”, concluye Lucio Cuenca.

VON OBEN HERAB

Para leer en español, haga clic aquí.

Chiles Abgeordnetenkammer bei der Abstimmung Den neuen Verfassungsentwurf bestimmt vor allem das Parlament (Foto: René Lescornez/Dip. via Flickr , CC BY-NC-ND 2.0)

„Es ist ziemlich enttäuschend, auf diesen aktuellen Verfassungsprozess zu blicken“, meint Lucio Cuenca. Er ist Umweltexperte beim lateinamerikanischen Observatorium für Umweltkonflikte (OLCA). Im letzten verfassunggebenden Prozess hat er Camila Zárate beraten, die als eine von sechs Vertreter*innen der Umweltbewegung MAT im Verfassungskonvent saß.

Am neuen verfassunggebenden Prozess, für den nun die Weichen gestellt sind, kritisiert Cuenca, die politischen Parteien hätten ihn drastisch eingeschränkt: „Das politische System in Chile ist Teil des Problems, es ist Teil der Krise, die wir gerade durchmachen. Dass sich nun genau diese krisenbehafteten Institutionen des Verfassungsprozesses angenommen haben, bedeutet, dass dieser bereits jetzt ungeklärte Fragen in sich trägt, darunter natürlich die nach der Legitimität.“ Vor allem kritisiert er den starken Rückfall ins Institutionelle. Dieser habe dazu geführt, dass konservative, rechte, aber auch Parteien der ehemaligen Concertación (Mitte-links), die das Land zwischen 1990 und 2010 ununterbrochen regiert hat, sich das Ergebnis des Plebiszits am 4. September zu eigen gemacht und nun einen streng limitierten Prozess eingerichtet haben.

Die drei neuen Organe im neuen verfassunggebenden Prozess werden zwar paritätisch besetzt. Zivilgesellschaftliche Organisationen und soziale Bewegungen kritisieren jedoch vor allem, dass die 24-köpfige Expertinnenkommission, deren Rolle in den kommenden Monaten zentral sein wird, nicht direkt gewählt wird. Stattdessen werden die Expertinnen proportional zur Sitzverteilung in Senat und Abgeordnetenhaus von den Parteien ernannt – ohne allgemeine Wahl oder öffentliche Ausschreibung.

“Das mit den Experten ist ein Euphemismus”

„Das mit den Experten ist ein Euphemismus. Denn am Ende gibt es keine harmlosen Experten. Sie alle stehen für politische Positionen oder Strömungen und genau diese werden sich in der Arbeit an der neuen Verfassung widerspiegeln“, meint Cuenca. Der Entwurf für eine neue Verfassung werde also von der Meinung des aktuellen Parlaments dominiert sein, nicht aber der Meinung der Menschen in Chile.

Bereits Ende Januar schlägt das Parlament 24 Expert*innen vor – Senat und Abgeordnetenhaus jeweils zwölf. Die paritätisch besetzte Expert*innenkommission soll bereits am 6. März ein erstes Mal zusammenkommen. Ihre Aufgabe ist es, einen ersten Entwurf für die neue Verfassung zu erarbeiten, die dann dem Verfassungsrat übergeben wird. Dessen 50 Mitglieder werden wiederum am 7. Mai unter allgemeiner Wahlpflicht gewählt. Die Sitze werden geschlechterparitätisch besetzt, außerdem gibt es – gemessen an den Bevölkerungsanteilen – überproportional viele reservierte Plätze für Vertreter*innen indigener Gemeinschaften. In der vom chilenischen Kongress verabschiedeten Gesetzesreform heißt es: „Der Verfassungsrat ist ein Organ, dessen einziges Ziel es ist, einen Vorschlag für die neue Verfassung zu diskutieren und zu verabschieden.“ Auch hier wird deutlich, dass es vor allem darum geht, über den von Expert*innen zusammengestellten Verfassungsentwurf zu beratschlagen – ein Text, der die Diskussion von sich aus eingrenzen wird.

Die Expert*innenkommission hat demnach zwar im Verfassungsrat kein Stimmrecht, wird aber so oder so Einfluss auf die öffentliche Debatte haben, sobald der Entwurf im Verfassungsrat beraten wird. Schließlich bietet ihre Vorarbeit die Diskussionsgrundlage für alles, was im Verfassungsrat entschieden wird.

„Und dann ist da noch der Ausschuss, der über die Zulässigkeit und Einhaltung gesetzlicher Vorgaben entscheidet“, erklärt Cuenca. „Das Parlament wird für diese Aufgabe 14 Anwälte ernennen. Dieses Kontrollgremium bestimmt dann, ob sich die Verfassungsartikel, die der Verfassungsrat verabschiedet, im Rahmen der zwölf Prinzipien bewegen, auf die sich als inhaltliche Eingrenzungen für die neue Verfassung geeinigt wurde“.

Eines der zwölf Prinzipien, die den neuen Verfassungstext inhaltlich eingrenzen, besagt, dass Chile ein sozialer Einheits- und Rechtsstaat ist, in dem die Gewaltenteilung zwischen eigenständiger Judikative, Legislative und Exekutive gilt. Das Konzept eines plurinationalen Staates mit einem Rechtssystem, das sich in seiner eigenen Struktur demokratisiert, indem es beispielsweise Rechtsauffassungen indigener Bevölkerungsgruppen und ihrer Kulturen miteinbezieht, wird somit ausgeschlossen.

“Die Aussicht auf eine wirklich demokratische Verfassung geht praktisch gänzlich verloren”

Viele kritisieren insbesondere diese zwölf Prinzipien, da sie die endgültige Abkehr von der Verfassung Pinochets unwahrscheinlicher machen. Auch Lucio Cuenca ist der Meinung, dass damit kritische Punkte erhalten bleiben, die lediglich dazu führen, dass die Grundpfeiler der Verfassung von 1980 reproduziert werden. Cuenca sieht darin eine Strategie: „Denn wenn man dieses Maß an Einschränkungen akzeptiert, geht die Aussicht auf eine wirklich demokratische Verfassung praktisch gänzlich verloren”.

So schließen die zwölf Prinzipien auch viele Vorschläge des am 4. September 2022 im Referendum abgelehnten Verfassungsentwurfs von vornherein aus. Wie viele ist Cuenca deshalb der Meinung, dass der vergangene Verfassungsprozess vielleicht der demokratischste Prozess war, den Chile je gesehen hat. Dagegen würden die aktuellen Ereignisse zeigen, dass soziale Bewegungen es nun schwerer haben, sich einzumischen. Das gilt insbesondere für die Umweltbewegungen, die im Verfassungskonvent stark vertreten waren. Von den 388 Artikeln des im September abgelehnten Verfassungstextes nahmen 74 Bezug auf die Natur und Mechanismen zum Naturschutz, angefangen beim ersten Artikel. „Was wir im Verfassungskonvent erreicht haben, ist für uns viel wert, denn dort sind unterschiedliche Vorstellungen von einer sozialen und ökologischen Welt zusammengekommen“, erinnert sich Cuenca.

Die Ablehnung des im Verfassungskonvent entstandenen Verfassungsentwurfs hat daher einen hohen Preis. Manche Ideen und Konzepte, die ein politisch und kulturell demokratischeres Land ausgemacht hätten, haben nun an Legitimität eingebüßt. Wenig davon wird sich im neuen Verfassungsentwurf wiederfinden.

Für den neuen verfassunggebenden Prozess wurde ein genauer zeitlicher Rahmen abgesteckt. Der Verfassungsrat hat ab dem 7. Juni fünf Monate Zeit, um den neuen Verfassungstext zu verabschieden. Am 17. Dezember dieses Jahres wird der fertige Text in einem Referendum zur Wahl gestellt, dann heißt es wieder Apruebo (Ja) oder Rechazo (Nein) zur neuen Verfassung.

Pinochets Verfassung bald abgeschafft? Hoffnung auf eine tatsächlich demokratische neue Verfassung haben die Bewegungen kaum (Foto: Leonel Yañez Uribe)

Die Einigung auf einen neuen verfassunggebenden Prozess setzt ein Zeichen: Chile kehrt ins Institutionelle zurück, eine Expert*innenkommission macht einen Vorschlag, die Ratsmitglieder arbeiten daran. Nichts daran ähnelt jenem Prozess, den die Revolte entfacht hat und den wir seit 2019 verfolgt haben. Man kehrt zur Demokratie „da oben“ zurück, Bürger*innen und soziale Bewegungen bleiben einfache Zuschauer*innen.

Das Schlimmste: Wer sich für den Verfassungsrat zur Wahl stellen möchte, muss einer gesetzesmäßig eingeschriebenen Partei angehören. Kandidaturen von Unabhängigen oder Vertreter*innen sozialer Bewegungen sind nicht möglich. Die Wahl der Mitglieder des Verfassungsrats wird in ihrem Prozedere damit an die Wahl der Senator*innen angelehnt. Dabei wird nicht proportional vorgegangen, sondern nach Methoden, die dem umstrittenen binominalen System ähneln, das bis 2013 angewandt wurde. Beispielsweise werden für die Region Araucanía, in der ein Konflikt zwischen Mapuche, dem Staat und Forstunternehmen läuft, fünf Ratsmitglieder auf eine Million Einwohner*innen gewählt – genauso viele wie für die Metropolregion Santiago, in der 8 Millionen Menschen leben. Dabei werden größere Listen bei der Sitzverteilung mathematisch übervorteilt, Pluralismus und Vielfalt gehen verloren.

Auch wenn der Verfassungsrat also zu 100 Prozent gewählt wird, so handelt es sich dabei doch um ein von den politischen Parteien im Parlament dominiertes Organ. Genau dagegen hatten sich 78 Prozent der Chilen*innen im Verfassungsreferendum von 2020 ausgesprochen. „Diese Wahl richtete sich mit großer Mehrheit gegen die Beteiligung des Parlaments im verfassunggebenden Prozess“, erinnert Cuenca.

Fast alle Parteien, die derzeit im chilenischen Parlament vertreten sind, haben der Reform für eine neue Verfassung zugestimmt – außer der ultrarechten Republikanischen Partei und dem rechtspopulistischen Partido de la Gente. Die Parteien hinter dem „Abkommen für Chile“ planen, mit der neuen Verfassung dem Erbe Pinochets ein Ende zu bereiten. Dass das gelingt und die neue Verfassung Chile am Ende demokratischer und gerechter macht, bezweifeln vor allem bewegungsnahe Kreise. „Das Abkommen sieht praktisch vor, dass das Parlament die neue Verfassung aufsetzt. Das bringt uns in eine sehr prekäre Lage. Sowohl das Vorgehen als auch die Akteure in diesem Prozess machen nicht viel Hoffnung“, so lautet Lucio Cuencas Fazit.

// ZAUBERLAND IST ABGEBRANNT

In Chile schien in den letzten Jahren vieles richtig gelaufen zu sein. Soziale Bewegungen und linke Parteien schafften es, ein soziales Begehren in ein politisches Projekt zu kanalisieren: Die Verfassung versprach, die progressivste der Welt zu werden. Sie hätte einen fortschrittlichen Sozialstaat mit einer deutlich stärkeren Rolle bei der Daseinsfürsorge in Gesundheit, Bildung oder Rente eingeführt, der Gleichberechtigung von FLINTA* sowie dem Schutz der Umwelt einen hohen Stellenwert eingeräumt und den indigenen Gruppen mehr Anerkennung und Autonomie gewährt. Doch vergangenen Sonntag stimmten 62 Prozent der Wähler*innen, knapp 7,9 Millionen Chilen*innen, gegen sie. Der Traum vom progressiven Chile scheint zerplatzt. Wie konnte das nur passieren?

Im Oktober 2020 hatten sich (bei einer niedrigeren Wahlbeteiligung) noch 78 Prozent der Wähler*innen für eine neue Verfassung ausgesprochen. Doch das Chile von 2022 stellte sich als komplexer heraus als gedacht. Seit dem Wahlsieg des ultrarechten Kandidaten Kast in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl im November 2021 war ein linkes Verfassungsprojekt (wieder) ein Risikoprojekt. Eine von langer Hand organisierte Desinformationskampagne der chilenische Rechten verfing stärker als die Mobilisierung der Verfassungsbefürworter*innen, die noch am Donnerstag vor der Wahl eine halbe Millionen Teilnehmer*innen zu einem Massenevent in Santiago mobilisiert hatte. Bei der Abstimmung zeigte sich aber: Die Mehrheit des Landes konnten sie nicht von ihren Anliegen überzeugen.

