„IHR TRAUM IST UNSER ALPTRAUM“

Foto: Verena Glass

Der von Brasiliens Präsidenten dem Nationalkonkongress vorgelegte Gesetzesentwurf zur Änderung der möglichen wirtschaftlichen Aktivitäten in indigenen Territorien wurde von Jair Bolsonaro am 5. Februar in einer feierlichen Zeremonie anlässlich der ersten 400 Tage seiner Regierung unterzeichnet. Er bezeichnete das Gesetzesvorhaben als „Traum“. Bisher wurde der Entwurf der Presse nicht übergeben, sondern lediglich an den brasilianischen Nationalkongress weitergeleitet. Die endgültige Genehmigung der Gesetzesvorlage werden die beiden Kammern des Kongresses, Abgeordnetenhaus und Senat, treffen.

Laut Medienberichten sieht der Gesetzentwurf vor, dass die indigenen Völker bei einer künftigen wirtschaftlichen Nutzung indigener Territorien durch Dritte eine finanzielle Entschädigung erhalten. Diese ist jedoch geringer angesetzt als vergleichbare Lizenzgebühren, wie zum Beispiel bei der Erschließung von Erdöllagerstätten: Bei der Nutzung von Wasserkraft sollen die Gemeinden 0,7 Prozent des Wertes der erzeugten Energie erhalten, im Falle von Erdöl, Erdgas und deren Derivaten würde dieser Wert bei bis zu einem Prozent des produzierten Wertes liegen. Im Fall von Bergbauaktivitäten soll die Ausgleichszahlung an die indigenen Gemeinden 50 Prozent des Wertes der finanziellen Entschädigung für die Ausbeutung von Mineralressourcen betragen. Auch eine Kompensation, um die indigenen Völker für den Nutzungsausfall eines Teils ihres Landes zu entschädigen, ist vorgesehen, klare Berechnungsgrundlagen wurden aber bisher nicht bekannt gemacht.

Die Reaktion einer der Sprecher*innen der indigenen Gemeinden in Brasilien, Sonia Guajajara, war eindeutig: „Ihr Traum, werter Herr Präsident, ist unser Alptraum, unsere Vernichtung, weil der Bergbau Tod, Krankheiten und Elend hervorruft und unsere Zukunft zerstören wird. Wir wissen, dass Ihr Traum in Wirklichkeit unser institutionalisierter Genozid ist, aber wir werden weder Bergbau, noch Wasserkraftwerke in unseren Territorien erlauben.“

Obwohl Brasilien die Konvention 169 der Internationale Arbeitsorganisation (ILO) zum Schutz der Rechte der indigenen Völker unterzeichnet hat, gibt der Gesetzesentwurf den indigenen Völkern keine grundlegende Autonomie, um selbst zu entscheiden, ob sie ihr Land ausbeuten lassen wollen oder nicht. Die Gemeinschaften sollen zwar angehört werden, aber bei Projekten der Wasserkraft- oder Erdölerschließung geht es nur um Konsultationen ohne ein Vetorecht. Letztlich könnte so die Exekutive des Landes über die Köpfe der Betroffenen hinweg entscheiden. Das Vetorecht der indigenen Völker gilt nur mit einer Ausnahme: bei Schürfrechten (der sogenannte „garimpo“). Denn der Gesetzesvorschlag sieht vor, dass die Indigenen selbst (zum Beispiel Gold) schürfen können oder auch Dritte damit beauftragen. Angesichts der unterschiedlichen Interessenslagen bei den indigenen Völkern sind Streit und Zwist über Schürfrechte vorprogrammiert, ein Umstand, den ein Jair Bolsonaro sehr wohl zu nutzen weiß.
Erst Ende Januar dieses Jahres hatte Bolsonaro erneut dargelegt, was er über Indigene denkt. „Der Indio ist dabei sich zu ändern, sich zu entwickeln. Der Indio wird uns immer ähnlicher. Also werden wir alles tun, damit er sich in die Gesellschaft integriert und wirklich Besitzer seiner Ländereien wird. Das ist es, was wir wollen.“ Dazu soll die nun vorgelegte Gesetzesinitiative ihren Teil beitragen, so es nach Bolsonaro geht. Das Agrarbusiness und die Bergbaukonzerne werden den Rest übernehmen.

ERSTICKEN WIE DARTH VADER

Darth Vader: Methodisches Vorbild für Trumps Sicherheitsberater John Bolton (Foto: Josh Hallet, CC-BY-SA 2.0)

Wer eine unterhaltsame Nachhilfestunde in venezolanischem Verfassungsrecht haben will, kann derzeit auf die offiziellen Pressekonferenzen westlicher Regierungen zurückgreifen. So etwa Mitte März, als der US-Sondergesandte für Venezuela und frühere Unterstützer von Todesschwadronen in Zentralamerika, Elliot Abrams, die oppositionelle Interpretation der Magna Charta zum besten gab. Diese bestimmt in Artikel 233 für den Fall der absoluten Abwesenheit des Präsidenten, dass der Parlamentsvorsitzende vorübergehend einspringt. Auf die Frage, warum Venezuelas selbst ernannter Übergangspräsident Juan Guaidó nicht wie laut Verfassung vorgesehen innerhalb von 30 Tagen Neuwahlen ausgerufen habe, beteuerte Abrams, die 30 Tage zählten „ab dem Tag, an dem Maduro geht“. Nach mehreren Rückfragen versicherte er, Guaidó sei selbstverständlich dennoch Interimspräsident, nur eben „nicht in der Lage, diese Funktion auszuüben“.

Die Anekdote sorgte bei den anwesenden Journalist*innen nicht nur für den ein oder anderen Lacher. Sie zeigt auch eindrücklich, wie sehr sich die USA und weitere gut 50 Länder mit der Anerkennung Guaidós im Januar verschätzt haben. Denn anders als erwartet, trugen sie damit nicht zum schnellen Sturz Nicolás Maduros bei, der auf internationaler Ebene weiterhin unter anderem von Russland, China und der Türkei unterstützt wird. Auch die deutsche Bundesregierung hat völkerrechtswidrig und vorschnell auf Guaidó gesetzt und sich damit ins diplomatische Abseits manövriert. Nun musste sie einräumen, dass sie Guaidós Wunsch, einen eigenen Botschafter in Berlin zu akkreditieren, aufgrund der realen Machtverhältnisse in Venezuela vorerst nicht nachkommen wird.

Guaidó bleibt einzig die Androhung einer US-Militärintervention

Der selbst ernannte Interimspräsident scheint mittlerweile nicht mehr viel in der Hinterhand zu haben. Zwar versucht er krampfhaft, die Aussicht auf einen zeitnahen Regierungswechsel aufrecht zu erhalten, wirkt dabei aber immer hilfloser. Der nächste Versuch soll die seit Wochen angekündigte „Operation Freiheit“ mit einem „Marsch auf Caracas“ sein. Konkret terminiert war bisher allerdings nur ein „Testlauf“ am 6. April. Das klingt nicht so, als würde Guaidó selbst noch an den baldigen Umsturz glauben. Ihm bleibt momentan einzig die regelmäßig wiederholte Androhung einer US-Militärintervention. Die Landung zweier russischer Militärflugzeuge Ende März in Venezuela heizten Spekulationen über eine mögliche Konfrontation zwischen Russland und den USA an, waren jedoch laut russischer Regierung der seit Jahren bestehenden Kooperation beider Länder im militärischen Bereich geschuldet.

