Warten auf das Schockprogramm

„Es gibt kein Geld“ Javier Milei setzt auf neoliberalen Kahlschlag (Foto: Martin Ling)

„Machen Sie sich Sorgen, dass Milei die Motorsäge ansetzt?“ Die Antwort seines Rivalen Sergio Massa um die Präsidentschaft Argentiniens in einem Meme fiel lakonisch aus: „Mit welchem Benzin denn?“ Diese Frage stellte sich jedoch nur während der kurzzeitigen Versorgungskrise mit Benzin auf der Zielgeraden zur Stichwahl am 19. November. Inzwischen haben sich die Schlangen an den Tankstellen längst wieder gelichtet und es gibt wieder hoch subventioniertes Benzin für rund 30 Eurocent den Liter bei Super. Selbst der Liter Milch ist mit rund 35 Eurocent ein wenig teurer, bei den von der Mitte-links-Regierung vorgegebenen subventionierten Mindestkontingenten, mit denen die Grundversorgung der ärmeren Bevölkerung zu tragbaren Preisen gesichert werden soll. Kaufen kann diese Milch freilich jeder und jede, solange die Vorräte reichen. Auch die hoch subventionierten Strom-, Gas- und Wassertarife und der preisgünstige öffentliche Nahverkehr kommen bisher allen Argentinier*innen zu Gute. Den Ärmeren hilft das, mit der hohen Inflation von über 140 Prozent im Jahr 2023 halbwegs klarzukommen, wenn wenigstens ein Teil der Grundbedürfnisse vom Staat subventioniert wird. Und Arme gibt es in Argentinien mehr als genug: Laut der jüngsten Anfang Dezember veröffentlichten Erhebung des Observatorio de la Deuda Social (ODSA-UCA) der katholischen Universität von Buenos Aires leben mehr als 44,7 Prozent der Gesamtbevölkerung entlang oder unterhalb der Armutsgrenze – und unter den Kindern unter 17 Jahren sind es gar 62,9 Prozent.

An Benzin wird es Milei sicher nicht fehlen, um mit seiner „Motorsäge“, mit der er seine Strukturanpassungspolitik symbolisiert, an den Subventionen anzusetzen oder auch an den Ministerien, wo er im Wahlkampf getönt hatte, acht von 18 Ministerien zu streichen, nicht zuletzt progressive wie das Ministerium für Umwelt und nachhaltige Entwicklung oder das Ministerium für Frauen, Gender und Diversität. Wie radikal er seine Ankündigungen versuchen wird, umzusetzen, ist die offene Frage, auf deren Antwort die Argentinier*innen gespannt, aber bisher noch weitgehend gelassen, warten. Schließlich hat Milei sein Amt zum Redaktionsschluss noch gar nicht angetreten. Die Präsidentenschärpe bekam er erst am 10. Dezember – am Tag der Menschenrechte – umgelegt.

Am 11. Dezember 2023 wollte Milei dann loslegen. Einen seiner Vorsätze, der ihm viel Zuspruch gebracht hat, hat er schon gebrochen: Aufzuräumen mit dem politischen Establishment, mit der Kaste. Längst kursieren Memes mit „Die Kaste hat einen Job“, die Mileis Wahlkampfslogan „Die Kaste hat Angst“ verspotten. Und auch diese Memes beruhen auf Tatsachen: Milei hat bei der Bildung seines Kabinetts auf jede Menge etablierte Politiker*innen zurückgegriffen. So nominierte er als Sicherheitsministerin mit Patricia Bullrich seine Konkurrentin aus der ersten Runde der Präsidentschaftswahl. Die längst rechtsgewendete Bullrich war in den 1970er Jahren Mitglied der peronistischen Jugendbewegung, was Milei im Wahlkampf zum Anlass nahm, sie als Montonera-Mörderin, die Bomben in Kindergärten gelegt hätte, zu verunglimpfen. Die Montoneros waren eine linksperonistische Stadtguerilla. Es gibt bisher keinen Beleg, dass Bullrich da mitgemischt hätte, sie selbst dementiert den Vorwurf. Bomben in Kindergärten waren auch nicht der Ansatz der militanten Montoneros. Von der „Bombenlegerin“ zur Sicherheitsministerin ist ein steiler Aufstieg in der Wertschätzung des künftigen Präsidenten. Auch mit der Wahl des Wirtschaftsministers zeigte Milei, wie wenig ernst es ihm mit seinem angeblichen Ansinnen ist, mit dem politischen Establishment aufzuräumen. Seine Wahl fiel auf Luis Caputo, der genau wie Bullrich zur Kaste, aber entscheidender zur neoliberalen PRO-Partei von Expräsident Mauricio Macri (2015-2019) gehört. Der bekommt seine Unterstützung in der Stichwahl nun vergolten, indem Milei Macri-Parteigänger in wichtige Kabinettspositionen hievt.