Die ersten Auswertungen deuten darauf hin, dass gerade in sozial schwachen Kommunen die Wahl des Rechazo (Ablehnung) mehrheitlich auf in Umlauf gebrachte Fake News zurückzuführen ist. Zentrale Informationskanäle waren private Fernsehsender und soziale Medien – nicht nur in Chile eine Domäne rechter Lobbyist*innen, die diese aufgrund massiver finanzieller Ausstattung mit ihrer oft wahrheitsverdrehenden Meinungsmache fluten konnten. Außerhalb der gesellschaftlichen Sektoren, die die neue Verfassung ohnehin von Anfang an unterstützt hatten, bestimmten bald klassische rechte Themen wie Angst vor Enteignung, Kriminalität und Wohlstandsverlust die Agenda. So musste die Kampagne des Apruebo (Zustimmung), die erst im Juni 2022 aktiv wurde, vor allem versuchen, die in Umlauf gebrachte Desinformation der Gegenseite aufzuklären. Diese hatte bereits im März dieses Jahres das Campaigning für die Ablehnung in den Sozialen Medien aufgenommen und dadurch einen monatelangen Vorsprung, der sich durch enorme Unterstützung durch Wahlspenden, auch aus dem Ausland, weiter vergrößerte. In den einkommensschwachen Kommunen war die Zustimmungskampagne zwar mit Tür-zu-Tür-Gesprächen und auf der Straße aktiv. Wie viele Wähler*innen auf diese Weise überzeugt werden konnten, bleibt aber ungewiss. Denn besonders in diesen Bezirken werden Haustürkampagnen mit etablierter Parteipolitik verbunden. Das trug bei der Abstimmung über eine Verfassung mit überparteilichem Anspruch nicht zur Vertrauensbildung bei.

Mit einem Vertrauensproblem hatte bereits der Verfassungskonvent gekämpft. Die Delegierten hatten durch Skandale und Skandälchen massiv an Legitimität verloren und einen zerstrittenen Eindruck hinterlassen. Die krachende Abstimmungsniederlage nur darauf und auf die Kampagnenstrategie der Verfassungsbefürworter*innen zurückzuführen, ist aber zu kurz gegriffen. Einige Vorschläge erschienen vielen Bürger*innen als zu radikal. Wahrscheinlich ist die chilenische Gesellschaft eine Generation nach dem Ende der Diktatur einfach noch nicht bereit für eine so progressive Verfassung. Das sollte ihre Befürworter*innen aber nicht entmutigen, denn der verfassunggebende Prozess wird vorausichtlich schon bald in die nächste Runde gehen. Es wird dann darauf ankommen, im Konvent und in der Bevölkerung besser für die Vorstellungen einer gerechteren Gesellschaft zu werben, damit möglichst viele von ihnen doch noch Eingang in eine zukünftige neue Verfassung Chiles finden.

WACH UND VOLLER HOFFNUNG

Evadir, no pagar, otra forma de luchar („Bahnfahren ohne zu zahlen, eine andere Art zu kämpfen!“), schallte es Anfang Oktober 2019 durch die Metrostationen von Santiago de Chile. Mutige Schüler*innen hatten damit gegen steigende Kosten für Bus und Bahn protestiert und eine Revolte ausgelöst, die ihre Spuren bis heute zieht: Im September stimmen die Chilen*innen über eine neue Verfassung ab (siehe Artikel auf S. 38). Die in Hamburg lebende chilenische Illustratorin Su Rivas hat diese historischen zweieinhalb Jahre in einem farbenfrohen Comic nachgezeichnet, das nun auf Deutsch im Unrast Verlag erschienen ist: Chile ist aufgewacht! Das Ende einer neoliberalen Ära.

Zwei neugierige Protagonist*innen begleiten durch die drei Kapitel des Comics, das zunächst die verschiedenen Bewegungen und Themen der von den Schüler*innen entfachten Revolte vorstellt. Da sind zum Beispiel die feministischen Bewegungen, die spätestens seit dem feministischen Frühling im Jahr 2018 aus der chilenischen Politik nicht mehr wegzudenken sind. Und auch überall im Comic ist ihr Erkennungszeichen, das grüne Tuch der Verfechter*innen eines Rechts auf legale Schwangerschaftsabbrüche, zu entdecken. Doch die Themen der feministischen Bewegungen sind vielseitig: Es geht ihnen auch um das Ende sexualisierter Gewalt und patriarchaler Machtstrukturen, die Anerkennung von Sorgearbeit und mehr politische Mitbestimmung (siehe Bild unten).

Die Themen sind vielseitig Eine Seite zu den feministischen Bewegungen und ihren Forderungen

Schnell wird klar, was die Protestierenden unterschiedlicher Bewegungen vereint: der Wunsch nach einem Ende des Neoliberalismus. Und der ist in Chile in der Verfassung von 1980, die mitten in der Diktatur unter Augusto Pinochet entstand, festgeschrieben. Gut verständlich erklärt das Comic die Kritik an der Verfassung und warum bisherige Versuche sie zu ändern oder grundlegend zu reformieren, scheiterten.

Besonders gut erklärt Rivas wichtige Begriffe und Symbole der Revolte und ordnet sie für ein deutschsprachiges Publikum historisch ein. So entsteht eindrucksvoll das Bild der Revolte, die häufig als „gesellschaftlicher Knall“ bezeichnet wird, als Wendepunkt in der chilenischen Geschichte.

Dass das folgende zweite Kapitel sehr ausführlich zeigt, wie die rechtskonservative Regierung unter Präsident Sebastián Piñera mit der Coronapandemie umging, mag zunächst verwundern. Doch schließlich ist der weitere Verlauf der Revolte eng mit der Pandemie verwoben, legte letztere doch die großen Mobilisierungen lahm und zwang die Protestierenden, ihre Stimmen auf andere Weise zu erheben. Gleichzeitig zeigt das Pandemiemanagement der Regierung auf, wie tief neoliberale Grundsätze in der Politik verankert sind und jegliche Bereiche des Lebens durchdringen. So wurden als Reaktion auf den in der Pandemie verbreiteten Hunger in ärmeren Bevölkerungsteilen Lebensmittelpakete verteilt – rein zufällig mit Produkten von Unternehmen, mit denen Regierungspolitiker*innen in Verbindung standen. Und falls die nicht reichten, sollten die Chilen*innen doch einfach 3 Liter Wasser am Tag trinken – das stille das Hungergefühl, so die Fernsehköchin Paula Arenas. Eine hämische Bemerkung, wo doch das Wasser in Chile privatisiert ist und viele Familien wöchentlich nicht genug Trink- und Nutzwasser zur Verfügung haben.

Besonders gut erklärt Rivas wichtige Begriffe und Symbole der Revolte“

So bleiben im Comic auch kleine Aussagen und Ereignisse, die sonst vielleicht nicht jede*m in Erinnerung geblieben wären, für die Zukunft anschaulich festgehalten. Die beiden Protagonist*innen stellen dabei stets die richtigen Fragen und decken die rhetorischen Schachzüge und Strategien rechter Politiker*innen schamlos und unterhaltsam auf. Dabei trifft Rivas mit ihren detailgetreuen Porträts einzelner Personen zweifellos einen Nerv: Vertreter*innen der neoliberalen Politik werden als düster, mies gelaunt und böse stilisiert, wohingegen die Protestierenden mit all ihren Transparenten, Parolen und Symbolen bunt aufleuchten.

Ebenso vielseitig werden im dritten Kapitel die Menschen vorgestellt, die die Chilen*innen im Mai 2021 gewählt haben, um eine neue Verfassung für das Land auszuarbeiten. Zahlreiche Vertreter*innen im Verfassungskonvent, viele davon Aktivist*innen aus sozialen Bewegungen, kommen auf den letzten Seiten des Comics zu Wort und erklären, welche Themen ihnen in der neuen Verfassung wichtig sind.

Mit Chile ist aufgewacht! ist eine anschauliche Chronik der Revolte und ihrer Folgen in einem besonderen Format gelungen. Auch wenn die Übersetzung an kleinen Stellen ruckelt, liest sich das Comic wie im Fluge. Während der Lektüre wird glasklar, warum eine neue Verfassung für Chile so wichtig wäre und warum so viele trotz großer Hürden ihre Hoffnungen in das aktuelle Verfassungsprojekt setzen. Auf die Frage nach den Chancen im Plebiszit antwortet eine der Protagonist*innen: „Darauf setze ich meine ganze Hoffnung.“

HAITIS ZIVILGESELLSCHAFT LÄSST NICHT LOCKER

Proteste in Port-au-Prince Erst auf starken Druck hin hat Präsident Moïse Parlamentswahlen angesetzt (Foto: Aljazeera via Wikimedia Commons CC BY-SA 4.0)

Haitis Präsident Jovenel Moïse hat eine exklusive Sicht auf die Dinge: „Der Demokratie geht es gut in Haiti.“ Dieses Bild versuchte er bei seiner Rede vor dem Weltsicherheitsrat in New York zu vermitteln, wo er am 22. Februar zum Rapport antreten musste. Dabei musste er sich unangenehme Kritik anhören: „Die Verantwortlichen für die Massaker von La Saline und Bel Air müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Ich stelle auch fest, dass die Ermittlungen zur Ermordung von Monferrier Dorval (Präsident der Anwaltskammer von Port-au-Prince, Anm. d. Red.) nicht vorankommen. Der Kampf gegen die Straflosigkeit muss die Priorität der Behörden sein“, brachte die UN-Botschafterin Frankreichs, Nathalie Broadhurst, ihren Unmut über die Entwicklung in der ehemaligen Kolonie zum Ausdruck. Die Massaker in La Saline am 13. November 2019 und in Bel Air am 1. September 2020 mit mehr als 70 Toten sind die traurigen Höhepunkte der Repression in der Amtszeit von Präsident Jovenel Moïse, gegen den seit Mitte 2018 immer wieder Massenproteste stattfinden. Sie richten sich gegen Korruption und Straflosigkeit, aber auch gegen die zunehmende Gewalt im Land und die Einmischung von außen.

Seit einem Jahr regiert Moïse per Dekret, denn das Parlament ist seit dem 13. Januar 2020 nicht mehr funktionsfähig – die Neuwahlen stehen seit 2018 aus. Für die Opposition ist Moïses Amtszeit am 7. Februar abgelaufen. Sie beruft sich dabei auf die Verfassung, die eine fünfjährige Amtszeit vorsieht – und im Februar 2016 gab Präsident Michel Martelly die Amtsgeschäfte ab. Martellys Gefolgsmann Moïse rechnet anders und datiert den Beginn seiner Amtszeit auf den Zeitpunkt seiner Vereidigung im Februar 2017. Moïse hat vor dem Weltsicherheitsrat nochmals bekundet, dass er die Regierung an den Gewinner der Wahlen im Oktober 2021 übergeben und nicht zurücktreten werde, bis seine Amtszeit im Februar 2022 ausläuft. Sekundiert wird Moïse von der US-Regierung unter dem neuen Präsidenten Joe Biden. Die Administration in Washington sagte, dass ein neu gewählter Präsident Moïse nachfolgen sollte, „wenn seine Amtszeit am 7. Februar 2022 endet.“

Es sind vor allem junge Leute, die heute auf die Straße gehen

Der 7. Februar war in Haiti ein weiteres Mal geschichtsträchtig. An jenem Tag endete 1986 durch die Flucht von Jean-Claude „Baby Doc“ Duvalier ins französische Exil die Duvalier-Diktatur; sie hatte 1957 durch einen Militärputsch begonnen, der „Baby Docs“ Vater François Duvalier an die Macht brachte. Genau 35 Jahre später überschlugen sich die Ereignisse: Seit jenem Sonntag hat Haiti zwei Präsidenten. Neben dem 52-jährigen Jovenel Moïse, den 72-jährigen Richter Joseph Mécène. Er ist der älteste Richter am Obersten Gerichtshof, der von der Opposition unterstützt, aber von der internationalen Gemeinschaft ignoriert wird. Er legte den Amtseid allein in einem Raum ab, der mit der haitianischen Flagge geschmückt war. Dokumentiert wurde die Zeremonie über sein Facebook-Konto.

Verschanzt in seiner Residenz in Kenscoff, in den kühlen Bergen hoch über Port-au-Prince, sprach Moïse per Videobotschaft von einem Staatsstreich, ließ vermeintliche Verschwörer festnehmen und erklärte, eine Gruppe von Oligarchen wolle die Macht übernehmen. Laut Regierung wurden 23 Verdächtigein Haitis Hauptstadt Port-au-Prince verhaftet. Sie sollen geplant haben, Moïse umzubringen und die Regierung zu stürzen.

Pays lòk, blockiertes Land – so wird die Lage in Haiti auf den Punkt gebracht

Auf den Straßen ging die Polizei derweil mit Tränengas gegen Demonstrant*innen vor, die den Rücktritt von Moïse forderten. In der ersten Februarwoche hatten die Gewerkschaften zu einem Generalstreik aufgerufen, Port-au-Prince war teilweise völlig lahmgelegt. Pays lòk, blockiertes Land – so wird die Lage in Haiti oft auf den Punkt gebracht. Die Haitianer*innen protestierten gegen die dauerhaft angespannte Sicherheitslage. Sogar Schulen bleiben teilweise geschlossen. Nicht wegen der Corona-Pandemie, sondern um Lehrkräfte und Schüler*innen vor möglichen Entführungen zu schützen. Die haitianische Menschenrechtsorganisation Défenseurs Plus hat rund 1000 Entführungen allein im vergangenen Jahr registriert. Moïse werden enge Verbindungen zu kriminellen Banden vorgeworfen.
Für die 2018 abgesagten Parlamentswahlen hatte Moïse lange keinen neuen Termin angesetzt. Angesichts des zunehmenden Drucks der Opposition hat er im Januar schließlich die Termine für die nächsten Präsidenten- und Parlamentswahlen verkündet. Im September und November soll nun gewählt werden.