Konkret deutet tatsächlich nicht viel auf einen unmittelbar bevorstehenden militärischen Konflikt hin. Der US-Sondergesandte Abrams bezeichnete derartige Überlegungen Anfang April als „verfrüht“. Zudem gibt es in der Region offiziell nicht einmal bei den rechten Regierungen Rückhalt für die militärische Option. Die US-Strategie besteht zunächst darin, die Regierung Maduro mittels Sanktionen finanziell auszutrocknen und die Wirtschafts- und Versorgungskrise tatsächlich in eine humanitäre Krise zu verwandeln. Dadurch könnte irgendwann vielleicht doch noch ein Aufstand der Maduro stützenden Unterschichten und des Militärs provoziert werden, so das Kalkül. Trumps Nationaler Sicherheitsberater John Bolton drückte dies in einem Interview mit dem spanischsprachigem Fernsehsender Univision am 22. März auch für politisch weniger interessierte Leute verständlich aus: „Das ist wie in Star Wars, wenn Darth Vader jemanden erstickt. Das machen wir wirtschaftlich mit dem Regime.“ Die weitere Verschlechterung der Lebensumstände sorgt zwar tatsächlich auch in den chavistischen Hochburgen für Proteste. Doch noch größer ist dort die Ablehnung der rechten Opposition. In gewisser Weise stabilisieren die Drohungen von außen sogar das chavistische Lager. Nicht verstanden zu haben, dass der Chavismus als politische Identität weit über die Regierung hinaus geht, ist einer der großen Fehler, den die rechte Opposition immer wieder begeht. Letztlich bewegen sich die regierenden Chavist*innen und die rechte Opposition in komplett getrennten Welten. Beide erkennen heute unterschiedliche Staatsorgane an, sehen die Schuld für die Wirtschaftskrise jeweils bei der anderen Seite und beurteilen praktisch jedes öffentliche Ereignis gegensätzlich. Ein Beispiel dafür ist die von den meisten internationalen Medien verbreitete Behauptung, die Regierung Maduro habe am 23. Februar auf einer Grenzbrücke zwischen Kolumbien und Venezuela Lastwagen mit Hilfslieferungen in Brand gesetzt.

Guaidó hatte an dem Tag gegen den Willen der Regierung Maduro Hilfsgüter nach Venezuela bringen wollen. Tatsächlich ist mittlerweile unter anderem durch eine Recherche der US-Zeitung New York Times belegt, dass die Lastwagen sich durch einen fehlgeleiteten Molotow-Cocktail entzündet hatten, den ein Oppositionsanhänger in Richtung der venezolanischen Sicherheitskräfte werfen wollte. Guaidó bleibt dennoch bei seiner Sicht der Dinge, wohl weil er jeden Rückschritt im Kampf um Bilder und Narrative verhindern will. Als sich die Regierung mit dem Roten Kreuz Ende März schließlich auf die baldige Verteilung von Hilfsgütern in Venezuela einigte, erklärte Guaidó dies kurzerhand zu seinem eigenen Erfolg. Sowohl das Rote Kreuz als auch die Vereinten Nationen hatten dessen für den 23. Februar geplante Aktion aufgrund der offensichtlichen Politisierung der Hilfe abgelehnt.

Die Opposition hat den Chavismus als kulturelle Identität nie verstanden

Besonders deutlich zeigen sich die unterschiedlichen Wahrnehmungen in der Analyse der massiven Stromausfälle, mit denen Venezuela im März konfrontiert war. Zwar gingen in den vergangenen Jahren immer wieder stundenlang die Lichter aus, doch einen fünftägigen Stromausfall wie ab dem 7. März hatte das Land noch nicht erlebt. Im Laufe des Monats folgten zwei weitere längere Blackouts, die sich mit Unterbrechungen über mehrere Tage hinzogen. Auch die Wasserversorgung funktionierte häufig nicht, da die elektrischen Pumpen ausfielen. Nachdem es Ende März in Caracas und vielen anderen Orten zu nächtlichen Protesten kam, verkündete Maduro eine offizielle Rationierung des Stroms, die zunächst für 30 Tage lang einer Überlastung des Systems vorbeugen soll.

Über die Ursache der Blackouts gibt es zwei völlig unterschiedliche Versionen. Laut Regierung seien die Stromausfälle Folge eines von den USA geführten „elektrischen Krieges“. Ein „Cyberangriff“ auf das Steuerungssystem des wichtigsten Wasserkraftwerks Guri, elektromagnetische Wellen und Brandstiftung in einigen Umspannwerken hätten die Versorgung lahmgelegt. Ein weiterer Blackout Ende März sei durch einen Scharfschützen verursacht worden, der gezielt einen Brand am Wasserkraftwerk Guri hervorgerufen habe. Die Opposition hingegen macht Korruption und Missmanagement der Regierung verantwortlich. Guaidó erklärte, ein Cyberangriff sei unmöglich, da das venezolanische Stromnetz analog betrieben werde.

Wasserkraftwerk am Guri-Stausee Von hier bezieht Venezuela gut 70 Prozent der Energie (Foto: Fadi, CC-BY-SA 2.0)

Dass sich das Stromnetz in schlechtem Zustand befindet, ist kein Geheimnis. Venezuela ist einseitig von Wasserkraft abhängig und bezieht alleine gut 70 Prozent seiner Energie aus dem Guri-Stausee im Süden des Landes. Anhaltende Dürreperioden führten zuletzt in den Jahren 2003, 2010 und 2016 beinahe zum Kollaps. Die Regierung unter Hugo Chávez hatte privatisierte Energieunternehmen zurückgekauft und 2007 unter dem Dach des neu gegründeten staatlichen Elektrizitätsunternehmens Corpoelec gebündelt.

Das Szenario eines anhaltenden Stromausfalls ist in Handbüchern für Regime Change beschrieben

Doch die angekündigte Modernisierung der Infrastruktur fand nicht ausreichend statt. Hinzu kommt, dass in den vergangenen Jahren aufgrund der Krise und drastischen inflationsbedingten Reallohnverlusten viele Arbeiter*innen ihre Jobs gekündigt oder gleich das Land verlassen haben. Ansätze der Selbst- und Mitverwaltung im staatlichen Elektrizitätsunternehmen, die möglicherweise einige der heutigen Probleme hätten verhindern können, hatte die staatliche Bürokratie bereits vor Jahren ausgebremst. Und auch aufgrund der US-Sanktionen ist derzeit nicht ausreichend Treibstoff für den Betrieb von Wärmekraftwerken vorhanden, die zur Stabilisierung des Stromangebots dienen könnten.

Doch anders als Guaidó behauptet, funktioniert das Stromnetz nicht komplett analog. Das computergestützte Steuerungssystem des Guri-Kraftwerks könnte unter Umständen auch ohne Internetanbindung attackiert worden sein. Das 2010 entdeckte Schadprogramm Stuxnet etwa war auch in das nach außen geschlossene iranische Atomprogramm eingeschleust worden. Die Vorstellung, dass die USA eine Cyberattacke durchführen, ohne dabei Spuren zu hinterlassen, bezeichnete der Computerexperte Kalev Leetaru im US-amerikanischen Wirtschaftsmagazin Forbes am 9. März als „durchaus realistisch“.

Für die These der Sabotage spricht vor allem der aus oppositioneller Sicht günstige Zeitpunkt der Blackouts. Der Plan, Präsident Nicolás Maduro zu stürzen, war Anfang März bereits gehörig ins Stocken geraten. Das Szenario eines anhaltenden Stromausfalls ist in Handbüchern für Regime Change beschrieben und fand auch vor dem Putsch gegen Salvador Allende in Chile 1973 Anwendung.

Unmittelbar nach Beginn des Stromausfalls am 7. März versuchten rechte Opposition und US-Regierung denn auch, politisch Kapital aus dem Vorfall zu ziehen. Floridas Senator, Marco Rubio, heizte die Stimmung durch dramatisierende Tweets und Falschmeldungen an und erweckte durch einzelne Äußerungen den Verdacht, bereits vorab von dem Blackout gewusst zu haben.

Belege für ihre jeweiligen Theorien haben bisher aber weder Regierung noch Opposition geliefert. Und es ist kaum vorstellbar, dass irgendein Beweis die jeweils andere Seite überzeugen würde. Maduro entließ mittlerweile den bisherigen Energieminister Luis Motta Domínguez, der zu Beginn des Blackouts am 7. März noch versichert hatte, dieser werde innerhalb von drei Stunden behoben sein. Zum neuen Minister und Chef des staatlichen Energieversorger Corpoelec ernannte der Präsident den Ingenieur Igor Gavidia, der langjährige Erfahrung im Stromsektor mitbringt. Bereits Mitte März hatte Maduro angekündigt, sein Kabinett grundlegend umzugestalten, nannte bisher jedoch keine weiteren Namen.

