Kuba überholt seine Wirtschaft

Autofahren wird teurer Die kubanische Regierung hat Preissteigerungen für Benzin angekündigt (Foto: Abrahan Lima Iglesias)

Für viele Kubaner*innen begann das neue Jahr mit schlechten Nachrichten. Mitten in der Wirtschaftskrise erhöht die kubanische Regierung den Benzinpreis um mehr als 400 Prozent. Am 8. Januar kündigte Finanzminister Vladimir Regueiro an, dass sich der Preis für Benzin und Diesel ab dem 1. Februar von derzeit 25 auf 132 kubanische Pesos (CUP) pro Liter mehr als verfünffachen wird – also auf derzeit rund 47 Cent. Touristen dagegen zahlen für Treibstoff künftig in ausgewählten Tankstellen in Devisen und zwar 1,10 US-Dollar. Darüber hinaus kündigte die Regierung eine 25-prozentige Erhöhung der Strompreise für Großverbraucher im Privatsektor sowie eine Anhebung der Tarife für Flüssiggas an. Einen Tag später folgte die Ankündigung von Tarifanhebungen für den überregionalen Busverkehr ab März um bis zu 400 Prozent, für den Schienenverkehr um 600 Prozent und für den Luftverkehr um über 460 Prozent. Während bereits zum 1. Januar die Einfuhrzölle auf Fertigwaren angehoben worden waren, wurden diese gleichzeitig für den Import von Rohstoffen um 50 Prozent gesenkt. Die Hoffnung dahinter ist, die inländische Produktion wettbewerbsfähiger zu machen. Hinzu kommen weitere Zoll- und Steuererhöhungen vor allem für private Wirtschaftsakteure.

Kubas Präsident Díaz-Canel erklärte, dass die jüngsten Tariferhöhungen darauf abzielen, „Verzerrungen zu korrigieren“ und – in Anspielung auf die US-Blockade – „die wirtschaftliche Belagerung zu durchbrechen, die darauf abzielt, uns zu ersticken“. Ökonom*innen dagegen warnen, dass die angekündigten Preis- und Zollanhebungen zu einer höheren Inflation, einer verstärkten Währungssubstitution durch den Dollar sowie einer weiteren Abwertung des CUP beitragen könnten. Der private Transportsektor werde die Preise anheben „und das wird sich auf die Bevölkerung auswirken“, prognostiziert der unabhängige Ökonom Omar Everleny Pérez gegenüber der Nachrichtenagentur AFP.

Dr. Juan Triana vom Studienzentrum der kubanischen Wirtschaft (CEEC) kritisiert in einer Kolumne des Onlineportals OnCuba vor allem die Steuer- und Zollerhöhungen. „Wenn der Kampf gegen die Inflation darin besteht, mit dem geringen Angebot eine ihrer Hauptursachen zu beseitigen, erscheint es inkonsequent, die Einfuhr von Fertigerzeugnissen zu erschweren.“ Im vergangenen Jahr waren es vor allem neu geschaffene private kleine und mittlere Unternehmen (KMU), die mit ihren Importen das Warenangebot auf der Insel merklich verbessert haben. „Wo wäre die Inflation heute, wenn die nichtstaatlichen Akteure diese Waren nicht eingeführt hätten?“, fragt Triana.

Kuba steckt seit drei Jahren in einer schweren Wirtschafts- und Versorgungskrise. Eine galoppierende Inflation, der Mangel an Treibstoff und Medikamenten und häufige Stromausfälle in Teilen des Landes bestimmen den Alltag und haben zu einer beispiellosen Auswanderungswelle geführt.

Ein Ziel ist die Wiederbelebung des Tourismus

Ende Dezember kündigte die kubanische Regierung deshalb einen der größten makroökonomischen Anpassungspläne der vergangenen Jahrzehnte für das Jahr 2024 an. Dieser sieht neben den oben beschriebenen Erhöhungen der Energiepreise das Ende der allgemeinen Subventionen für Grundnahrungsmittel vor, um das gewaltige Haushaltsdefizit zu reduzieren. Regierungschef Manuel Marrero begründete den Plan: „Wir sind sehr unzufrieden darüber, dass wir nicht die notwendigen Fortschritte erzielt und die Auswirkungen der externen Phänomene (US-Blockade, Anm.) gemindert haben. Wir hätten mehr tun können“, räumte Marrero vor den Abgeordneten selbstkritisch ein. Seine Bestandsaufnahme fiel vernichtend aus: Die geplanten Exporteinnahmen wurden nicht erreicht, es gebe weiterhin ein gewaltiges Devisendefizit, die Diversifizierung von Waren und Dienstleistungen nehme nicht zu, das Potenzial des Landes werde nicht genutzt, es gebe keine nachhaltige Steigerung der Produktion, insbesondere der Nahrungsmittelproduktion, und die Beteiligung ausländischer Investitionen an der Entwicklung der Wirtschaft sei nicht ausreichend.

Paradigmenwechsel bei Subventionen

Der von Marrero vorgestellte Plan zielt darauf ab, die Staatsausgaben zu senken, indem die vom Staat gedeckelten Preise angehoben werden. Gleichzeitig sollen die öffentlichen Ausgaben für Subventionen verringert werden, indem sozial schwache Gruppen finanziell unterstützt statt Produkte subventioniert werden – ein Paradigmenwechsel. „Es ist nicht gerecht, dass diejenigen, die viel haben, dasselbe erhalten wie diejenigen, die sehr wenig haben. Heute subventionieren wir einen alten Rentner genauso wie den Besitzer eines großen Privatunternehmens, der viel Geld hat“, argumentierte er. Das betrifft vor allem die libreta, das Rationierungsheftchen, über das Grundnahrungsmittel wie Reis, Bohnen, Speiseöl, Hühnchen und andere Waren gleichmäßig an alle Kubaner*innen verteilt werden – zu stark subventionierten Preisen. Laut Wirtschaftsminister Alejandro Gil bedeutet das für Kuba jährliche Ausgaben in Höhe von 1,6 Milliarden US-Dollar. Das Ziel bestehe darin, „ein gerechteres und effizienteres System“ zu schaffen, um „niemanden im Stich zu lassen“, erklärte Marrero, womit er stillschweigend die Zunahme der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten im Land anerkannte. Befürchtungen, die libreta könnte ganz abgeschafft werden, trat die Regierung später aber entgegen.

Premierminister Marrero erklärte zudem, dass der Staat nicht mit der „Verschwendung“ bestimmter Subventionen, etwa für Wasser, Strom, Flüssiggas und Treibstoff, fortfahren könne. In den besonders von personellem Aderlass betroffenen Bereichen Bildung und Gesundheit dagegen werden die Gehälter erhöht. Zudem werde die Regierung im nächsten Jahr den offiziellen Wechselkurs des CUP zum US-Dollar anpassen, so Marrero. Dazu wurde eine Arbeitsgruppe mit der Zentralbank gebildet. Derzeit liegt der offizielle Wechselkurs bei 24 CUP pro US-Dollar für juristische Personen und bei 120 CUP für Privatpersonen. Auf dem informellen Markt ist der US-Dollar inzwischen auf 275 CUP angestiegen.

Vor der Sitzung der Nationalversammlung hatte die Regierung mehrere Daten veröffentlicht, von denen die meisten den negativen Trend der kubanischen Wirtschaft unterstreichen. Im vergangenen Jahr ist die Wirtschaft der Insel um ein bis zwei Prozent geschrumpft, nachdem sie bereits in der Pandemie stark eingebrochen war. Prognostiziert worden war ein Wachstum von drei Prozent. Die Inflation lag offiziell bei rund 30 Prozent; die informelle Inflation dürfte um Einiges höher sein.

Weitere Maßnahmen des makroökonomischen Stabilisierungsplans zielen daher auf die Wiederbelebung des Tourismus, die Förderung der Produktion exportfähiger Produkte wie Nickel, Tabak oder Rum sowie des Imports von Rohmaterialien und Zwischenprodukten zur Ankurbelung der heimischen Produktion. Der Zugang von Unternehmen zu Devisen soll verbessert werden, indem der elektronische Handel mit Zahlungen aus dem Ausland ausgeweitet wird, ausländische Investitionen sollen weiter gefördert werden, insbesondere in die Nahrungsmittelproduktion und den Ausbau erneuerbarer Energien.

Neues Gesundheitsgesetz mit *Änderungen beim Recht auf*Abtreibung und Sterbehilfe

In der Gesundheitspolitik des Landes markierte die letzte Parlamentssitzung des Jahres dagegen ganz sicher einen neuen Trend. Denn die Abgeordneten der Nationalversammlung verabschiedeten ein neues Gesundheitsgesetz, das das Recht auf Abtreibung festschreibt und Sterbehilfe erlaubt. Kuba lässt damit nach Kolumbien als zweites Land in Lateinamerika und der Karibik Sterbehilfe zu. „Das Recht der Menschen auf einen würdigen Tod wird bei Entscheidungen am Lebensende anerkannt, die die Begrenzung therapeutischer Bemühungen, kontinuierliche oder palliative Pflege und gültige Verfahren, die das Leben beenden, einschließen können“, heißt es in dem verabschiedeten Gesetzentwurf. In den staatlichen Medien wurde vorab kaum erwähnt, dass die Regierung die Praxis genehmigen würde; es gab auch keine öffentliche Debatte. Weltweit erlauben nur Länder wie die Schweiz, die Niederlande, Luxemburg, Kanada, Australien, Spanien, Deutschland, Neuseeland, Kolumbien und einige Bundesstaaten der Vereinigten Staaten die Sterbehilfe in unterschiedlichem Maße.

Das neue Gesundheitsgesetz, welches das Gesetz 41 aus dem Jahr 1983 ablöst, erkennt zudem sexuelle und reproduktiven Rechte an und bekräftigt die Notwendigkeit, dass Menschen „Zugang zu Methoden der Empfängnisverhütung und des freiwilligen Schwangerschaftsabbruchs“ sowie das Recht haben, „Unfruchtbarkeitsbehandlungen … durch den Einsatz von Techniken der assistierten Reproduktion in Anspruch zu nehmen“. Das überarbeitete Gesetz schützt nach allgemeiner Auffassung das Recht auf Abtreibung, das in Kuba seit mehr als 50 Jahren durch das Gesundheitssystem garantiert wird, ohne dass es jedoch ein Gesetz gibt, das es als Recht festschreibt. „Wir wollen nicht, dass die Abtreibung die erste Option ist, sie kann keine Verhütungsmethode sein. Das wissen wir, und es ist Teil der umfassenden Sexualerziehung“, sagte die Abgeordnete Yamila González Ferrer, Vizepräsidentin der Nationalen Juristenvereinigung Kubas. „Die Tatsache, dass das Gesetz dies in einem Kontext widerspiegelt, in dem es in diesem Bereich in der Region und in der Welt Rückschritte gibt, ist für die kubanischen Frauen und ihr Recht, über ihren Körper zu entscheiden, von großer Bedeutung.“

Die Mantras der neoliberalen Ökonomie müssen weg

Warum ist es für Aktivist*innen heute überhaupt von Interesse, sich mit den historischen Ansätzen für eine Neue Weltwirtschaftsordnung zu beschäftigen?

AV: Es gibt viele Gründe, aber heute sind zwei Aspekte wichtig. Erstens: 1974 ist ein erster alternativer Globalisierungsentwurf entstanden und das auf der hohen diplomatischen Ebene der UN-Vollversammlung. Zweitens wurde gefordert, dass es eine stärkere Planung und Regulation des Welthandels geben sollte. Auch jetzt sieht man bei vielen Staaten, dass sie wieder stärker in die Wirtschaft eingreifen wollen.

Vor 50 Jahren waren diese Ideen schon mal da, aber damals sollte die Intervention viel stärker auf internationaler Kooperation basieren. Es sollten Gremien gebildet werden, die auf einer gleichberechtigten zwischenstaatlichen Ebene aushandeln sollten, wie Welthandel und Produktion in den Dienst der Gesellschaften gestellt werden könnten. Die Initiative ging von Regierungschefs aus und viele von ihnen waren nicht demokratisch legitimiert, damals wie heute.

Welche Rolle spielten die lateinamerikanischen Beiträge zu Abhängigkeit und Unterentwicklung („Dependencia“) in jener Zeit?

AV: Der argentinische Ökonom Raúl Prebisch hat hier eine zentrale Rolle gespielt, da er schon früh die Terms-of-Trade-Problematik beschrieben hatte (in den 1950er Jahren: den ungleichen Tausch von Rohstoffen und Industrieprodukten zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, Anm. d. Red). Das Faszinierende an seiner Person ist, dass er zu so hohen Ämtern gekommen ist, bis hin zum Generalsekretär der UNCTAD, und dort tatsächlich ein konkretes politisches Programm umsetzen konnte. Der Beitrag von lateinamerikanischen Denkern wurde in Afrika und Asien aufgegriffen und weiterentwickelt.

Es bedarf auch heutzutage dringend einer Neuen Weltwirtschaftsordnung. Weshalb hilft dabei der Rückblick?

ML: Einerseits hat die neoliberale Globalisierung Asymmetrie und Ungleichheit noch verschärft. Das Gerechtigkeitsargument greift heute mehr denn je. Es ist unsere derzeitige Weltwirtschaftsordnung, die die drängenden Probleme der Menschheit wie den Klimawandel verschlimmert. Wir treiben viel zu viel Welthandel, der nur dem Wirtschaftswachstum dient. Güter, die lokal produziert und gehandelt werden könnten, werden unter enormem Energieverbrauch hin und her geschifft.

Die Weltwirtschaftsordnung zeigt, dass wir unfähig sind, diese drängenden Probleme in Angriff zu nehmen, deswegen müssen wir alles dafür tun, sie zu ändern.

Welche Elemente von NWWO und Dependenztheorie sind heute noch von Bedeutung?

ML: Es gibt heute Berechnungen aus der ökologischen Ökonomie, wer wem wieviel schuldet, wie diese Terms-of-Trade-Geschichte sich in Zahlen niederschlägt. Und das ist hochaktuell! Wir sehen außerdem am Beispiel von Donald Trump, dass er ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass Protektionismus ein Recht der mächtigen Staaten ist, während die Schwachen zum Freihandel gezwungen werden können. Auch an diesem Verhältnis hat sich wenig geändert. Es ist immer noch so, dass der Süden den Norden entwickelt.

Es gibt aber sicher auch Bestandteile der Dependenztheorie, die im Zeitalter der Klimakrise veraltet sind, oder?

ML: Was aus heutiger Perspektive anders gedacht werden muss, ist, dass die Dependenztheoretiker damals das Recht auf „Entwicklung“ eingeklagt haben, also auf Wirtschaftswachstum und Industrialisierung. Heute wissen wir, dass dort, wo sich der globale Süden industrialisiert hat, das nicht unbedingt zu einem guten Leben für alle beigetragen hat, sondern zu mehr Ungleichheit innerhalb dieser Länder. Es sind besonders die schmutzigen, arbeitsintensiven oder krankmachenden Produktionsprozesse, die in den Süden ausgelagert wurden, während der Norden auf Hochtechnologie und Hochlohnproduktion gesetzt hat. Das setzt sich fort, wenn China heute bestimmte Produktionsprozesse nach Afrika verlagert, weil sie besonders schmutzig sind. Dass Industrialisierung der Königsweg ist, um ein besseres Leben für die Bevölkerung zu erreichen, muss aus heutiger Sicht in Frage gestellt werden.

Die Dependenztheorie hielt Industrialisierung für unabdingbar, oder?

AV: Die Dependenztheorie war ja auch eine Modernisierungstheorie in dem Sinn, dass es darum ging, dem Beispiel des Nordens nachzueifern, und zwar durch den Abbau und Export von Rohstoffen. Es ist inzwischen deutlich geworden, dass dieser sogenannte Extraktivismus verheerende Umweltschäden verursacht. Die Autorin Melanie Pichler macht in ihrem Beitrag zu unserem Buch „Von ökologisch ungleichem Tausch zu Postwachstum“ einen sehr guten weiteren Punkt. Sie sagt, Einsparungen von CO2 müssen vor allem im globalen Norden stattfinden, um einen Raum zu schaffen für eine wirtschaftliche Entwicklung im globalen Süden, die sicher auch noch ein gewisses Maß an Industrialisierung mit sich bringt. Die Unterschiede sind so groß, dass dafür noch Raum sein muss. In diesem Zusammenhang stellt sich aber auch die Frage, ob nicht auch China – das sich selbst weiterhin zum globalen Süden zählt – ebenfalls Einsparanstrengungen zugunsten anderer Gesellschaften unternehmen müsste. Trotzdem sind im Norden Einsparpotenziale vor­handen, die dem Süden Spielraum für weitere Entwicklung lassen könnten.

ML: Aus meiner Perspektive gehört China überhaupt nicht mehr zum globalen Süden. Es ist einfach das Vorzeigebeispiel, das der Norden immer benutzt, um zu zeigen, dass der Süden sich eben doch „entwickeln“ kann. Geopolitisch und in der Weltwirtschaft spielt China ja heute eine ganz andere Rolle und gehört auch zu den Ländern, die ihre sozialen und ökologischen Kosten anderswohin externalisieren. Ich bin natürlich damit einverstanden, dass die Einsparungen vor allen Dingen im Norden stattfinden müssen, aber das führt uns wieder auf unser Ausgangsthema zurück: Wenn wir es nicht schaffen, die globalen Regeln gerechter zu gestalten und wirklich strukturelle Veränderungen im internationalen Finanzsystem und im Handel zu erreichen, dann nützt ein solcher „Raum“ den Ländern des Südens überhaupt nichts, er würde lediglich zu Rezession führen.