Zuvor soll jedoch am 25. April ein Verfassungsreferendum abgehalten werden. Moïse strebt eine Stärkung der Position des Präsidenten einschließlich der Möglichkeit einer zweiten Amtszeit an, auf die er selbst, wie er hochheilig versichert hat, aber verzichten wolle. Das Amt des Ministerpräsidenten soll zudem abgeschafft werden. Bis jetzt ähnelt Haitis politisches System in dieser Beziehung dem System Frankreichs. Die Opposition hält das Referendum für verfassungswidrig, weil gemäß der Verfassung von 1987 Änderungen nicht per Plebiszit, sondern über Parlament und Senat in die Wege geleitet werden müssten.

Die Wut der Haitianer*innen richtet sich nicht nur gegen Moïse


Es sind vor allem junge Leute, die heute auf die Straße gehen mit Forderungen nach einer Verfassunggebenden Versammlung, nach einem neuen, gesellschaftlichen Konsens. „80 Prozent der Bevölkerung wollen nicht nur einen Regierungswechsel, sondern eine grundlegende Reform von Staat und Gesellschaft“, sagte Wirtschaftsprofessor Alrich Nicolas von der Universität in Port-au-Prince den Lateinamerika Nachrichten. Die sogenannte Core Group unterstütze die Forderungen der Zivilgesellschaft nicht. Dabei seien die Forderungen ja nicht revolutionär, sondern klassisch: Zugang zu öffentlichen Gütern, freie Wahlen, Sicherheit.

Die ehemalige Besatzungsmacht USA betrachtet den neoliberalen Unternehmer Jovenel Moïse als Garantie dafür, dass in Haiti keine linken Experimente stattfinden. So ist der Totalprivatisierung, die der Bauernführer Jean-Baptiste Chavanne befürchtet, Tür und Tor geöffnet: „Die vergangenen Regierungen haben schon privatisiert. Nun gibt es den Plan der totalen Privatisierung, bis hin zum Gesundheits- und Bildungssektor.“

Die Wut der Haitianer*innen richtet sich daher nicht nur gegen Moïse, sondern ist gemischt mit einer bitteren Enttäuschung über die internationale Gemeinschaft. „Die Haitianer fragen sich, warum das, was in fast aller Welt gilt, nicht auch für sie gilt“, analysiert Alrich Nicolas. Eine Antwort der „Core Group“ steht aus.

DIE RUHE VOR DEM STURM

Foto: Frente Fotográfico

Wie jedes Jahr richten sich Ende Februar die Augen der Chilen*innen nach Viña del Mar, wo sechs Tage lang das internationale Songfestival stattfindet, eines der meist beachteten Musikereignisse Lateinamerikas. Doch dieses Mal ist alles anders: #SinJusticiaNoHayFestival, „Ohne Gerechtigkeit kein Festival“, meinen viele und fordern zunächst erfolglos die Absage des kommerziellen Großereignisses. Tausende protestieren, doch von Beginn an kontrollieren Sicherheitskräfte den Eingang zum Festivalgelände Quinta Vergara streng und weisen mutmaßlich Protestwillige ab. Einige Plakate schmuggeln sie dennoch hinein, und Künstler*innen wie Mon Laferte oder Ricky Martin solidarisieren sich von der Bühne aus mit den Protesten. Ein Rückschlag für die Regierung, die mit dem Festival Normalität demonstrieren möchte. In der chilenischen Presse wird anschließend besonders über Ausschreitungen abseits des eigentlichen Festivals berichtet: Auf das Nobelhotel O’Higgins in der Nähe werden Steine geworfen, Scheiben zerbrechen und Tränengas gelangt nach drinnen, Gäste werden evakuiert und mehrere Autos in Brand gesetzt. „Dies ist nicht die beste Art des Protestes“, sagt eine Frau hinterher Efe TV gegenüber, „aber die Leute sind müde, denn für das Festival wird sehr viel Geld ausgegeben, das eigentlich in das Gesundheitssystem und in die Bildung gesteckt werden müsste.“

Viele rechtfertigen den Einsatz von Gewalt gegen Gegenstände als Antwort auf die staatliche Repression, die weiterhin wahrnehmbar ist. Über die sozialen Medien werden immer wieder neue Aggressionen der Sicherheitskräfte bekannt, vor allem im Großraum Santiago. Da ist zum Beispiel das Video, in dem man sieht, wie sieben Carabineros – einige davon in Zivil – aus einem Polizeifahrzeug aussteigen, um brutal auf den Studenten Matías Soto einzuprügeln und zu -treten. Oder die Berichte von Matías Pérez, der nach Faustschlägen in einem Polizeifahrzeug einen Nasen- und Augenhöhlenbruch erlitt. Seine Verletzungen wurden in dem Polizeibericht darüber jedoch nicht erwähnt. Die Liste ließe sich fortsetzen. Laut nationalem Menschenrechtsinstitut (INDH) sind in der Hauptstadtregion bisher etwa 90 Prozent solcher Angriffe von den Carabineros verübt worden, die restlichen von der zivilen Polizei PDI und vom Militär, welches nur während des neuntägigen Ausnahmezustands im Oktober 2019 eingesetzt wurde.

Mitte Februar forderten die Menschen bei den Protesten auf der Plaza de la Dignidad daher unter dem Motto „Un San Valentín Sin Rozas“ („Valentinstag ohne Rozas/Rosen“) den Rücktritt von Mario Rozas, dem Generaldirektor der Carabineros. Während auf dem Platz nach wie vor Tausende zusammenkommen, sind es doch keine riesigen Massen mehr wie anfangs – allerdings ist im Februar auch Ferien- und Urlaubszeit in Chile. Größere Proteste finden mittlerweile nur noch an Freitagen statt, dem Wochentag, an dem am 18. Oktober alles begann. Noch stehen laut der Umfrage Plaza Pública 56 Prozent der Chilen*innen hinter den Protesten – ein Rückgang um 16 Punkte seit Oktober. Beginnen die Proteste sich also totzulaufen, wie der rechtsgerichtete Präsident Sebastián Piñera zweifellos hofft?

„Noch haben wir nichts erreicht!“, ist ein Satz, den man auch nach vier Monaten unter den Protestierenden oft hört – es ist das Gefühl, dass immer noch alles vergeben gewesen sein kann. „Ich lade die Leute dazu ein, mobilisiert zu bleiben“, sagte im November vorausahnend ein Spitzenpolitiker, „wenn sie nicht aufpassen, werden viele die Veränderungen nicht umsetzen.“ Der Politiker war nicht etwa ein Linker, sondern Mario Desbordes, Präsident der Nationalen Erneuerung (RN), einer der Regierungsparteien aus dem rechten Spektrum. Er wird es wohl wissen.

Die Polizeigewalt könnte noch ein Fall für die internationale Justiz werden

Die handfesten Folgen der Proteste sind bisher eher traurig: über 10.000 Verhaftungen hat das INDH seit Oktober gezählt, von denen knapp 2.000 illegal waren (ein Anstieg von 77,7 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum) und mehr als 3.700 Verletzte durch Polizeigewalt, davon mehr als 2.000 durch Schüsse. 445 Menschen haben Augenverletzungen davongetragen, davon erlitten 34 schwerste Verletzungen oder einen Sehverlust. In mehr als 1.300 Fällen wurden bereits rechtliche Schritte seitens der Opfer eingeleitet, davon in 195 Fällen wegen Gewalt mit sexualisiertem Charakter wie erzwungenem Ausziehen, Begrapschen oder Vergewaltigungen, in 951 Fällen wegen Folter und Misshandlungen, in fünf wegen Mordes. Zur weitergehenden juristischen Aufarbeitung gibt es noch keine systematische Erfassung. Eine zumindest zweistellige Zahl von Polizist*innen ist inzwischen wegen Folter und sexualisierter Gewalt in verschiedenen Fällen von der Staatsanwaltschaft angeklagt und daraufhin in Untersuchungshaft genommen worden.

Gleichzeitig hat die Justiz begonnen, die übergeordnete Verantwortung von Präsident Sebastián Piñera und weiterer Autoritäten, wie Innenminister Gonzalo Blumel, seinem Vorgänger Andrés Chadwick sowie dem Generaldirektor der Carabineros, Mario Rozas, zu untersuchen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen sie aufgrund von 30 Anzeigen wegen des Todes von Mauricio Fredes, der auf der Flucht vor der Polizei in ein Loch stürzte, des Einquetschens von Óscar Pérez zwischen zwei Polizeifahrzeugen (siehe LN 548) sowie weiterer schwerer Verletzungen von Demonstrant*innen. Ein Gericht hat bereits die Vernehmung von Mario Rozas genehmigt. Aufgrund der drohenden hohen Strafen von bis zu 20 Jahren für Verbrechen gegen die Menschlichkeit haben die Carabineros bereits mehrere Anwälte für die Verteidigung abgestellt. Weitere Anwälte aus renommierten Kanzleien des Landes boten sogleich ihre (zum Teil unentgeltliche) Hilfe an und gründeten die NGO Nos Importan („Ihr bedeutet uns etwas“), die für angeklagte Mitglieder der Sicherheitskräfte juristische Hilfe organisiert und finanziert. Viele Mitglieder dieser NGO haben geschäftliche Verbindungen zu großen Unternehmen, die ihre Interessen durch die Proteste bedroht sehen. Darunter ist etwa der Anwalt Juan Francisco Gutiérrez Irarrázaval, der als Berater der Luksic-Unternehmensgruppe und der Reorganisation der Energiefirma Enersis 2015 gewirkt hat (die Nachfolgefirma Enel wird heute von einem Cousin Piñeras geleitet).

Auf den begonnenen Ermittlungen gegen die Verantwortlichen ruhen hohe Erwartungen. Der derzeit suspendierte spanische Richter Baltasar Garzón, für die Verhaftung Pinochets im Jahr 1998 verantwortlich, hat die Polizeigewalt in Chile kürzlich als ein nach dem internationalen Strafrecht relevantes Verbrechen eingeschätzt, das auch vor einem internationalen Gericht verhandelt werden könnte, falls in Chile keine adäquate Aufarbeitung erfolge.

Während die Regierung einerseits besorgt auf die Anklagen blickt, setzt sie an anderer Stelle Hoffnungen in die Justiz: Gleich am Tag des Inkrafttretens des mit Hilfe von Teilen der Opposition verabschiedeten „Anti-Plünderungs-Gesetzes“ erfolgten Ende Januar auf dessen Basis 12 Festnahmen von Demonstrant*innen. „Dieses beschämende neue Gesetz versucht, die Gefängnisse mit Demonstranten in Untersuchungshaft zu füllen und den gleichen Carabineros, die die Menschenrechte verletzen, zu ermöglichen, ihre Opfer ohne Beweise zu beschuldigen“, erklärte daraufhin der grüne Abgeordnete Félix González.

Doch die Protestierenden kritisieren nicht nur die jüngst verabschiedeten Gesetze: Ihre wichtigste Forderung nach einer neuen Verfassung bleibt auch vier Monate nach dem Ausbruch der Proteste bestehen. Die Vorbereitungen für die Kampagne zum Verfassungsreferendum am 26. April haben bereits begonnen. Die Chilen*innen sind dann aufgerufen zu entscheiden, ob es eine neue Verfassung geben soll und wie sich die Versammlung bilden soll, die diese im Falle einer Zustimmung ab Oktober ausarbeiten wird: mit 50 Prozent Parlamentsabgeordneten oder mit ausschließlich neu gewählten Delegierten. Das nahende Plebiszit hat im Februar nun auch die Gegenseite auf die Straße gebracht, es demonstrierten bis zu 2.000 Gegner*innen einer neuen Verfassung – nicht auf der Plaza de la Dignidad, sondern im Reichenviertel Las Condes, hochgehaltene Pinochet-Porträts inklusive.

Vom 27. März bis 23. April wird es eine Fernsehkampagne mit täglich zwei 15-minütigen Blöcken zu je einer der beiden Fragen des Referendums geben, beiden Antwortoptionen steht jeweils die Hälfte der Zeit zur Verfügung. Anders als im Referendum 1988, das zur Abwahl Pinochets führte, wird es jedoch nicht jeweils einen Pro- und einen Contra-Beitrag geben, sondern mehrere. Politische Parteien oder Parteienkoalitionen sowie unabhängige Abgeordnete bekamen in beiden Sendeblöcken auf Antrag Sendezeit für eine oder beide Antwortoptionen zugeteilt, insgesamt proportional zu ihrer parlamentarischen Repräsentanz. Dies führte allerdings dazu, dass in einigen Fällen extrem kurze Sendezeiten zugeteilt wurden. Eine Abgeordnetengruppe um den ehemaligen Mitte-Links-Präsidentschaftskandidaten Alejandro Guillier bekam etwa eine halbe Sekunde bzw. 17 “Bilder”. Für die Optionen „Pro neue Verfassung“ sowie „Pro 100 Prozent gewählte Versammlung“ registrierten sich zudem mehr Parteien und Abgeordnete als für die jeweilige Gegenposition, was dazu führte, dass die einzelnen progressiven Gruppen weniger Zeit zugeteilt bekamen als die konservativen, am meisten Zeit bekam mit ca. vier Minuten die ultrarechte Unabhängige Demokratische Union (UDI). Ein Drittel ihrer zugeteilten Zeit müssen die Parteien zudem an zivilgesellschaftliche Gruppierungen abgeben, die mit ihnen an der Kampagne teilnehmen wollen.