Seit 2021 läuft eine Klage gegen den Exbanker von JP Morgan und Deutsche Bank, der in der Ära Macri zuerst Finanzminister und später kurz Chef der argentinischen Zentralbank war. Die Gerichte untersuchen, ob es unter seiner Führung im Finanzministerium bei dem 2018 beim IWF beantragten Rekordkredit über 57 Milliarden Dollar „betrügerische Verwaltung und Betrug an der öffentlichen Verwaltung“ gegeben habe. Eine interne Untersuchungskommission des IWF kam Ende 2021 zu dem Schluss, dass der Kredit gemessen an den eigenen, üblichen Vergabekriterien eine Fehlentscheidung gewesen sei. Dasselbe lässt sich über Caputos Wahl zum Finanzminister sagen.

An Benzin wird es Milei sicher nicht fehlen

Es war Caputo, der der Begleichung der illegitimen Schulden gegenüber den Geier-Investitionsfonds zustimmte, die im Stile von Geiern nach der Staatspleite 2002 auf dem Sekundärmarkt Schuldentitel zum Schrottwert von teils zehn Cent pro Dollar aufgekauft und dann nach US-amerikanischem Recht auf den vollen Nominalwert geklagt hatten: auf Renditeansprüche von teils mehr als 1.600 Prozent! Caputo stimmte der Begleichung der Schulden gegenüber den Geierfonds zu, um die Tür für internationale Kredite wieder zu öffnen und damit nichts anderes als einen neuen Verschuldungszyklus einzuleiten. Allein die neoliberale Regierung Macri hatte 2015 bis 2019 rund 100 Milliarden Dollar an neuen Auslandsschulden aufgenommen, die sich Ende 2022 auf 277 Milliarden Dollar beliefen. Und um den Staatshaushalt zu finanzieren, gab Caputo neue, über 100 Jahre laufende Staatsanleihen aus. Ausgerechnet Caputo soll nun die Staatsfinanzen sanieren, wie Milei es versprochen hat.

Stagflation ist das Schlimmste aller Wirtschaftsszenarien

Milei hat Anfang Dezember ein wenig konkreter gemacht, woran er ansetzen will. Sicher ist, dass die Abschaffung des argentinischen Pesos zugunsten des Dollars erstmal auf die lange Bank geschoben wird. Auch dafür bedürfte es als Voraussetzung hunderter Milliarden US-Dollars, die das Land nicht hat. „Es gibt kein Geld“, bringt es Milei, der erste Ökonom, der in Argentinien zum Präsidenten gewählt wurde, auf den Punkt.

Der ultrarechte Milei setzt offensichtlich auf die neoliberalen Rezepte aus dem Washington Consensus, den die US-Regierung, der Internationale Währungsfonds und die Weltbank Ende der 1980er Jahre den verschuldeten Ländern des Globalen Südens als Entwicklungsblaupause auferlegten: Privatisierung, Liberalisierung und Defizitreduzierung.

Zu Entwicklung im Sinne von Armutsbekämpfung und sozialem Ausgleich hat der Washington Consensus nirgendwo geführt, sondern stattdessen die Krisen verschärft, weshalb er inzwischen selbst von IWF und Co. nicht mehr offen propagiert wird. Milei hat dennoch vor, die Staatsausgaben massiv zu senken und beispielsweise das öffentliche Bauwesen auf Null herunterzufahren und ansonsten zu privatisieren, was zu privatisieren geht.