Nachdem die Opposition an Schwung verloren hat, gehen die Regierung und die von ihr kontrollierten Institutionen nun verstärkt gegen Guaidó und sein Umfeld vor. Bereits am 21. März verhaftete die Geheimdienstpolizei Sebin Guaidós Büroleiter Roberto Marrero. Der Vorwurf lautet, er habe gemeinsam mit anderen Mitgliedern von Guaidós Partei Voluntad Popular terroristische Anschläge geplant. Eine Woche später verhängte der Rechnungshof gegen Guaidó ein 15-jähriges Verbot, öffentliche Ämter zu bekleiden. Begründet wurde dies mit finanziellen Unregelmäßigkeiten.

Am 2. April dann hob die regierungstreue Verfassunggebende Versammlung (ANC), die weitgehend die Funktionen des von der Opposition dominierten Parlamentes (Nationalversammlung) ausübt, Guaidós parlamentarische Immunität auf. Ermittelt wird gegen ihn wegen Missachtung der Verfassung im Zuge seiner Selbstausrufung als Interimspräsident und wegen mutmaßlicher Sabotage des Stromnetzes.

Damit könnte Guaidó früher oder später festgenommen werden. Mit diesem Schritt war bereits Anfang März gerechnet worden, nachdem er sich gegen ein gerichtlich verhängtes Ausreiseverbot widersetzt hatte. Am 22. Februar war er nach Kolumbien gereist, um die Hilfslieferungen nach Venezuela zu bringen. Nach einer zehntägigen Lateinamerika-Reise, auf der er mehrere Präsidenten der Region besuchte, kehrte er unbehelligt nach Venezuela zurück. Die Frage ist, welche Auswirkungen eine Festnahme haben würde. Innerhalb der Opposition rechnen einige damit, dass dies die Proteste erneut anheizen könnte. Andererseits könnte es aber auch das Ende des jüngsten Umsturzversuchs bedeuten. Viel dürfte davon abhängen, ob sich die Drohungen aus den USA als real oder als heiße Luft entpuppen werden.

US-Senator Rubio schrieb auf Twitter, eine mögliche Inhaftierung Guaidós sollte „von jedem Land, das ihn als legitimen Interimspräsidenten Venezuelas anerkannt hat, als Putsch betrachtet werden.“ Damit hätte jede Seite einmal mehr ihre eigene Wirklichkeit. Für die einen wäre Guaidó Putschist, für die anderen Opfer eines Staatsstreichs.

 

EIN STAUDAMM WENIGER

Im Inneren von El Diquís                                  Foto: La Nacion de Costa Rica

Bereits in den 1980er Jahren gab es die ersten Pläne für das Projekt El Diquís – das mit 650 Megawatt Kraftwerksleistung größte Wasserkraftwerk Zentralamerikas. Ein Prestigevorhaben für das Land, das bereits fast 100 Prozent seiner Elektrizität aus regenerativen Energiequellen bezieht und durch die Wassermenge- und Sicherheit sowie die Fließgeschwindigkeit der Flüsse aus den faltenreichen Gebirgsformationen ideale Bedingungen für Wasserkraftwerke bietet.
„Diquís“ bedeutet „großer Fluss“ oder „breiter werdender Fluss“ in der Sprache der Teribe und Boruca, der Nachkommen der indigenen Diquís. Heute wird der Fluss Río Térraba genannt. Knapp 700 Jahre lang dominierte die Hochkultur der Diquís die südliche Pazifikküste Costa Ricas, bis zur Eroberung durch die Kolonisator*innen.
Das Staudammprojekt El Diquís war von Beginn an umstritten, weil es den Lebensraum der Teribe und Boruca gefährdet. Bis heute wurden nur einige Vorarbeiten umgesetzt, dabei hatten sich die Pläne bereits Anfang des 21. Jahrhunderts konkretisiert und El Diquís 2014 zum Vorzeigeprojekt der damaligen Regierung gemacht. Javier Orozco, Planungsdirektor des staatlichen Stromanbieters ICE, bezeichnete das Projekt noch 2017 als „essentiell, um dem steigenden Strombedarf des Landes gerecht zu werden.“ Luis Pacheco, ICE-Vorstand für Elektrizität, ging im April 2018 noch weiter: „Costa Rica muss seine Wirtschaft stärken, dafür braucht es Energie.“ Das Kraftwerk könne eine „Batterie“ des zentralamerikanischen Netzes werden, welches nach Kolumbien und Mexiko ausgebaut werden könne. Bedarfsstudien gibt es jedoch bis heute nicht.
Derartige Prognosen und vage Träume waren Argument genug, um mit über zwei Milliarden Dollar knapp 7.000 Hektar Land unter Wasser zu setzen und 1.500 Familien umzusiedeln. Doch die indigene Bevölkerung wehrte sich von Beginn an. Donald Rojas ist Buruca und Repräsentant der Mesa Nacional Indígena de Costa Rica, einer unabhängigen indigenen Interessenvertretung auf Landesebene. Ruhig zählt er die Befürchtungen der Bevölkerung vor Ort auf: „Mindestens 25 Prozent des Landes der Teribes und 10 Prozent anderer Völker gehen verloren. Ein Tunnel untergräbt unser Land, wir haben Zweifel an der technischen Umsetzung. Es gibt zudem keine Studien über die Umweltschäden.“ Denn Wasserkraft ist zwar regenerativ, aber keine saubere Art der Energiegewinnung. Sie verändert und zerstört den Fluss und das gesamte Ökosystem, das er prägt. „Zudem wirkt sich ein See solchen Ausmaßes auf das Mikroklima aus. Die Menschen vor Ort leben hauptsächlich von der Landwirtschaft. Auch die nötige Infrastruktur wird unser Land beeinflussen“, so Rojas. Allgemeines Misstrauen gegenüber dem Bauwerk wurde geäußert. Ausreichende Sicherheit könne in einer von Erdbeben und Tropenstürmen geprägten Gegend nicht gewährleistet werden.
Fünf Monate nachdem Vorstandsmitglied Luis Pacheco die Bedeutung des Staudamms betonte, erklärte die ICE-Vorsitzende Irene Cañas im November 2018 überraschend das Ende des Projekts. Costa Rica habe keinen Bedarf an zusätzlicher Energie und die Digitalisierung werde den Verbrauch eher senken. Belege oder Gutachten hat die Unternehmensleiterin dafür nicht. Die indigene Aktivistin Elides Rivera aber ist hocherfreut: „Dieser Kampf war für uns autochthone Völker sehr wichtig, weil wir unser Land verteidigt haben, das unser zu Hause ist; weil wir den Fluss verteidigt haben, der uns das Leben schenkt, und auch den Wald, den wir beinahe verloren haben und der für uns Leben bedeutet.“ Sie wertet das Projektende als klaren Sieg des Widerstandes. Vor allem der im Jahr 2018 beschlossene neue Konsultationsmechanismus habe dem Projekt das Genick gebrochen. Dieser setzt die indigenen Völkern durch Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) garantierte Kontrolle über ihre Territorien in nationales Recht um: Ohne die Zustimmung einer indigenen Gruppe im Rahmen in eines geregelten Konsultationsdialoges dürfen in ihrem Gebiet keinerlei Aktivitäten stattfinden. Donald Rojas hingegen wirkt nicht, als hätte er gerade einen jahrzehntelangen Kampf gewonnen. Auf seine Meinung angesprochen, warum das Staudammprojekt abgebrochen wurde, lacht er zunächst emotionslos.