75 Prozent der Chilen*innen wollen eine neue Verfassung

Während eine vielstimmige Fernsehkampagne absehbar ist, scheint das Ergebnis schon längere Zeit festzustehen. Die Umfrage Data Influye ermittelte zuletzt eine nochmals gestiegene Zustimmung von 75 Prozent für das „Ja“ zu einer neuen Verfassung. Auch bei der Frage der Zusammensetzung der Verfassungsversammlung gibt es eine Tendenz: 44,1 Prozent der Wahlberechtigten sind für eine vollständig neu gewählte Verfassungsversammlung, nur 27,2 Prozent für eine Versammlung, die zur Hälfte aus Abgeordneten besteht (Pulso Ciudadano). Die Gegner einer neuen Verfassung dürfen mit über diese Frage abstimmen, was der gemischten Versammlung de facto einen strukturellen Vorteil verschafft, ansonsten würde das Ergebnis hier vermutlich ebenfalls bereits feststehen.

Demgegenüber bleiben die Umfragewerte für die Regierung schlecht: Nur noch sieben Prozent der Chilen*innen sind mit Präsident Piñera zufrieden, 4,6 Punkte weniger als im Januar, hinter Piñeras Kabinett stehen sogar nicht einmal sechs Prozent (Pulso Ciudadano).

Zumindest die Umfragen lassen derzeit also Grund zur Hoffnung. Mit dem Ende der Sommerferien und mehreren Anlässen mit hohem Mobilisierungspotenzial im März – Frauen*kampftag, der zweite Jahrestag von Piñeras Amtsantritt und ein Gedenktag für die Opfer der Militärdiktatur – kann außerdem erwartet werden, dass es vor dem Plebiszit Ende April noch richtig rund geht.

AUF DEM PRÜFSTAND

Foto: Flickr.com / Pedro Szekely (CC BY-SA 2.0)

Die Debatte über die Reform der kubanischen Verfassung ist in vollem Gang. In diesen Tagen trifft man in der Hauptstadt Havanna immer wieder auf mal größere, mal kleinere Gruppen von Bürger*innen, die zusammenstehen oder zusammensitzen und zum Teil lebhaft diskutieren. Über Onlineforen dürfen sich daran auch 1,4 Millionen im Ausland lebende Kubaner*innen beteiligen – eine beachtliche Tatsache angesichts der konfliktreichen Geschichte zwischen der sozialistischen Revolution und seiner Diaspora.

Kubas derzeitige Verfassung stammt aus dem Jahr 1976. Damals_war die Sowjetunion der Leuchtturm des Weltkommunismus. Kubaner*innen konnten weder Cafés oder Restaurants betreiben, noch ihre Häuser an Ausländer*innen vermieten oder Angestellte für ihr Kleingewerbe einstellen. Homosexuelle mussten sich verstecken. Seither wurde die Verfassung dreimal überarbeitet – zuletzt 2002. Die neue Verfassung soll den Reformprozess der letzten Jahre rechtlich verankern.

Im Theater des Poliklinikums „Nguyen Van Troi“ in Havannas Stadtteil Centro Habana, einem schmucklosen Saal mit der Aura einer Schulturnhalle, haben sich rund 50 Ärzt*innen und Angestellte versammelt, um über den Verfassungs­entwurf zu beraten. Begleitet werden sie von mindestens ebenso vielen Pressevertreter*innen. Was auffällt: Kaum jemand der Anwesenden ist jünger als 40, 50 Jahre.

Geleitet wird die Veranstaltung von Susel Lameré García, einer resoluten Mittfünfzigerin, ihres Zeichens Funktionärin der Kommunistischen Partei Kubas (PCC) in Centro Habana. Sie und die neben ihr sitzende Schriftführerin Miriam Mena vom Kommunistischen Jugendverband UJC (Unión de Jovenes Comunistas) sind in den vergangenen Wochen zusammen mit rund 15.000 Kadern geschult worden, um jeweils als Doppelgespann die Verfassungsdebatten zu leiten, wie Lameré im Gespräch mit Lateinamerika Nachrichten berichtet.

Nach dem gemeinsamen Singen der Nationalhymne beginnt sie, den im Juli von der Nationalversammlung verabschiedeten Verfassungs­entwurf Zeile für Zeile vorzulesen. Insgesamt umfasst er 224 Artikel – 87 mehr als die alte Verfassung. Die Teilnehmer*innen der Sitzung sind aufgerufen, Meinungen, Zweifel zu äußern, Änderungswünsche und Ergänzungen einzubringen oder Streichungen vorzuschlagen.

„Wir bewerten die Meinungen nicht, sondern nehmen sie nur auf. Es gibt keine Abstimmungen; jede Wortmeldung ist wertvoll“, so Lameré. Alle Wortbeiträge würden protokolliert und an eine Expert*innenkommision auf Kommunalebene weitergegeben, die diese innerhalb von 48 Stunden redaktiert und an Teams aus Jurist*innen und anderen Expert*innen auf Provinz- und Landesebene weiterleitet, erläutert Lameré das Prozedere. Bis Mitte November werden alle Änderungs­vorschläge gesammelt und eingearbeitet. An­schlie­ßend wird das Parlament über den überarbeiteten Entwurf erneut abstimmen, ehe am 24. Februar 2019 die Bevölkerung in einem Referendum das letzte Wort hat.

Der vorläufige Text bekräftigt den sozialistischen Charakter des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systems Kubas sowie die Führungsrolle der PCC in Staat und Gesellschaft. Die Lesung des ersten Teils des Verfassungsentwurfes im Klinikum erfolgt weitgehend kommentarlos.

Planwirtschaft und Staatseigentum bleiben zwar fundamental für das kubanische Wirtschaftssystem, gleichzeitig wird aber die Rolle des Marktes und neuer privater Eigentumsformen anerkannt. Der Arbeit auf eigene Rechnung wird ergänzender Charakter bescheinigt. Zentral für die Volkswirtschaft bleiben Staatsunternehmen, die aber mehr Autonomie erhalten sollen.

Erstmals wird die Bedeutung ausländischer Investitionen für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes in der Verfassung verankert. Was das Privateigentum an Grund und Boden anbelangt, so wird ein Sonderregime beibehalten, mit Beschränkungen bei der Übertragung von Land und mit einem Vorkaufsrecht des Staates.

Lameré scheint die geringe Beteiligung mit zunehmender Dauer zu stören. „Es hilft nicht, danach im Laden oder an der Bushaltestelle zu diskutieren oder zu kritisieren – hier und jetzt ist der Ort“, sagt sie.

Beim Thema Gesundheitsversorgung wird es kurz lebhaft. Die Ärztin Diana Isel Ribiana mahnt die individuelle und familiäre Verantwortung angesichts des Rechts auf kostenlose Gesundheitsversorgung an. Eine Kollegin ergreift als Mutter das Wort und schlägt vor, den Militärdienst erst nach Beendigung des Studiums verpflichtend zu machen. Lameré erinnert daran, dass die Verfassung eher allgemein gehalten ist; viele Kriterien, wie die Adoption von Kindern durch gleichgeschlechtliche Paare, werden in den nachgeordneten Gesetzen, wie dem Familienrecht, spezifiziert.

Apropos gleichgeschlechtliche Ehe: Um deren mögliche Anerkennung hatte es vor der Parlamentssitzung, in der der Verfassungsentwurf diskutiert wurde, die meiste Polemik gegeben. Fünf protestantische Kirchen hatten sich Ende Juni in einem offenen Brief vehement dagegen ausgesprochen. Die Ehe sei „ausschließlich die Vereinigung von Mann und Frau“ und die „Genderideologie“ nicht Teil der kubanischen Kultur und Revolutionsgeschichte, schrieben sie.

In den sozialen Netzwerken entbrannten daraufhin heftige Diskussionen. Die evangelikalen Kirchen ersuchten zudem die Genehmigung der PCC für eine Demonstration „zur Verteidigung der traditionellen Familie“ – vergeblich.
Nach lebhafter Diskussion beschloss die kubanische Nationalversammlung schließlich, die Ehe nicht mehr als „freiwilligen Bund zwischen einem Mann und einer Frau“ zu definieren, sondern als „freiwillige Verbindung zwischen zwei Personen“. Das eröffnet die Möglichkeit zur Homo-Ehe.

„Mit diesem Vorschlag zur Verfassungsänderung platziert sich Kuba zwischen Vorreiterländern bei der Anerkennung und Garantie von Menschenrechten“, so die Parlamentarierin Mariela Castro Espín, Tochter des früheren Präsidenten Raúl Castro und als Direktorin des Nationalen Zentrums für Sexuelle Bildung (Cenesex) seit Jahren prominenteste Aktivistin für die Rechte von Schwulen und Lesben in Kuba. Die Abgeordnete Yolanda Ferrer verteidigte sexuelle Vielfalt als „ein Recht und kein Stigma“ und rief dazu auf, „Jahrhunderte der Rückständigkeit“ hinter sich zu lassen. Auch verteidigte sie das Recht schwul-les­bischer Paare auf Familie.

Die Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe wurde in Kubas LGBT-Gemeinschaft mit Genugtuung aufgenommen. Sie hätte gedacht, dass die konservativen Kräfte in der Regierung dies verhindern würden, so die Genderaktivistin Isbel Torres. „Zum Glück ist das nicht der Fall gewesen.“ Zugleich warnte sie vor der vielen Arbeit, die noch zu tun sei. „Kuba bleibt weiterhin ein stark homophobes Land, mehr in den Provinzen als in der Hauptstadt“. Homo- und Transphobie seien weiterhin weit verbreitet – bis hinein in die Institutionen.

Der Abgeordnete Miguel Barnet, Präsident des kubanischen Schriftstellerverbandes UNEAC, drückte „immensen Stolz“ über den neuen Verfassungsartikel aus: „Wir eröffnen eine neue Ära. Das ist eine dialektische und moderne Verfassung. Und wenn Tradition gebrochen werden muss, wird sie gebrochen. Im Sozialismus hat keine Art von Diskriminierung zwischen Menschen Platz. Ich bin für Artikel 68 (zur gleichgeschlechtlichen Ehe, Anm. d. Red.) der neuen Verfassung. Meine Damen und Herren, Liebe kennt kein Geschlecht.“

Um einiges diskussionsfreudiger als in Centro Habana verläuft die Verfassungsdebatte in Kohly im Stadtteil Playa. Dort sind in den Abendstunden auf der Straße rund 100 Nachbar*innen zusammengekommen; auch hier überwiegend ältere Semester. Da bereits die Abenddämmerung eingesetzt hat, beleuchten einige ihre Notizen mit Mobiltelefonen oder lesen von Tablets ab.

In Kohly sorgen vor allem die Neuerungen in der politischen Struktur für Diskussionsstoff. Die Macht soll auf mehrere Schultern verteilt werden. Neben dem Staatsratsvorsitzenden werden der Posten des Staatspräsidenten sowie eines Minister­präsidenten neu geschaffen. Dieser soll dem Ministerrat, also der Regierung vorstehen. Die Amtszeiten sollen auf maximal zweimal fünf Jahre begrenzt werden. Kandidat*innen dürfen bei der Wahl nicht älter als 60 Jahre sein.

Auf lokaler Ebene sollen die Bezirke (municipios) mehr Autonomie erhalten, mit dem Ziel, schneller und effizienter auf Probleme und Beschwerden vor Ort reagieren zu können. Petitionsrechte und die lokale Beteiligung sollen ausgeweitet werden. Dafür sollen die Provinzparlamente abgeschafft und durch Provinzregierungen, bestehend aus Gouverneur und einem aus den Präsi­denten der Bezirksversammlungen gebildeten Rat, ersetzt werden. „Das hat seine positiven Seiten (…), unabhängig davon glaube ich, dass die Gouverneure wählbar sein sollten“, gibt die Rentnerin Dania Rodríguez zu bedenken. Andere stören sich an der Altersbegrenzung und schlagen vor, diese aufzuheben oder zumindest zu dehnen.

Im Poliklinikum Van Troi dünnt sich die Zahl der Anwesenden nach und nach aus. Am Ende eines langen Arbeitstages sind die meisten Ärzte nicht mehr so recht in Diskussionslaune. Demokratie ist eben eine langatmige, manchmal etwas ermüdende Angelegenheit. „Eine Nation kann nicht wie ein vierköpfiger Haushalt geführt werden“, sagt Lameré. „Elf Millionen Kubaner müssen sich in dieser Verfassung wiederfinden.“

INSEL DER STAGNATION

Kuba hat eine Verfassungsnovelle vorgelegt, die derzeit diskutiert wird und die auch dem ökonomischen Wandel auf der Insel Rechnung trägt. Ein Fortschritt?