Direkt am Tag nach seinem Wahlsieg vom 19. November kündigte er die Privatisierung von Staatsbetrieben und dem öffentlichen Rundfunk an. „Alles, was in den Händen des privaten Sektors sein kann, wird in den Händen des privaten Sektors sein.“ Unter anderem will er den staatlichen Energiekonzern YPF, das öffentliche Fernsehen und Radio sowie die amtliche Nachrichtenagentur Télam privatisieren. Dass der Aktienkurs von YPF daraufhin um 43 Prozent in die Höhe schoss, kam nicht von ungefähr, der Konzern ist wertvolles Tafelsilber, das einst schon von Carlos Menem (1989-1999) an den spanischen Konzern Repsol verscherbelt und später von der Regierung Cristina Kirchner 2008 teuer rückverstaatlicht wurde. YPF verfügt über die Rohstoffe der Vaca Muerta (Tote Kuh), eine Region, die sich über die Provinzen Neuquén, Río Negro, La Pampa und Mendoza erstreckt. Dort befindet sich eines der weltweit größten Vorkommen von nicht-konventionellem Öl und Gas. Gefördert werden sie seit 2013 mit der aus Umweltgründen hoch umstrittenen Fracking-Methode. „Wenn Exportbeschränkungen, Kapitalkontrollen, Energiepreiskontrollen und Infrastrukturbeschränkungen vollständig aufgehoben werden, könnte Vaca Muerta bis 2030 zusätzliche 40 Prozent bei den Rohöl- und 30 Prozent bei den Erdgasvolumina produzieren“, schreiben die Analysten Ford Tanner und Pedro Martínez von der Kreditrating-Agentur S&P_Global Ratings. Die Gläubiger*innen sind sich sicher, dass sich in Argentinien somit weiter Schulden zu Lasten der Bevölkerung eintreiben lassen.

Milei hat auch in Aussicht gestellt, die staatlichen Subventionen für öffentliche Verkehrsmittel, Gas, Wasser und Strom zu kürzen. Wie tief die Einschnitte werden, lässt er noch offen. Direkte soziale Hilfen für die armen argentinischen Haushalte bekundete er inzwischen, will er nicht antasten. Rund 36 Prozent der argentinischen Haushalte sind auf irgendeine Art von Unterstützung vom Staat angewiesen, um ihre Grundbedürfnisse decken zu können. 2010 lag die Zahl bei 24,4 Prozent. Ohne die Hilfsprogramme würden heute 49 Prozent der Bevölkerung in Argentinien arm sein, heißt es in dem ODSA-UCA Bericht.

Milei stellt den Argentinier*innen eine harte Zeit des Übergangs in Aussicht: „Es wird zu einer Stagflation kommen, denn die Umstrukturierung der Finanzen wird sich negativ auf die Wirtschaftstätigkeit auswirken.“ Stagflation ist das schlimmste aller denkbaren Wirtschaftsszenarien, die Preise steigen weiter, die Wirtschaftsleistung geht zurück und damit die Arbeitslosigkeit hoch, die derzeit offiziell nur bei gut sechs Prozent liegt.

„Wir werden uns gegen Milei wehren müssen“

Für ein wenig Entlastung könnte die Landwirtschaft sorgen. Nach der katastrophalen Dürre in der vergangenen Saison steht nun eine gute Ernte bei Soja, Mais und Weizen bevor, die Milliarden Dollar in die schwindsüchtigen Kassen spülen könnte. Doch viel mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein wird es nicht sein, nachdem 2023 ein Einnahmenausfall von 20 Milliarden Dollar in der Agrarwirtschaft verzeichnet werden musste. Der Agrarsektor steht für rund zwei Drittel der Deviseneinnahmen, während die Petrochemie rund um das Fracking bisher nur auf zehn Prozent kommt. Auf diese beiden Säulen weiter zu setzen, ist einer der wenigen Punkte, in denen sich Massa und Milei einig waren, letzterer freilich will nicht nur dort die rohen Marktkräfte walten lassen.

„Wir werden uns gegen Milei wehren müssen“, sagt Dorián am Wahlabend sichtlich konsterniert, als Sergio Massa noch vor der Bekanntgabe des offiziellen Wahlergebnisses seine Niederlage eingesteht. Über 14,5 Millionen Argentinier*innen und damit 56 Prozent haben für den Wandel und somit für den ultrarechten Javier Milei votiert. Dorían und seine Freundin Alejandra gehörten nicht dazu. Sie gehören zu den vielen Millionen nicht reicher Argentinier*innen, die am stärksten unter der kommenden Strukturanpassung zu leiden haben werden.

Argentinien steht ein Experiment mit großen Risiken für den Zusammenhalt der Gesellschaft bevor. Milei, der sich selbst in seiner Siegesrede als liberal-libertär bezeichnete, wird die Motorsäge ansetzen. Wie radikal ist die Frage, denn im Parlament ist er selbst mit seinem Bündnispartner, der Macri-Partei PRO, weit von einer absoluten Mehrheit entfernt. Und die Straße weiß, was auf dem Spiel steht und wird sich melden. Wenn Milei seine Vorschläge der sozialen Kürzungen umsetzt, sind eskalierende Armut und soziale Proteste gleichermaßen sicher.