In Lateinamerika werden bekanntlich „Alternativen zur Entwicklung“ diskutiert …

ML: Genau, und eben nicht ein anderer Weg der Entwicklung. Das ist ein entscheidender Unterschied. Dabei kommen andere Paradigmen ins Spiel, die der riesigen kulturellen und zivilisatorischen Diversität dieses Kontinents Rechnung tragen. Gedanken wie das buen vivir aus indigenen Gesellschaften erhalten Gewicht. Das Ziel ist eben nicht Wachstum und Akkumulation, sondern im Gleichgewicht miteinander und mit der Umwelt zu leben. Das kann zu unserer heutigen Nachhaltigkeitsdiskussion sehr viel beitragen. Im Angesicht von Klimawandel, massivem Artensterben und drohendem ökologischem Kollaps brauchen wir ein Umsteuern, das über dieses „Wir wollen auch Wachstum“ hinausgeht. Heute ist es für Länder des Südens nicht mehr wirklich möglich, auf denselben Weg zu setzen wie die kapitalistischen Zentren.

Lateinamerika positioniert sich gerade in einer multipolaren Welt neu. Lulas Brasilien in den BRICS; die Länder des Mercosur zeigen wenig Begeisterung, sich über ein Handelsabkommen einseitig an die EU zu binden; überall sieht man ein stärkeres Engagement mit China. Bereiten die Länder Lateinamerikas damit eine Basis für eine Neue Weltwirtschaftsordnung vor oder reproduziert der Handel mit China nur das alte Schema der Abhängigkeit?

AV: Es gibt oft diesen Vergleich zwischen der Bewegung der blockfreien Staaten vor 50 Jahren, die die NWWO vorangetrieben hat, und dem BRICS-Staatenbündnis von heute. Da gibt es Parallelen, aber ein Aspekt ist wichtig: Der Prozess, der zur NWWO geführt hat, war damals ganz anders strukturiert. Er begann mit Wissenschaftlern, die sich darüber Gedanken gemacht haben, wie die Weltwirtschaft und internationale Zusammenarbeit strukturell anders ausschauen können. Zudem war er flankiert von sozialen Bewegungen in Nord wie Süd. Das hat ausgestrahlt in die sozialdemokratischen Regierungen in Europa und wurde letztlich übersetzt auf die Ebene internationaler Organisationen, wo fast alle Staaten Mitglied waren. BRICS ist heute viel stärker top-down und hat keinen Anspruch, den Handel selbst neu zu strukturieren. Es hat eigentlich eher den Anspruch, für bestimmte Staaten mehr Mitspracherecht und mehr Handelsvorteile rauszuholen, aber eben keine globalen Strukturveränderungen.

ML: Ein kurzer Blick in die jüngere lateinamerikanische Geschichte ist lehrreich, die Rolle Brasiliens während der „progressiven Hegemonie“, die ungefähr zehn Jahre gedauert hat (2005 bis 2015). Da gab es sehr interessante Vorschläge für eine lateinamerikanische Integration, die eine teilweise Abkopplung vom Weltmarkt bedeutet hätte, mit eigenen digitalen Zahlungsmitteln. Die „Bank des Südens“ sollte ganz andere Projekte finanzieren als eine klassische Entwicklungsbank. Es ging um Ernährungssouveränität, um Gesundheitssouveränität, also eigene pharmazeutische Produktion, und Energiesouveränität. Mit dem Motto der Souveränität ging es eben nicht um „Entwicklung“ und Teilhabe am Welthandel. Brasilien war jedoch letztendlich der Gigant in Lateinamerika, der dann dem Rest der Länder den Rücken zugewandt und lieber darauf gesetzt hat, selbst in den Rang der Weltmächte aufzusteigen. Die brasilianische Entwicklungsbank oder auch die Entwicklungsbank der BRICS sind heute vollkommen konventionelle Entwicklungsbanken, die strukturell nichts verändern. Lateinamerika erlebt auch die Abhängigkeit von China in Bezug auf Finanzierung, Infrastruktur und Handel nicht wesentlich anders als die von Europa oder den USA.

Miriam, in Deinem Beitrag zu dem Buch kritisierst Du mit Ulrich Brand den „staatlichen Steuerungsoptimismus“ der NWWO. Was meint Ihr damit und welche anderen Wege müssen hin zu einer neuen, ökologisch und sozial gerechten Weltwirtschaftsordnung begangen werden?

ML: Es gibt ja häufig die Hoffnung, dass Politik, Regierung und Staat alles regeln werden. Dass nur ein bisschen mehr politischer Wille notwendig ist, um etwas grundlegend zu ändern. Das ist ein Trugschluss. Die Kräfteverhältnisse, die in einer Gesellschaft vorherrschen, finden sich auch im Staat wieder. Die lateinamerikanischen Staaten sind von ihrer Entstehungsgeschichte, ihrer Verfasstheit und ihrer politischen Kultur her anders als die europäischen. Hier muss man die alles durchdringende Kolonialität immer als Faktor einbeziehen. Es ist immer noch so, dass eine der Hauptaufgaben staatlicher Steuerung hier die Kanalisierung der Rohstoffe in die kapitalistischen Zentren ist. Statt auf staatlichen Steuerungsoptimismus und von oben reformierte globale Institutionen zu setzen, muss man den Weg hin zur neuen Weltwirtschaftsordnung immer multiskalar denken. Das heißt, es hängt sehr stark daran, was in nationalen Gesellschaften als akzeptabel angesehen wird, welche Kämpfe dort ausgefochten werden und wie sich das auf internationale Verhältnisse auswirkt. Es spielen gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse auf verschiedenen Ebenen eine Rolle, die nicht einfach ausgeblendet werden können. Das sind strukturelle Hindernisse, die man nicht einfach mit politischem Willen wegräumen kann.

Miriam, du bist Erstunterzeichnerin des Ökosozialen und Interkulturellen Pakt des Südens. Welche Rolle können Bewegungen in Lateinamerika heute für eine ökologisch und sozial gerechte Weltwirtschaftsordnung spielen?

ML: Wir stehen vor der Aufgabe, einen tiefgreifenden kulturellen Wandel herbeizuführen, indem wir uns vor allen Dingen von diesen Mantras der neoklassischen Ökonomie verabschieden: vom Wachstumszwang, vom Entwicklungszwang, von der Zentralität dieser ökonomischen Sichtweise für die Politik. Das heißt, unsere neue Organisationsachse, unsere gesellschaftliche Orientierung sollte der Erhalt des komplexen Lebensgeflechts Erde sein, von dem wir ja als Menschen nur ein Teil sind. So ein tiefgreifender kultureller Wandel geht nur über gesellschaftliche Organisierung und Mobilisierung. Wir haben Ansätze wie die Care-Ökonomie, um zum Beispiel Arbeit neu zu denken. Das sind Ansätze eines anderen Miteinanders und nicht top-down. Vergangenen August wurde in Ecuador per Referendum von knapp zwei Dritteln der Bevölkerung entschieden, dass Ölförderung und Bergbau nicht mehr die Zukunft des Landes darstellen. Das ist eine sehr wichtige demokratische Entscheidung, die durch soziale Mobilisierung geschafft wurde, durch eine ganz breite Kampagne in vielen Städten, sehr dezentral. Die Leute haben die Sache selbst in die Hand genommen, in Schulen, in Betrieben, in Stadtversammlungen. Das ist ein Hoffnungsschimmer, hoffent­lich schaffen es auch andere Gesellschaften auf der Angebotsseite, dem Rohstoffhandel einfach den Hahn abzudrehen. Das würde starke Einschnitte in die Weltwirtschaft nach sich ziehen. Wir dürfen diese sozialen Bewegungen nicht nur national denken, wir brauchen auch dringend Süd-Süd Bündnisse und ein neues Nord-Süd-Verständnis von Solidarität, das die Prozesse rund um Energiewende und Klimaschutz durch globale Gerechtigkeit verändern muss.

Kinder und Alte bleiben zurück

Wird auch in Berliner U-Bahnhöfen beworben Anbieter zum Verschicken von remesas (Foto: Theresa Utzig)

Alle zwei Wochen fährt Julissa Gómez aus dem Dorf Ticamaya nach San Pedro Sula. Dort holt sie bei einer Bank den Gegenwert von 125 US-Dollars in der honduranischen Währung Lempira ab. Das Geld schickt ihr Mann, Elbin Antony, der vor vier Monaten illegal in die USA gereist ist. Der 26-Jährige lebt dort in New Jersey bei seinem Vater, den er über 20 Jahre lang nicht gesehen hat. Zunächst arbeitete Elbin in einem Supermarkt, jetzt als Tellerwäscher in einem Restaurant. Julissa erzählt: „Das Geld verstecke ich gut in der Hosentasche und kaufe dann sofort Lebensmittel und die Pulvermilch für meine beiden Kinder. Letzten Monat musste ich auch viel Geld für Medikamente ausgeben, weil sie unter Eisenmangelanämie leiden.“

Wie Julissa geben über 80 Prozent der Empfänger*innen ihre remesas für grundlegende Lebenshaltungskosten aus. Kein Wunder, denn in Honduras kosten allein die Lebensmittel für eine fünfköpfige Familie mehr als der Mindestlohn. Darüber hinaus müssen Patient*innen in den öffentlichen Krankenhäusern viele Medikamente selbst bezahlen, Lehrer*innen verlangen Schulmaterial und oft auch Geld von den Eltern. Auch die Mieten sind nach der Pandemie stark gestiegen.

Laut einer aktuellen Studie der honduranischen Zentralbank vom August 2023 sind die Rücküberweisungen das einzige Einkommen für weit über ein Drittel der Familien, die sie erhalten. So auch für Julissa, denn sie arbeitet nicht, um sich um ihre beiden Kinder zu kümmern. Immerhin lebt sie mietfrei im Haus ihrer Geschwister.

„Das Geld der Auslandshonduraner*innen hält das Land über Wasser“, fasst der junge Ökonom der Arbeitgeberorganisation COHEP, Alejandro Kaffati, die Situation zusammen. Im Jahr 2022 betrugen die remesas 8,68 Milliarden US-Dollars. Das entspricht einem guten Viertel des Bruttoinlandproduktes, was wiederum dem Wert aller Exporte außer Textilien entspricht. Dieses Jahr werden die Überweisungen der Auslandshonduraner*innen vermutlich erneut um gut 7 Prozent wachsen. Fast 24 Millionen US-Dollars werden jeden Tag durch die Rücküberweisungen in die Wirtschaft gepumpt. Das ist ein Segen für den Handel überall im Land: Von kleinen Lebensmittelläden, Kleidergeschäften und Restaurants über Dienstleistungen wie Schönheitssalons und Werkstätten bis hin zu nationalen Ketten, die Haushaltsartikel und elektronische Geräte vertreiben, oft auf Kredit. „Diese wirtschaftliche Dynamik trägt zum Wirtschaftswachstum von rund 4 Prozent bei, denn neben den vielen importierten Artikeln werden auch einheimische Produkte konsumiert. Dazu kommen Löhne für die Angestellten, die ebenfalls konsumieren“, erklärt der Ökonom und Universitätsdozent Rafael Delgado.

Nicht nur für die Empfänger*innen und die Wirtschaft sind die remesas lebenswichtig, sondern auch für den honduranischen Staat: Er kann den Wechselkurs der Landeswährung Lempira gegenüber dem US-Dollars stabil halten, indem er Devisenvorräte anhäuft. Noch wichtiger ist jedoch, dass sich der Druck auf das öffentliche Gesundheits- und Bildungssystem verringert. Alejandro Kaffati schätzt, dass ohne die Rücküberweisungen der Anteil der Armen in Honduras von aktuell 71 Prozent auf 80 Prozent steigen würde. Ein Anstieg an Menschen in finanziellen Notlagen hätte unweigerlich noch größere soziale Konflikte zur Folge, in einem Land mit hoher Kriminalität und einem fragilen sozialen Netz.

Obwohl alle Regierungen das Sozialbudget kontinuierlich erhöht haben, lag das Land im Menschlichen Entwicklungsindex der UNO 2022 bloß auf dem 137. Platz von 191 evaluierten Ländern. Eine bessere Zukunft scheint also nur im Ausland möglich.

Sechs von zehn Auslandshonduraner*innen, die remesas an ihre Familie schicken, tun das monatlich und überweisen mit 467 US Dollars etwas mehr als den honduranischen Mindestlohn. Fast die Hälfte von ihnen lebt seit über 20 Jahren in den USA. Ein großer Teil der honduranischen Arbeiter*innen in den USA ist im Service-Sektor tätig: Sie sind Putzpersonal in Hotels oder Angestellte in Restaurants und Altenpflege, Männer arbeiten oft im Baugewerbe. Laut der bereits erwähnten Studie der Honduranischen Zentralbank verdienen Auslandshonduraner*innen durchschnittlich rund 3.000 US-Dollars pro Monat und setzen zwischen 8 Prozent und 14 Prozent ihres Einkommens für Rücküberweisungen an ihre Angehörigen in der Heimat an. Dazu kommen Überweisungen in Notfällen sowie für spezielle Anlässe und große Pakete mit Kleidern und Geschenken zu Weihnachten.

„Wer remesas bekommt, hat meist keine Alternative”

Macht Geld, für das die Menschen nicht selbst arbeiten, faul? „Nein“, sagt José Manuel Pineda, Vizepräsident der Nationalen Entwicklungs-stiftung von Honduras (FUNADEH). „Wer remesas bekommt, hat meist keine Alternative, denn er findet keinen Job, ist alt oder krank oder kümmert sich um die zurückgebliebenen Kinder. Es gibt einfach nicht genug Jobchancen, die wenigen Stellen sind zudem sehr schlecht bezahlt.“

Julissa will nicht illegal emigrieren, weil das Risiko, dass ihr auf dem beschwerlichen Weg durch Mexiko etwas zustößt, zu groß sei: „Unser Ziel ist es, Geld für ein kleines Restaurant zu sparen und es dann gemeinsam zu führen.“ Falls das nicht klappt, ist sie sich bewusst, dass die Familie möglicherweise viele Jahre lang getrennt leben wird, nimmt das aber auf sich. Um sie herum geht es vielen so.

Óscar Bautista ist Kaffeeproduzent und Bürgermeister von Santa Rita, einer Gemeinde im Departamento Santa Bárbara im Westen des Landes. Er schätzt, dass 90 Prozent der circa 4.000 Einwohner*innen von Santa Rita Angehörige im Ausland haben, die ihnen remesas schicken. „Das sieht man an neuen Häusern, mehr Autos sowie Investitionen in die Plantagen. Aber da es fast keine jungen Leute mehr gibt, fehlt es an Arbeiter*innen, besonders für die arbeitsintensive Kaffee-Ernte zwischen November und März. Die Landwirtschaft kann nicht wachsen, das wird in Zukunft zu höheren Lebensmittelimporten führen“, befürchtet Bautista. Zurück bleiben die Älteren, die dank des Geldes der Migrant*innen einigermassen würdevoll leben können.

Getrennte Familien sind der soziale Preis, den Länder bezahlen, aus denen viele Menschen emigrieren. Dazu kommen weitere negative Aspekte der Rücküberweisungen, so dass sie von vielen Ökonomen sogar als Falle bezeichnet werden. In erster Linie sinkt die Produktivität und damit die internationale Wettbewerbsfähigkeit aufgrund fehlender Arbeitskräfte in allen drei wirtschaftlichen Sektoren sowie Investitionen in Firmen aller Art. Besonders junge Leute aus ruralen Gebieten verlassen das Land in Scharen und setzen ihre Arbeitskraft in den Ländern des globalen Nordens ein. Dazu kommen immer mehr Fachkräfte, die aufgrund fehlender Perspektiven – sprich Weiterbildung, adäquate Löhne und bessere Lebensqualität – auswandern. Dank ihnen kommen viele Devisen ins Land, von denen ein Teil in importierte Güter investiert wird. Das erhöht kurzfristig die Lebensqualität, trägt aber nicht zu einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum bei, das zusammen mit gerechteren Strukturen den Exodus aus Honduras zumindest etwas verringern würde.

Der Staat ermutigt die Migration dabei durch offizielle Programme

Rafael Delgado bringt es so auf den Punkt: „Die remesas erlauben einer gewissen Bevölkerungsschicht eine Bequemlichkeit, die längerfristig aber fatal ist und immer mehr Personen dazu motiviert, ebenfalls zu emigrieren.“ Der Staat ermutigt die Migration dabei durch offizielle Programme. Fernseh- und Radiospots, die vor den vielen Gefahren auf der Route durch Mexiko warnen und von der Behörde für Entwicklungszusammenarbeit der US-Regierung bezahlt sind, werden praktisch ignoriert. Zu groß sind die Not und der Traum von einer besseren Zukunft und dieser beinhaltet auch die Hilfe an die „daheimgebliebenen“ Familienmitglieder.