Nun, die Novelle bewegt sich in dem Bereich, der erwartet worden war. Insofern sind die großen Überraschungen ausgeblieben. Im Großen und Ganzen werden die Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur der letzten zwanzig bis dreißig Jahre nun auch in der Verfassung fixiert, das Privateigentum und die Aktivitäten des Privatsektors vor allem. Das ist ein Bekenntnis zum Privat­sektor, ein Signal, welches für Rechtssicherheit sorgt, aber nicht viel mehr. In der Novelle sind die Reformen der letzten zwölf Jahre unter Raúl Castro quasi abgesegnet worden, darunter auch die Auslandsinvestitionen. Das ist alles in etwa so erwartet worden, aber es ist auch sehr limitiert, denn man hält am derzeitigen Wirtschaftsmodell mit dem planwirtschaftlichen Element und dem Bekenntnis zu den staatlichen Betrieben fest. Zwar hat man das Wort Kommu­nismus gestrichen, aber das politische System basiert auf der Vorherrschaft der kommunistischen Partei (PCC).

Die Novelle wird derzeit debattiert – erwarten Sie noch Änderungen?

Die Erfahrung bei derartigen Befragungen der Bevölkerung zeigt, dass das Endergebnis in aller Regel konservativer ausfällt als die Vorlage. Das kann auch hier passieren. Ich habe wenig Hoffnung, dass es da noch zu signifikanten Änderungen kommt. Die Verfassungsreform geht nicht über das Limit hinaus, welches Raúl Castro mit dem Reformprozess definiert hat und es setzt dem neuen Präsidenten Miguel Díaz-Canel dieses Limit. Diese Verfassungsnovelle erlaubt keine Öffnung, keinen strukturellen Wandel – weder der Ökonomie noch des politischen Systems.

Was wäre dafür denn nötig?

Das ökonomische System basiert nach wie vor auf den staatlichen Unternehmen und der zentralisierten Planwirtschaft. Der Privatwirtschaft wird zwar eine Rolle eingeräumt, aber in einem System, das von der Planwirtschaft dominiert wird. Die kubanische Ökonomie benötigt aber deutlich mehr Markt, mehr Flexibilität, weniger staatliche Dominanz, denn was gescheitert ist, ist das Staatsmonopol, die Planwirtschaft. Sie hat in Osteuropa nicht funktioniert, sie funktioniert in Kuba nicht und Länder wie China oder Vietnam haben sie reformiert – in Kuba sind die Reformen aber sehr begrenzt. Der private Markt ist deutlich kleiner als die Bedürfnisse der Ökonomie, die Dynamik, mehr Produktivität, höhere Löhne, Effizienz braucht. Das ist eine Verfassung, die der Realität hinterherhinkt.

In den letzten Monaten haben mehrere Delegationen aus Vietnam Kuba besucht, wodurch die Diskussion über das vietnamesische Modell auf Kuba angekurbelt wurde. Eine reale Alternative?

Es hat durchaus den Anschein als habe das Modell Vietnams Modellcharakter, aber die Reformschritte unter Raúl Castro begannen vor zehn Jahren und heute sind sie weit entfernt von dem, was in Vietnam passiert ist. Der Reformprozess unter Raúl Castro ähnelte am Anfang dem Prozess in Vietnam: mit dem Abbau vom Arbeitsplätzen im öffentlichen, staatlichen Sektor, der Ankündigung der Währungsreform, der Legalisierung von privaten Kleinunternehmen usf – aber alles ging nur sehr langsam, quasi in Zeitlupe vonstatten.

Im Juli erfolgte auch die Ankündigung, ab Dezember neue Lizenzen für selbständige Tätigkeit auszugeben. Eine positive Nachricht, nachdem die Ausgabe dieser Lizenzen in einigen Schlüsselbereichen seit August 2007 eingefroren war?

Mit der Ankündigung der Ausgabe neuer Lizenzen gehen rigide Vorgaben einher, welche die privatwirtschaftlichen Optionen einschränken. Das sorgt dafür, dass sie über den Status von Kleinstbetrieben nicht hinaus kommen, dass sie nicht zu kleinen oder mittleren Betrieben wachsen können. Ein Beispiel: jede Person darf nur eine Lizenz beantragen und innehaben und das bremst die Expansion. Ein weiteres Element ist die höhere Besteuerung, wenn mehr Arbeitnehmer angestellt werden. Das sind Vorgaben, die die Dynamik bremsen und zu einem Artikel in der Verfassung passen, der festschreibt, dass die Konzentration von Reichtum verhindert werden soll. Ein Indiz dafür, dass die konservativen Kräfte an Einfluss gewonnen haben.

Allerdings gibt es auch Vorgaben, die einen innovativen, nachholenden Charakter haben, wie die Einführung digitaler Zahlungssysteme – ein ehrgeiziges Projekt in einem Land, wo Geld­automaten oft nicht funktionieren und Karten­zahlung selten möglich ist.

Richtig. Und kaum zu realisieren. Das Banksystem hat in den 1990er Jahren einen Aufschwung gehabt, da wurden die ersten Geldautomaten eingeführt. Aber danach haben die Banken kaum Investitionen vornehmen können und die Infrastruktur ist heute schlicht nicht ausreichend, auch wenn es in den letzten drei Jahren Ansätze zur Modernisierung gab. Die sind aber bei weitem nicht ausreichend, die Schlangen vor den Banken sind in aller Regel lang und die digitalen Systeme brechen oft zusammen. Positiv ist, dass die privaten Unternehmen gehalten sind ein Bankkonto anzugeben und ihre Geschäfte über die Banken abzuwickeln. Das soll dafür sorgen, dass der Staat seine Steuereinnahmen besser kalkulieren kann – das halte ich für sinnvoll. Schließlich hat auch der private Sektor seinen Beitrag für die Infrastruktur in Bildung, Gesundheit usw. zu leisten. Doch dafür muss das Banksystem modernisiert werden.Bisher trägt der private Sektor zu etwa zehn Prozent der Wirtschaftsleistung bei, die staatlichen Unternehmen zu rund 90 Prozent.

Seit 2010 warten die kubanischen Privatunternehmer*innen auf die Eröffnung von Großmärkten. Mittlerweile haben einige eröffnet, aber die Preise für die Konsumenten*innen haben sich kaum geändert. Ist das ein Hindernis?

Ja, das erschwert den privaten Unternehmern den Zugang zu Gütern, aber die haben längst Alternativen gefunden und besorgen sich Güter im Ausland über mulas, Maultiere, wie die bezahlten Boten, die Ware nach Kuba schleusen, genannt werden. Da kommen Waren aus Miami, aus Panama, aus Guayana und so fort. Das Gros der Produkte, der Rohstoffe für den privaten Sektor kommt auf informellen Wegen. Die privaten Unternehmen suchen nach Alternativen – das erhöht die Preise für die Produkte, erhöht die Unsicherheit, aber es funktioniert.

Der private Sektor ist limitiert und erstreckt sich bisher auf einige wenige Bereiche: vor allem die Gastronomie, die Vermietung von Privatunterkünften, etwas Handwerk und ein paar Dienstleistungen wie den Transport. Fehlt es an Optionen?

Definitiv. Es wäre sinnvoll gewesen mit der Vergabe neuer Lizenzen auch neue Optionen für die „Arbeit auf eigene Rechnung“ bekanntzugeben. Doch diese Chance hat man verpasst – ein Indiz dafür, dass die konservativen Kreise in Kuba den Ton angeben. Das ist allerdings nicht sonderlich logisch, denn schließlich hat man in die Ausbildung der Besserqualifizierten in Kuba investiert und durch die Beschränkungen profitiert die Wirtschaft zu wenig von ihren Möglichkeiten und ihrer Kreativität. Viele gehen wie ich ins Ausland, weil die Optionen dort besser sind. Andere arbeiten unterhalb ihrer Qualifikation, wie der berühmte Arzt als Kofferträger.

Im Kabinett von Präsident Miguel Díaz-Canel sitzt mit Wirtschaftsminister Alejandro Gil ein neues Gesicht – eine gute Wahl?

Alejandro Gil hat keine wissenschaftliche Vita. Er ist im Apparat des Finanzministeriums großgeworden, was ein Vorteil sein könnte, weil er sich auskennt und die Mechanismen kennt, nach denen in Kuba Entscheidungen getroffen werden. Ander­erseits denke ich nicht, dass er mit vielen neuen Ideen kommen wird, aber er ist derzeit in Kuba das Gesicht hinter den Planungen, die doppelte Währung endlich durch eine zu ersetzen. Auf die Währungsreform warten wir schon seit Jahren und immer wieder wurde sie angekündigt, aber gekommen ist sie bis heute nicht. Das wäre ein wichtiger Schritt, sollte Alejandro Gil Kuba wirklich zurück zu einer einzigen Währung führen.

Warum tut sich die Regierung so schwer, die Währungsreform durchzuführen?

Gute Frage, die ich leider nicht beantworten kann. Ich habe mehrfach Prognosen abgegeben, wann die Regierung die doppelte Währung letztlich abschaffen wird, aber immer falsch gelegen. Deshalb halte ich mich nun zurück. Sicher ist, dass die Währungsreform extrem wichtig ist und dass Kuba nicht über das Instrumentarium verfügt, um sie umzusetzen. Das ist ein Dilemma und letztlich eine politische Entscheidung.

Was fehlt denn, um die Reform durchzuführen. Geld, um die Umstellung abzusichern?

Das hängt von der Art der Umstellung ab. Eine Variante benötigt finanzielle Fonds und hat eher strukturellen Charakter. Dazu muss man in die Geschichte der doppelten Währung zurückblicken, denn die doppelte Währung wurde legalisiert als der peso nacional stark an Wert verlor. 1993 war der peso nacional im Verhältnis zum US-Dollar, der am 26. Juli 1993 in Kuba legalisiert wurde, kaum etwas wert. Damals lag der Kurs bei 1:140 peso nacional. Mit den Reformen, der ersten Legalisierung des Privatsektors und anderer Maßnahmen, hat sich der peso nacional wieder zu einem Kurs von 1:24 erholt. Dieser Wechselkurs wurde festgeschrieben und gilt bis heute. Allerdings nicht für die staatlichen Großunternehmen, die nach wie vor mit einem Wechselkurs von einem US-Dollar zu einem peso nacional kalkulieren und agieren. Das ist der Wechselkurs aus den 1980er Jahren, der auch 2018 noch für die Staatsbetriebe gilt. Das hat Folgen, denn de facto ist die Wechselkursanpassung nur für die Bevölkerung real geworden, nicht aber für die großen Staatsunternehmen. Das ist ein Problem, denn somit existieren viele staatliche Unternehmen auf der Basis eines Wechselkurses, der irreal ist. Der Staat verkauft die Produktionsmaterialien, die Grundprodukte zu einem Kurs von 1:1 an die Unternehmen, obwohl am Markt ein Kurs von 1:24 gilt. Das ist eine gigantische Subventionierung.

Wie viele staatliche Unternehmen existieren nur aufgrund dieser Subventionierung?

Ich schätze etwa die Hälfte. Die große Herausforderung ist, wie man diese Unternehmen an den realen Wechselkurs heranführt und hunderttausende von Arbeitsplätzen erhält. Das ist die Essenz der Währungsreform und da gibt es zwei Optionen: die harte und die weiche Variante. Die harte Variante ist die Umstellung mit einem vorher festgelegten Wechselkurs, der viele staatliche Unternehmen zum Kollabieren bringen könnte. Die weiche ist eine fiktive Währungsreform, die zwar einen Wechselkurs von 1:1 vorsieht, aber den Unternehmen mit offenen Subventionen zur Seite steht und sie bei einer Umstellung des Wechselkurses begleitet. Sie subventioniert, aber mit rückläufigen Zuwendungen.

Für diese weiche Variante benötigt die Regierung Fonds für die Subventionen – oder?

Die Idee ist, dass die Subventionen aus den zusätzlichen staatlichen Einnahmen generiert werden, denn es gibt Unternehmen, die von der Um­stel­­lung des Wechselkurses profitieren und andere nicht. Normal wäre es, wenn nicht funktionierende Unternehmen nicht lange durch­ge­schleppt werden, sondern schließen, und wenn die Unternehmen, die effizient arbeiten, dann Arbeitskräfte aufnehmen, die Löhne anheben und dyna­mischer werden. Was wegfallen würde, wäre der Extra-Gewinn für die Unternehmen, die vom derzeitigen Wechselkurs profitieren. Er könnte zur Subventionierung der Unternehmen verwendet werden, die nach einer Umstellung Unterstützung bei der Anpassung brauchen. Letztlich würde es zu einer Umverteilung der Mittel kommen – der Kuchen wird neu verteilt und ein Schock wie bei der harten Umstellung vermieden.

Klingt plausibel, aber angesichts der Existenz von unterschiedlichen Wechselkursen in der Realität schwer umzusetzen?

Natürlich ist das komplex, denn es gilt zu verhindern, dass die Inflation steigt und da gilt es Sicherungen einzubauen.

Wer soll das umsetzen, die Unternehmen kontrollieren und sie auf Kurs halten? – In Kuba, wo die Korruption zunimmt und die Inspekteur*innen auch an sich denken?

Gute Frage. Das ist ein Problem, aber es gibt letztlich keine Alternative, denn seit vier, fünf Jahren ist die Währungsreform angekündigt und immer wieder wird sie aufgeschoben. Die ersten Schritte wurden in dem offiziellen Mitteilungsblatt der Regierung vor Jahren angekündigt, dann entschloss man sich erst einmal die Leitungsebenen der Unternehmen zu qualifizieren. Dann versandete der Ansatz.