„Ein Wunder, dass es keine Toten gab“


Das soll nicht bedeuten, der Widerstand wäre nicht vehement gewesen. „Es ist ein Wunder, dass es keine Toten gab“, meint Roy Arias. Er arbeitet seit über 15 Jahren mit den indigenen Völkern im Süden Costa Ricas zusammen. „Die Bevölkerung und ihre Meinungen vor Ort sind heterogen und die Situation war sehr angespannt.“ Das ICE habe versucht, einen Keil zwischen die Parteien zu treiben. Costa Rica ist ein demokratisches Land ohne Armee, die den Willen der Regierung umsetzen kann. Repressionen erfolgten eher strategisch und vor allem durch politische Institutionen. Zum einen wurde die nicht-indigene Bevölkerung motiviert, sich für den Staudamm auszusprechen. Diese erwarb im Laufe des letzten Jahrhunderts teils durch illegalen Landerwerb bis zu 70 Prozent des Territoriums der Teribe. Und unter den indigenen Bewohner*innen stiftete die Nationale Kommission für indigene Angelegenheiten (CONAI) Zwist. „Die CONAI ist eine staatliche Institution, die von keiner indigenen Gruppe als Vertretung anerkannt wird, diese aber offiziell innerhalb des politischen Systems vertritt“, erklärt Roy Arias. „Gemeinsam mit dem ICE haben sie Fehlinformationen verbreitet und versucht, die Indigenen durch scheinheilige Angebote von ihrem Territorium zu locken.“
Diese Institutionen, ihre verheißungsvollen Versprechungen, in Aussicht gestellte Ausgleichszahlungen und gezielte Fehlinformation erzeugten ein Klima der Unruhe. 2011 wendeten sich die Teribe an den interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte und die UN sandte einen Sonderbeauftragten nach Costa Rica. Er kritisierte vor allem die Konsultationsweise des ICE, die nicht mit der ILO-Konvention 169 vereinbar sei (siehe LN 449). Für das ICE war dies ein harter Schlag, da es sich als besonders nachhaltiges Unternehmen sieht. Auch die Informationspolitik und Repressionen gegen die Bevölkerung vor Ort wurden angesprochen. Eine Zustimmung zum Projekt habe es nie gegeben, betont Roy Arias. „Nur ein kleiner Teil der Menschen war dafür, vor allem Nicht-Indigene und Mitarbeiter*innen des CONAI. Ein etwas größerer Teil war entschieden dagegen. Und der allergrößte Teil hatte schlichtweg keine Ahnung.“ Über das Ausmaß, Risiken, Folgen des Vorhabens und potenzielle Entschädigungen wurde nie ausreichend informiert. Warum das Projekt letztendlich abgebrochen wurde, weiß Arias nicht.
Die Antwort liefert ausgerechnet Jesús Orozco, ICE-Finanzvorstand. Ein Problem sei der tortuguismo − der Schildkrötismus, also das bewusste Verschleppen von Projekten durch Mitarbeiter*innen, um länger von den Zahlungen zu profitieren. Zudem sei das ICE nicht nur den Indigenen gegenüber sehr verschlossen, sagte er der Tageszeitung La Nación. Die Ankündigung des Projektendes geschah auf der ersten Pressekonferenz seit Jahren. Informationen zu Projektabläufen, Kosten und dem Zustand des Unternehmens gibt es nicht. Das Management habe verheerende Arbeit geleistet, das Unternehmen stehe finanziell sehr schlecht da.
Am Ende äußert sich auch Donald Rojas noch zu den Gründen: „Die aktuelle Regierung sieht den Staudamm auch als unvereinbar mit dem Image Costa Ricas als nachhaltiges, umweltfreundliches und tolerantes Land. Der indigene Widerstand hat das Thema öffentlich gemacht. Und auch wenn der neue nationale Konsultationsmechanismus letztendlich durch das Projektende gar nicht zur Anwendung kam, so erhöhte er doch die Kosten des Projektes.“ Dies könne auch verhindern, dass das Projekt in Zukunft wieder aufgegriffen werde. Kleine, aber entscheidende Faktoren. Die Hauptgründe für den Projektabbruch sind aber wohl, wie es auch Rojas sieht, die Wirtschaftslage, fehlendes Wissen und langjährige Intransparenz innerhalb des ICE sowie laxe Kontrollen des demokratischen Apparates. Letztendlich führte ausgerechnet der schlechte Zustand der costa-ricanischen Demokratie und ihrer Unternehmen zu einem vorerst guten Ende für die im Staudammgebiet lebenden Menschen.

KEIN SELBSTMORD

Rúben Collío Der Ehemann der toten Umweltaktivistin will weiter für die Aufklärung des Falls kämpfen (Foto: David Rojas Kienzle)

Rubén Collío sitzt an seinem Verkaufsstand in Panguipulli, einer Kleinstadt in den Ausläufern der Anden in der Región de los Ríos. Der freundliche Mann, der mit allen Kund*innen scherzt und schnackt, verkauft hier auf einem Markt selbst hergestellten Schmuck an Freund*innen, Dorfbewohner*innen und Tourist*innen. Collío ist Witwer, seine Frau Macarena Valdés – von Freund*innen La Negra genannt – wurde 2016 tot aufgefunden, scheinbar erhängt in ihrem eigenen Haus in Tranguil.

Das Dorf ist nur schwer als solches zu bezeichnen, eher handelt es sich um eine Schotterpiste, die von der Straße zwischen Coñaripe und Liquiñe abgeht und an der Häuser aufgereiht sind. Mehr Provinz geht kaum. Collío ist studierter Umweltingenieur, Mapuche und 2013 aus Santiago nach Tranguil gezogen, „um aus der Stadt rauszukommen“, wie er sagt.

Panguipulli ist eine Touristenhochburg. Jeden Sommer strömen tausende Chilen*innen in die Kleinstadt und die Dörfer der Gegend, um die Seen- und Berglandschaft zu genießen und der drückenden Hitze Santiagos und der anderen weiter nördlich gelegenen Städte zumindest zeitweise zu entkommen. Die Kommune ist arm, die Ärmste in der Regíon de los Ríos. Seitdem die Ausbeutung der ursprünglichen Wälder nicht mehr funktioniert, weil diese fast vollständig kahlgeschlagen wurden, ist jedes Mittel, das ökonomischen Aufschwung verspricht, recht. Die Generierung von Elektrizität ist ein solches Mittel. Allein im Gebiet der Kommune Panguipulli gibt es nach Angaben des Netzwerks der Umweltorganisationen von Panguipulli acht Wasserkraftprojekte, dazu seien mehr als 300 Wasserkonzessionen an private Akteur*innen vergeben worden.

Am 22. August 2016 fand ihr damals elfjähriger Sohn Macarena Valdés erhängt in ihrem Haus auf.

Macarena Valdés und Rubén Collío waren aktiv gegen eines dieser Wasserkraftprojekte, ein Minilaufwasserkraftwerk, das vom österreichischen Unternehmen RP Global und der chilenischen Firma Saesa geplant und gebaut wurde. Mit ihrem Protest begannen auch die Probleme für die Familie mit vier Kindern. Die Gemeinde ist gespalten in Befürworter*innen des Projekts und Gegner*innen. Das Wasserkraftwerk verspricht Jobs und Geld, beides rar in Tranguil, besonders im Winter.

Am 22. August 2016 fand ihr damals elfjähriger Sohn Macarena Valdés erhängt in ihrem Haus auf. Sie muss gestorben sein, während ihr anderer – zum damaligen Zeitpunkt eineinhalbjähriger – Sohn im Haus war. Nur einen Tag zuvor waren sie und Collío von Unbekannten wegen ihres Einsatzes gegen das Wasserkraftwerk bedroht worden. „Am 21. haben sie dem Eigentümer des Grundstücks, auf dem wir wohnen, gedroht. Wenn er uns nicht rauswerfen würde, würde uns etwas sehr Schlimmes passieren, weil es Leute gebe, die uns Schaden zufügen wollten. Am nächsten Tag fand man Macarena erhängt in unserem Haus auf, ohne Erklärung”, so Collío in einem Interview mit dem Radio UChile.

Was danach passierte, ist eine Geschichte von Schikane, Repression und offensichtlichem Unwillen der Justiz, dem Verdacht der Ermordung von Macarena Valdés nachzugehen. Denn die Staatsanwaltschaft in Panguipulli, die die Ermittlungen übernahm, legte sich schnell auf die These fest, dass Valdés Suizid begangen habe. Obwohl es aus ihrem Umfeld keinerlei Anzeichen gab, dass sie depressiv, gar suizidal gewesen sei, und trotz der bekannten Drohungen gegenüber ihrer Familie.