EUPHORIE IN DER KRISE

Die magische Zahl drei Alberto Fernández sieht sich als Präsident der drei Titel und der drei Jahre mit Wirtschaftswachstum (Foto: Santiago Sito via Flickr , CC BY-NC-ND 2.0)

„Zuerst möge Argentinien Weltmeister werden, danach werden wir die Inflation bekämpfen.“ So machte die argentinische Arbeitsministerin Kelly Olmos ihre Prioritäten klar. Die Albiceleste hat in Katar ihre Schuldigkeit getan, die peronistische Mitte-links-Regierung steht nun in der Pflicht, den Worten ihrer Arbeitsministerin Taten folgen zu lassen.

Die Prioritätensetzung der Ministerin wurde durchaus kontrovers in den Medien diskutiert. Und vor dem Finale präzisierte sie ihre Sicht auf Nachfrage beim Radiosender Con Vos: „Natürlich möchte ich die Inflation auf ein Prozent pro Monat senken, und ich möchte, dass die Argentinier glücklich sind, wenn sie die Weltmeisterschaft gewinnen und dass Messi Weltmeister wird.“ Und sie ergänzte: „Wir arbeiten jeden Tag daran, die Inflation zu bekämpfen; jetzt, wo wir vor dem Weltmeisterschaftsfinale stehen, möchte ich gewinnen. Ich glaube, alle Argentinier möchten gewinnen, aber das bedeutet nicht, dass wir aufhören, jeden Tag, jede Minute, die wir können, zu arbeiten.”

Der 18. Dezember 2022 ist in die argentinische Geschichte eingegangen. Nach 36 Jahren wieder Fußballweltmeister. Fünf Millionen Menschen säumten in Buenos Aires bei der Siegesfeier am 20. Dezember die Straßen, die geplante Route konnte aus Sicherheitsgründen nicht komplett absolviert werden. Nicht geplant war ein Abstecher in die Casa Rosada, die Einladung des argentinischen Präsidenten Alberto Fernández wurde nicht angenommen, die Gründe blieben spekulativ, Müdigkeit hieß es offiziell. Dass die aktuelle Fußballnationalmannschaft unpolitischer ist als die Weltmeistermannschaft von 1986 mit Diego Maradona und Jorge Valdano, die sich immer wieder sozialkritisch zu gesellschaftlichen Themen äußerten, ist offensichtlich. Das Foto, wie drei Jahre nach dem Ende der Diktatur (1976-1983) beim Empfang in der Casa Rosada der zivile Präsident Raúl Alfonsín von Diego Maradona in Zivilkleidung den Weltpokal überreicht bekam, ist ein ikonisches Bild in Argentinien.

Präsident Fernández nahm den euphorisch gefeierten Spielern die Absage nicht übel, da keiner von ihnen ihn beleidigt oder etwas Unangemessenes gesagt habe. „Wenn die Entscheidung damit zusammenhängt, dass der Fußball sich nicht mit der Politik vermischen soll, dann bin ich froh, dann sollte dieses Beispiel Schule machen.” Ungewollt hat Alberto Fernández damit Geschichte geschrieben: Er ist der erste Staatschef eines Fußballweltmeisters, dem der Empfang der Siegermannschaft verwehrt wurde. Die brasilianische Militärdiktatur ließ sich das 1970 sowenig nehmen wie die argentinische 1978 und bei allen Fußball-Weltmeisterschaften seit 1930 in Uruguay gab es danach ein Stelldichein von Weltmeistern und Regierungspolitiker*innen, die sich im Glanz des Triumphes sonnten.

Die Albiceleste hat in Katar ihre Schuldigkeit getan

Fernández machte im Sender Con Vos gute Miene zum bösen Spiel und bezeichnete sich als „Präsident der drei Pokale”. In der Tat hat Argentiniens Nationalmannschaft in seiner Regentschaft seit 2019 die Copa América (2021), als Südamerikameister danach im Juni 2022 das sogenannte Finalissima gegen den Europameister Italien und nun die WM gewonnen. „Ich bin nicht nur der Präsident der drei Pokale, sondern bis heute auch der erste Präsident seit Néstor (Néstor Kirchner, Präsident 2003-2007), der Argentinien in drei aufeinanderfolgenden Jahren inmitten all dessen, was uns widerfahren ist, zum Wachstum verholfen hat.“ Die Aussage mit den Pokalen stimmt, die mit dem Wachstum nicht, denn im ersten Coronajahr 2020 schrumpfte auch in Argentinien die Wirtschaft deutlich. Sollte Argentinien 2023 eine Rezession vermeiden können, ginge Fernández‘ Rechnung im Nachhinein doch noch auf. Das ist freilich ebenso ungewiss, wie ob er selbst für die peronistische Partei im Herbst wieder ins Rennen um die Präsidentschaft geht.