Was sind die größten Hürden für die Reform – fehlt es am politischen Willen?

Ich denke am politischen Konsens.

Bolsa Negra?

Der Schwarzmarkt wird immer wichtiger, da die venezolanische Krise Kuba direkt betrifft und Erdöl auf dem internationalen Markt zugekauft werden muss. Das sorgt für eine Reduktion des staatlichen Angebots und für die Zunahme des informellen Sektors, der informellen Importe und die Suche nach Alternativen.

Wird Kubas Wirtschaft im verbleibenden Jahr 2018 stagnieren, wachsen oder schrumpfen?

Ich gehe von Stagnation oder einem leichten Minuswachstum aus. Die Zuckerrohrernte ist dieses Jahr um 40 Prozent zurückgegangen. Auch der Tourismus entwickelt sich nicht wie erhofft. Das sind zwei negative Indikatoren in den wichtigsten Sektoren der kubanischen Ökonomie. Der dritte Sektor ist der Privatsektor und der könnte durch die neuen Vorgaben an Dynamik einbüßen.

RISKANTE FLUCHT NACH VORN

Er hielt Wort. Im Vorfeld des 1. Mai hatte Nicolás Maduro für den Tag der Arbeit „historische Ankündigungen“ versprochen. Daran gemessen, wie oft der venezolanische Präsident in seiner nunmehr vierjährigen Amtszeit unspektakuläre Ankündigungen gemacht hat, war abgesehen von einer erneuten Anhebung des Mindestlohns nicht unbedingt viel zu erwarten gewesen. Doch hatte er dieses Mal tatsächlich noch mehr im Gepäck. „Ich berufe eine Verfassunggebende Versammlung der Bürger ein“, rief Maduro seinen Anhänger*innen auf der chavistischen Maikundgebung im Zentrum von Caracas zu. Nicht Parteien oder Eliten, sondern verschiedene Sektoren, wie die Arbeiterklasse, Bäuerinnen und Bauern, Frauen, Studierende und Indigene, sollten eine neue Verfassung ausarbeiten, um die politische Krise zu überwinden, betonte der Staatschef. Er nannte die Zahl von 500 Delegierten, von denen bis zu 250 von sozialen Bewegungen und Basisorganisationen und die übrigen auf kommunaler Ebene gewählt werden sollten. Eine ausschließlich mit chavistischen Politiker*innen und Jurist*innen besetzte Präsidialkommission wird die nötigen Vorbereitungen treffen, bevor der Nationale Wahlrat (CNE) über das genaue Prozedere entscheidet.

Eine neue Magna Charta würde die bolivarianische Verfassung von 1999 ersetzen, die zu Beginn der Regierungszeit von Hugo Chávez als eines seiner zentralen Wahlversprechen verabschiedet worden war. In der Vergangenheit hatten Chávez und viele seiner Anhänger*innen die Verfassung immer wieder als „beste der Welt“ bezeichnet. Maduro sprach denn auch nicht davon, die bestehende Verfassung komplett zu verwerfen. Vielmehr solle sie „perfektioniert“ und „Chávez’ Traum vollendet“ werden. Im Jahr 2007 scheiterte dessen Versuch, Venezuela durch eine breite Verfassungsreform als sozialistischen Staat zu definieren, knapp an den Wahlurnen.

Am 3. Mai reichte Maduro das Dekret, mit dem die Verfassunggebende Versammlung (VV) einberufen wird, beim CNE ein. Darin schlägt er neun Bereiche vor, die überarbeitet werden sollen. Unter anderem sollen die Staatsgewalten neu geordnet werden, die Sozialprogramme sowie Strukturen der kommunalen Selbstverwaltung Verfassungsrang bekommen und das Wirtschaftsmodell verbessert werden. „Heute gebe ich die Macht in die Hände der Bevölkerung“, sagte Maduro und stichelte in Richtung Opposition. „Ihr wolltet Wahlen, hier habt ihr Wahlen.“ Seinen Gegner*innen versicherte er, dass sie sich an der VV beteiligen können, sofern sie Kandidat*innen aufstellen. Darüber, wie die Wahl genau ablaufen wird, entscheidet nun der CNE.

Während Vertreter*innen der Regierung den Vorstoß als Lösungsansatz der politischen Krise Venezuelas feierten, übte die rechte Opposition vernichtende Kritik an dem Vorhaben. „Wir Venezolaner werden nicht akzeptieren, dass der maduristische Selbstputsch weiter geht“, schrieb der ehemalige Präsidentschaftskandidat und Gouverneur des Bundesstaates Miranda, Henrique Capriles, unmittelbar nach Maduros Ankündigung auf Twitter. Zudem bezeichnete er die Einberufung der Verfassunggebenden Versammlung als „Betrug vom Diktator“ und rief die Bevölkerung dazu auf, sich zu widersetzen. Parlamentspräsident Julio Borges sprach vom „schlimmsten Putsch in der venezolanischen Geschichte.“ Das Ziel Maduros sei es, freie Wahlen zu verhindern und die Demokratie zu zerstören. In den vergangenen Jahren hatten viele Oppositionspolitiker*innen die Einberufung einer VV immer wieder selbst als Lösung der Krise ins Gespräch gebracht. Dabei hatten sie allerdings eine gänzlich andere Zusammensetzung im Sinn, als sie Maduro nun vorschwebt.

Auch Vertreter*innen der marginalisierten linken Opposition äußerten sich ablehnend. „Ist diese Verfassung das Problem? Oder ihre permanente Verletzung?“, fragte Miguel Rodríguez Torres, Innenminister zwischen 2013 und 2014. Nicmer Evans von Marea Socialista (Sozialistische Flut), einer Abspaltung der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas PSUV, bezeichnete die Verfassunggebende Versammlung als „klaren Verrat an Chávez und der Bevölkerung“ und warf der Regierung vor, den „Tod des chavistischen Projektes“ zu befördern.

Unter Verfassungsrechtler*innen fällt die Beurteilung je nach politischer Sympathie ebenfalls unterschiedlich aus. Während der oppositionsnahe Jurist Juan Manuel Rafalli als Hauptziel den Wunsch der Regierung ausmacht, „jede Art von Wahl zu verhindern“, sieht der Chavist Jesús Silva in der VV den einzigen verfassungskonformen Weg, um zeitnah alle staatlichen Instanzen neu wählen zu lassen, wie es die Opposition fordere.

Rein formal ist Maduro nichts vorzuwerfen. Laut Artikel 348 der Verfassung verfügt unter anderem der Präsident über die Kompetenz, eine Verfassunggebende Versammlung einzuberufen. Gegen den Inhalt einer daraus erwachsenen Magna Charta können weder er noch andere staatliche Gewalten ein Veto einlegen. Über die Mechanismen zur Wahl der VV macht die derzeitige Verfassung jedoch keine konkreten Angaben, ein spezifisches Gesetz existiert nicht. Auch sind weder zur Einberufung der VV noch zur Verabschiedung einer neuen Verfassung Referenden vorgesehen. Verfassungsergänzungen und -reformen bedürfen hingegen ausdrücklich der Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit. Wenngleich Maduro mit seinem Vorstoß bei vielen chavistischen Basisbewegungen punkten könnte, die seit Langem eine Vertiefung der partizipativen Demokratie fordern, ist es fraglich, ob die politische Krise im Land dadurch beigelegt werden kann. Im Gegenteil, inmitten der größten Protestwelle seit 2014, könnte Maduros vermeintlicher Befreiungsschlag nach hinten losgehen.

„Ist diese Verfassung das Problem? Oder ihre Verletzung?“

Seit Anfang April tragen linke Regierung und rechte Opposition ihren Machtkampf teilweise gewalttätig auf der Straße aus. Die bisherige Bilanz: Mindestens 37 Todesopfer, hunderte Verletzte und mehr als 1.300 festgenommene Personen. Für die immer wieder aufflammende Gewalt machen sich beide Seiten gegenseitig verantwortlich. Tatsächlich sind sowohl staatliche Sicherheitskräfte, als auch oppositionelle Gruppen für Tote und Verletzte verantwortlich. Acht Menschen starben zudem durch Stromschläge, als sie eine Bäckerei in El Valle, im Südwesten von Caracas, plündern wollten und mit Starkstromkabeln in Berührung kamen. Aus den Reihen der Opposition gibt es immer wieder Vorwürfe, motorisierte chavistische Basisorganisationen aus den barrios, so genannte colectivos, würden gezielt oppositionelle Demonstrationen beschießen. Von den bisher aufgeklärten Todesfällen geht allerdings keiner auf die colectivos zurück.

Als Auslöser der derzeitigen Protestwelle gilt die vorübergehende Übertragung der legislativen Kompetenzen auf das Oberste Gericht (TSJ) Ende März, die dieses erst nach massiver Kritik wieder zurücknahm. Die von den USA und rechtsgerichteten Regierungen Lateinamerikas unterstützte Opposition bezichtigt Maduro, eine Diktatur errichten zu wollen und fordert zeitnahe Neuwahlen, die Neubesetzung des Obersten Gerichts, die Freilassung aller von ihr als politische Gefangene bezeichnete Personen sowie die Einrichtung eines humanitären Korridors, um die Bevölkerung mit Hilfsgütern zu versorgen. Die venezolanische Regierung warnt 15 Jahre nach dem gescheiterten Putsch gegen den damaligen Präsidenten Hugo Chávez hingegen vor neuen Umsturzplänen und einer angeblich geplanten US-Intervention. Als Reaktion kündigte Maduro eine weitere Militarisierung und Bewaffnung der regierungsnahen Milizen an, die das Land im Ernstfall mit verteidigen sollen. Die Militärführung, die nicht zuletzt wirtschaftlich zu den Nutznießer*innen der Regierung zählt, steht weiterhin demonstrativ hinter der Regierung – den wiederholten Aufforderungen oppositioneller Politiker*innen zum Trotz, sich auf die Seite der Regierungsgegner*innen zu stellen.

Beflügelt werden die Proteste nicht zuletzt durch die tief greifende Wirtschafts- und Versorgungskrise. Seit dem deutlichen Sieg des Oppositionsbündnisses Tisch der Demokratischen Einheit (MUD) bei den Parlamentswahlen Ende 2015 schaukelt sich der Machtkampf kontinuierlich hoch. Auf der einen Seite steht eine immer autoritärer agierende Regierung, die sich die Verfassung für die eigenen Zwecke zurechtbiegt. Auf der anderen Seite stilisieren sich die rechten Regierungsgegner*innen als Verteidiger*innen jener Verfassung, die sie in der Vergangenheit stets abgelehnt haben. Weitgehend unstrittig ist indes, dass sich die staatlichen Gewalten häufig politisch instrumentalisieren lassen und der Machtkampf die Lösung der wirtschaftlichen Probleme blockiert. Während die oppositionelle Parlamentsmehrheit seit Beginn vergangenen Jahres offen auf einen Regierungswechsel hinarbeitet und den übrigen Gewalten die Anerkennung verwehrt, regiert Maduro per Dekret. Das TSJ blockiert derweil die parlamentarische Arbeit und nickt jede noch so abenteuerliche Interpretation der Verfassung ab. Auch der in Venezuela als eigene Gewalt fungierende CNE kommt seiner verfassungsmäßigen Rolle nur noch bedingt nach. Nicht nur stoppte er im vergangenen Oktober das von der Opposition angestrebte Abberufungsreferendum wegen vermeintlicher Betrugsdelikte bei der Unterschriftensammlung. Auch verschleppt der CNE die, laut Verfassung, für Ende vergangenen Jahres vorgesehenen Regionalwahlen und hat im Februar eine Neuregistrierung fast aller politischen Parteien angeordnet.

In diesem Kontext entschied das TSJ Ende März, die Kompetenzen der Nationalversammlung selbst zu übernehmen und hob die Immunität der Parlamentarier*innen auf. Als Anlass galt ein Urteil zu der Frage, wie der venezolanische Staat staatlich-private Mischunternehmen im Bergbaubereich gründen könne, wenn dafür doch eigentlich die Zustimmung der Nationalversammlung erforderlich ist. Nachdem die chavistische Generalstaatsanwältin Luisa Ortega während einer Liveübertragung im Staatsfernsehen von einem „Bruch der verfassungsmäßigen Ordnung“ gesprochen hatte und daraufhin Präsident Maduro intervenierte, nahm das Gericht die umstrittenen Beschlüsse zurück. Weiteres Öl ins Feuer goss der Rechnungshof, der gemeinsam mit der Generalstaatsanwältin und dem Ombudsmann für Menschenrechte, laut venezolanischer Verfassung, ebenfalls eine eigene Gewalt darstellt. Am 7. April erkannte er dem prominenten Oppositionsführer Henrique Capriles, unter anderem aufgrund von Korruptionsvorwürfen, für 15 Jahre das passive Wahlrecht ab. Neben dem wegen Anstachlung von Gewalt seit drei Jahren inhaftierten Leopoldo López galt Capriles bisher als aussichtsreichster Oppositionskandidat für die Präsidentschaftswahlen Ende 2018.

Der eskalierende Konflikt zwischen Regierung und Opposition hat auch international bereits Konsequenzen. Im April kündigte Venezuela an, als erstes Land in der Geschichte freiwillig aus der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) austreten zu wollen. Die Regierung wirft der US-dominierten Regionalorganisation und ihrem Generalsekretär, dem Uruguayer Luis Almagro, Einmischung in innere Angelegenheiten vor.