Ein konkreter Weg aus der Falle der Rücküberweisungen wären laut Alejandro Kaffati spezifische Kredite für die Empfänger*innen von remesas. Drei Viertel von ihnen verfügen zur Zeit nicht einmal über ein Bankkonto. Dennoch gibt es Personen, die über genug Geld für eine Investition wie ein Grundstück oder sogar ein Haus verfügen. „Durch Kredite mit niedrigeren Zinssätzen könnten Investitionen ermöglicht werden, beispielweise in Immobilien oder Kleinfirmen. Das stärkt Wirtschaftsbranchen wie das Baugewerbe, das bisher nur wenig von den remesas profitiert. So würde die Arbeitslosigkeit bekämpft und das Wohnungsdefizit verkleinert“, so Kaffati. Dafür ist ein gewisses Kapital sowie ein finanzielles Grundwissen nötig und eine klare Vision der Zukunft, die weit über das simple Konsumieren hinausgeht.
Mit größeren Investitionen in Bildung und Anreizen für neue, innovative Firmen kann der Staat die wirtschaftliche Dynamik erhöhen. Das allerdings setzt einen starken politischen Willen voraus, der die vierjährige Amtszeit einer Regierung überschreiten müsste. Nicht sehr wahrscheinlich in diesen Zeiten, wo sich nicht nur in Honduras die politische Rechte und Linke unversöhnlich gegenüberstehen.

Rafael Delgado schlägt daher vor, Modelle aus Mexiko zu übernehmen, wo der Staat auf verschiedenen Ebenen mit den remesa-Empfänger*innen zusammenarbeitet, um ihre Gemeinden zu stärken. So soll weniger konsumiert und mehr investiert werden – in soziale Infrastruktur wie Schulen, Gesundheitszentren, Wege und Trinkwasser, aber auch in ihre Häuser und Kleinstfirmen. Mexiko erhält nach Indien weltweit die meisten Rücküberweisungen.

Das ernüchternde Fazit ist, dass laut einer Studie des Internationalen Währungsfonds keines der zehn Länder, die zwischen 1990 und 2017 in Relation zu ihrem Bruttoinlandsprodukt die meisten Rücküberweisungen erhielten, sein BIP pro Kopf im Vergleich zu Ländern mit weniger Rücküberweisungen steigerte. In der Mehrheit sind die Wachstumsraten der großen Empfängerstaaten sogar um rund einen Prozent geringer als die der vergleichbaren Länder. Zu den Staaten, die besonders von Rücküberweisungen profitieren, gehören neben Honduras auch Jamaika, Kirgisien, Nepal und Tonga. Es handelt sich also keineswegs um ein rein lateinamerikanisches Phänomen. Doch rund tausend Honduraner*innen verlassen ihr Land fast täglich auf der Suche nach besseren Chancen und diese Dynamik scheint unaufhaltbar.

EINE ANDERE SICHT

In den meisten Staaten Lateinamerikas wird die westliche Position zum Ukraine-Krieg nicht geteilt. Auch die These von der russischen Alleinschuld wird oftmals zurückgewiesen. So erklärte etwa Luiz Inácio Lula da Silva noch als Präsidentschaftskandidat, der ukrainische Staatschef Wolodimir Selensky sei „für den Krieg genauso verantwortlich wie Putin“ – eine Formulierung, die ihm zumindest im Westen viel Kritik einbrachte. Insbesondere die Sanktionen gegen Moskau werden in vielen Ländern Lateinamerikas abgelehnt. Im Januar erklärte Lula, diese bestraften nicht den russischen Präsidenten Wladimir Putin, sondern „viele verschiedene Länder, sie bestrafen die Menschheit.“ Auch dem Ruf, der Ukraine Waffen zur Verfügung zu stellen, verweigern sich die lateinamerikanischen Staaten. So erklärte der argentinische Präsident Alberto Fernández anlässlich des Besuchs von Scholz in Buenos Aires Ende Januar: „Argentinien und Lateinamerika denken nicht daran, Waffen an die Ukraine oder in einen anderen Konfliktherd zu liefern“. Auch Lula erteilte der Bitte von Scholz, Brasilien möge Kiew Munition für den Gepard-Flugabwehrpanzer liefern, eine Absage. Zuletzt fasste die kolumbianische Vizepräsidentin Francia Márquez die Stimmung auf der Münchner Sicherheitskonferenz mit den Worten zusammen: „Sicherheitsfragen lassen sich nicht mit Waffengewalt lösen.“

Zwar tobt der Ukraine-Krieg weit entfernt von Lateinamerika. Trotzdem sind seine Folgen auch dort stark spürbar. So bezogen etwa Brasilien, Argentinien und Mexiko vor Beginn des Krieges einen Großteil ihrer benötigten Düngemittel aus Russland, der Ukraine und Belarus. Der Zugang zu diesen ist nun infolge des Krieges sowie wegen der westlichen Sanktionen versperrt. Dadurch sind Grundnahrungsmittel in Lateinamerika deutlich teurer geworden, was bereits zuvor bestehende Versorgungskrisen weiter verschärft. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Nachfrage nach lateinamerikanischem Erdöl, Erdgas und Nahrungsmitteln im Westen gestiegen ist, was Geld in die klammen Kassen spült. Gerade die regionalen Schwergewichte Brasilien und Argentinien bemühen sich trotz des Krieges in der Ukraine um den Ausbau ihrer Wirtschaftsbeziehungen zu Moskau. Wichtig dafür ist unter anderem das BRICS-Bündnis, das Ende der 2000er Jahre von Russland, China, Indien und Brasilien ins Leben gerufen wurde und zu dem seit 2011 auch Südafrika gehört. Teil des Verbands der sogenannten Schwellenländer sind die New Development Bank als Gegengewicht zur Weltbank, ein eigenes Zahlungssystem als Entsprechung zur SWIFT und ein Währungsreservekorb. Trotzdem ist die wirtschaftliche Macht der Vereinigten Staaten in Lateinamerika weiter groß. So wurden nach Angaben der US-Notenbank FED zwischen 1999 und 2019 96 Prozent aller lateinamerikanischen Handelstransaktionen in US-Dollar abgewickelt.

Für Russland spielt die Region als Wirtschaftspartner eine wichtige Rolle

Es ist wahrscheinlich, dass das BRICS-Bündnis in naher Zukunft neue Mitgliedstaaten aufnehmen wird. Unter anderem rechnet sich Argentinien dabei gute Chancen aus. Der argentinische Botschafter in China, Sabino Vaca Narvaja, erklärte, ein Beitritt zur BRICS sei wichtig, um eine ausgewogenere globale Ordnung zu erreichen und neue Investitions- und Absatzmärkte zu erschließen. Tatsächlich unterhalten viele lateinamerikanische Staaten gute Wirtschaftsbeziehungen zu Peking und Moskau: So investiert die Volksrepublik massiv in die Region, beispielsweise im Rahmen der „Neuen Seidenstraße“ (Belt and Road Initiative). Auch für Russland spielt die Region als Wirtschaftspartner eine wichtige Rolle. Viele lateinamerikanische Staaten setzen darauf, so wirtschaftlich unabhängiger von den USA zu werden, was ihnen auch einen größeren politischen Handlungsspielraum ermöglichen würde. Ein solcher, so die Hoffnung, könnte es ermöglichen, einen eigenen gesellschaftlichen Entwicklungsweg einzuschlagen. Das gilt beispielsweise für Argentinien. Das Land befindet sich seit Jahren an der Leine des von Washington dominierten Internationalen Währungsfonds (IWF). Aus diesem engen Korsett möchte Buenos Aires lieber früher als später ausbrechen.

Verhindern, dass sich die Reigon zu einem Konfliktraum der Großmächte entwickelt

Die Staaten Lateinamerikas sind schon allein aus wirtschaftlichen Gründen an einem raschen Ende des Ukraine-Krieges interessiert. Nur allein dadurch lässt sich ihre Position allerdings nicht erklären. Auch politisch streben viele Länder der Region, insbesondere der in den vergangenen Monaten gestärkte Block linker Regierungen, eine Emanzipation vom Westen und stellvertretend für diesen von den USA an. Ein Ausdruck dieses Bestrebens ist die Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (CELAC), die auf ihrem Gipfel Ende Januar in Buenos Aires ihr Revival feiern konnte. Sie vereint alle Staaten des amerikanischen Doppelkontinents − außer den USA und Kanada − und steht für die Anstrengungen, eine eigenständige Politik im Rahmen einer multipolaren Welt zu spielen.

Kurz vor dem Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine am 24. Februar 2023 stimmten 141 Mitglieder der UN-Generalversammlung für eine Resolution, die Moskau zum Rückzug seiner Streitkräfte auffordert – unter diesen der Großteil der lateinamerikanischen Staaten. Nicaragua stimmte gegen den Antrag, Kuba enthielt sich. Auch wenn westliche Medien darin eine Abkehr vom bisherigen Kurs sehen wollten: Trotz der Zustimmung zur UN-Resolution lehnen die lateinamerikanischen Regierungen Sanktionen gegen Russland weiter ab. Statt solcher setzen sie auf eine Verhandlungslösung des Krieges. So schlug der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador beispielsweise bereits im September des vergangenen Jahres einen fünfjährigen Waffenstillstand in dem osteuropäischen Land vor. Diese Zeit solle für direkte Gespräche zwischen Kiew und Moskau genutzt werden. Lula brachte im Januar Brasilien, China, Indien und Indonesien als Vermittler für Verhandlungen ins Spiel.

Auf Seiten der ukrainischen Regierung stoßen die Friedensinitiativen auf wenig Gegenliebe. Und auch die westlichen Staaten unterstützen die lateinamerikanischen Versuche nicht. Sie setzen stattdessen auf eine dauerhafte Schwächung Russlands: militärisch durch eine Niederlage auf dem Schlachtfeld, wirtschaftlich durch die Sanktionen. Dem Großteil der lateinamerikanischen Staaten geht es hingegen darum, einerseits zu verhindern, dass sich die Region zu einem Konfliktraum der Großmächte entwickelt. Zum anderen erhoffen sie sich eigene Vorteile im Bereich der internationalen Beziehungen – unabhängig von den USA. Denn: Der Ausgang des Ukraine-Krieges als Ausdruck des zugespitzten Machtkampfs zwischen den Machtblöcken USA und Westen, Russland und indirekt auch China wird daher auch Auswirkungen auf die Zukunft der Entwicklung auf dem Subkontinent haben.

SCHOLZ IM ADLERHORST

Es wirkte wie ein Klimatreffen. Am 30. Januar 2023 traf sich Bundeskanzler Olaf Scholz mit chilenischen Unternehmer*innen, darunter die deutsch-chilenische Handelskammer und die chilenische Industriekammer, kurz SOFOFA. In einer langen Rede beschwor der Kanzler gemeinsame demokratische Werte, zirkuläre Wirtschaft, Umweltschutz, den gemeinsamen Kampf gegen den Klimawandel und internationale Solidarität. Nachdem er zuvor von chilenischen Studierenden sprach, die während der Militärdiktatur in Deutschland studieren konnten, meinte er: „Heute teilen wir unsere demokratischen Werte und die Überzeugung, dass individuelle Freiheit und soziale Sicherheit Hand in Hand gehen. […] Und noch etwas teilen wir: Wie viele Gesellschaften sind wir mit dem Ziel verbunden, unsere Wirtschaft neu auszurichten, aus fossilen Brennstoffen auszusteigen und klimaneutral zu produzieren.“

„Von einem SPD-Mitglied hätten wir mehr erwartet“

Zuvor hatte Scholz bereits angekündigt, den Aufbau einer Gedenkstätte in der ehemaligen Colonia Dignidad zu unterstützen. Es wirkt wie ein Tapetenwechsel: Wo einst knallharte wirtschaftliche Interessen galten, sind es heute Menschenrechte und Umweltschutz. Doch der Schein trügt. Hinter der Tapete versteckt sich weiterhin das Fundament einer interessengeleiteten Außenpolitik, in deren Zentrum die Familien geflohener Nazis stehen. So war der Besuch von Scholz der große Auftritt für Christoph Schiess − ein Unternehmer, der wenig in die chilenische Öffentlichkeit tritt. Er empfing den Bundeskanzler auf dem neuen, firmeneigenen Gelände in Vitacura. Der Komplex der Firma Tánica, einst Transoceánica, ist der sichtbarste Teil des Imperiums von Schiess, das vor allem im Immobiliensektor tätig ist. Regelmäßig taucht das Unternehmen in Konflikten auf, bei denen sich Anwohner*innen gegen Neubauten durch die Tánica wehren.

Das erklärte Ziel der deutschen Regierung war es, die wirtschaftlichen Beziehungen zu stärken. Derzeit will man vor allem Kupfer und Lithium aus Chile importieren, in Zukunft soll Chile „grüne“ Energie in Form von Ammoniak und Wasserstoff nach Deutschland liefern. Chile selbst sieht sich nach eigenem Bekunden als den zukünftig weltweit größten Wasserstoffexporteur, der aufgrund seiner vorteilhaften Lage – viel Sonne und direkt am Meer – den weltweit günstigsten Wasserstoff produzieren kann. Scholz seinerseits bekundete mehrmals, dass die wirtschaftlichen Beziehungen sich ändern müssten: Die Herkunftsländer der Rohstoffe müssten vom erwirtschafteten Reichtum profitieren. Hier witterten die Unternehmer*innen beim Treffen in der Tánica gute Geschäfte. Unter der Moderation von Cristoph Schiess’ Ehefrau, Jeanette von Wolffersdorff, sprach man gemeinsam über eine grüne Zukunft, in der zirkuläre Wirtschaft auf der Tagesordnung stehe. Doch wer steht hinter dem grünen Stelldichein der deutsch-chilenischen Wirtschaft? Es sind zum Teil kleine Unternehmer*innen, die sich im Bereich der Energie- und Minenwirtschaft betätigten. Doch präsidiert werden ihre Organisationen von alten deutschen Familien und deren Freund*innen. Es sind zum großen Teil die Nachfahren von Deutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg vor der Justiz der Alliierten flohen, beginnend bei Christoph Schiess. Relativ wenig bekannt ist über den Vater von Christoph und Gründer der Transoceánica: Wilhelm Schiess. Nach eigenen Angaben kam er im Jahr 1948 mit 23 Jahren nach Valparaíso, nachdem er es geschafft hatte, aus der Gefangenschaft der Roten Armee zu fliehen. Neben Schiess steht die Familie von Appen, die derzeit mit dem 55-jährigen Richard von Appen die chilenische Industriekammer präsidiert. Der Vater von Richard, Julio Alberto von Appen, kam als Spion für das NS-Regime erstmals im Jahr 1937 nach Chile. Nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte er sich in Santiago. Zudem war auch Victor Ide in Vertretung der deutsch-chilenischen Handelskammer anwesend. Ide gilt als enger Bekannter des Unternehmers Horst Paulmann. Paulmann kam als Kind nach Chile, nachdem sein Vater, der unter dem NS-Regime Richter war, nach Lateinamerika geflüchtet war. All diese Nazis gründeten in den 50er Jahren ihre Unternehmen, die vor allem während der Militärdiktatur stark wuchsen, – auch dank der guten Kontakte zum Militär.

Auch heute unterstützen die Unternehmer*innen stramm rechte Positionen. Cristoph Schiess sponsorte während der Wahlperiode die rechtsextreme Constanza Hube vom neoliberalen Thinktank Libertad y Desarrollo (Freiheit und Entwicklung). Paulmann war ein guter Bekannter des verstorbenen Paul Schäfer, des Gründungsvaters der berüchtigten Colonia Dignidad, sagt Winfried Hempel, der in der Colonia Dignidad aufgewachsen ist und derzeit als Anwalt die Opfer der Colonia vertritt. Für ihn ist das Händeschütteln des Kanzlers mit Nazifamilien „ein Affront“, wie er gegenüber LN sagte. Denn obwohl der Besuch von Bundeskanzler Scholz im Museum für Erinnerung und Menschenrechte in Santiago de Chile begann und Menschenrechtsthemen offiziell im Mittelpunkt seiner Reise standen, gab es laut Hempel wenig Konkretes: „Von einem SPD-Mitglied hätten wir mehr erwartet.“ Es fanden weder Treffen mit Opferorganisationen der Colonia Dignidad statt noch waren die entsprechenden staatlichen Stellen zum Staatstreffen eingeladen. Während sich die chilenischen Finanz- und Energieminister mit ihren deutschen Partner*innen trafen, fehlten der Justizminister und die Staatssekretärin für Menschenrechte gänzlich – eine Prioritätensetzung, die für Hempel ein Sinnbild der deutschen Politik ist: „Nach außen gibt sich der deutsche Staat als Paradebeispiel für Menschenrechte, doch in der Realität haben wirtschaftliche Interessen weitaus mehr Priorität.“ Der Anwalt erinnert daran, dass es lange brauchte, bis sich deutsche Staatsvertreter*innen für die Unterstützung der Colonia Dignidad entschuldigten. Es gibt Berichte, wonach das Auswärtige Amt aktiv versuche, Staatsbesuche vor Ort zu verhindern. So etwa als Bodo Ramelow im Oktober 2022, als Präsident des deutschen Bundesrates, einen Besuch in der Colonia Dignidad vornahm. Ramelow hatte anschließend das Verhalten des Auswärtigen Amtes heftig kritisiert, da ihm Informationen vorenthalten worden seien und sich Vertreter*innen des Amtes abschätzig ihm und den Opfervertreter*innen gegenüber verhalten hätten.

Nazis gründeten in den 1950ern Unternehmen, die vor allem während der Militärdiktatur stark wuchsen

Die nun angekündigte Gedenkstätte sei keineswegs neu, meint Hempel, „das Konzept steht seit mehr als acht Jahren.“ Es sei gut, dass nun auch von oberster staatlicher Stelle das Projekt unterstützt werde, doch „wenn Kanzler Scholz das Projekt würde vorantreiben wollen, hätte er während seines Besuchs den ersten Stein legen können.“ So blieb es nur eine weitere Ankündigung. Andere Projekte laufen deutlich schneller: Bei dem Besuch wurden zwei Wirtschaftsverträge unterzeichnet: einer mit dem chilenischen Bergbauministerium über eine deutsch-chilenische Partnerschaft für Bergbau, Rohstoffe und Kreislaufwirtschaft, ein zweiter zur Kooperation der Hamburger Kupferraffinerie Aurubis mit der chilenischen staatlichen Kupfermine Codelco. Außerdem haben Porsche und Siemens bereits in die Testproduktion von synthetischen E-Fuel-Kraftstoffen in Chile investiert.