Argentiniens Nationaltrainer Lionel Scaloni ordnete den Gewinn der Weltmeisterschaft sachlich ein: „Ich weiß, dass es nur ein Fußballspiel ist, dass es eine Weltmeisterschaft ist, dass es nicht über den Fußball hinausgeht, aber für uns ist es etwas mehr. Lasst sie feiern. Lasst sie genießen. Das Leben wird weitergehen, die Probleme, die wir haben, werden immer noch da sein, aber die Leute sind ein bisschen glücklicher. Und das ist gut.” Die Euphorie ist immer noch spürbar, am 18. Januar wurde der Monatstag des Sieges begangen, bei Geburtstagsfeiern ist es zum Trend geworden, die WM-Feier nachzuahmen. Die Tätowierstudios haben Hochkonjunktur und neben Fußballmotiven von Messi bis zum Finalhelden, dem Torwart Emiliano „Dibu“ Martínez, sind vor allem die Zahlenfolge 18-12-2022 und die_Sol de Mayo, die sich auf der argentinischen Flagge befindet, beliebte Motive.

Die spannende Frage ist, wie lange die Freude über den lange ersehnten WM-Titel anhält. Denn die wirtschaftliche Lage hat sich seit der zweiten Jahreshälfte 2022 merklich getrübt – von den Dauerproblemen der hohen Inflation und des ausufernden Staatshaushaltsdefizits ganz abgesehen. Im Juli stieg der Verbraucherpreisindex (VPI) um 7,4 Prozent. Der VPI wird anhand eines Warenkorbs berechnet, der Güter und Dienstleistungen eines Durchschnittshaushalts in Argentinien umfasst. Das war die höchste Steigerung für einen einzelnen Monat seit April 2002 inmitten der bis dato größten Wirtschaftskrise Argentiniens in diesem Jahrhundert. Damals rutschte mehr als die Hälfte der Bevölkerung in die Armut ab und auf der Straße gab es nur noch einen Slogan für die politische Klasse: Que se vayan todos! (Sie sollen alle abhauen). Fünf Präsidenten gaben sich um die Jahreswende 2001/2002 die Klinke des Regierungspalastes in die Hand, erst ab der Regierungsübernahme von Néstor Kirchner im Mai 2003 stabilisierte sich die Lage.

Die aktuelle Lage ist noch nicht so ernst wie vor 20 Jahren, nähert sich dem jedoch an. 2022 wurde noch ein Wirtschaftswachstum von fünf Prozent erreicht, für 2023 werden maximal 0,5 Prozent prognostiziert. Für den Ernst der Lage spricht auch die Inflationsrate von 94,8 Prozent, die Argentinien laut der Statistikbehörde INDEC 2022 verzeichnete und die im Jahr 2021 noch bei 50,9 Prozent gelegen hatte.
„Unsere Verantwortung und unsere größte Herausforderung besteht darin, die Inflation zu senken, denn sie ist das Fieber einer kränkelnden Wirtschaft”, schrieb Wirtschaftsminister Sergio Massa nach der Veröffentlichung der Zahlen auf Twitter. „Das kann durch eine geordnete Haushaltsführung, Disziplin, die Einhaltung klarer Ziele und ein verantwortungsbewusstes Vorgehen in allen Bereichen erreicht werden.“ Superminister Massa, ein Nicht-Ökonom, der die Ministerien für Wirtschaft, Produktion und Landwirtschaft unter sich hat, hatte nach einem regierungsinternen Streit über die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik auf Betreiben der Vizepräsidentin Cristina Kirchner den von der Columbia-Universität geholten renommierten Wirtschaftswissenschaftler Martín Guzmán ersetzt.

Die Inflationsrate liegt bei 94,8 Prozent

Um die Auswirkungen der Inflation abzumildern, die auch in Argentinien die Ärmsten am stärksten trifft, wurde im Dezember der Plan „Gerechte Preise” ins Leben gerufen. Im Rahmen einer Vereinbarung mit Produzenten von Lebensmitteln und Hygieneartikeln wurden die Preise für die rund 2.000 wichtigsten Produkte bis März eingefroren. Im Gegenzug erhielten die Hersteller die Möglichkeit, etwa 30.000 andere Artikel monatlich um vier Prozent teurer anzubieten.