Inmitten verhärteter Fronten profiliert sich die venezolanische Generalstaatsanwältin Luisa Ortega indes als unabhängige Stimme innerhalb der staatlichen Institutionen. Oppositionelle Beobachter*innen werten dies als „Riss“ innerhalb des chavistischen Machtapparates. Ortega verurteilte nicht nur den „Bruch der verfassungsmäßigen Ordnung“, sondern fand Ende April auch klare Worte für die gewalttätigen Auseinandersetzungen. Eindringlich lehnte sie die Aktionen gewalttätiger Gruppen ab, nannte aber auch konkrete Beispiele, in denen der Staat die Rechte der Protestierenden etwa durch willkürliche Festnahmen verletzt habe. „Wir müssen endlich damit aufhören, uns als Feinde zu betrachten“, betonte sie. Sie sprach sich für die Wiederaufnahme des Ende vergangenen Jahres gescheiterten Dialoges aus. Niemand in Venezuela wolle einen Bürgerkrieg oder Einmischung von außen, für eine wirklich demokratische Gesellschaft seien Andersdenkende von fundamentaler Bedeutung. Anfang Mai legte sie in ihrer Kritik nochmal nach. „Wir können von den Bürgern nicht verlangen, sich friedlich und gesetzestreu zu verhalten, wenn der Staat Entscheidungen trifft, die gegen das Gesetz verstoßen“, sagte sie gegenüber der US-amerikanischen Tageszeitung The Wall Street Journal. An der aktuellen Verfassung sei nichts zu verbessern. „Es ist die Verfassung von Chávez.“ Venezuela wäre derzeit wohl am meisten geholfen, wenn sich sowohl Regierung als auch Opposition an diese Verfassung halten würden.

FRAGWÜRDIGE ÜBERGANGSJUSTIZ

Die Vorfreude auf die Realisierung des Friedensprozesses zwischen der kolumbianischen Regierung und den Bewaffneten Streitkräften Kolumbiens (FARC) schwindet. Einen Monat vor dem Fristablauf zur Entwaffnung der 6.900 Guerillerxs am 1. Juni hagelt es Kritik an der vom Kongress beschlossenen Übergangsjustiz. Zu viele Änderungen wurden während der Diskussionen im Senat und Repräsentant*innenhaus vorgenommen; dazu verstärken die bereits bekannten, strittigen Begnadigungsanträge von ehemaligen Staatsbediensteten den Verdacht, dass die Sonderjustiz wegen der verhältnismäßig milden Strafen von fünf bis acht Jahren bei tiefgreifenden Menschenrechtsverletzungen missbraucht werden könnte.

Die Sonderjustiz für den Frieden (JEP) ist der juristische Bestandteil des Integralen Systems für Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Nichtwiederholung (SIVJRNR), das im fünften Punkt des Friedensabkommens zwischen der Regierung und den FARC vereinbart wurde. Das System koppelt an das im Dezember 2016 erlassene Amnestiegesetz an und ist die tragende Säule des Friedensprozesses. Es besteht aus juristischen Maßnahmen – ein Sondertribunal für den Frieden wird zur Zeit gegründet – sowie nicht-juristischen Instanzen, die zur Aufklärung der direkten und indirekten Verantwortung bei gravierenden Menschenrechtsverletzungen und zur Wiedergutmachung für die Betroffenen beitragen sollen. Einen Schritt in Richtung Aufklärung machte die Regierung am 6. April, als Präsident Juan Manuel Santos die Wahrheitskommission und die Sondereinheit für die Suche nach den Verschwundenen, auch Bestandteile der SIVJRNR, per Dekret ins Leben rief. 25.000 Menschen werden nach Angaben des Nationalen Zentrums für Historische Erinnerung seit 1985 immer noch vermisst.

Teil der Maßnahmen für die Wiedergutmachung ist aber auch die Rückkehr der 7 Millionen Inlandsvertriebenen in ihre Heimatregionen. Trotz der im ersten Punkt des Friedensabkommens geplanten integralen Agrarreform, welche die Rückgabe von Land ermöglichen soll, bleibt noch unklar, wie sich das mit der kolumbianischen Verfassung und dem Wirtschaftsmodell der Lizenzvergabe von Megaprojekten mit der Wiedergutmachung für Vertriebene vereinbaren lässt. In dem Gesetzesentwurf des SIVJRNR wird dies nicht erwähnt.
Möglicherweise bleibt jedoch mit den 72 Änderungen des mit der Opposition vereinbarten Abkommens, das die Regierung und die FARC am 23. November unterzeichneten, der Weg zur weiteren Aufklärung versperrt. Die Zivilgesellschaft, die nach der ersten Unterzeichnung des Abkommens die JEP begrüßte (LN 510), kritisiert die nun vorgenommenen Änderungen an der Sonderjustiz.

Die Internationale Liga für Menschenrechte (FIDH), das Anwaltskollektiv CAJAR und das Komitee für die Verteidigung der Menschenrechte (CPDH) äußerten sich in einem gemeinsamen Kommuniqué empört darüber, dass die Möglichkeit gestrichen wurde, Zivilist*innen, die paramilitärische Gruppen direkt oder indirekt finanziert haben, zu verurteilen und zu bestrafen. Die JEP wird gegen diese Personen nur vorgehen können, wenn eine klare Verbindung zu einem Verbrechen gegen die Menschheit bewiesen wird. Ob sich das beispielsweise bei den 1.166 Massakern zurückverfolgen lässt, die von paramilitärischen Gruppierungen verübt wurden, ist mehr als fragwürdig. „Das wiederkehrende und alarmierende Phänomen, dass Unternehmen in umkämpften Gebieten die bewaffneten Gruppen unterstützt haben, obwohl sie über die schrecklichen Verbrechen Bescheid wussten, wird somit geleugnet“, äußerten sich die Organisationen in ihrem Schreiben. Gleichermaßen halten sie die festgelegten Einschränkungen hinsichtlich der Kommandoverantwortung bei den von Soldat*innen begangenen Menschenrechtsverletzungen für besorgniserregend. Laut der Pressemitteilung der Organisationen verstoße das nun ratifizierte Vorhaben gegen die Rechte der Opfer und das Römische Recht, wonach gegen hochrangige Generäl*innen juristisch ermittelt werden kann, wenn ihnen untergeordnete Soldat*innen Verbrechen begangen haben. Dafür ist es nicht nötig zu beweisen, „dass das Verbrechen im Zuständigkeitsbereich des Befehlshabers lag oder ob dieser fähig war, Operationen in den Gebieten vorzubereiten und durchzuführen, wo die Straftaten verübt worden sind“, erklärte die Staatsanwältin des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, Fatou Bensouda, in einem Artikel zu diesem Thema für die Zeitschrift Semana. Dem stimmen die oben genannten Organisationen zu. Sie sehen in diesem Gesetzesvorhaben „ein deutliches Hindernis für den wirklichen Erfolg von Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung in Kolumbien“.

Von den bereits eingereichten Anträgen auf die Eröffnung der Fälle im Sondertribunal an das Sekretariat der JEP stammen 817 von Soldat*innen, Generäl*innen oder Politiker*innen.

Von den bereits eingereichten Anträgen auf die Eröffnung der Fälle im Sondertribunal an das Sekretariat der JEP stammen 817 von Soldat*innen, Generäl*innen oder Politiker*innen. Viele davon machen die Schwierigkeiten deutlich, vor denen die Richter*innen der JEP stehen. Der jüngste Fall ist derjenige des Hackers Andres Sepúlveda, der 2014 als Berater des Präsidentschaftskandidaten des Uribismus, Oscar Iván Zuluaga, fungierte. Mitten im Wahlkampf spähte Sepúlveda die Friedensverhandlungen zwischen den FARC und der Regierung aus. Noch 2014 wurde Sepúlveda zu 10 Jahren Haft verurteilt, nun will er seinen Fall im JEP eröffnen lassen. Sein Argument: Ziel der Ausspähung sei es gewesen, eine Politik zur Fortsetzung des bewaffneten Konflikts zu etablieren, den Friedensprozess mit den FARC zu torpedieren und mit illegalen Mitteln zu verhindern, dass Präsident Santos an der Macht bleibe. So lautete die Formulierung in einer Pressemitteilung des Anwalts von Sepúlveda.

Opferorganisationen sind jedoch vor allem von der Aufnahme der Fälle der Generäle Jaime Humberto Uscátegui Ramírez und Jesús Armando Arias in die Sondergerichtsbarkeit alarmiert. Uscátegui wurde 2012 zu einer Freiheitsstrafe von 37 Jahren verurteilt, weil er die von der paramilitärischen AUC verübten Massaker in Mapiripán nicht verhinderte: 120 Paramilitärs stürmten 1997 das kleine Dorf im Verwaltungsbezirk Meta. Sie folterten, zerstückelten und enthaupteten mindestens 49 Menschen. Dagegen gelang es Armando Arias den von der Guerilla M-19 besetzten Justizpalast militärisch zurückzugewinnen, wobei 98 Menschen starben. Dafür wurden 2012 sowohl die M-19 als auch die Armee vom Verfassungsgericht Kolumbiens für schuldig erklärt und Arias zu 35 Jahren Gefängnisstrafe verurteilt. Doch mit der Aufnahme dieser Fälle in die JEP könnten beide Generäle in den nächsten Wochen freigelassen werden, zumindest bis der Prozess in dem Sondertribunal für den Frieden anfängt.

Das sind nur einige der Fälle, welche Nachrichtenanalyst*innen und Menschenrechtsorganisationen die Stirn runzeln lassen. Die Empörung der Menschenrechtsorganisationen über das, was die ratifizierte Übergangsjustiz bewirkt hat, wuchs umso mehr, als ein Richter in Bogotá die Anhörung von zwölf Armeeangehörigen Ende März aussetzen wollte; gegen die Soldaten wurde wegen der willkürlichen Hinrichtung von jungen Männern, den sogenannten Soacha-Fällen, ermittelt.

Im Jahr 2008 verschwanden Dutzende junger Männer aus den ärmeren Bezirken Bogotás, sie wurden von Soldat*innen der Armee mit dem Versprechen auf Arbeit rekrutiert, 600 Kilometer von der Stadt entfernt ermordet und als militärische Erfolge im Kampf gegen die Guerillas präsentiert. Der Richter in Bogotá behauptete nun, dass er infolge der Ratifizierung der JEP nicht befugt sei, die Anklage fortzusetzen, weil dieser Fall nicht mehr in seinem Zuständigkeitsbereich liege. Doch am 4. April kippte die vorsitzende Richterin des Verwaltungsbezirks Cundinamarca diese Entscheidung wieder und verurteilte 21 weitere Angeklagte, darunter den Oberst Gabriel de Jesús Rincón, zu 46 Jahren Haft für den Mord an zwei Männern und fünf Jungen. „Die Opfer sind nicht im Kampf gefallen“, erklärte die Richterin, „die Militärs haben sich in einer kriminellen Bande organisiert“. Da die Motivation der Militärs von einem höheren Leistungslohn abhinge, müssten sie von der ordentlichen Justiz und nicht von der JEP aufgebarbeitet werden.

Diese Meinung teilen die Mütter von Soacha, die nach zehn Jahren des Wartens endlich wissen, was mit ihren Söhnen geschehen ist. „Zu erlauben, dass dieser Fall in das Sondergericht für den Frieden aufgenommen wird, wäre ein Geschenk an die Mörder meines Sohnes“, sagte Idaly Garcerá, Mutter von Diego Tamayo, einem der Ermordeten.

Der Gerichtsprozess ist jedoch längst nicht abgeschlossen. Offen bleibt, ob der Oberst und seine Männer den Fall vor das Sondergericht bringen werden. Trotz lautstarker Kritik von Menschenrechtsorganisationen, versicherte der Exekutivsekretär der JEP, Néstor Raúl Correa, dass diese Fälle durchaus vom Sondergericht aufgenommen werden könnten. Er berief sich dabei auf das Urteil des Verfassungsgerichts, das die Verbindung zwischen dem bewaffneten Konflikt und den willkürlichen Hinrichtungen feststellt. Das Gesetz für Frieden und Gerechtigkeit „ist kein Jahrmarkt, auf dem es Preise zu gewinnen gibt, und auch kein Basar, auf dem Freiheitsgeschenke verteilt werden, sondern es ist eine Struktur, die Rechte und Pflichten generiert“, unterstrich Correa.

Am 17. April wurden die ersten zwei Fälle von Militärs offiziell von der JEP angenommen; Elvin Andrés Caro und Luis Emiro Sierra Padilla, die 2010 in Medellín zu 30 Jahren Haft wegen des Mordes am Schüler Samir Enrique Díaz Galet verurteilt, kamen dadurch aus dem Gefängnis frei. „Mit der Abgabe der Fälle an eine noch nicht funktionierende Jurisdiktion setzen die Autoritäten die Anklagen auf unbestimmte Zeit aus“, kritisierten 33 nationale und internationale Organisationen, darunter Human Rights Watch, in einer Pressemitteilung. Doch welche Verbrechen haben mit dem Konflikt zu tun und welche nicht?