ÜBERWIEGEND PRAGMATISCH

Nur symbolisch ein gemeinsamer Block? Vielversprechende gemeinsame Projekte neuer linker Regierungen wie der von Boric (Chile) und Petro (Kolumbien) gibt es bisher kaum (Foto: Prensa Presidencia)

Nur wenige Jahre ist es her, dass die Linke in Lateinamerika als gescheitert galt. Nach der „rosaroten Dekade“ Anfang des Jahrtausends, als die meisten Länder des Subkontinents progressive Regierungen hatten, schienen sich Stagnation und Rückschritte breit zu machen. Wo nicht direkt rechte Regierungen das Zepter übernahmen, geriet die regierende Linke zumindest gehörig unter Druck, agierte teilweise autoritär und konnte kaum mehr an frühere Erfolge anknüpfen. Als Andrés Manuel López Obrador in Mexiko 2018 im dritten Anlauf die Präsidentschaftswahl gewann, schien das zunächst fast ein wenig aus der Zeit gefallen. Doch seitdem kam es bei fast allen Urnengängen zu einem Machtwechsel. Und meistens gewannen linke Kandidat*innen. In Argentinien lösten die Links-Peronist*innen mit Alberto Fernández und der Vizepräsidentin Christina Kirchner 2019 nach vier Jahren die neoliberale Regierung unter Mauricio Macri ab. In Bolivien kehrte die Linke im November 2020 ein Jahr nach dem Putsch gegen Evo Morales an die Macht zurück. Im vergangenen Jahr triumphierten neben Gabriel Boric in Chile auch Xiomara Castro in Honduras und Pedro Castillo in Peru. Im Juni dieses Jahres folgte der Wahlsieg von Gustavo Petro mit Francia Márquez als Vize in Kolumbien. Und in Brasilien könnte Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva in der Stichwahl Ende Oktober den rechtsextremen Jair Bolsonaro in die Opposition schicken. Rechte Wahlsiege gab es in den vergangenen Jahren hingegen nur in wenigen Ländern wie Uruguay und Ecuador.

Die erneute Stärke linker Politiker*innen ist beachtlich. Denn die Abnutzungserscheinungen auf den Regierungsbänken sowie die strukturellen Grenzen der begonnen Transformationsprozesse waren in den 2010er Jahren in den meisten Ländern unverkennbar. Infolge antineoliberaler Kämpfe hatten die linken Regierungen – ausgehend vom erstmaligen Wahlsieg von Hugo Chávez in Venezuela 1998 – die Rolle des Staates gegenüber dem Markt gestärkt und Privatisierungen gestoppt. Zuvor marginalisierte Bevölkerungsmehrheiten wie Indigene und Bewohner*innen von Armenvierteln erlebten materielle Verbesserungen und mindestens symbolische Wertschätzung. Am weitesten gingen die Veränderungen in Venezuela, Bolivien und Ecuador, wo neue Verfassungen verabschiedet wurden, die soziale und teilweise ökologische Zielsetzungen formulierten. Zumindest dem Anspruch nach verfolgten die Regierungen der drei Länder Transformationsansätze in Richtung grundlegend anderer Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme. Außenpolitisch entstanden neue lateinamerikanische Integrationsbündnisse ohne die USA. In Verbindung mit anfänglichen Bemühungen der Demokratisierung sorgte all dies für eine breite politische Legitimität. Die Widersprüche zwischen politischer Partizipation und ausgeprägtem Präsidentialismus ließen sich jedoch kaum auflösen. Die vergleichsweise großen Handlungsspielräume der Regierungen beruhten ab 2003 vor allem auf den hohen Weltmarktpreisen für Rohstoffe, während die Wirtschaftsstrukturen und Steuersysteme kaum verändert wurden. Für die breiten Massen war also Geld da, ohne die strukturellen Privilegien der reichen Eliten antasten zu müssen.

Es gibt nicht einmal rhetorisch vielversprechende gemeinsame Projekte

Die heutigen Linksregierungen stehen vor einer anderen Situation. Seit Jahren befindet sich die Region in einer Krise, die lange vor der Corona-Pandemie mit niedrigen Rohstoffpreisen einsetzte. Dass nun auch Länder linke Regierungen bekommen, die wie Kolumbien, Honduras oder Peru bislang als konservative Bastionen galten, zeigt zunächst vor allem, dass die Rechte keine Antworten auf die drängenden Probleme Lateinamerikas hat. Sowohl die neoliberalen als auch die Trumpschen Konzepte, mit denen etwa Bolsonaro in Brasilien sympathisiert, kommen nur einer kleinen Elite zugute.

Daher zeugen die jüngsten linken Wahlsiege nicht unbedingt von einer neuen Stärke der Linken, sondern vor allem von der starken Enttäuschung über die derzeitige Politik. Die heutigen linken Regierungen treten dabei weniger als ein gemeinsamer Block auf, als während der ersten Welle. Zwar gab es auch damals unverkennbare Unterschiede zwischen radikaleren und moderateren Regierungen. Doch verstanden sich alle mehr oder weniger als Teil einer lateinamerikaweiten Bewegung und übten den Schulterschluss, als es etwa gegen die von den USA anvisierte gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA (Área de Libre Comercio de las Américas) ging, die 2005 scheiterte.

Heute sind die linken Regierungen ideologisch heterogener

Heute sind die linken Regierungen ideologisch heterogener. Und in Nicaragua und Venezuela vertreten sie jenseits eines linken und antiimperialitischen Diskurses kaum mehr linke Politik. Für andere linke Kandidat*innen werden diese autoritären Regierungen zunehmend zum Problem. Wer im Wahlkampf eine sozialere Politik verspricht, wird schnell in die Venezuela- und Nicaragua-Ecke getrieben und muss versuchen, sich von Daniel Ortega und Nicolás Maduro zu distanzieren. Letztlich verfolgen die neueren linken Regierungen überwiegend klassisch sozialdemokratische Programme, die mal mehr, mal weniger grüne Einflüsse enthalten. Den lateinamerikanischen Eliten gilt jedoch bereits dies als linksradikal. So trat Xiomara Castro in Honduras im Januar dieses Jahres ihr Amt mit dem Versprechen an, die Armut zu bekämpfen und eine sozialere Politik umzusetzen. Im Gegensatz zur rechten Vorgängerregierung stellt sie sich gegen Korruption und das organisierte Verbrechen. Die neue kolumbianische Regierung will Armut und Ungleichheit durch Sozialprogramme bekämpfen, das Renten-, Gesundheits- und Bildungssystem stärken, die Abhängigkeit von Rohstoffen verringern sowie das Steuersystem reformieren. Der ländliche Raum und der Tourismus sollen gefördert, grüne Energieprojekte ausgebaut werden. Zudem will die Regierung durch neue Verhandlungen mit der noch aktiven ELN-Guerilla (Ejército de Liberación Nacional) und eine vollständige Umsetzung des Friedensabkommen mit der ehemals größten Guerilla FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) endlich wirklichen Frieden nach Kolumbien bringen. Das Abkommen von 2016 sieht unter anderem eine Agrarreform vor, die bisher nicht begonnen wurde und auf gehörigen Widerstand seitens der Großgrundbesitzer*innen stoßen dürfte.

Freiheit und Hoffnung Das progressive Verfassungsprojekt war in Chile für viele eng mit der neuen Regierung Boric verknüpft, scheiterte jedoch im Plebiszit (Foto: Ute Löhning)

Während sich die linken Regierungen Anfang des Jahrtausends jahrelang in der Offensive befanden und von Wahlsieg zu Wahlsieg eilten, ist die Lage heute ausdifferenzierter. Mexikos Präsident gilt kaum mehr als linker Hoffnungsträger und darf bei der kommenden Präsidentschaftswahl 2024 nicht noch einmal antreten. Perus schwacher Präsident laviert zwischen moderaten und radikalen Kräften, hat in einem Jahr Amtszeit bereits mehrere Kabinette verschlissen und muss im peruanischen Regierungssystem aufgrund fehlender Mehrheiten im Kongress jederzeit mit der Amtsenthebung rechnen.

Xiomara Castro hat in Honduras viel Gegenwind, weil die korrupte Rechte das Land nicht kampflos aufgibt und noch immer an zentralen Stellen im Staat vertreten ist. In Argentinien könnten bei der kommenden Präsidentschaftswahl wieder die Neoliberalen triumphieren. In Kolumbien sind die strukturell rechten Strukturen und die paramilitärische Gewalt trotz starker sozialer Bewegungen ein explosives Umfeld für die erste progressive Regierung des Landes. Und Lula da Silva hat in Brasilien im Vorfeld der Wahl Bündnisse mit neoliberalen Politiker*innen geknüpft.

Der Bolsonarismus indes würde auch mit einer Niederlage nicht als politische Kraft verschwinden, sondern eine einflussreiche Oppositionskraft darstellen. Nicht nur schnitt Bolsonaro in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen am 2. Oktober besser ab als sämtliche Meinungsforschungsinstitute prognostiziert hatten. Bei den zeitgleich stattfindenden Parlaments- und Regionalwahlen holten seine Anhänger*innen zudem eine beträchtliche Anzahl von Ämtern.

Ablehnung der neuen Verfassung sorgt für herben Rückschlag in Chile

Einen deutlichen Rückschlag musste Anfang September die Linke in Chile hinnehmen, als eine neue, fortschrittliche Verfassung an den Wahlurnen deutlich abgelehnt wurde. Der partizipativ erarbeitete Verfassungsentwurf war stark von sozialen, feministischen und indigenen Bewegungen beeinflusst und hätte vor allem die Rechte der Bevölkerung, den Umweltschutz sowie die wirtschaftliche Rolle des Staates gestärkt. Die Gründe für die Niederlage sind vielfältig. Die Erklärungen reichen von einer rechten Lügenkampagne, über interne Probleme des Verfassungskonvents, der vor allem aus linken und unabhängigen Delegierten bestand, bis hin zu möglicherweise für viele zu weitgehende Änderungen. Ein Verfassungstext allein kann ein Land zwar nicht verändern. Die Beispiele Venezuela, Bolivien und Ecuador zeigen, dass zwischen Verfassungsgrundsätzen und politischer Wirklichkeit mitunter tiefe Gräben klaffen. Aber der Entwurf hätte allen, die sich für ein soziales und ökologisches Chile einsetzen, bedeutende Rechte und Instrumente in die Hand gegeben. In der Verbindung linker Regierungsmehrheiten und sozialer Mobilisierung hätte tatsächlich das Potenzial gelegen, den Neoliberalismus zu überwinden, der Chile seit Jahrzehnten fest im Griff hat. Und dies hätte unweigerlich auch international Symbolwirkung gehabt. Zwar soll es einen zweiten Anlauf für die Abschaffung der alten Verfassung geben, die noch aus Zeiten der Diktatur unter Pinochet stammt. Doch wird der bestehende Entwurf mindestens abgeschwächt und statt von unabhängigen Delegierten wohl von Berufspolitiker*innen und Expert*innen ausgearbeitet werden.

Insgesamt sind mit der aktuellen linken Welle weniger Versprechen auf einen tiefgreifenden Wandel verbunden als zu Anfang des Jahrtausends. Es gibt keine bedeutende überregionale Zusammenarbeit und nicht einmal rhetorisch vielversprechende gemeinsame Projekte. In fast allen Ländern ist die Opposition zudem deutlich stärker als zu Beginn des Jahrtausends. Auch eine mögliche Überwindung des Rohstoffexport-Modells, wie sie in Kolumbien und Chile von Regierungsseite her zumindest thematisiert wird, ist angesichts der weltwirtschaftlichen Lage und des Krieges in der Ukraine unwahrscheinlich. Vorübergehende Verbesserungen für die ärmere Bevölkerung sind dennoch möglich. Und dass sich etwa die Nachbarländer Venezuela und Kolumbien politisch wieder annähern und künftig stärker kooperieren wollen, ist eine positive Entwicklung, die kaum zu unterschätzen ist. Doch darüber hinaus dominiert in dieser zweiten linken Welle bisher überwiegend der Pragmatismus.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier “Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika”. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

// BRUCH NACH 500 JAHREN

Kolumbien erhält am 7. August die erste linke Regierung seiner Geschichte: Dann treten der Ex-Guerillero Gustavo Petro mit seiner afrokolumbianischen Vizepräsidentin Francia Márquez an die Spitze eines Staates und eines Landes, das bisher ungebrochen von der Rechten und der gewalttätigen Rechten kontrolliert wurde. „Der Sieg von Petro und Márquez ist auch das Ergebnis des Kampfes und der Mobilisierung durch die sozialen Bewegungen, insbesondere der afrokolumbianischen und indigenen Bewegungen, die sich seit Beginn des Kolonialismus vor über 500 Jahren zur Wehr gesetzt haben – gegen die rassistische, koloniale und patriarchale Weltordnung.“ Das sagt die afrokolumbianische Wissenschaftlerin Edna Martínez, eine Mitstreiterin von Francia Márquez, im LN-Interview.

Vertreter*innen der sozialen Bewegungen zogen vor der Stichwahl am 19. Juni von Haus zu Haus, um die Menschen von der historischen Chance zu überzeugen. Ihr Argument: Petro ist kein Messias, aber er kann die Weichen für eine sozialere, gerechtere, menschlichere Gesellschaft stellen. Und der Wunsch, einen neuen politischen Kurs einzuschlagen, zeigte sich nicht nur an der höchsten Wahlbeteiligung seit 1998 (57,5 Prozent), sondern auch am Verhalten vieler traditioneller Nichtwähler*innen, die vor Jahrzehnten ihren Glauben an Politik und Institutionen verloren hatten und diesmal, sogar oft zum ersten Mal, wählen gegangen sind.

Seit seiner Wahl ist Petro auf der Suche nach Kompromissen: mit der politischen und ökonomischen Elite des Landes, mit Unternehmer*innen, Großgrundbesitzer*innen und all denjenigen, die über genügend Macht verfügen, um ihm alle möglichen Steine in den Weg legen zu können. Petros Aufgabe ist nicht einfach. Er hat sich bereits mit mehreren führenden Politiker*innen getroffen, unter anderem auch dem Ex-Präsidenten Álvaro Uribe – fraglos einem Kriminellen, aber auch der wichtigste Oppositionsführer –, um im Rahmen seines vorgeschlagenen Acuerdo Nacional gemeinsame Lösungen für die Probleme des Landes zu finden.

Moderat geht Petro auch bei der Besetzung seines Kabinetts vor. Die Fachkompetenz der Mitglieder ist sein Hauptkriterium. Sein Versprechen: ein paritätisches Kabinett. Und er hält Wort. Von den sieben bisher designierten Minister*innen sind vier Frauen.

Der Kurs von Petro steht schon vor der Amtseinführung: Im Land sollen Räume geschaffen werden, um den versprochenen Wandel in Taten umzusetzen. Dem erwartbaren Widerstand der Rechten gegen notwendige Reformen wie die Agrarreform, einer Reform der Streitkräfte und einer Neuausrichtung der Umwelt- und Drogenpolitik soll schon vorab der Wind aus den Segeln genommen werden. Es sind genau diese Themen, die im Bericht der Wahrheitskommission vordringlich erwähnt wurden, der am 28. Juni in Bogotá und am 6. Juli in Berlin der Öffentlichkeit präsentiert wurde.

Derweil steht eine Überarbeitung der deutsch-kolumbianischen Beziehungen an. Im Deutschen Bundestag wurde zwar Anfang Juli erneut beschlossen, den Friedensprozess in Kolumbien stärker zu unterstützen, doch konkrete Verantwortlichkeiten blieben ausgespart. Das gilt auch für einen weiteren Konfliktpunkt: Die deutsche Bundesregierung möchte weiterhin mehr kolumbianische Kohle importieren, um den Verzicht auf russische Kohle zu kompensieren. Die Regierung von Petro hingegen möchte einen neuen Kurs in der Umweltpolitik einschlagen und sukzessive von einer „extraktivistischen“ auf eine produktive Umweltpolitik umsteigen, bei der keine natürlichen Ressourcen ausgebeutet werden. Und kurzfristig sollen die Rohstoffe nicht zu Schleuderpreisen verkauft werden, sondern zu Preisen, die Raum für soziale Umverteilung schaffen. Fraglich, ob diese Pläne beim rohstoffarmen Deutschland auf Gegenliebe stoßen. Nicht nur in Kolumbien, auch in Deutschland sind die sozialen Bewegungen gefordert, damit es mit einer sozial-ökologischen Erneuerung endlich vorangeht.

„SO MÄCHTIG WIE DIE TRADITIONELLE OLIGARCHIE”

Wie ist das Verhältnis zwischen Nayib Bukele und seiner ehemaligen Partei FMLN?
Die Beziehung zwischen Nayib Bukele und seiner ehemaligen Partei ist angespannt. Er wird nicht müde, die FMLN als Partei von Korrupten zu bezeichnen: Sie sei eine Verbündete der ultrarechten ARENA-Partei und der Bürgerkrieg vor allem ein Geschäft gewesen. Seit seinem Rauswurf ist es Bukeles Ziel, die FMLN zu zerstören.