Getrieben wird die Inflation nicht zuletzt durch die Ausgabe von Staatsanleihen, mit der sich die Regierung die Landeswährung Peso gegen steigende Verschuldung beschafft, um die Staatsausgaben überhaupt leisten zu können. Das wiederum läuft der Vereinbarung mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) aus dem März 2022 entgegen, die Guzmán letztlich den Job gekostet hat und vorsieht, das primäre Haushaltsdefizit, also ohne Einberechnung des Schuldendienstes, bis 2023 auf 1,9 Prozent zu senken und bis 2024 auszugleichen.

Es ist schwer vorstellbar, dass die Regierung Fernández die Reduzierung des Haushaltsdefizits schaffen kann. Nicht zuletzt, weil durch die größte Dürre seit 60 Jahren der Agrarsektor als Hauptdevisenbringer stark in Mitleidenschaft gezogen ist. Laut Prognosen der Börse von Rosario werden die Ernteeinbußen zu einem Rückgang der Deviseneinnahmen aus der Landwirtschaft um mindestens 10 Milliarden Dollar führen. Bei sinkenden Einnahmen bliebe der Regierung nur Ausgaben zu streichen, in einem Wahljahr unpopulärer denn je. Angesichts der steigenden Armutsrate – vier von zehn Menschen leben inzwischen unter der Armutsgrenze – ist es auch schwer vermittelbar.

An Krisen fehlt es also nicht. Zu allem Überfluss liegt die Regierung Fernández noch mit dem Obersten Gerichtshof im Clinch. Der hat die Regierung verpflichtet, 2,95 Prozent des Gesamtbetrags der eingenommenen föderalen Mitbeteiligungssteuern an die Stadt Buenos Aires abzuführen ­– die von der Opposition regiert wird. Bürgermeister ist Horacio Rodríguez Larreta, Gefolgsmann des Ex-Präsidenten Mauricio Macri (2015-2019). Und ausgerechnet Macri erhöhte während seiner Präsidentschaft 2016 per Dekret den Betrag, den die Hauptstadt erhält, von 1,40 Prozent auf 3,75 Prozent, um seinem Parteifreund unter die Arme zu greifen. 2020 senkte Alberto Fernández die Quote wieder auf 2,20 Prozent, woraufhin Rodríguez Larreta ihn vor Gericht anzeigte. Der Oberste Gerichtshof ordnete als letzte Instanz kurz vor Weihnachten an, dass Fernández sie wieder auf 2,95 Prozent erhöhen muss. Damit würde das nächste Loch in den Staatshaushalt gerissen. Fernández ist deswegen zum Gegenangriff übergegangen und will im Parlament ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten des Obersten Gerichtshofs, Horacio Rosatti, auf den Weg bringen, „damit sein Verhalten bei der Ausübung seines Amtes untersucht werden kann.” Denn er vermutet, dass es sich wieder einmal wie schon bei der Verurteilung von Cristina Kirchner im Dezember wegen Korruption um politische Justiz handelt: „Ich weiß nicht, ob es das Ziel des Gerichts ist, die Kampagne von Larreta zu finanzieren, aber es wird gelingen“, sagte Argentiniens Präsident in einem Fernsehinterview. Larreta ist einer der Favoriten für die Präsidentschaftskandidatur des Oppositionsbündnisses Juntos por el Cambio (Gemeinsam für den Wandel) für die Wahlen im Oktober. Der Vorwahlkampf hat dafür schon begonnen.

HAITI BLEIBT NUR DIE MILITÄRINTERVENTION ERSPART

“Weg mit UN-Soldaten und Cholera” Protest gegen die damalige UN-Intervention im Jahr 2010 (Foto: Ansel/mediahacker via Flickr , CC BY-NC-SA 2.0)

An eindringlichen Beschreibungen der desaströsen Lage fehlte es nicht: Der haitianische Außenminister Jean Victor Généus begründete vor dem UN-Sicherheitsrat in New York, warum die haitianische Regierung eine UN-Militärintervention für geboten halte. Er überbringe den „Hilfeschrei eines ganzen Volkes“. „Die Haitianer leben nicht, sie überleben“, sagte der Minister. Diese Sicht ist durchaus verbreitet, auch Faimy Loiseau, Leiterin der SOS-Kinderdörfer in Haiti, schätzt die Lage ähnlich ein, allerdings ohne eine Militärintervention zu fordern. „Im Moment leben wir nicht. Banden haben faktisch die Macht in Haiti übernommen. Jedes Mal, wenn wir aus dem Haus gehen, beten wir, dass wir nicht entführt werden“, sagt Loiseau.