Und nicht nur das: Nach Valdés’ Tod wurde gegen ihren Mann Rubén Collío ermittelt, weil er angeblich dazu aufgerufen habe, Lastwagen anzuzünden. In Chile, wo die Berichterstattung über die Auseinandersetzungen zwischen Mapuche, Großgrundbesitzer*innen und Staat sich vor allem auf direkte Aktionen militanter Mapuche konzentriert, ist das ein schwerwiegender Vorwurf. „Das war eine Lüge. Im September 2016, kurz nachdem La Negra umgebracht wurde, haben sie angefangen, gegen mich zu ermitteln. Und warum? Damit sie eine Begründung dafür hatten, im Oktober mit Gewalt die Hochspannungsleitungen zu installieren. Weil es ja einen Terroristen gab, eine Bedrohung. Es kamen dann 60 Polizisten mit Helmen, mit Schutzschildern, acht Streifenwagen und einem gepanzerten Fahrzeug, das sich neben meiner Haustür positioniert hat. Das alles um mich und meine vier Söhne zu kontrollieren.“ Nach Angaben von Collío war die ganze Aktion zu allem Überfluss noch illegal. „Die Staatsanwaltschaft hatte keine Ahnung, dass das passiert. Und sie hatten nicht mal die Erlaubnis, die Kabel zu installieren. Das ist die Art und Weise, wie die Carabineros in den Bergen agieren.“

Die Justiz hat von sich aus keinerlei Anstrengungen unternommen, die Hintergründe aufzuklären.

Collío und andere Anwohner*innen beklagen zudem, dass die Bedrohungen auch nach dem Tod von Macarena Valdés nicht aufgehört haben. Es gab anonyme Anrufe, in denen gedroht wurde, dass man mit ihnen das Gleiche machen würde wie mit Macarena Valdés. Auch das weitere Verhalten der Polizei wirft Fragen auf. „Carabineros haben Leute besucht und ihnen sehr freundlich und nett empfohlen, sich nicht mehr mit mir zu treffen, weil meine Frau ja umgebracht worden sei. ‚Passen Sie auf. Nicht, dass Ihnen das Gleiche passiert‘“, berichtet Collío. Was als freundlicher Hinweis interpretiert werden kann, könnte genauso ein Einschüchterungsversuch gewesen sein.

Die Justiz, vor allem die Staatsanwaltschaft Panguipulli, hat von sich aus keinerlei Anstrengungen unternommen, die Hintergründe von Valdés’ Tod aufzuklären. In einer ersten Autopsie des rechtsmedizinischen Dienstes des Justizministeriums (SML) in Valdivia wurde festgestellt, dass die Todesursache „Erstickung durch Erhängen“ gewesen sei und, dass es keine Anzeichen auf Einwirkung Dritter gegeben habe. Deswegen versuchte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen bereits früh einzustellen.

Collío und seine Unterstützer*innen glaubten derweil nie an die Selbstmordthese. Sie beauftragten eine weitere vom SML aus Valdivia unabhängige Autopsie. Beauftragt wurde Luís Ravanal, der bereits in anderen symbolträchtigen Fällen gerichtsmedizinische Untersuchungen vorgenommen hatte. Unter anderem erwirkte er 2008 mit einem Buch die erneute Autopsie Salvador Allendes, um endgültig festzustellen, wie dieser umgekommen war. Am 25. September 2017 – also über ein Jahr nach Valdés’ Tod – wurde ihre Leiche exhumiert, um sie einer zweiten Autopsie zu unterziehen.

Die Ergebnisse waren schockierend, aber wenig überraschend. Anfang Februar 2018 kam Ravanal zu dem Schluss, dass sich Valdés nicht umgebracht haben konnte. „Es gab keine Anzeichen, die darauf hindeuten, dass sie am Leben war, als sie erhängt wurde. Der Hals – also beim Erhängen der wichtigste Bereich – wird beim lebendigen Erhängen verletzt. Unter solchen Umständen gibt es immer Merkmale: Hinweise auf Blutungen, Verletzungen im Gewebe, in den Organen. Diese Anzeichen fehlen hingegen, wenn ein Erhängen simuliert werden soll“, so Luis Ravanal gegenüber Diario UChile.

“Es gab keine Anzeichen, die darauf hindeuten, dass sie am Leben war, als sie erhängt wurde.”


Die Untersuchung wirft ein schlechtes Licht auf den Gerichtsmediziner Enrique Rocco aus Valdivia, dessen Autopsieergebnisse nach Angaben von Radio Villa Francia bereits in zwei umstrittenen Fällen – einmal ein Gewerkschafter, einmal ein erhängter Gefangener – angezweifelt wurden.

Die Staatsanwaltschaft wollte das Verfahren trotz alledem einstellen. „Beim ersten Mal kann man das ja noch verstehen. Als wir im August das Zweitgutachten beantragten, hatte die Staatsanwaltschaft die Akte aber schon geschlossen, wobei sie doch zwei Jahre zum Ermitteln haben. Sie haben nichts gemacht, keine Verhöre, nichts“, so Collío. „Mit der zweiten Autopsie haben wir belegt, dass Macarena aufgehängt wurde, nachdem sie gestorben war. Aber anstatt in einem Mordverdacht zu ermitteln, zweifeln sie weiter unsere Informationen an.“

Nun fordert die Staatsanwaltschaft zwei zusätzliche Gutachten, die allerdings genauso unabhängig finanziert werden sollen. Vier Millionen Pesos (mehr als 5.000 Euro) müssen Collío und seine Unterstützer*innen aufbringen, damit diese Untersuchungen durchgeführt werden können.
Die Staatsanwaltschaft wiederum hat weitere Anstrengungen unternommen, ihre Selbstmordthese zu stützen. So sollen nach Aussagen von Collío weitere Angaben zu Valdés’ Charakter gemacht werden. Je mehr Zeit vergeht, desto mehr drängt sich der Eindruck auf, dass die Angehörigen mürbe gemacht werden sollen, damit es still um den möglichen Mord an Valdés wird.

Deswegen fordern Collío und Menschenrechtsorganisationen, dass die nationale Staatsanwaltschaft, vergleichbar mit der deutschen Bundesanwaltschaft, sich des Falles annimmt. Collío hatte sich im Februar mit dieser getroffen, bis dato gab es allerdings keine Anzeichen dafür, dass diese der Forderung nachkommt. Vermutlich hat dies auch mit dem Regierungswechsel zu tun. Die vergangene Regierung um Ex-Präsidentin Michelle Bachelet hatte noch ein lateinamerikanisches Abkommen zum Schutz von Umweltaktivist*innen vorangetrieben. Dass die neue Regierung dieses ratifiziert, ist unwahrscheinlich. Präsident Sebastián Piñera hat immer wieder sowohl in seinen Handlungen als auch in seinen Aussagen verdeutlicht, dass er fest auf der Seite von Unternehmen und deren Interessen steht.

In Panguipulli käme das Abkommen sowieso zu spät. Macarena Valdés ist tot und es scheint, dass die genauen Umstände ihres Todes nur aufgeklärt werden können, wenn die sozialen Bewegungen weiter Druck machen. Das Wasser­kraftwerk ist mittlerweile fertig gebaut. Strom lieferte es bis März allerdings nicht.

KONTINENTALES BEBEN

Leviathan – das biblische Monster aus den Tiefen des Meeres: Einen besseren Namen für die Untersuchungsoperation hätten sich die Ermittler*innen kaum ausdenken können. Am 18. Februar dieses Jahres begann die brasilianische Bundespolizei erneut, Büros und Privatwohnungen von Politiker*innen zu untersuchen. Diesmal ging es um Schmiergeldzahlungen des brasilianischen Baukonzerns Odebrecht im Zusammenhang mit dem Bau des umstrittenen Projekts Belo Monte. Das drittgrößte Wasserkraftwerk der Welt am Xingu-Fluss mitten in Amazonien wird von Kritiker*innen als „Belo Monstro“ – „Schönes Monster“ – bezeichnet. Und tatsächlich liegt das Bauwerk im Flusslauf des Xingu wie ein gestrandetes Meeresungeheuer.

Nach Aussagen der Ermittler*innen sollen ein Prozent der etwa 8,5 Milliarden US-Dollar Gesamtkosten des Baus in die Kassen von Parteien geflossen sein. Um welche Parteien es sich handelte, wurde nicht erwähnt. Vermutlich handelt es sich aber um die rechtskonservative PMDB, der der aktuelle Präsident Michel Temer angehört, und um die linke Arbeiterpartei PT, an deren Vorgängerregierung Temer als Vizepräsident ebenfalls beteiligt war.