Seit der Entlassung des Generalstaatsanwalts und der Ernennung neuer Richter Anfang Mai wird kritisiert, dass es keine Gewaltenteilung mehr gebe. Ist El Salvador bereits eine Diktatur?
Ich würde nicht sagen, dass wir eine Diktatur haben, sondern eine Regierung mit diktatorischen Tendenzen. Wir sind noch nicht in einem Staat, in dem der Opposition jeder Raum genommen wird, Parteien verboten, Menschen ins Exil oder ins Gefängnis getrieben würden und es keine Freiheiten mehr gäbe. Das wäre eine Diktatur. Aber es geht in die Richtung. Bukele hat von der Bevölkerung die Mehrheit im Parlament bekommen – das ist legitim. Er ist der gewählte Präsident. Aber die Art wie er die Justiz kontrollieren will, wie er mehrere der Obersten Richter entlassen hat, das ist illegal! Bukele braucht die Kontrolle über die Staatsanwaltschaft und das Verfassungsgericht. Über die Staatsanwaltschaft, damit diese Straftaten wie Korruption nicht untersuchen kann, sondern besser seine politischen Gegner verfolgt. Und über das Verfassungsgericht, damit dieses alle illegalen Maßnahmen genehmigt. Und er braucht die Kontrolle über den Rechnungshof, weil der aktuelle von ihm ständig Rechenschaft fordert.

Er will auch die Menschenrechtskommission kontrollieren und den Ombudsmann durch einen ersetzen, der bescheinigt, dass der Staat die Menschenrechte einhält. Und er will die Generalstaatsanwältin durch eine Person ersetzen, die ihm nützlich ist.
Er könnte zudem versuchen, die Oberste Wahlbehörde vorzeitig neu zu besetzen, die eigentlich bis 2024 gewählt ist. Er hat zwar die Mehrheit im Parlament, doch um die Obersten Vertreter der genannten Institutionen zu schassen, müsste er ihnen Verfehlungen nachweisen und das kann er nicht. Deswegen braucht er den Oberstaatsanwalt, damit dieser mal ein paar Ermittlungen startet.

Begünstigt das Sondergesetz zum Umgang mit der Pandemie die Korruption?
Das Gesetz über medizinische Produkte und Behandlungen in Ausnahmesituationen der öffentlichen Gesundheit, wie sie durch Covid-19 verursacht wurden, dient der Straflosigkeit für Beamte und Unternehmen im Gesundheitssektor und der Privatisierung öffentlicher Güter. Das Gesetz besagt, dass Personen und Körperschaften im Gesundheitssektor Immunität gegenüber gerichtlicher oder administrativer Klagen und Forderungen genießen. Sie sind von zivilrechtlicher, strafrechtlicher oder kommerzieller Verantwortung ebenso freigestellt, wie von Schadensersatzansprüchen, die sich aus Gesundheitsprodukten oder -dienstleistungen ergeben. Das bedeutet: In allen Korruptionsfällen, die sich im Gesundheitsministerium bereits ereignet haben oder für die es Indizien gibt, wird nicht weiter ermittelt. Der abgesetzte Oberstaatsanwalt hat 17 öffentliche Institutionen durchsuchen lassen, weil es Hinweise auf Veruntreuung gab. Das hat der neue Staatsanwalt bereits gestoppt, das neue Gesetz kommt noch obendrauf, weil es rückwirkend gültig ist. Außerdem kann das Gesetz noch viel weiter gehen, weil Bukele nun ständig sagen kann, dass wir uns wegen der Pandemie bis zum Ende der Wahlperiode im dauerhaften Gesundheitsnotstand befinden.

Was sind weitere Gefahren des Gesetzes?
Dazu kommt, dass der Staat mit diesem Gesetz das Recht verliert, zu pfänden. Ein Artikel des Gesetzes sagt, dass ein Unternehmer oder Unternehmen öffentlichen Besitz pfänden darf, wenn der Staat Forderungen nicht erfüllt. Das bedeutet: Beamte und Minister können nicht zur Rechenschaft gezogen werden, der Staat aber schon. Das kann zur Privatisierung von Teilen des Gesundheitswesens führen: Von Krankenwagen, Krankenhäusern – alles kann durch diesen Artikel gepfändet werden.

Außerdem muss der Staat pünktlich zahlen! Wenn das Gesundheitsministerium aus irgendeinem Grund nicht pünktlich zahlt, dann müssen andere Ministerien Geld zuschießen. Das begünstigt ausschließlich die Unternehmen – und die Familie Bukele besitzt zwei Gesundheitsunternehmen. Diese machen der Oligarchie den Markt in der chemischen und pharmazeutischen Industrie streitig. Weiterhin gibt es eine Schadensersatzklausel nach der das Gesundheitsministerium die Verteidigung von Unternehmen übernimmt gegen die Schadensersatzansprüche erhoben werden. Wenn es also Probleme mit einer Lieferung gibt, zahlt nicht der Lieferant, sondern der Staat. Der Staat darf so etwas gar nicht akzeptieren. Dieses Gesetz ist verfassungswidrig! Aber wenn gegen das Gesetz vor dem Obersten Verfassungsgericht Beschwerde eingereicht werden sollte, dann wird es das (von Bukele neu besetzte, Anm. der Red.) Gericht für verfassungskonform erklären.

Worin besteht die Wirtschaftspolitik von Bukele?
Bukele verhandelt mit dem IWF über ein Dreijahresprogramm: Ausgaben reduzieren, Einnahmen steigern. Um die Ausgaben zu reduzieren, müssten Sozialprogramme gekürzt werden, die Preise würden steigen. Das macht Bukele Angst nachdem was in Kolumbien gerade passiert. Aber auch weil er wegen der Entlassung des Generalstaatsanwalts in der nationalen und internationalen Kritik steht. Er will also einen Kredit, aber nicht unter den Vorgaben einer Steuererhöhung. Durch die IWF-Programme werden öffentliche Ausgaben gekürzt und die Bevölkerung wird durch Steuererhöhungen betroffen. Am Ende wächst die Wirtschaft langsamer, Investitionen bleiben aus, die Preise steigen und es können nicht die Arbeitsplätze zurückgewonnen werden, die im letzten Jahr durch die Pandemie verloren gegangen sind.

Was ist das derzeitige Verhältnis der USA zu Bukele?
Sie haben einen Emissär geschickt, der ihm ausrichten sollte, seine Sache gut zu machen und sich gut zu benehmen: Du bist der den wir haben wollen, weil du die Linke zerstören kannst. Aber mach’ die Sachen korrekt: keine Rechtsverstöße – das würde die Sache für uns vor dem Kongress und der öffentlichen Meinung in den USA schwierig machen, unsere Unterstützung für deine Regierung zu rechtfertigen.

Die USA werden akzeptieren, dass Bukele seine Entscheidungen bezüglich der Gerichte nicht zurücknehmen wird. Sie könnten ihn mit einer kleinen Sanktion belegen um den Schein zu wahren. Aber die US-Regierung unterstützt Bukele. Doch was er macht, beunruhigt die USA auch. Denn wenn er es zu weit treibt, dann ist das wie Sauerstoff für die FMLN.

Es gibt hier keinen Rechtsruck in der Bevölkerung. Das Phänomen Bukele ist das Resultat eines internen Konflikts der FMLN. Und die Leute glauben, dass Bukele ein linkes Projekt hat. Wenn er diese Erwartungen nicht erfüllt, schafft das die Bedingungen für einen Wiederaufstieg der Linken, sei es der FMLN oder ein anderes linkes Projekt. Die sozialen Bewegungen in El Salvador sind ohnehin der Regierung gegenüber kritisch eingestellt. Das mag den USA Sorgen bereiten, aber sie werden Bukele mit Sicherheit nicht destabilisieren. Er wird daher auch beim Thema Migration keine Probleme mit den USA bekommen. Sie werden allenfalls darauf bestehen, dass der legale Rahmen respektiert wird.

Was sind die Ziele von Nayib Bukele?
Die Familie Bukele und mit ihr befreundete Unternehmer bilden etwas, das wir „Unternehmerclan“ nennen. Dazu gehören Hotelbesitzer, Besitzer von Fernsehkanälen, Baufirmen. Diese Unternehmer gehören aber nicht zur salvadorianischen Oligarchie – diese traditionell mächtigen Familien dominieren die Wirtschaft in allen Bereichen. Bukele spielt nicht auf diesem Niveau. Sein Unternehmerclan hat zwei Ziele: Er will die FMLN als linkes Projekt fertigmachen und er will selbst zur Oligarchie aufschließen.

Beim ersten Ziel unterstützt ihn die Oligarchie. Beim Zweiten gibt es jedoch Widerstand. Viele mächtige Oligarchen wollen nicht, dass Bukele zu reich wird. Auch wenn sie es gut finden, wenn er die FMLN vernichtet, so kann er doch in seiner Präsidentschaft ungeheure Reichtümer anhäufen und der Oligarchie Konkurrenz machen.

Um das zu erreichen, will Bukele öffentliche Unternehmen privatisieren, das heißt günstig an seine Unternehmerclique verkaufen: staatliche Kreditinstitute, Energieunternehmen, das nationale Radio, den Flughafen, die Häfen. Zweitens: öffentliche Ausschreibungen. Hier soll alles so intransparent gestaltet werden, dass die Öffentlichkeit zum Beispiel nicht mehr erfährt, wer eine Ausschreibung mit welchem Angebot verloren hat. Da geht es um viele Milliarden Dollar. Und die landen alle in dieser Unternehmerclique, wenn der Staat dann von ihnen kauft. Dann die Wirtschaftsförderung, die Unternehmen zu Gute kommt. Steuererleichterungen, z.B. Importsteuern auf Produkte, mit denen Bukele Geschäfte macht. Und dazu kommt natürlich noch die Korruption. Das muss nicht alles so kommen, ich sage nur, was er machen kann. Und wenn er es dann noch schafft, sich entgegen der Verfassung erneut als Präsidentschaftskandidat aufstellen zu lassen oder wenn ein anderer aus seinem Clan der nächste Präsident wird, kann der Clan durchaus so mächtig werden wie die traditionelle Oligarchie.

KONSEQUENZLOSE BESORGNIS

G20 Gipfel in Japan 2019 Pressekonferent zum EU-Mercosur-Abkommen, Foto: Pálacio do Planalto via Flickr (CC BY 2.0)

Nein, Jair Bolsonaro hat in Deutschland wirklich keine gute Presse. Der brasilianische Präsident gilt als Tropentrump, als Zündler am Amazonaswald und obskurer Waffenfanatiker. Seit den wiederholten Bränden im Regenwald sind auch verharmlosende Stimmen, nach dem Motto „Alles wird nicht so heiß gegessen…“, weitgehend verstummt. Aber hat das auch Konsequenzen? Wie mit dem Brasilien Bolsonaros umgehen? Diese Frage muss sich sowohl die deutsche Wirtschaft wie die Entwicklungszusammenarbeit (EZ) stellen. Denn Brasilien ist nichts weniger als strategischer Partner, für das BMZ gilt Brasilien als „globaler Entwicklungspartner“ und „Gestaltungsmacht“.

Schaut man auf die Zahlen, hat sich nicht viel verändert. Zwar sind die Exporte aus Brasilien in die EU und nach Deutschland leicht zurückgegangen. Dafür haben sich aber die Importe aus der EU und Deutschland erhöht. Nach wie vor bleibt Brasilien der wichtigste Wirtschaftspartner in Lateinamerika und der Bundesverband der deutschen Industrie betont: „Heute sind in Brasilien über 1.600 deutsche Unternehmen aktiv. Sie erwirtschaften ca. zehn Prozent der industriellen Wertschöpfung. Allein in São Paulo befinden sich über 800 deutsche Unternehmen, die mehr als 250.000 Arbeitsplätze geschaffen haben. São Paulo ist damit der größte deutsche Industriestandort außerhalb Deutschlands.“

Bekannt ist inzwischen, dass Vertreter*innen der deutschen Industrie den Wahlsieg Bolsonaros geradezu enthusiastisch begrüßten. Die Töne sind leiser geworden, aber grundsätzlich hat sich nichts geändert. Das wurde auf den Deutsch-Brasilianischen Wirtschaftstagen, die im September 2019 in Natal stattfanden, nur allzu deutlich. Dort erklärte der VW-Vertreter Andreas Renschler: „Die Agenda von Brasiliens Wirtschaftsminister Paulo Guedes scheint in die richtige Richtung zu gehen: Dringend benötigte Reformen wie im Rentensystem werden angegangen, die Infrastruktur soll modernisiert, der Markt sukzessive geöffnet und der Staat entbürokratisiert werden. All das fordern wir als deutsche Wirtschaft seit Jahrzehnten. Wenn mehr Marktwirtschaft gewagt wird, kann nachhaltiges Wachstum entstehen. Davon werden nicht nur die deutschen Unternehmen profitieren, sondern auch die Brasilianer selbst.“ Damit wird ein Grundsatz in der Bewertung durch die deutsche Wirtschaft zum Ausdruck gebracht: Die Absetzung der neoliberalen Wirtschaftspolitik als „vernünftig“ von den Verrücktheiten des Präsidenten.

Die Bundesregierung hält am EU-Mercosur-Abkommen fest

Einen bemerkenswerten Auftritt auf der Tagung hatte übrigens Eduardo Bolsonaro, einer der Söhne des Präsidenten, als er verkündete: „Die besten Pistolen stellt nun mal Deutschland her.“ Man kann sich vorstellen, wie die Wirtschaftsbosse zusammenzuckten. Denn über Waffengeschäfte redet man so nicht, gedeihen sie doch am besten außerhalb der Scheinwerfer der Öffentlichkeit. Und da gibt es keinen Grund zu klagen. Im März 2020 erhielt ThyssenKrupp Marine Systems (TKMS) den Zuschlag für vier Korvetten für die brasilianische Marine. Wert des Deals: 1,8 Milliarden Euro.

Die schlechten Meldungen aus Brasilien mögen für die Wirtschaft zwar ein Imageproblem schaffen, haben aber den Beziehungen bisher nicht geschadet. Vor diesem Hintergrund muss wohl die überraschende Unterzeichnung des EU-Mercosur-Abkommens im Jahre 2019 gesehen werden. Weder die EU noch die Bundesregierung schreckten davor zurück, mit der Regierung Bolsonaros das Abkommen auszuhandeln. Seitdem ist das EU-Mercosur-Abkommen in die Kritik geraten und Kampagnen dagegen zeigen Wirkung.

Dennoch hält die Bundesregierung an dem Abkommen fest, wie in der Antwort auf eine Anfrage von Mitgliedern der Grünen-Bundestagsfraktion im September 2020 deutlich wird: „Die Bundesregierung unterstützt Geist und Intention des EU-MERCOSUR-Abkommens weiterhin, da es nach ihrer Ansicht aufgrund seiner politischen Bedeutung, seiner wirtschaftlichen Relevanz und auch seiner verbindlichen Nachhaltigkeitsbestimmungen mit entsprechenden Überprüfungs-, Beschwerde- und Reaktionsmechanismen – unter anderem zur wirksamen Umsetzung des Pariser Klimaabkommens, zur nachhaltigen Forstwirtschaft und zum Vorgehen gegen illegale Entwaldung – grundsätzlich im Interesse Deutschlands und der EU ist.“ Zwar räumt sie danach ihre Besorgnis wegen des Amazonas ein – aber was muss denn noch passieren, damit Besorgnis Konsequenzen hat?

Solch konsequenzenlose Besorgnis ist das Leitmotiv. Die Regierung kann schlecht behaupten, dass ihr nicht bekannt sei, was in den Medien mit Quellen dokumentiert ist. Aber symptomatisch ist, wie auf die Frage nach der Gefährdung der Demokratie geantwortet wird: „Die Föderative Republik Brasilien verfügt über ein mit zahlreichen Kompetenzen ausgestattetes Parlament, aufgeteilt in Abgeordnetenhaus und Senat, sowie über eine unabhängige Justiz. Derzeit bestehen aus Sicht der Bundesregierung keine Gründe, an der Funktionsfähigkeit der Gewaltenteilung zu zweifeln.“

Aber die Frage zielte gar nicht auf die Gewaltenteilung ab, die Regierung drückt sich vor der Antwort. Noch klarer wird das beim nächsten Punkt der Anfrage: „Kennt und wie bewertet die Bundesregierung Analysen, in denen Expertinnen und Experten die zunehmende Gefahr einer Außerkraftsetzung demokratisch-parlamentarischer Rechte sowie eine Militarisierung von Politik und Gesellschaft in Brasilien diagnostizieren?“
Antwort: „Die Bundesregierung nimmt Analysen Dritter zur Kenntnis.“ Dabei war doch ausdrücklich auch nach der Bewertung gefragt.

In vielen Teilen zeugt das Dokument von Chuzpe, die Fragen einfach zu ignorieren oder nur teilweise zu beantworten. Aber das hat wohl System. Deutlich wird auch, dass die Bundesregierung auch an der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) mit Brasilien festhalten will. Hier wird es nun aber brenzlig. Denn Schwerpunkt der EZ mit Brasilien war und ist der Umweltbereich und insbesondere der Schutz Amazoniens. Es ist aber nicht zu leugnen, dass unter Umweltminister Ricardo Salles eine systematische Demontage des Umweltbereichs stattgefunden hat. Das betraf auch die internationale Kooperation direkt: Einseitig hat Salles den milliardenschweren Amazonasfonds suspendiert, nur bereits bewilligte Projekte werden noch weitergeführt. Verbunden ist dies mit verbalen Ausfällen gegen NGOs, die wichtige Partnerinnen des Amazonasfonds und der internationalen Kooperation waren und sind. Bolsonaro bezeichnete diese jüngst als Krebsgeschwür.