UN-Generalsekretär António Guterres sieht die UN durchaus in der Pflicht und bezeichnete die Lage in Haiti als „absoluten Albtraum“. Dem Wunsch der haitianischen Regierung, dem die USA und Guterres offen gegenüberstanden, militärisch einzugreifen, folgte der Sicherheitsrat jedoch nicht. Die von den USA eingebrachte Resolution zur Entsendung einer schnellen Eingreiftruppe wurde zurückgewiesen, weil Russland und China sich dagegen stellten. Stattdessen beschloss der Sicherheitsrat am 21. Oktober Sanktionen gegen die Banden in Haiti. Die Sanktionen seien eine Botschaft an die Banden, „dass die Freunde Haitis nicht tatenlos zusehen werden, wie ihr dem haitianischen Volk Schaden zufügt“, sagte die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Linda Thomas-Greenfield.

Der UN-Sicherheitsrat forderte ein einjähriges Reiseverbot für in Bandenaktivitäten verwickelte Menschen sowie ein Einfuhrverbot von Waffen und Munition in den Karibikstaat. Die Sanktionen richten sich nicht nur gegen bewaffnete Mitglieder auf der Straße, sondern auch gegen diejenigen, die Banden „unterstützen, sponsern und finanzieren“, sagte der mexikanische UN-Gesandte Juan Ramón de la Fuente. Zudem verlangte das UN-Gremium ein „sofortiges Ende von Gewalt, kriminellen Aktivitäten und Menschenrechtsverletzungen” in Haiti, einschließlich Entführungen, sexueller Gewalt, Menschenhandel und der Rekrutierung von Kindern durch Banden. Dass der Appell bei den Banden auf fruchtbaren Boden fällt, ist nicht zu erwarten.

„Die Haitianer leben nicht, sie überleben“

Vorgesehen ist auch ein einjähriges Einfrieren aller wirtschaftlichen Ressourcen, die direkt oder indirekt Jimmy Chérizier gehören oder von ihm kontrolliert werden. Chérizier war einmal Mitglied einer Spezialeinheit der haitianischen Polizei. Inzwischen ist er Anführer der G9 Fanmi e Alye, einer Vereinigung von neun Gangs. Die G9 kontrolliert mittlerweile große Teile der Hauptstadt Port-au-Prince, von der inzwischen zwei Drittel unter der Herrschaft von Banden stehen sollen, die sich gegenseitig bekriegen. Zivilist*innen geraten dabei immer wieder zwischen die Fronten. „Die Banden gehen äußerst brutal gegen die Bevölkerung vor. Sie vergewaltigen und sie töten. Sie erpressen Geld, verbreiten Angst und Leid und stürzen Haiti ins Chaos“, schildert Faimy Loiseau die Lage.

Seit mehr als einem Jahr kämpfen Banden brutal um die Kontrolle über Teile der Hauptstadt. Insgesamt gibt es in Haiti nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration 113.000 Binnenvertriebene, 17.000 von ihnen bereits seit dem heftigen Erdbeben von August 2021. Nach wie vor ist der Mord an Staatspräsident Jovenel Moïse vom Juli 2021 in seiner Residenz ungeklärt. Ende Oktober wurde mit dem 52-jährigen Éric Jean-Baptiste ein ehemaliger Präsidentschaftskandidat von Gunmen auf offener Straße erschossen. Es ist allseits bekannt, dass Regierung, Teile der Opposition und Mitglieder des Privatsektors die Banden seit Jahren finanzieren und mit ihnen gemeinsame Interessen verfolgen. Immer wieder werden offene Rechnungen mit Gewalt beglichen. Chériziers G9 blockierte bis Anfang November den Zugang zum größten Treibstofflager des Landes. Die G9 werde den Treibstoff erst freigeben, wenn Premier Henry die Preiserhöhung zurücknimmt. Solange er den Preis auf der vom Internationalen Währungsfonds verlangten Höhe ließe, werde dies nicht geschehen.