Leviathan ist die jüngste Ermittlung, die aus der Operation Lava Jato – deutsch für „Autowaschanlage“ – erwachsen ist. Lava Jato begann vor zwei Jahren und elf Monaten und brachte schon einigen Politiker*innen massive Probleme — wie im Fall des ehemaligen Gouverneurs des Bundesstaates Rio de Janeiro, Sérgio Cabral. Unter anderem weil er Bestechungsgelder von Odebrecht im Zusammenhang mit der Renovierung des Fußballstadiums Maracanã angenommen hat, sitzt Cabral derzeit im Gefängnis. Die öffentlichkeitswirksamen Ermittlungen trugen auch zur umstrittenen Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff bei, obwohl ihr bislang keine Beteiligung an den kriminellen Machenschaften nachgewiesen werden konnte. Zunächst ging es bei Lava Jato nur um die Veruntreuung von Geldern des staatlichen brasilianischen Erdölkonzerns Petrobras für die Wahlkampfkassen von brasilianische Parteien. Doch je weiter die Ermittler*innen bohrten, desto mehr kam zum Vorschein. Schnell ging es auch um den Baukonzern Odebrecht und der Skandal zog  internationale Kreise.
Da die Schmiergeldzahlungen unter anderem über die Schweiz und die USA liefen, klagten die beiden Länder vor einem New Yorker Gericht gegen Odebrecht. Im vergangenen Dezember stimmte das Unternehmen einer Strafe von 3,5 Milliarden Dollar zu, der höchsten Summe, die je in solch einem Fall gezahlt wurde. Odebrecht hatte vor  Gericht zugegeben, in den Jahren von 2001 bis 2014 etwa 788 Millionen US-Dollar Schmiergeld in zwölf Ländern Lateinamerikas und Afrikas gezahlt zu haben, um an öffentliche Aufträge zu kommen. Seitdem kommen die Ermittlungen nicht mehr zur Ruhe.

In der Dominikanischen Republik wurden die Büroräume von Odebrecht durchsucht. In Venezuela fror die Justiz Ende Februar die Konten des Unternehmens ein, auch hier hatten Militärs Büroräume durchsucht. Der Präsident Panamas, Juan Carlos Varela, soll ebenfalls Bestechungsgelder der Firma entgegengenommen haben. In Kolumbien wurde der ehemalige Vizeminister für Transportwesen, Gabriel García Morales, verhaftet, weil er gegen Schmiergelder den Auftrag für den Bau einer Überlandstraße an Odebrecht vergeben haben soll.
Viele Politiker*innen versuchen, die Odebrecht-Aussagen zu nutzen, um ihren politischen Gegner*innen zu schaden. In Ecuador, wo am 21. Februar die erste Runde der Präsidentschaftswahlen stattfand, versuchte die Opposition die Anschuldigungen gegen die Regierung zu verwenden, um dem Kandidaten von Präsident Rafael Correa zu schaden. In Venezuela, wo die Auseinandersetzungen zwischen Opposition und Regierung sich in den letzten Monaten massiv zugespitzt hatten, versucht die Regierung den Skandal für sich zu nutzen. Der sozialistische Präsident Nicolás Maduro hatte Mitte Februar erklärt: „Ein Gouverneur hat Geld von Odebrecht angenommen und dafür wird er ins Gefängnis gehen!“ Die Anschuldigungen gingen in Richtung des Oppositionsführers und Gouverneurs des Bundesstaates Miranda, Henrique Capriles, der die Vorwürfe von sich wies.

Tatsächlich erstrecken sich die Vorwürfe über alle politischen Lager hinweg. Offenbar zahlte Odebrecht in die Wahlkampfkassen sowohl linker als auch rechter Politiker*innen, um danach eine Bevorzugung bei der Vergabe von Aufträgen zu erhalten. In Argentinien gibt es Hinweise, dass Odebrecht korrupte Verbindungen sowohl zu den linken Ex-Präsidenten Néstor und Cristina Kirchner als auch zum rechten Präsidenten Marcelo Macri unterhielt.
Der spektakulärste Fall des Odebrecht-Skandals ist sicher Peru. Praktisch alle Präsidenten, die das Land von 2001 bis 2016 regiert haben, sollen von Odebrecht bestochen worden sein. Gegen den Ex-Präsidenten Alejandro Toledo (2001-2006) ist ein internationaler Haftbefehl ausgesetzt, er soll 20 Millionen Dollar erhalten haben und dafür den Auftrag für den Bau der „Interozeanischen Straße Süd“ zwischen Peru und Brasilien an Odebrecht vergeben haben. Toledos derzeitiger Aufenthaltsort ist unbekannt.

Um das ganze Ausmaß des Skandals zu erfassen, wollen die Staatsanwaltschaften der betroffenen Länder bei den Ermittlungen zusammenarbeiten. Am 18. und 19. Februar trafen sich in Brasília Generalstaatsanwält*innen aus 15 Ländern, mehrheitlich aus Lateinamerika und Afrika, um sich über ihren jeweiligen Untersuchungsstand auszutauschen. Zehn Staaten unterschrieben ein Abkommen, das unter anderem internationale Ermittler*innenteams vorsieht. Es ist die größte internationale juristische Kooperation, die je zu einem Korruptionsfall  in Lateinamerika stattfand.

Die Zusammenarbeit wird wohl auch nötig werden, denn das komplizierte Netz von Odebrechts Zahlungen zu entflechten, wird eine schwierige Aufgabe. Mehrere Briefkastenfirmen und Banken in Steuerparadiesen waren dabei involviert. Das Unternehmen ging so weit, eine Bank auf Antigua und Barbados aufzukaufen, um Zahlungen abzuwickeln. Die panamaischen Behörden ermitteln in diesem Zusammenhang auch gegen die Anwaltskanzlei Mossack Fonseca, die schon bei der Veröffentlichung der Panama Papers eine Hauptrolle spielte.
Als Hauptplaner dieses kriminellen Netzwerks wird der Firmenchef und Gründererbe, Marcelo Odebrecht selbst, angesehen. Im vergangenen Jahr ist er in Brasilien zu 19 Jahren Haft wegen Bestechung, Geldwäsche und anderer Delikte verurteilt worden. Durch seine Kooperation mit der Justiz wird er seine Strafe vermutlich halbieren können, zudem wird wohl ein Teil in offenen Vollzug umgewandelt. Insgesamt haben 77 Ex-Manager*innen von Odebrecht im Rahmen von Kronzeug*innenregelungen ausgesagt. Mehrere Medien warnen davor, die Anschuldigungen der Ex-Odebrecht Manager*innen zu ernst zu nehmen: Schließlich beschuldigten da Kriminelle andere, um ihre eigene Haut zu retten.

Bislang unterliegen die Aussagen der Ex-Manager*innen noch der Geheimhaltung, da es um laufende Ermittlungen geht. Nur tröpfchenweise kommen Gerüchte zutage. Viele Politiker*innen – insbesondere die von den Anschuldigungen betroffenen – verlangen nun, dass die Geheimhaltung aufgehoben wird: Die kleinen Nadelstiche schaden mehr, als die Explosion einer großen Bombe. Vor allem können sie wohl besser an ihrer Verteidigung arbeiten, wenn sie wissen, was ihnen vorgeworfen wird.

Die Opposition in Brasilien glaubt, dass die Regierung nun bei ihrer Verteidigung gegen ein drohendes Odebrechtbeben ein gutes Stück vorangekommen ist. Am 22. Februar wurde Alexandre de Moraes als neues Mitglied des Obersten Gerichtshofs bestätigt. Michel Temer hat den ehemaligen Justizminister und Ex-Mitglied der PMDB als Nachfolger für den im Januar tödlich verunglückten obersten Richter Teori Zavasci bestimmt (siehe LN 512). Zavasci war für die Beurteilung der Aussagen der 77 Ex-Manager*innen von Odebrecht zuständig. Nun glauben Regierungskritiker*innen, dass die Regierung mit Moraes einen Vertrauensmann in das Gericht gehievt hat, um der politischen Klasse die Schlinge aus dem Hals zu ziehen. Andererseits sind die Ermittlungen und Enthüllungen bereits so fortgeschritten, dass es unwahrscheinlich erscheint, dass die alten Eliten so korrupt weiter regieren können wie bisher. In der Dominikanischen Republik gab es im Januar bereits Massenproteste, die ein Ende der Straflosigkeit in dem Korruptionsskandal verlangten.