„Die noch nicht freigelassenen Guerillerxs sind verzweifelt und sehen große Widersprüchlichkeiten im Amnestiegesetz“, sagt Pastor Alape, eine der bekanntesten Figuren der Guerilla im Interview mit der Zeitung El Tiempo. „Es wurde eine Anzahl an Freilassungen vereinbart, die zur Zeit nicht erfüllt wird“, erklärte er. Nur 54 der 2.800 inhaftierten Guerillerxs, die vom Amnestiegesetz vom vergangenen Dezember profitieren sollten, weil sie keine Menschenrechtsverletzungen, sondern Verbrechen wie Rebellion, Volksverhetzung oder Diebstahl begangen haben, wurden bis jetzt aus dem Gefängnis entlassen. Einer der Freigelassenen, Luis Alberto Ortiz Cabezas, wurde allerdings am 17. April in Tumaco, Nariño, vom Narco-Paramilitär „Benol“ ermordet. „Solche Ereignisse untergraben das Vertrauen in die Sicherheitsgarantien für die begnadigten Guerilleros“, betonten die FARC in einer Stellungnahme. Es sei nicht hinzunehmen, dass inmitten des Friedensprozesses dessen Hauptfiguren vor den Augen der Weltgemeinschaft ermordet würden, ohne dass darauf reagiert werde. Und die Ex-Guerillerxs machten deutlich: „Hinsichtlich unserer strikten Einhaltung des Vereinbarten, verlangen wir von der Regierung, es ebenfalls zu tun.“

MIT GOTT UND DEN COLORADOS – ABER NICHT GEGEN DIE USA

„Brasilien ist nichts für Anfänger“ – dies ist ein beliebter Spruch unter Kenner*innen der politischen Kultur des größten lateinamerikanischen Landes. Politiker*innen wechseln zuweilen ihre Partei und Positionen wie andere Leute ihre Unterwäsche, und vertreten absurd anmutende Argumentationen. Doch wenn es um groteske Koalitionen und politische Argumentationen geht, hat das kleine Paraguay noch mehr drauf, als der große Nachbar. Wenn Brasilien nichts für Anfänger ist, dann ist Paraguay nur etwas für Spezialist*innen, wie der aktuelle Streit um einen Verfassungszusatz zeigt, der die Wiederwahl für Präsident*innen ermöglichen soll.

Wiederwahlen von Regierungschef*innen gelten als eine normale Angelegenheit in Demokratien. Doch in Paraguay liegt die Sache anders. Die paraguayische Verfassung von 1992 hatte vor allem ein Ziel: Lange Regierungszeiten, wie die des letzten Diktator des Landes, Alfredo Stroessner, zu verhindern. Dieser hatte für 35 Jahre das Land brutal regiert. Da er die Partei Nationale Republikanische Allianz – Colorados (ANR-Colorados) und das Militär kontrollierte, hatte keine oppositionelle Kraft gegen ihn eine Chance. Gestürzt wurde er schließlich 1989, von Leuten aus den eigenen Reihen: Es war eine Koalition aus dissidenten Colorados und Militärs, die ihn erfolgreich aus dem Amt putschte.

Auch nach Ende der Diktatur behielt die ANR-Colorados de facto die Rolle einer inoffiziellen Staatspartei, mit weitreichendem gesellschaftlichen Einfluss. Doch um zukünftig zu verhindern, dass sich eine einzelne Person dieses Partei- und Staatsapparats auf Dauer bemächtigen könnte, wurde die Amtszeit für einen Präsidenten auf fünf Jahre begrenzt, ohne jede Möglichkeit zur Wiederwahl. Diese Norm wurde von den ersten Staatschefs der demokratischen Transition auch respektiert. Nicanor Duarte Frutos (2003-2008) versuchte als erster Präsident, eine zweite Amtszeit für sich möglich zu machen. Sein Nachfolger, Fernando Lugo, war der erste seit den 1940er Jahren, der auf demokratischem Wege die Herrschaft der Colorados beendete. Doch er beendete seine reguläre Amtszeit nicht, denn das Parlament enthob ihn im Jahr 2012 des Amtes, in einem hochumstrittenen und als „kalten Putsch“ bezeichneten Verfahren. Nun strebt auch er eine Änderung der Verfassung an, um erneut als Präsidentschaftskandidat antreten zu dürfen.

Am weitesten kam allerdings der aktuelle Amtsträger, Horacio Cartes (ANR-Colorados), beim Vorhaben, eine zweite Amtszeit zu erlangen. Dabei nutzte er wenig demokratische Mittel und merkwürdig anmutende Allianzen. Dass Cartes überhaupt den Willen zu einer zweiten Amtszeit zeigte, ist an sich bereits ein Kuriosum: In einem Interview mit CNN-Lateinamerika nach seinem Amtsantritt am 15. August 2013 hatte er diesen Schritt noch kategorisch ausgeschlossen. *Damals sagte er: „Darüber kann ich nicht sprechen, denn die Verfassung verhindert eine zweite Amtszeit, und das sind die Regeln, die ich akzeptiert habe und nach denen ich spielen werde. Wenn eine zweite Amtszeit möglich gemacht wird, dann für den nächsten Präsidenten.“
Bis in den September des letzten Jahres hatte Cartes erklärt, dass der angemessene Weg, um eine zweite Amtszeit zu erreichen, eine Verfassungsreform sei, und nicht ein einfacher Zusatz. Denn, so Cartes, ein einfacher Verfassungszusatz würde die paraguayische Bevölkerung spalten.

In seinen Reden verneinte Cartes immer wieder, eine zweite Amtszeit anzustreben.

In seinen Reden verneinte Cartes immer wieder, eine zweite Amtszeit anzustreben. Doch im vergangenen Jahr begann die Basis der Colorado-Partei, eine Verlängerung seiner Legislaturperiode zu verlangen. Im Oktober erklärte Cartes schließlich in einer Rede: „Wenn Gott und die Colorado-Partei wollen, stehe ich zur Verfügung!“
Die regierungsnahen Fraktionen der Colorado-Partei wählten nun aber das Mittel des Verfassungszusatzes, um eine zweite Amtszeit für den Mandatsträger zu erreichen – ein verfassungsrechtlich umstrittenes Mittel für eine so delikate Frage. Eine Verbündete fanden sie in einer Fraktion der Radikalen Liberalen Partei – PLRA, die sich um den Politiker Blas Llano sammelt. Einen anderen Verbündeten fanden sie in dem größten linken Parteienbündnis des Landes, dem Frente Guasu, der vom jetzigen Senator und Ex-Präsidenten Fernando Lugo angeführt wird.
Als Grund, warum sich diese beiden Gruppen auf ein Bündnis mit den eigentlich verhassten Colorados einließen, gaben beide an, dass das Volk Fernando Lugo wieder als Präsidenten wolle. Blas Llano erklärte, nur Lugo sei in der Lage, 2018 gegen die Colorados zu gewinnen, und er sei bereit, alles zu geben, um das zu erreichen. Er verteidigte sein Bündnis mit den Colorados also damit, dass er deren Herrschaft beenden wolle. Doch das ist noch nicht das Absurdeste: Es war niemand anderes als Blas Llano, der im Jahr 2012 als Präsident der PLRA den liberalen Abgeordneten und Senator*innen anordnete, dass sie für die Amtsenthebung von Präsident Fernando Lugo stimmen sollen. Wollte Blas Llano 2012 Lugo noch so schnell wie möglich loswerden, will er ihn nun 2018 wieder gegen die Colorados ins Amt bringen.

Nachdem diese kuriose Allianz geschmiedet war, sollte der Verfassungszusatz für eine zweite Amtszeit im Senat verabschiedet werden. Das Problem, das diese Koalition nun umschiffen musste, war die Tatsache, dass die Opposition die Präsidentschaft in der Legislative innehatte. Der Senatspräsident Héctor Acevedo erklärte, dass die Initiative der Gruppe um Cartes und seine Verbündeten gegen die Verfassung verstoße, jegliche Entscheidung in diese Richtung sei deshalb unzulässig. Folglich ließ er den Vorschlag nicht zur Abstimmung zu.
Angesichts des Widerstands des Senatspräsidenten bildeten die 25 Senator*innen, die für einen Verfassungszusatz stimmen wollten, einen Parallelsenat. Doch sie tagten nicht im dafür vorgesehenen Sitzungssaal des Kongresses, sondern hinter verschlossenen Türen, in den Büroräumen des Frente Guasu im Kongress. Unter Ausschluss der Opposition nahmen sie den Antrag für einen Verfassungszusatz, der die Wiederwahl ermöglicht, schnell an und gaben ihn weiter an die Abgeordnetenkammer. Dort hat das Lager von Horacio Cartes die absolute Mehrheit. Ab diesem Moment, am Nachmittag desselben Tages, begann der Konflikt zu eskalieren. Die Opposition rief zu Protesten auf, denen spontan große Teile der Bevölkerung folgten.

Die ersten, die zu Protesten aufriefen, waren Abgeordnete der Liberalen Partei, die zu den parteiinternen Gegner*innen von Blas Llano gehören, welche sich um den derzeitigen Präsidenten der PLRA sammeln, Efraín Alegre. Im Laufe des Nachmittags schlossen sich andere gesellschaftliche Gruppen den Protesten an. Ab 18 Uhr begannen einige Demonstrant*innen, gewaltsam in das Kongressgebäude einzudringen und Feuer zu legen.
Erst ab diesem Zeitpunkt begann die Polizei, gegen die Demonstrant*innen vorzugehen, aber dafür mit äußerster Gewalt. Ein Polizist schoss dem liberalen Abgeordneten Edgar Acosta mit einem Gummigeschoss direkt ins Gesicht. Mehrere hundert Demonstrant*innen wurden willkürlich festgenommen. Polizist*innen drangen ohne richterlichen Beschluss gewaltsam in die Zentrale der liberalen Partei ein. Bei dieser Aktion starb ein Anführer der Jugendorganisation der Partei, Rodrigo Quintana. Durch diese gewaltsamen Ausschreitungen wurde die paraguayische Gesellschaft noch mehr gespalten. Die Verteidiger der Bemühungen um eine Regelung der Wiederwahl verurteilten die „gewalttätigen Demonstrationen“, während die andere Seite vom „blutgetränkten Verfassungszusatz“ sprach.

Angesichts dieser bedrohlichen gesellschaftlichen Spaltung entschied der Präsident der Abgeordnetenkammer, Hugo Velázquez, dass er das Projekt nicht zur Abstimmung zulassen würde, bevor es keinen Dialog zwischen den beiden Seiten gäbe. Präsident Cartes erklärte daraufhin, dass er mit Papst Franziskus gesprochen hätte, und berief einen Runden Tisch des Dialogs ein. Als Vermittler solle die paraguayische Bischofskonferenz auftreten. Die starke Rolle, die Cartes hier der Kirche zugestand, war allerdings verfassungsrechtlich ebenfalls umstritten: Schließlich ist Paraguay der Verfassung nach ein laizistischer Staat. Allen Versuchen des Regierungslagers und seiner Verbündeten zum Trotz, sich geläutert zu zeigen, lehnte die Bevölkerung den geplanten Verfassungszusatz immer stärker ab. Es gab eine escrache-Kampagne gegen alle Senator*innen, die für den Verfassungszusatz gestimmt hatten. Das bedeutet, dass Demonstrant*innen vor die Privatwohnungen der Politiker*innen zogen, um dort gegen ihre Entscheidung zu protestieren. Etliche Senator*innen wurden auf offener Straße beschimpft, manchen wurde der Zugang zu Restaurants und Gaststätten verweigert.
Die Linke, die nicht im Frente Guasu organisiert ist, attackierte vor allem Fernando Lugo direkt. Sie warf ihm vor, dass er das Bündnis mit ausgerechnet den politischen Kräften suchte, die ihm 2012 das Präsidentenamt genommen haben: den Colorados und den Liberalen.

Der von Horacio Cartes angestoßene Runde Tisch des Dialogs scheiterte schnell, aber die Absichten, den erwünschten Verfassungszusatz durchzusetzen blieben latent vorhanden. Der Präsident schien sich wenig um die breite gesellschaftliche Ablehnung des Projektes zu scheren.

Doch dann schaltete sich die Botschaft der Vereinigten Staaten in Paraguay ein und erklärte, dass die USA einen Verfassungszusatz zur Lösung dieser delikaten Frage ablehnen würde und dass ein Abgeordneter kommen würde, um bei der Mediation der Verfassungskrise zu helfen. Dies änderte für Horacio Cartes alles: In einem offenen Brief an den Papst erklärte er, dass er von nun an keine weitere Amtszeit anstreben würde. In dem Brief gibt sich Cartes als sorgender Staatschef, der um den inneren Frieden des Landes bemüht ist: „Ich hoffe, dass diese Geste des Verzichts hilft, um den Dialog zu vertiefen, der die Institutionen der Republik und das harmonische Zusammenleben der Paraguayer stärken soll.“ Und von allen kuriosen Ereignissen in diesem Streit ist dieses letzte wohl das absurdeste: Denn der Präsident erklärte sich verantwortlich gegenüber den Vereinigte Staaten von Amerika und dem Papst – und nicht gegenüber der paraguayischen Bevölkerung.

Newsletter abonnieren