Brasilien bleibt Deutschlands wichtigster Wirtschaftspartner in Lateinamerika

Hier helfen nun auch Verharmlosungen nicht mehr weiter, mit diesem Umweltministerium ist keine Kooperation möglich. Stattdessen baut die Bundesregierung die Kooperation mit einzelnen Bundesstaaten und mit dem Agrarministerium aus. Letzteres ist besonders bedenklich. Das Agrarministerium ist in Brasilien eindeutig die Interessenvertretung des Agrobusiness und wird von einer Vertreterin desselben, Tereza Cristina, geleitet.

Mit selbiger Tereza Cristina hat nun die deutsche Landwirtschaftsminsterin Julia Klöckner die Einrichtung des Kooperationsvorhabens Deutsch-Brasilianischer Agrarpolitischer Dialog (APO) vereinbart. Das Treffen dazu fand während der Grünen Woche 2020 in Berlin statt. „Die Landwirtschaftssektoren von Brasilien und Deutschland rücken näher zusammen“, kommentierte die brasilianische Presse. Diesem neuen Honeymoon mit dem brasilianischen Agrobusiness liegt eine strategische Bewertung zugrunde: Dass nämlich so verantwortlichere, nachhaltigere Methoden der Landwirtschaft zu fördern seien. Das Agrobusiness nachhaltiger zu gestalten, scheint die Absicht zu sein, nachhaltige Lieferketten und auch Bioökonomie sind die Schlagwörter. Hier wird aber völlig von der politischen Bedeutung des Agrobusiness abstrahiert. Es ist ein treuer Unterstützer der Regierung Bolsonaro und profitiert letztendlich vom Abbau der Umweltgesetzgebung in Brasilien. Jenseits der Sinnhaftigkeit einzelner Projekte – diese Kooperation ist politisch ein fatales Signal, nur vergleichbar mit einem Projekt zum Müllrecycling mit der Mafia.

Aber was tun? Die Forderung, unter den gegebenen Umständen den EU-Mercosur-Vertrag nicht zu ratifizieren, ist in der Zivilgesellschaft weitgehend Konsens. Sie zielt auch anders als etwa offene Briefe von Investor*innen, mit der Aufforderung die Entwaldung in Amazonien zu stoppen, auf klare Konsequenzen ab. Tatsächlich wäre die Nicht-Ratifizierung ein deutliches und wahrnehmbares Signal.

Aber eine Forderung, die gesamte Entwicklungszusammenarbeit mit Brasilien einzustellen, ist es nicht – das wird auch von der brasilianischen Zivilgesellschaft nicht gefordert. Immer noch besteht die Hoffnung, dass über existierende Programme auch Sinnvolles gefördert werden kann und etwa der Amazonasfonds wiederbelebt werden könnte – und damit auch die Unterstützung indigener Völker. Auch schließt die Förderung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Gelder für die kirchlichen Hilfswerke, die politischen Stiftungen und zahlreiche NGOs ein, die mit der brasilianischen Zivilgesellschaft zusammenarbeiten. Diese Förderung will, gerade in finsteren Zeiten, niemand einstellen. Die Frage ist eher, inwiefern Unterstützung der brasilianischen Zivilgesellschaft in Zukunft überhaupt noch möglich sein wird. Die Meldungen über bürokratische Hürden und Schikanen häufen sich. Eine Forderung könnte deshalb sein, unter der Präsidentschaft Bolsonaro keine weiteren Kooperationen mit der brasilianischen Bundesregierung und insbesondere nicht mit dem brasilianischen Agrarministerium einzugehen.

CORONA VERSCHÄRFT DIE VERSORGUNGSLAGE

Disziplinierte Kubaner*innen Maskenpflicht und Abstandsregel werden locker eingehalten (Foto: Andreas Knobloch)

Kuba kehrt langsam zur neuen Normalität zurück. Im ganzen Land werden die Corona-Beschränkungen nach und nach gelockert. Der Fahrplan der Regierung sieht eine „graduelle und asymmetrische“ Rückkehr in drei Phasen vor. Im Gegensatz zu vielen Ländern der Region hat Kuba das Coronavirus gut unter Kontrolle bekommen. Bis zum 14. Juli meldet das kubanische Gesundheitsministerium (MINSAP) nur noch 68 aktive Coronafälle auf der Insel. Insgesamt infizierten sich 2.446 Menschen mit Sars-CoV-2; 87 starben bisher an den Folgen einer Infektion.

Die kubanische Regierung hatte frühzeitig reagiert. Das öffentliche Leben wurde nach den ersten bekannten Fällen Mitte März weitgehend heruntergefahren. Restaurants, Kinos, Theater, Schulen wurden geschlossen, der öffentliche Nahverkehr landesweit eingestellt; selbst private Taxis durften nicht mehr zirkulieren. Zudem schloss Kuba Anfang April seinen Luftraum. Es bestand keine obligatorische Ausgangssperre, die Menschen aber waren angehalten, zu Hause zu bleiben, Abstand zu halten. In der Öffentlichkeit herrscht Maskenpflicht.

Aufgrund seiner politischen und wirtschaftlichen Struktur kann Kuba Einschränkungen des öffentlichen Lebens direkter durchsetzen als das in Deutschland möglich ist. Von Anfang an wurde versucht, die Bevölkerung mitzunehmen. Beinahe täglich gaben diverse Minister*innen oder der Präsident selbst dem Fernsehpublikum Auskunft über die Corona-Maßnahmen der Regierung. Zudem präsentiert jeden Morgen Kubas Chef-Virologe, Dr. Francisco Durán, die neuesten Fallzahlen.

„Es gibt viel Transparenz. Da wird nichts verborgen“, sagt der Schreiner Gerardo Bauza* aus Centro Habana. Seine Tochter, die im Gesundheitswesen arbeitet, bestätige diesen Eindruck. „Es gibt ein Detail im Kampf gegen diese Pandemie, das mir sehr gefällt: Die Ärzte, die von Tür zu Tür gehen und fragen, ob es jemanden mit Fieber oder Husten gibt. Ein Kümmern der Regierung wie hier habe ich in anderen Teilen der Welt nicht gesehen.“ In Kuba werde jede*r mit Symptomen mitgenommen, getestet, und wenn der Test positiv ausfällt, werde sich um ihn oder sie gekümmert. „Mit dem wenigen, was wir haben, haben wir diesen Kampf bisher gewonnen und werden ihn weiter gewinnen.“

Tatsächlich ist der Schlüssel zu Kubas erfolgreicher Strategie bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie das frühzeitige Aufspüren von Corona-Infizierten und die Isolierung der Kontaktpersonen durch Gesundheitspersonal und Medizin­student*innen, die von Tür zu Tür gehen. Tausende Patient*innen, Verdachtsfälle, enge Kontakte und gefährdete Personen wurden in Krankenhäuser eingewiesen oder in provisorischen Einrichtungen unter Quarantäne gestellt. Mehr als die Hälfte aller positiven Tests lieferten asymptomatisch Infizierte.

Kubas Gesundheitssystem hat heute in vielen Bereichen mit Problemen zu kämpfen, aber es ist flächendeckend in der Versorgung. Zudem hat es Erfahrung mit der Bekämpfung von Epidemien, wie Dengue oder Zika. Kubanische Ärzt*innen waren zudem gegen Krankheiten wie Cholera in Haiti oder Ebola in Westafrika im Einsatz. Erfahrungen, die Kuba heute zugute kommen.

„Die Regierung hat gut reagiert, aber die Beschränkungen dauern nun schon viel zu lange“, sagt Yolanda Reyes Peña. Die 24-Jährige, die mit ihrer Mutter und dem älteren Bruder in Havanna wohnt, arbeitete vor Corona als Maniküristin in einem privaten Nagelstudio. Anfangs nahm sie den Lockdown als willkommene Pause, lebte von ihren Ersparnissen. Aber „die Sorge zu erkranken nimmt ab. Jetzt ist die größere Sorge: „Wann kann ich wieder anfangen zu arbeiten? Wie wird mein Verdienst sein? Das Schlimmste ist die Ungewissheit.“

„Die kubanische Wirtschaft hatte bereits vor Corona erhebliche Probleme, vor allem ihren externen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen“, sagt der Ökonom Ricardo Torres Pérez vom Studienzentrum der kubanischen Wirtschaft (CEEC) an der Universität von Havanna. „Die Pandemie trifft wichtige Sektoren, wie den Tourismus, aber auch die Geldüberweisungen aus dem Ausland.“ Hinzu komme die US-Blockade, so Torres.

Vor allem der Einbruch des Tourismus setzt der ohnehin kriselnden Wirtschaft zu. „Für Kuba ist der Tourismus eine der wichtigsten Einnahmequellen“, weiß Yedi López-Cotarelo. Der 47-Jährige arbeitet selbst seit zwölf Jahren als Touristenführer. Seine in erster Linie italienisch- oder englischsprachigen Kund*innen führt er durch Havanna oder fährt mit ihnen nach Viñales oder Trinidad. „Seit Kuba seine Grenzen geschlossen hat, habe ich nicht mehr gearbeitet. Aktuell habe ich keine andere Einnahmequelle.“ Wie Reyes lebt auch er vom Ersparten.

Doch der Tourismus ernährt nicht nur die direkt in der Reisebranche Beschäftigten. „Selbst ich, ein einfacher Handwerker, profitiere vom Tourismus“, sagt Bauza. „Denn meine Sachen wurden auch von Touristen gekauft. Jetzt, ohne Tourismus, verkaufe ich nichts.“ Seit Beginn der Pandemie lebt der 58-Jährige mit seiner vierköpfigen Familie vom Ärztinnengehalt der Tochter.

Reyes wiederum hat Probleme, Pflegeprodukte und Utensilien für ihre Arbeit zu beziehen, seit die Flughäfen geschlossen sind. „In den Läden gibt es nichts. Alles ist importiert. Aber nicht durch den Staat, sondern durch Privatpersonen, die die Produkte aus anderen Ländern mitbringen und hier verkaufen.“ Wenn man etwas finde, seien die Preise unverhältnismäßig hoch.

Derweil spitzt sich die bereits vor Corona schwierige Versorgungslage weiter zu. „Die kubanische Bevölkerung erlebt die Auswirkungen in Form von Mangel von Gebrauchsgütern aller Art, im Moment selbst bei Grundprodukten wie Medikamenten und Lebensmitteln. Wir sind noch nicht in einer Situation wie Anfang der 1990er Jahre, aber es gibt offensichtlich eine sehr komplexe wirtschaftliche Situation“, erklärt Torres.

„Wir Kubaner haben praktisch die gesamte Epidemie in Warteschlangen verbracht“, sagt López-Cotarelo. Drei-, viermal die Woche stehe er stundenlang für Hühnchen, Zahnpasta, Speiseöl oder Hackfleisch an. Ein Problem, das auch Bauza kennt. Sieben, acht Stunden habe er zum Teil für bestimmte Produkte angestanden, erzählt er. Die langen Schlangen vor den Geschäften gelten als Hauptproblem für mögliche Neu-Ansteckungen. Um sich und ihre Mutter dieser Gefahr nicht auszusetzen, kauft Reyes „bei Weiterverkäufern“, wie sie sagt. „Die verkaufen aber alles zwei- bis drei Mal so teuer wie im Laden.“

Die libreta ist zu einem Symbol für Kubas Krisenstrategie geworden

In der Versorgungskrise gewinnt daher ein Instrument an Bedeutung, dessen Abschaffung bereits diskutiert wurde: die libreta, das Bezugsheft für Güter des täglichen Bedarfs. Der Karibikstaat kann nicht mal eben milliardenschwere Staatshilfen auflegen; da sind die Rationierungsheftchen ein Weg, die angesichts der Versorgungsengpässe knappen Ressourcen gleichmäßig zu verteilen.

„Ich bin mit der libreta aufgewachsen. Heute, mit meinen 58 Jahren, applaudiere ich ihr“, sagt Bauza. „Denn jetzt ist mir klar geworden wie nötig und wie gerecht die libreta ist. Jeder erhält eine bestimmte Menge Reis, Bohnen, Speiseöl, Kaffee, Hühnchen. Alles ist kontrolliert. Gesegnet sei die libreta!“ Das sieht López-Cotarelo ähnlich: „Die libreta hilft allen Familien in Kuba. In gewisser Weise ist es eine Erleichterung zu wissen, dass es mit der libreta eine Reihe subventionierter Produkte gibt.“ Aber sie reiche gerade einmal für den halben Monat.

Die libreta ist zu einem Symbol für Kubas Krisenstrategie geworden. Allerdings werde die Regierung nicht alles, was knapp ist, in die libreta aufnehmen, sagt der Ökonom Torres. Vielmehr handele es sich um temporäre und flexible Rationierungsmaßnahmen. „Die Vorstellung der Regierung ist es, die libreta als Verteilungs- mechanismus nicht auszuweiten.“ Vielmehr müsse sie durch einen Mechanismus ersetzt werden, der die Einkommensunterschiede in Rechnung stellt. „Es ist sehr ineffizient, allen dieselbe Menge von allem zukommen zu lassen.“

Die Überarbeitung der Mechanismen der libreta ist derzeit nicht die wichtigste Baustelle. Expert*innen erwarten für dieses Jahr einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts zwischen fünf und acht Prozent. Angesichts der wirtschaftlichen Krise ist für Torres „klar, dass die Regierung agieren muss“. Als mögliche Maßnahmen nennt er eine Flexibilisierung des Privatsektors, um die Binnenwirtschaft zu dynamisieren, sowie „Maßnahmen, um den Mangel zu reduzieren“. Dazu zählt er eine Flexibilisierung der Importe und die Maximierung der landwirtschaftlichen Produktion. Angesichts des Devisenmangels wird der Prozess der Dollarisierung fortgesetzt werden, ist sich der Ökonom sicher. Das heißt, das Angebot an Produkten und Dienstleistungen gegen Kartenzahlung in Fremdwährung wird ausgeweitet. Der Einbruch beim Tourismus und den Geldüberweisungen von Auslandskubaner*innen werde „eher eine Verschärfung der wirtschaftlichen Probleme“ bringen. Hinzu kämen weitere Sanktionen der Trump-Administration und die schlechte wirtschaftliche Situation in Venezuela, „womit alles bereitet ist“, so Torres, „dass die kubanische Wirtschaft eine noch unruhigere zweite Jahreshälfte erlebt.“

Nach den Vorstellungen der Regierung wird es keine abrupte Öffnung des Tourismus geben. In der ersten Phase soll zunächst der nationale Tourismus wieder aufgenommen werden. Seit Anfang Juli können auch ausländische Gäste wieder Urlaub auf Kuba machen, jedoch nur auf den Cayos (Inseln) im Norden und Süden des Landes – unter Einhaltung eines strikten Hygieneprotokolls. Auch die Flughäfen bleiben bis mindestens 1. August für kommerzielle Flüge geschlossen.

„Es wird ein sehr kontrollierter Tourismus sein, der direkt ins Hotel geht, um den Strand zu genießen, also niemand, der herumläuft und Kunsthandwerk oder Souvenirs kauft. Ich werde davon also nichts haben“, glaubt Bauza und blickt skeptisch auf die kommenden Monate. Auch López-Cotarelo ist nicht sehr zuversichtlich. „Ich werde mir wohl etwas anderes suchen müssen, denn für den Moment kann man vom internationalen Tourismus nicht leben.“

*Name geändert

DER MATE KREIST NICHT MEHR

Das Gedenken an die Verschwundenen der Militärdiktatur fand dieses Jahr auf den Balkonen, nicht auf der Plaza de Mayo statt. Foto: Andrea López Castaño

So voll wie sie am 9. März war, wird die Avenida de Mayo so bald nicht mehr sein: Auf der Strecke zwischen dem Regierungsgebäude Casa Rosada, der Plaza de Mayo und dem Kongressgebäude im Herzen von Buenos Aires versammelten sich Zehntausende Menschen, vorwiegend junge Frauen, um den Parlamentarier*innen ihr großes Anliegen für 2020 nahe zu bringen: legale, sichere und kostenlose Abtreibung. Die Chancen dafür stehen 2020 besser denn je, denn auch der seit Dezember 2019 amtierende Präsident Alberto Fernández hat sich mehrfach dafür stark gemacht. Doch der für Mitte März von ihm angekündigte Gesetzesvorschlag lässt auf sich warten – das Coronavirus machte einen Strich durch die Planung. Die Bekämpfung der Pandemie wurde zur Chefsache erklärt, alles andere muss warten, ob die Legalisierung der Abtreibung oder die Umschuldung der 311 Milliarden Dollar Staatsschulden, die bis zum 31. März in Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds über die Bühne gebracht werden sollte.

Am 24. März war die Plaza de Mayo quasi menschenleer – zum ersten Mal seit 1986. Damals hatten die Mütter der Plaza de Mayo um die heutige Präsidentin der Organisation, Hebe de Bonafini, erstmals öffentlich am Jahrestag des Putsches einen Gedenkmarsch für die 30.000 Ermordeten und Verschwundenen der zivil-militärischen Diktatur (1976-83) organisiert. Seit 2002 ist der 24. März sogar ein gesetzlich verankerter Feiertag: Der Nationale Gedenktag für Wahrheit und Gerechtigkeit. Dieses Jahr jedoch war der 24. März bereits der fünfte Tag der neu verhängten Ausgangssperre. Damit war klar, dass es nicht zu den Massenkundgebungen kommen konnte, wie sie seit Jahren am 24. März stattfinden und deren Beteiligung sich längst weit über die ursprünglichen Menschenrechtsbewegungen hinaus erstreckt. Stattdessen ging das Erinnern viral: Unter dem Hashtag #PañuelosConMemoria finden sich unzählige Fotos von mit den für die Mütter der Plaza de Mayo typischen weißen Kopftüchern geschmückten Balkonen und unter #ProyectamosMemoria Videos, die Wahrheit und Gerechtigkeit fordern und an die 30.000 Ermordeten und Verschwundenen erinnern.