Vielleicht hat der Fall des Bauriesen also positive Folgen für die Region. In einen Kommentar für die brasilianische Zeitung Estadão schrieb der peruanische Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa ironisch, man müsse vielleicht in ein paar Jahren ein Denkmal für Odebrecht errichten: Schließlich hätten die Aussagen der Manager*innen das in Lateinamerika so virulente System Korruption zu Fall gebracht.
Noch ist es zu früh, um zu beurteilen, ob der Odebrecht-Skandal wirklich zu tiefgreifenden politischen Veränderungen führt. Aber der Skandal zeigt deutlich, wie die lateinamerikanischen Demokratien von finanziell potenten Privatinteressen untergraben werden.

Der peruanische Anthropologe und Amazonienexperte Alberto Chirif weist darauf hin, dass viele Bauprojekte, an denen Odebrecht und geschmierte Politiker*innen verdient haben, womöglich nur aufgrund der korrupten Machenschaften beschlossen wurden. Als Beispiel nennt er die erwähnte Interozeanische Straße-Süd in Peru. Als das Projekt 2005 beschlossen wurde, hieß es, es würde den Handel zwischen Brasilien und Peru beleben. Doch sechs Jahre nach der Eröffnung der Straße sieht die Realität anders aus: Kaum ein brasilianisches Unternehmen nutzt die relativ schmale Straße, die mehr als 5.000 Höhenmeter überwindet. Das Projekt war ein absoluter Fehlschlag. In einem Kommentar für das Nachrichtenportal SERVINDI schreibt Chirif, dass dies den politischen Entscheidungsträgern um Präsident Toledo schon vorher klar war. Sie hätten bewusst gelogen, weil sie von Odebrecht geschmiert wurden: „Das eigentliche Ziel, das mit der Straße erreicht werden sollte, war allein ihr Bau.“ Laut Chirif ging es von Anfang an nur darum, öffentliche Gelder zu privatisieren. Die beteiligten Politiker*innen machten sich zu Kompliz*innen, da ihre eigenen Wahlerfolge von den Schmiergeldzahlungen des Baukonzerns abhingen.

Und auch beim Bau des „Schönen Monsters“ Belo Monte mag eine ähnliche Motivation eine Rolle gespielt haben. Gegen den Bau sind insgesamt 25 Klagen anhängig, zahlreiche Gesetze zum Schutz von indigenen Gemeinschaften und der Umwelt wurden missachtet. Doch der Bau wurde immer wieder von der Exekutive mit dem Verweis auf „nationale Interessen“ gegen die Judikative durchgesetzt. Das Ausmaß der Schmiergeldzahlungen wirft nun die Frage in den Raum, in wessen Interesse die Regierung damals agierte: in dem der Bevölkerung oder in dem der beteiligten Konzerne?

“DIE REICHEN MUSSTEN ZUR ZISTERNE”

Im Nordwesten Boliviens plant die Regierung die großen Wasserkraftwerke El Bala und Chepete. Indigene Gemeinden kündigten eine Klage gegen den geplanten Stausee El Bala an. Sie arbeiten im städtischen Raum – welche Rolle nimmt das Thema Energie in der Stadt ein?

Mario Rodríguez: Es spielt eine Rolle, aber in Bolivien ist Energie noch kein Thema, das stark diskutiert wird. Die Regierung hat einen Nationalen Plan zur Entwicklung für das Vivir Bien (Gutes Leben) – der Name ist ein Widerspruch, aber so heißt der Plan. Ein zentrales Element ist das Ziel, Bolivien in ein Zentrum der Energieproduktion in Südamerika zu verwandeln, das Energie exportieren kann. Der Energieexport hängt stark mit der steigenden Nachfrage der Agrarindustrie, insbesondere in Brasilien, zusammen. Die größten Staatseinnahmen stammten in den vergangenen Jahren aus dem Gasexport, wobei Brasilien der größte Käufer ist. Brasilien kündigte an, die Importe aus Bolivien zu reduzieren, während Argentinien Anfang Februar Interesse an höheren Gasimporten verkündete. Zuletzt sind die Preise für Erdöl und Mineralien gesunken, was die Staatseinnahmen senkt. Dennoch kreist der Regierungsdiskurs weiter um die Idee, dass der Energieexport sich in eine noch bedeutendere Haupteinnahmequelle des Staates verwandelt. Dafür gibt es die Strategie, Energie im großen Maßstab zu produzieren. Diese Strategie beinhaltet unter anderem erneuerbare Energien aus Sonne und Wind, führt aber auch zwei zentrale Themen ein: den Bau von großen Wasserkraftwerken im Amazonas und zwei Zentren für Kernenergie.

In der Stadt El Alto soll nun ein Forschungszentrum für Kernenergie gebaut werden. Welche Reaktionen gab es auf das Vorhaben?

Die öffentliche Meinung reagierte sofort: Wie kann Bolivien in die Atomenergie eintreten, in einer Welt, die aus der Produktion aussteigt? Die Regierung startete in den vergangenen drei Jahren eine erste Phase und brachte ein Forschungszentrum für Kernenergie auf den Weg. Das Forschungszentrum sollte zunächst in Achocalla, das heißt neben La Paz und El Alto, gebaut werden. Dies ist eine Region, in der Nahrungsmittel produziert werden, insbesondere Gemüse. Die dortige Bevölkerung ist gemischt: Traditionell ist es eine bäuerliche Region, in der es gutes Wasser für die Landwirtschaft gibt. Hinzugekommen ist die Mittelklasse aus La Paz, die aus dem städtischen Raum zieht, um in einem schöneren, wärmeren Tal zu leben. Außerdem ziehen dort viele Ausländer*innen hin, Europäer*innen, die in Nichtregierungsorganisationen, der internationalen Zusammenarbeit usw. arbeiten. Diese bringen einen ökologischen Diskurs mit und Achocalla definiert sich inzwischen in einem Statut als ökologisches, produktives und touristisches Munizip. Gegen das Forschungszentrum für Kernenergie gab es in Achocalla Widerstand und das Munizip lehnte das Forschungszentrum ab. Die Regierung verlegte es also nach El Alto.

Können Sie erklären, wozu in dem Zentrum geforscht werden soll?

Das Forschungszentrum für Kernenergie arbeitet zu drei Themen: Erstens, im Bereich Gesundheit. Es gibt die Kritik, dass es günstiger wäre die Forschung zur Krebsfrüherkennung an ein Krankenhaus anzugliedern. Zweitens, Forschung um Exportobst und -gemüse keimfrei zu machen. Kritiker*innen zweifeln an, ob eine solche Nutzung notwendig ist. Falls sie für exportbestimmte Lebensmittel akzeptiert würde, sollte das ohnehin in der Grenzregion angesiedelt sein und nicht in El Alto. Das dritte Thema ist das Wichtigste: Es gibt einen kleinen Forschungsreaktor, der keine Energie produzieren wird, sondern nur der Forschung dient. Die Mehrheit der Menschen stellt sich jedoch die Frage: Wozu wollen wir zu Kernenergie forschen, wenn wir keine Kernenergie produzieren werden? Das macht keinen Sinn, deshalb wird davon ausgegangen, dass der Forschungsreaktor der erste Schritt in Richtung Atomkraftwerke ist. Mit dem Bau des Forschungszentrums soll dieses Jahr begonnen werden. Gibt es Widerstand? In der Stadt El Alto gab es keinen großen Widerstand. Im Kulturzentrum Wayna Tambo organisierten wir eine Reihe von Veranstaltungen, da wir gegen die Idee sind, in Bolivien Atomenergie zu produzieren.

In der einen Region gibt es also Menschen, die sich als ökologisch bezeichnen und über die Macht verfügen, das Projekt zurückzuweisen. Daraufhin wird das Projekt nach El Alto verlegt, eine Stadt die lange als Randgebiet der Hauptstadt La Paz angesehen wurde. Was glauben Sie, warum es in El Alto keinen Widerstand gab?

Zunächst ist Kernenergie für die Mehrheit der Bolivianer*innen immer noch kein Thema. Es ist weit weg vom Alltag, insbesondere für die ärmeren Sektoren. Die Zone, in der das Zentrum gebaut wird, ist ökonomisch betrachtet eine ziemlich arme Zone von El Alto. Viele Bewohner* innen betrachten das Zentrum mit der Hoffnung, dass es neue Möglichkeiten eröffnet, Einkommen zu generieren. Außerdem besteht bei vielen Menschen zu dem Thema ein großes Informationsdefizit, etwa über mögliche Risiken. Deshalb produzierten wir mit Wayna Tambo Radio- und Fernsehprogramme, um mehr Wissen darüber zu verbreiten, was es bedeutet in eine nukleare Phase einzutreten.