In ihrem im Internet veröffentlichten Video erklärten Vertreter*innen verschiedener Menschenrechtsorganisationen: „Wir befinden uns nicht auf den Straßen wie an jedem 24. März, aber wir sind vereint, um vorwärts zu gehen und die Fahne der Solidarität zu hissen. Diesen 24. März treffen wir uns in unseren Häusern. Doch von welchem Ort auch immer, der Kampf hört nicht auf.“

Zum ersten Mal seit 1986 ist die Plaza de Mayo am 24. März menschenleer.

Auch wenn hier ein anderer Kampf gemeint ist, hat der Kampf gegen das Coronavirus vor dem 24. März begonnen und wird so schnell auch nicht aufhören. Die argentinische Mitte-links-Regierung von Alberto Fernández hatte vergleichsweise früh und umfassend Maßnahmen ergriffen. Am 7. März verstarb in Buenos Aires ein gerade von einer Europareise zurückgekehrter 64-jähriger Argentinier mit diversen Vorerkrankungen an den Folgen seiner Coronavirus-Infektion. Er gilt als das erste Corona-Opfer in Lateinamerika. Am 12. März schloss die argentinische Regierung für mindestens die kommenden 30 Tage die Flughäfen für Flugzeuge aus großen Teilen Europas, den USA, China und Japan. Und das, was die argentinischen Tageszeitungen am 19. März mit ihren gleichlautenden Titeln: „Al virus lo frenamos entre todos“ (Das Virus stoppen wir alle zusammen.) vorbereitet hatten, verkündete am selben Tag Präsident Alberto Fernández höchstpersönlich: eine Ausgangssperre bis mindestens 31. März, die nun bereits bis zum 14. April verlängert wurde. Bis zu diesem Termin dürfen die Menschen ihre Wohnungen nicht mehr verlassen, wie Fernández nach einem Treffen mit den Gouverneur*innen bekannt gab. Erlaubt sind lediglich Besorgungen in nahegelegenen Lebensmittelgeschäften und Apotheken. Für einige Berufsgruppen wie Ärzt*innen, Pfleger*innen und Polizist*innen gelten Ausnahmen.

Basteln für die Erinnerung in Quarantäne: “Am Gedenktag erinnern wir uns an die Frauen, die ihre Kinder gesucht haben” Foto: Virginia Parodi

Präsident Fernández erläuterte sein Vorgehen in einem langen offenen Brief, indem er für Prävention statt Nachsorge anhand sicher steigenden Infiziertenzahlen plädierte, um die Auswirkungen des Coronavirus abzumildern und in kontrollierbaren Ausmaßen zu halten: „Wir wollen weiter produzieren. Niemand sollte in Panik geraten. Die Maßnahmen zur Verringerung der Ansteckung sind mit der Aufrechterhaltung unserer Versorgung und unserer Wirtschaft vereinbar.“ Und ähnlich wie die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach er von einer Herausforderung des Jahrhunderts, die außergewöhnliche Anstrengungen verlange: „Wir müssen unsere Gewohnheiten ändern. Viele Dinge, die uns Spaß machen, wie Mate (gemeinsam aus einer Kalebasse Tee trinken, Anm. d. Red.) oder Umarmungen, werden wir für eine Weile aussetzen.“

Präsident Fernández versucht einen Drahtseilakt zwischen Weitermachen und Stillstehen.

Fernández versucht bei diesem Drahtseilakt Augenmaß zu bewahren. Fast die Hälfte der Argentinier*innen lebt schätzungsweise von informellen Tätigkeiten auf der Straße, von der Hand in den Mund. Für sie bedeutet zu Hause zu bleiben, nichts zu essen zu haben. Deshalb verstärkt die Regierung nun die Programme für Bedürftige. Eine der ersten Maßnahmen der Regierung war ohnehin die Verabschiedung des Plans „Argentinien ohne Hunger“. Mindestens 1,4 Millionen Familien mit Kindern erhalten inzwischen eine monatliche Unterstützung in Form von Lebensmittelkarten. Damit können sie für einen festgelegten Betrag jede Woche Nahrungsmittel in den Supermärkten einkaufen. Bis Ende März sollten alle bedürftigen Familien in Argentinien eine erhalten. Ob das noch klappt, ist ungewiss.

Augenmaß wird auch in Bezug auf die Schulen bewahrt. Unterricht findet nicht mehr statt, aber ganz geschlossen werden die Lehranstalten nicht. So wird gesichert, dass selbst während der Ausgangssperre viele arme Kinder in der Schule ihr einziges warmes Essen am Tag weiter bekommen können.

Außerdem hat die Regierung trotz der prekären Schuldensituation ein Hilfspaket für die Wirtschaft geschnürt. Sie will nach eigenen Angaben umgerechnet knapp zehn Milliarden Euro ausgeben. Das Paket umfasst Investitionen in die Infrastruktur, Steuererleichterungen für Unternehmen, eine Erhöhung des Kindergeldes und günstige Kredite.  Für die Schuldenumstrukturierung und das Gesetz zur Legalisierung der Abtreibung gilt derweil, aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Es ist alles mehr denn je nur eine Frage der Zeit.

DAS ÖKONOMISCHE ERDBEBEN KAM ZUERST

Alrich Nicolas
Alrich Nicolas ist Professor für Ökonomie an der Universität Haiti in Port-au-Prince. Während der Diktatur von Jean-Claude Duvalier emigrierte er nach Deutschland und promovierte am Lateinamerika Institut in Berlin in Volkswirtschaft. Von 1996 bis 2005 war er Haitis Botschafter in Deutschland.
(Foto: Ambassade de France en Haïti / Ambafranceht, CC BY-NC-SA 2.0)


In den gängigen deutschen Medien wird fast nur bei runden Jahrestagen des Erdbebens ein Schlaglicht auf Haiti geworfen. Wie sehr sind die Nachwirkungen noch zu spüren?
Deutlich. Viele der zerstörten Gebäude konnten bisher nicht wieder aufgebaut werden. Es gibt ganze Stadtteile in der Hauptstadt Port-au-Prince, in denen der Wiederaufbau kaum vorangekommen ist. Das gilt auch für die Städte drum herum. Das Epizentrum lag ja nur 25 Kilometer von Port-au-Prince entfernt. Auch dort sind die Folgen noch deutlich sichtbar und das wird vermutlich auch noch einige Jahre so bleiben.

Warum läuft der Wiederaufbau so schleppend?
Beim Wiederaufbau gab es nicht nur die Herausforderung, die unmittelbaren Folgen des Erdbebens zu beseitigen. Schon vorher hatte Haiti ein ökonomisches Erdbeben erlebt, das den Staat stark geschwächt hatte und damit auch die Strukturen, die beim Wiederaufbau dringend benötigt worden wären. Denn die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) auferlegten Strukturanpassungsprogramme von 1985, noch gegen Ende der Duvalier-Diktatur (1957-1986), und 1996 sahen auch eine Liberalisierung und Staatsverschlankung vor.

Etwa 20 bis 30 Prozent der Beamten wurden durch die Liberalisierungsprogramme weggekürzt. Der Staat wurde privatisiert, ein schwacher Staat weiter geschwächt, sodass er weiter an Legitimität bei der Bevölkerung verloren hat.

Auch die aktuellen Proteste gegen die Regierung zielen darauf, dass Reformen gefordert werden, die den Menschen wieder öffentliche Basisdienstleistungen bei Bildung, Gesundheit, Wasser verschaffen. Das wurde schon vor dem Erdbeben gefordert, das wurde danach gefordert und auch bei den seit Oktober anhaltenden Protesten gegen die Regierung von Präsident Jovenel Moïse. Die Lage hat sich unterm Strich seit 2010 verschlimmert.

Wie wirkte sich das ökonomische Erdbeben jenseits der Schwächung des Staates aus?
Früher war Haiti ein Agrarland. Nahrungsmittelimporte waren nicht nötig, weil im Land genug produziert wurde. Es gab Nahrungsmittelautonomie, die durch den Code Commercial von 1987 ausgehöhlt wurde. Der sah sinkende Importzölle auf wichtige Produkte des täglichen Bedarfs vor.

Die Senkung der Importsteuern betraf vor allem Waren, die mit der einheimischen Produktion konkurrierten, insbesondere Reis. Zum Zeitpunkt des Erdbebens im Januar 2010 war diese Nahrungsmittelautonomie bereits passé. Haiti benötigt derzeit 30 Prozent seiner Devisen für Nahrungsmittelimporte.

Die Produktivität im haitianischen Agrarsektor ist weiter gesunken, weil in den vergangenen Jahrzehnten nach der Liberalisierung kaum noch investiert worden ist, auch weil viele Kleinbauern keinen Zugang zu Krediten haben.

Und zudem macht die fehlende Wettbewerb­­sfähigkeit gegenüber der Importkon­kurrenz manche Investitionen unrentabel. Der Niedergang des Agrarsektors sorgte auch für eine verstärkte Landflucht.

Im Ballungsraum von Port-au-Prince leben inzwischen knapp drei der elf Millionen Haitianer und Haitianerinnen. Auf dem Land beschäftigungslos Gewordene gingen in die Städte, um sich dort mit informellen Tätigkeiten durchzuschlagen. Viele verkaufen auf der Straße Billigwaren aus dem Ausland. Auch das hat die einheimische Produktion weiter geschwächt, zum Beispiel den Textilsektor oder die Schuhfertigung.

Seit 2011 wird Haiti von neoliberal ausgerichteten Präsidenten regiert, zuerst Michel Martelly und seit Februar 2017 von Martellys Gefolgsmann Jovenel Moïse. Seit Sommer 2018 gibt es massive Proteste mit vielen Toten gegen die Korruption der Regierung, gegen die Erhöhung der Treibstoffpreise als Auflage des Internationalen Währungsfonds und die katastrophale Versorgungslage. Wie kann sich Moïse überhaupt an der Regierung halten?
Eine schwierige Frage. Die vergangenen drei Monate gab es täglich Demonstrationen, das Land war quasi lahmgelegt. Derzeit ist die Demonstrationswelle zwar abgeflaut, weil die Menschen eine Pause brauchen, aber die Forderungen sind noch da.

Bisher steht die Antwort der Regierung aus. Die Oppositionsbewegung ist auch heterogen zusammengesetzt.

Auf der einen Seite gibt es traditionelle Politiker, die sich erhoffen, durch die Bewegung an die Regierung zu kommen. Auf der anderen Seite gibt es eine Massenbewegung, die das ganze politische System kritisiert, gegen die Korruption kämpft, für eine grundlegende Staatsreform eintritt, die Schaffung von Arbeitsplätzen fordert.

Diese Bewegung fordert auch ein neues Verhältnis zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Sie wird weitermachen, selbst dann, wenn es einen Regierungswechsel geben sollte, der unter Umständen eine oberflächliche Lösung bedeuten könnte.

Ende Januar läuft das Mandat von einem Drittel der Kongressmitglieder aus, damit gäbe es kein funktionierendes Parlament mehr und Moïse könnte theoretisch per Dekret regieren. Was bedeutet das?
Das heißt, dass die Regierung Parlamentswahlen organisieren muss. In der jüngeren Geschichte Haitis hat sich gezeigt, dass Wahljahre die politische und ökonomische Krise verschärfen. Wenn Moïse per Dekret durchzuregieren versucht, wird das die Proteste erst recht weiter anfachen. 2020 wird wieder ein sehr schwieriges Jahr für die haitianische Bevölkerung.

Der Oberste Rechnungshof Haitis hat im November 2018 festgestellt, dass Dutzende ehemalige Minister und hohe Beamte Gelder für soziale Zwecke veruntreut hätten: 3,8 Milliarden US-Dollar aus einem Sozialfonds von Petrocaribe, das Venezuelas damaliger Präsident Hugo Chávez zur Unterstützung karibischer Länder auf den Weg gebracht hatte. Gab es daraus Konsequenzen?
Die Berichte haben zu einem Verfahren geführt. Mehr ist noch nicht passiert. Die Hauptbeschuldigten sind überwiegend ehemalige Minister der Regierung von Michel Martelly, die sind einflussreich und mit der jetzigen Regierung eng verbunden.

Die haitianische Justiz ist schwach, von der Regierung abhängig und in Teilen auch korrupt. Und diese Justiz soll nun die Veruntreuung der Petrocaribe-Sozialfonds aufklären. Klar ist aber auch, dass die Zivilgesellschaft und die Demonstranten nicht locker lassen und das weiter einfordern werden. Einfach Gras über die Sache wachsen lassen, wird der Justiz nicht helfen.

„Unser Staat ist korrupt, kriminell und kaputt.“ Das ist ein Zitat von Deligny Darius, Leiter der SOS-Kinderdörfer in Haiti. Würden Sie dem zustimmen?
Es trifft im Großen und Ganzen zu. Es ist offensichtlich, dass es eine starke Korruption in Haiti gibt.

Es gibt zwar staatliche Institutionen, die die Aufgabe haben, die Korruption zu bekämpfen. Aber es geht nicht wirklich voran. Das liegt vor allem am Justizsystem, das selber korrumpiert ist. Auch die Regierung ist nicht wirklich daran interessiert, Anti-Korruptionsmaßnahmen zu treffen.

Aber solange die Öffentlichkeit und die Zivilgesellschaft weiter Druck macht, wird es weder für die amtierende noch für die kommenden Regierungen einfach sein, so weiter zu machen und sich über die Wünsche der Bevölkerung hinwegzusetzen.

Die Haitianer wissen, dass es mit den Finanzmitteln, die im Korruptionssumpf versickert sind, möglich gewesen wäre, den Staat zu modernisieren. Deswegen werden sie weiter fordern, dass der Korruption Einhalt geboten wird. Mit Nachdruck, wie die vergangenen drei Monate gezeigt haben.

Zivilgesellschaftliche Akteure haben die Ergebnisse der Petrocaribe-Sozialfonds in den Nachbarländern mit denen in Haiti verglichen und sie haben festgestellt, dass es dort weit besser lief, zum Beispiel in der benachbarten Dominikanischen Republik. Die haitianische Zivilgesellschaft wird ihren Kampf gegen die Korruption sicherlich nicht aufgeben.

Wie kann Haiti aus der Dauerkrise herauskommen? An welchen zentralen Stellschrauben muss gedreht werden? Bringt es eine Streichung der Auslandsschulden?
Die Frage der Auslandsverschuldung ist nicht die wichtigste. Die zentrale Herausforderung ist, die politischen Strukturen zu verändern. Die Zivilgesellschaft muss stärker beteiligt und mit mehr Einflussmöglichkeiten ausgestattet werden, mit mehr Macht.

Es muss ein gesellschaftlicher Pakt zur Modernisierung geschlossen werden, und zwar zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Wenn dieser politische Prozess gelänge, würde man auch bei den ökonomischen und gesellschaftlichen Prozessen weiterkommen.

Das Problem ist, dass die haitianische Verfassung von 1987 einen solchen politischen Prozess schwierig macht. Die vielen Wahlen sorgen für politischen Stress, harte Auseinandersetzungen beim Ringen um den Zugriff auf die Fleischtöpfe. Eine längerfristige Entwicklungsstrategie bleibt so auf der Strecke. Das Land kommt nicht zur Ruhe. Deswegen wächst der Druck, die Verfassung zu verändern.

Welche Verantwortung und welche Möglichkeiten hat die internationale Gemeinschaft?
Sie hat auf alle Fälle viel Einfluss. Dass die Regierung Moïse trotz der Repression der Proteste, die über 70 Menschenleben gefordert hat, immer noch im Amt ist, liegt daran, dass sie von den Geberstaaten gestützt wird. Denn 80 Prozent der Bevölkerung wollen nicht nur einen Regierungswechsel, sondern eine grundlegende Reform von Staat und Gesellschaft.

Die sogenannte Core Group, in der unter anderem die Vereinten Nationen, die USA, Kanada, Frankreich und auch Deutschland vertreten sind, zeigt keinerlei Anstalten, Moïse zur Raison zu rufen. Sie unterstützt die Forderungen der Zivilgesellschaft nicht. Aber die Forderungen sind nicht revolutionär, sondern klassisch: Zugang zu öffentlichen Gütern, freie Wahlen, Sicherheit. Die Haitianer fragen sich, warum das, was in fast aller Welt gilt, nicht auch für sie gilt.

EVOS UNVOLLENDETER SCHACHZUG


Salzhügel im Salar de Uyuni Unter den bolivianischen Salzseen liegen die größten Lithiumreserven der Welt (Foto: Pierre Doyen via flickr.com, CC BY-NC-ND 2.0)

Irgendwann in den turbulentesten Tagen der jüngeren bolivianischen Geschichte schickte die bolivianische Regierung eine kurze Mitteilung an die Öffentlichkeit. Zehn Tage nachdem sich Evo Morales zum Sieger in der ersten Runde der Stichwahl erklärt hatte und sechs Tage vor dem Putsch der Opposition erklärte der Präsident die Rücknahme des Dekrets über die Gründung eines deutsch-bolivianischen Joint Venture zur Lithiumindustrialisierung. Gründe nannte er nicht.

Und so tappten in den Tagen darauf selbst Insider im Dunkeln. Wolfgang Schmutz, Chef des deutschen Unternehmens ACI Systems, das den Zuschlag für den Abbau der Lithiumvorkommen erhalten hatte, erklärte, er habe beim Duschen morgens im Radio von der Entscheidung der bolivianischen Regierung erfahren. Da er noch nicht offiziell informiert worden sei, arbeitete seine Firma erst einmal weiter an den Plänen für die Lithiumförderung. Die Bundesregierung erklärte sich genauso ahnungslos und selbst in höheren Kreisen von Morales’ Partei MAS, der Bewegung zum Sozialimus, wusste man nichts.

Umso überraschender war es, als Evo Morales eine Woche nach seiner Flucht nach Mexiko vor einer dpa-Kamera erzählte, dass er, wäre er noch Präsident, das Projekt doch realisieren wollte. Ein in Bolivien weitgehend unbekanntes Interview. Was war passiert, dass Evo Morales so kurzfristig eines seiner Paradeprojekte stoppte?

Noch im Dezember 2018 sah die deutsch-bolivianische Lithiumwelt ganz anders aus. Beide Seiten sparten bei der Vertragsunterzeichnung zur Förderung des bolivianischen Lithiums nicht mit Superlativen. Für die einen sollte es der große, selbstbestimmte Schritt zur Industrialisierung werden, für die anderen die Zukunftsgarantie der nationalen Automobilindustrie. Neben dem Präsidenten war der bolivianische Außenminister Diego Pary extra gekommen, und auch der deutsche Wirtschaftsminister Peter Altmaier ließ es sich nicht nehmen, die Gründung des Gemeinschaftsunternehmens aus der bolivianisch-staatlichen YLB und der baden-württembergischen ACI Systems zu verkünden.

Kurzfristig stoppte Morales sein Paradeprojekt

Ab 2022 sollten 30.000 bis 40.000 Tonnen Lithiumhydroxid pro Jahr gefördert und eine Batteriefabrik gebaut werden. Die deutsche Seite (ACI mit Unterstützung des Fraunhofer-Instituts und der thüringischen K-Utec) sollte die Technik liefern, die bolivianische trug derweil die Hauptinvestitionslast, sollte dafür aber auch mit 51 Prozent Anteilen die Oberhand über das Unternehmen behalten. Als Teil des Deals sollte das Lithium zunächst einmal exklusiv nach Deutschland exportiert werden, das sicherte der deutschen Automobilindustrie den Zugriff auf das Basismaterial für Elektroautobatterien und der bolivianischen Seite einen Abnehmermarkt.Es sollte der erste Schritt der Ausbeutung der größten Lithiumreserven der Welt sein, die unter den bolivianischen Salzseen liegen. Die Regierung Evo Morales wollte die Asymmetrien der Weltwirtschaft brechen und nicht wie seit 400 Jahren nur Rohstofflieferant für die Industrienationen sein, sondern weitere Wertschöpfungsketten im eigenen Land behalten.

Statt der vorgesehenen 70 Jahre hielt der Deal wohl nicht einmal ein Jahr – zumindest nach aktuellem Stand.

Ausbeutung der größten Lithiumreserven der Welt

„Die Hauptmotivation für Evos Entscheidung war, die Proteste in Potosí einzudämmen“, vermutet Ressourcenexperte Oscar Campanini vom bolivianischen Dokumentations- und Informationszentrum CEDIB. Diese Protestbewegung entwickelte sich von April bis August 2019 in der Stadt Potosí, Hauptstadt der Region Potosí in deren Westen in Uyuni die großen Lithiumreserven liegen.Dabei ging es der Widerstandsbewegung vor allem um die niedrige regionale Beteiligung an den Gewinnen des Lithiumprojekts. Gerade einmal die gesetzliche Mindestquote von drei Prozent wurde dem Departamento Potosí zugestanden und das auch nur auf die Gewinne der reinen Rohstofferlöse. Beim Erlös aus weiterverarbeiteten Produkten wie Batterien greift die Beteiligung nicht.

Während der Gouverneur von Potosí seiner Partei MAS und seinem Chef Evo Morales die Treue hielt und die Pläne der Regierung unterstützte, führte das Bürgerschaftskomitee (Comité Cívico Potosinista) die Proteste an. An der Spitze: Marco Pumari – ein bisher national unbedeutender Lokalpolitiker, der Sohn eines Bergmanns ist und seine indigenen Wurzeln verleugnet. Unter Pumari forderte das Komitee elf statt drei Prozent Beteiligung und schaffte es außerdem, ein schon lange schwelendes Gefühl der Benachteiligung in einen immer stärker werdenden Regionalismus umzuwandeln. In Potosí lagern historisch einige der größten Schätze des Landes und trotzdem ist es bis heute eine der ärmsten Regionen Boliviens. Auf den Anti-Lithium-Demonstrationen wurde die Flagge von Potosí zum Standardutensil.

Das Bürgerschaftskomitee von Potosí, getragen von lokalen Vereinen, Unternehmer*innen und Organisationen, rief zum regionalen Streik gegen das Projekt auf und entwickelte sich zu einer wichtigen oppositionellen Kraft des Moments. So sehr, dass sich die Regierung der MAS kurz vor den Wahlen auf einen Dialog einließ. Morales versprach, in eine Batteriefabrik in Potosí zu investieren und den Hauptsitz der staatlichen Lithiumfirma YLB nach Uyuni zu verlagern.

30.000 bis 40.000 Tonnen Lithiumhydroxid pro Jahr

Doch an den Beteiligungsquoten wollte die Regierung festhalten und deswegen war es für Campanini auch „kein wirklicher Dialog auf Augenhöhe“.

Als dann in den Nachwahl-Wirren der Druck auf Morales und die MAS stieg, zogen von Potosí mehrere Karawanen Richtung La Paz um den Rücktritt des Präsidenten zu fordern. Als sich auch die Bergbau-Kooperativen, die trotz eines angespannten Verhältnisses immer hinter der MAS gestanden hatten, als wichtiger Machtfaktor den Protesten anschlossen, stoppte Evo Morales kurzerhand die bisherigen Pläne für den Lithiumabbau, um die frühere MAS-Hochburg Potosí zu besänftigen. Es konnte ihn nicht retten.

Das Militär putschte und Evo Morales meldete sich aus dem Exil per Video: Wäre er noch Präsident, würde das Lithiumprojekt umgesetzt. Im selben Video sagte er, die Opposition in Potosí wüsste nicht, wie viel Schaden sie dem Land verursache und sei von chilenischen Berater*innen über die Lithiumpläne getäuscht worden. Chile dient dabei in Bolivien durch die Wegnahme des Meerzugangs als Dauerfeindbild. Evo erklärte im selben Video noch etwas Bemerkenswertes: Die Verhandlungen mit den Bürgermeister*innen und Vertreter*innen der Region Uyuni im Westen des Departamento Potosí über eine Autonomie von Potosí seien schon sehr fortgeschritten gewesen. Wollte Evo also die lithiumreiche Region aus dem Departamento Potosí abspalten und sich so der lauten Beteiligungsforderungen entledigen? Dabei hätte ihm in die Karten spielen können, dass in Uyuni wiederum ein Benachteiligungsgefühl gegenüber der Stadt Potosí herrscht.

Zumindest spielte dieses zentralistische Politikverständnis einer zweifelhaften Opposition in die Hände. Das Bürgerschaftskomitee und Marco Pumari konnten so eine durchaus legitime Forderung nach höherer Beteiligung für sich vereinnahmen. Nach dem Sturz der MAS-Regierung hatte sich Pumari mehrfach an der Seite des rechtsradikalen Bürgerkomitee-Führers Luis Fernando Camacho aus Santa Cruz gezeigt. Zuletzt erklärte er, bei den nächsten Präsidentschaftswahlen gemeinsam mit Camacho kandidieren zu wollen.

Die Bundesregierung soll vermitteln

Somit scheint das Lithium statt zum Segen der Ära Morales zu ihrem Fluch geworden zu sein. Während Pumari sich als Regionalist einen Namen gemacht hat, musste Juan Carlos Cejas, MAS-Gouverneur von Potosí, unter Bedrohungen zurücktreten. Immerhin schaffte es die MAS, jemand aus den eigenen Reihen als Nachfolger einzusetzen.
Inwieweit sich die deutsche Seite auf Neuverhandlungen mit einer zukünftigen Regierung einlässt, bleibt abzuwarten. Von Seiten des Unternehmens ACI Systems wurde geäußert, dass man dort von einer Fortsetzung des Projekts ausgehe, jedoch die rechtliche Situation gemeinsam mit bolivianischen Partnern prüfe. ACI Systems will am bisherigen Vertrag festhalten und fordert die Bundesregierung zur Vermittlung auf. Auch Ressourcenexperte Campanini kann sich nicht vorstellen, dass mit der Rücknahme des Dekrets das letzte Wort im deutsch-bolivianischen Deal bereits gesprochen ist: „Ich glaube nicht, dass es so einfach ist, eine solche Entscheidung zu treffen, die so sehr die bilateralen Beziehungen zu Deutschland betrifft.“

EIN TAUZIEHEN

(Foto: Fluxus Foto)

Am Abend des 13. Oktober hatte sich die Regierung Moreno dann doch auf Verhandlungen mit den Indigenen eingelassen. Im Ergebnis der Gespräche, die live übertragen wurden, zog die Regierung das umstrittene Dekret 883 zurück und kündigte an, in einer Kommission mit Protestvertreter*innen an einem Ersatzdekret arbeiten zu wollen. Daraufhin endeten die Proteste, bald strömten die Einwohner*innen von Quito zu einer großen minga (kommunitäre Gemeinschaftsarbeit) zusammen, um die Spuren der Zerstörung zu beseitigen. Bands gaben spontane Konzerte, während in ausgelassener Stimmung aufgeräumt, repariert und gefegt wurde.

Mindestens elf Tote sowie Tausende Verletzte und Inhaftierte nach zehn Tagen Protest

Nach zehn Tagen Protest bilanziert der Ombudsmann mindestens elf Tote sowie Tausende Verletzte und Inhaftierte. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission ist derzeit vor Ort, um Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen. Der Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten, Luis Almagro, lobte hingegen bei einer regionalen Sicherheitskonferenz die Regierung für ihre Dialogbereitschaft und Umsicht während der Krise.

Die Regierung um Präsident Lenín Moreno ist seitdem nicht nur bemüht, den Protest systematisch zu kriminalisieren und zu delegitimieren; sie rüstet für künftige Protestwellen militärisch, polizeilich und geheimdienstlich auf. Mehrere prominente Anhänger*innen von Expräsident Rafael Correa wurden verhaftet oder baten in Botschaften um politisches Asyl. Scharfgemacht von Verteidigungsminister Oswaldo Jarrín spricht man nicht mehr nur von einer Verschwörung der Anhänger*innen Correas und einem gescheiterten, aus Venezuela und Kuba gesteuerten Putschversuch, sondern von einer ganzen Reihe bewaffneter Gruppen, die eingeschleust worden seien und neue Antiterrormaßnahmen notwendig machten. Für die tatsächliche Anwesenheit solcher Gruppen gibt es wenige Indizien, auch während des Aufstands war lediglich improvisierte, meist defensive Bewaffnung zu beobachten.

Die sozialen Netzwerke quillen über von rassistischen Kommentaren

Leonidas Iza, Präsident der Indigenen Organisationen der Provinz Cotopaxi, sieht in den Behauptungen der Regierung einen Vorwand, um die heftige Reaktion der Bevölkerung auf eine verfehlte Wirtschaftspolitik kleinzureden: „Es ging ausschließlich um wirtschaftliche Forderungen. Wenn dahinter eine politische Absicht oder gar eine politische Manipulation aus dem Ausland gestanden hätte, hätten die Leute nach dem Rückzug des Dekrets weiter protestiert“. Die Mobilisierung und dahinterstehende Logistik sei spontan und selbstorganisiert gewesen.

Derweil wird die Legitimität der indigenen Anführer, die seit der Ausstrahlung des Dialogs recht bekannt sind, medial und politisch untergraben. Gegen viele von ihnen wurde Anklage erhoben, etwa wegen Entführung von Polizist*innen. Auch wurden Recherchen über angebliche Reichtümer der indigenen Autoritäten veröffentlicht – diese hätten „sogar Kleinflugzeuge“, obwohl es für indigene Gemeinschaften im Amazonasgebiet lebensnotwendig ist, kollektiv Zugang zu diesem oft einzig möglichen Verkehrsmittel zu haben, dessen hohe Kosten die Mobilität auf ein Minimum beschränken.

Die Diskussion um Subventionen für Treibstoffe wird auf das gesamte Wirtschaftsmodell ausgeweitet

Die sozialen Netzwerke quillen unterdessen von rassistischen Kommentaren einer weißen und mestizischen Mittelschicht über, die vorgibt, eine Demokratie gepachtet zu haben, die den Frieden der Privilegierten und die systematische und allgegenwärtige Diskriminierung von Schwarzen und Indigenen bedeutet. Regionalzeitungen veröffentlichen mitunter Stimmen, die offen zur Gewalt gegen Indigene aufrufen. Die Klassenfrage ist neben dem Wiederaufflammen des Rassismus heute so aktuell wie lange nicht mehr.

Die Indigenen weiten die Diskussion um Subventionen für Treibstoffe auf das gesamte Wirtschaftsmodell aus und thematisieren vor allem die Verteidigung und Anerkennung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft. „70 Prozent der in Ecuador konsumierten Lebensmittel werden von Kleinbäuer*innen produziert. Die Agrarunternehmen, die die Bewässerung und das Land auf sich konzentrieren, ernähren uns nicht, die produzieren für den Weltmarkt“, so Leonidas Iza.

Die indigene Konföderation CONAIE berief Ende Oktober alle sozialen Organisationen ein „Parlament des Volkes“ ein. Gewerkschaften, Studierende, Akademiker*innen, Frauenorganisationen und Umweltschützer*innen arbeiteten dort zusammen an Vorschlägen für eine zukünftige Wirtschaftspolitik. Als das Dokument Ende Oktober offiziell der Regierung übergeben wurde, hieß es herablassend, man werde den Vorschlag genauso berücksichtigen wie 60 andere, die man schon erhalten habe. Wurden die Indigenen beim Dialog am 13. Oktober noch als legitime Repräsentant*innen der Bevölkerung behandelt, so degradieren Regierung und rechte Presse sie nun wieder zu unbequemen Hinterwäldler*innen.
Der erarbeitete Vorschlag beansprucht eine tiefgreifende Veränderung. „Es ist uns bewusst, dass die Diskussion um Treibstoffsubventionen in eine langfristige Strategie der Energiewende eingebettet sein muss, um in einer postextraktivistischen Gesellschaft der globalen Erwärmung entgegenzuwirken“, heißt es etwa. Um die Staatskassen zahlungsfähig zu halten und gleichzeitig den im Land produzierten Reichtum gerecht zu verteilen, schlägt man eine progressive Einkommenssteuer vor, die für die 270 größten Unternehmensgruppen im Land um vier Prozent erhöht werden soll, sowie eine Vermögenssteuer von einem Prozent bei gleichzeitiger Senkung der Mehrwertsteuer. Für einen „zivilisatorischen Perspektivwechsel“ soll unter anderem die Gemeinschaftsökonomie gestärkt werden. Alle Bergbaukonzessionen sollen einem Audit unterzogen und die Großkonzessionen zurückgenommen werden. Auch die Ausweitung der Ölförderung im Amazonasgebiet soll gestoppt werden. Neben der Förderung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft und der traditionellen Fischerei soll auch der Tourismus ausgebaut werden, jedoch umwelt- und sozialverträglich. Zuletzt wird eine Offenlegung der Vereinbarungen mit dem IWF gefordert.

Ein Maßnahmenpaket der Regierung für die Förderung ländlicher Gebiete kritisierte die CONAIE als „unglaublich“. Viele dieser Maßnahmen hätten sie bereits vor zwei Jahren in einem Dialogprozess gefordert, heißt es in einer Presseerklärung. Das Paket sieht u.a. neue Kreditlinien für Bäuer*innen, die landesweite Direktvermarktung landwirtschaftlicher Produkte, die Registrierung von Fahrzeugen, die der Landwirtschaft und dem Personentransport dienen, sowie die Wiedereröffnung von 500 ländlichen Schulen vor. Auch hat Moreno dem Parlament einen Gesetzentwurf für die „Transparenz der staatlichen Haushaltspolitik“ vorgelegt. Eine Gruppe von Wirtschaftsexpert*innen äußerte in einem Manifest ihre Sorge darüber, dass dieses Gesetz genau den vom IWF gestellten Bedingungen entspricht und gleichzeitig die wirtschaftliche Stabilität und die Dollarisierung gefährdet – in Ecuador ist seit der Bankenkrise 1999 der US-Dollar Landeswährung. Moreno möchte die Stabilitätsauflagen für private Banken lockern und so ihren Einfluss auf die staatliche Finanzpolitik und die Zentralbank stärken.

Wie es scheint, hat die Moreno-Regierung aus dem Aufstand nur „gelernt“, dass sie beim nächsten Mal besser vorbereitet sein will. So nimmt sie offenbar auch ein Wiederaufflammen der Proteste in Kauf. Bisher ist das Tauziehen um die künftige wirtschaftspolitische Ausrichtung Ecuadors noch in vollem Gang, genauso wie das um Legitimität in der Öffentlichkeit.

 

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