Gibt es gemeinsame Kämpfe zwischen Gruppen, die sich wie bei El Bala gegen Stauseen im Amazonas wehren, und Gruppen, die in der Stadt zum Thema Energie arbeiten?

Als die Regierung von Evo Morales die Pläne für die Wasserkraftwerke El Bala und Chapete wieder aufnahm (der Plan wurde bereits von mehreren Regierungen geprüft und fallen gelassen, d. Red.), reagierte der urbane Raum, zumindesten in den Medien, zuerst. Es handelt sich um kleine Organisationen in der Stadt, die vor allem von einer Mittelklasse mit ökologischem Diskurs getragen werden. Die indigenen Völker aus den betroffenen Territorien reagierten mit einer Diskussion über die Notwendigkeit der Befragung (consulta). Dies wird in den medialen Kampagnen in der Stadt aufgegriffen. Im Fall von El Bala und Chapete wird vermutet, dass die beauftragte Machbarkeitsstudie negativ ausfällt. Die Ergebnisse liegen jedoch noch nicht vor. Aufgrund der Transportwege ist offensichtlich, dass die dort produzierte Energie nicht für die Versorgung bolivianischer Städte gedacht ist. Bei den Wasserkraftwerken wird an die Nachfrage von (agro-)industriellen Zonen in Brasilien gedacht.

Zu Beginn erwähnten Sie die erneuerbaren Energien. Welche Bedeutung haben diese?

Seit den 1970ern gibt es Studien, die zeigen, dass eine Strategie mit kleinen Wasserkraftwerken, keine großen wie El Bala, reichen würde, um die Nachfrage nach Energie in Bolivien zu decken. Außerdem verfügt Bolivien über zwei sehr wichtige Elemente: Das Altiplano und der Salar de Uyuni sind zwei Regionen mit einer hohen Sonnenkonzentration. Das würde eine große Produktion von Solarenergie ermöglichen. Außerdem gibt es im Altiplano Zonen mit viel Wind, wo wir Windenergie erzeugen könnten. Die zurzeit verfolgte Strategie ist für die interne Versorgung also nicht notwendig.

Mit der Stromversorgung gibt es in den Städten offenbar kein Problem. Momentan gibt es in den Städten jedoch Wasserknappheit. Liegt das Problem beim Wassermanagement oder bei der ungewöhnlichen Dürre?

Das Ganze ist viel komplexer. Beim Thema Wasser gibt es drei Probleme: Zum einen die Auswirkungen des Klimawandels. Wir haben immer kürzere, aber stärkere Perioden der Regenzeit. Das heißt, es regnet sehr viel, aber in kurzer Zeit. Für die Wasserversorgung in den Städten hat dies negative Folgen. Es gibt Städte wie Cochabamba und Tarija, die historisch an Wasserknappheit leiden. La Paz leidet wegen der geografischen Lage hingegen eigentlich nicht darunter. Außerdem wirkt sich der globale Klimawandel sehr negativ auf die bolivianischen Gletscher aus. Zweitens verlieren Flüsse durch Übernutzung an Wassermenge. Das Problem ist, dass es keine Politik gibt, die die integrale Nutzung von Flüssen garantiert. Drittens gibt es ein Problem mit dem Wassermanagement. Die Frage des Umgangs mit der Wasserknappheit wird in den nächsten Jahren an Schärfe zunehmen. Es wird zu einem Thema der öffentlichen Agenda werden. Die Menschen diskutieren über Wasser, weil es sie in ihrem Alltag direkt betrifft.

Wie betrifft es die Menschen im Alltag?

In La Paz gibt es Viertel, die nur in bestimmten Stunden mit Wasser versorgt werden und nicht den ganzen Tag. Jetzt haben wir Februar und im März endet die Regenzeit.Trotzdem haben wir es nicht geschafft, eine normale Wasserversorgung zu erreichen. Die Menschen fragen sich, was erst in der Trockenzeit im Juni passieren wird. Dieses Problem hat zu ernsthaften Debatten über die Beziehung zwischen der urbanen und ruralen Welt geführt. Um die Wasserknappheit in La Paz zu mildern, wird Wasser aus einem Stauwerk in La Paz genutzt, aus dem historisch ein nahegelegenes Tal für die Gemüseproduktion versorgt wird. Die Bauern und Bäuerinnen beschweren sich, dass sie ihre Produktion verlieren werden wegen des Verbrauchs in der Stadt. Zum ersten Mal wird die Rolle der Stadt beim Wasserverbrauch diskutiert. Dadurch entwickelt sich auch eine Kritik an der imperialen Lebensweise.

Was meinen Sie damit?

Die mit dem Lebensstil verknüpfte, verschwenderische Wassernutzung in der Stadt wird in Frage gestellt. Es wird debattiert, ob im öffentlichen Raum wirklich wasserintensive Zierblumen gepflanzt werden sollen statt der lokalen, ans Klima angepassten Pflanzen. Oder die Wassernutzung zur Autowäsche, was mit unserem Lebensstil zusammenhängt. So wurde auch die Debatte angestoßen, ob das Wasser in besagtem Stauwerk tatsächlich für die Stadt genutzt werden soll oder lieber für die Produktion von gesundem lokalem Gemüse.

Ist Ihre Organisation Red de la Diversidad auch in dem Bereich aktiv?

Ja, für uns sind das zentrale Themen. Wir arbeiten für die Reziprozität zwischen dem ländlichen und städtischen Raum mit dem Horizont des Vivir Bien. Gerade in Bezug auf Wasser haben wir es geschafft, mit verschiedenen Organisationen Diskussionen anzustoßen. Wir haben Wissen über Wassersysteme verbreitet und zu der Frage gearbeitet, wie die Städte in Wassersysteme integriert sind. Die Stadt El Alto verschmutzt den Titicacasee beispielsweise enorm. Wir stoßen eine Diskussion darüber an, wie Wasser in die Stadt gelangt, und wie die Stadt dieses verschmutzt wieder ans Land zurückgibt. Deshalb diskutieren wir unseren Wasserverbrauch in der Stadt. Wir arbeiten seit etwa zehn Jahren dazu und seit etwa vier Jahren verzeichnen wir in kleinen Sektoren Erfolge. Durch die Wasserknappheit wurde eine Diskussion angeregt und das Interesse an dem Thema ist gewachsen.

Das Bewusstsein um das Wasserproblem wächst. Kann das mit einer Kritik an Staudämmen verknüpft werden?

Ja! Mehr noch als zur Energie ist das Bewusstsein für unsere natürlichen Ressourcen gewachsen. Wasser brauchen wir im Alltag immer und durch die Wasserknappheit der vergangenen Monate ist den Menschen ihre Verletzlichkeit bewusst geworden. Wer leidet unter der Wasserknappheit? Nicht alle Viertel in La Paz und El Alto litten unter Wasserknappheit, nur einige Stadtteile. Es gab deshalb so eine große Medienaufmerksamkeit, weil die Viertel, in denen die Reichen wohnen, von der Wasserknappheit betroffen waren. Viele ärmere Viertel hatten hingegen kein Problem. Dadurch, dass es privilegierte Personen betraf, ist die mediale Aufmerksamkeit gestiegen. Es waren die Reichen, die zu einer Zisterne mussten – etwas, was sie in ihrem Leben noch nie erfahren haben. Das hatte einen starken Effekt auf die Gesellschaft. Es wurde eine Debatte über unsere natürlichen Reichtümer und Gemeingüter angestoßen. Die Themen Wasser, Energie und Staudämme werden diskutiert. Die Menschen in der Stadt sind in ihrem Alltag von Projekten wie Mega-Wasserkraftwerken nicht betroffen. Sie wissen nichts über die betroffenen Regionen und die Menschen. Die Erfahrung mit dem Wasser schafft ein Bewusstsein, dass diese Themen das Leben der Menschen stark beeinflussen. In diesem Moment entsteht die Möglichkeit, wieder über diese Wasserkraftwerke zu sprechen. Das Thema ist nicht mehr weit weg.

Newsletter abonnieren