Ariel Henry, Chef einer nicht durch Wahlen legitimierten Interimsregierung, hatte am 11. September die Treibstoffsubventionen kassiert. Mit ihnen wurden bis dahin die Kosten im öffentlichen Transport und im Warentransport für die Unternehmen gesenkt, um niedrigere Preise zu ermöglichen und die Bevölkerung zu entlasten. Seit Mitte 2022 fehlen dafür die finanziellen Mittel. Nach dem Ende der Subventionen verdoppelten sich die Preise auf einen Schlag. Unruhen im ganzen Land noch am selben Tag waren die Folge, am 12. September begann die G9 mit der Blockade des Lagers, in dem sich 70 Prozent der Treibstoffe Haitis befinden. Infolgedessen konnten Krankenhäuser nur eingeschränkt arbeiten und Schulen wurden geschlossen, weil Kleinbusse die Beförderung einstellten und Krankenhäuser die Stromversorgung über Dieselgeneratoren drosseln mussten.

Die Banden gehen äußerst brutal gegen die Bevölkerung vor

Die haitianischen Behörden haben am 4. November bekannt gegeben, dass sie die Kontrolle über das Treibstofflager wiedererlangt haben. Vermittelt hat das der haitianische Politiker Dr. Harrison Ernest, der sich sowohl mit Chérizier als auch mit Ariel Henry traf. „Ich habe mit Barbeque (Spitzname von Chérizier, Anm. d. Red.) gesprochen und ihm und seinen Leuten gesagt, sie sollen das Terminal verlassen, weil die Kinder wieder zur Schule gehen müssen. Und wir haben die Regierung aufgefordert, ihren Teil dazu beizutragen, dass es Treibstoff gibt und dass der Treibstoff die Kunden erreicht“, sagte Ernest gegenüber CNN. Die Regierung bestreitet allerdings, dass er in ihrem Auftrag verhandelt hätte: „Wir handeln nicht mit Banden und wir verhandeln nicht mit Banden, wir wollen, dass die Schulen so schnell wie möglich wieder öffnen und die wirtschaftlichen Aktivitäten wiederbelebt werden. Der Premierminister hat sich mit Ernest getroffen, aber sie haben in unserem Namen keine Verhandlungen mit Banden geführt“, sagte der Sonderberater Jean Junior Joseph. Wie auch immer, unterm Strich bestätigte der Sprecher der haitianischen Nationalpolizei Gary Desrosiers, dass das Varreux-Terminal nun unter Polizeikontrolle steht.

Selbst wenn es zu einer Entspannung auf dem Treibstoffmarkt kommen sollte, bleiben Haiti jede Menge andere Probleme. Die Blockade hatte die Lage für die Bevölkerung weiter verschärft. Der Mangel an Gütern und Ressourcen, etwa Trinkwasser, nahm zu. Laut dem Welternährungsprogramm der UN leiden rund 1,3 Millionen Menschen akut Hunger und 4,5 Millionen Menschen haben derzeit nicht genug zu essen − rund 40 Prozent der Bevölkerung.

Was Haiti braucht, ist ein Systemwechsel

Einen positiven Nebeneffekt haben die stark gestiegenen Lebensmittelpreise: In der Not bauen die Haitianer*innen wieder mehr Nahrungsmittel selbst an, da sich der Verkauf von Überschüssen wieder lohnt, da die übermächtige Konkurrenz durch Billigimporte mangels Importkapazität des Landes nachgelassen hat. Dieser Nebeneffekt reicht allerdings noch bei Weitem nicht aus, um zu einer Entspannung der Lage beizutragen.

Zu allem Überfluss ist nach drei Jahren die Cholera nach Haiti zurückgekehrt. Seit den ersten Meldungen vom 2. Oktober hat die UNO bereits bis Anfang November 37 Todesfälle registriert.

Wegen der anhaltenden Krise fordern viele Haitianer*innen seit Langem den Rücktritt von Premierminister Henry. Dessen Regierung amtiert als Interimsregierung, nachdem er aufgrund der zunehmenden politischen Instabilität eine ursprünglich für November 2021 geplante Wahl auf unbestimmte Zeit verschoben hatte. Ausgerechnet Chérizier macht sich zum Fürsprecher für Neuwahlen und stellte seinen „Übergangsplan zur Wiederherstellung der Ordnung in Haiti“ vor. Dazu gehört unter anderem, dass ein „Rat der Weisen“ eingerichtet wird, dem ein Vertreter aus jedem der zehn Départements Haitis angehört. Dieser Rat soll, von einem Interimspräsidenten geführt, bis zu Präsidentschaftswahlen im Februar 2024 regieren. Auch eine Polizeireform und eine Stärkung des Militärs schwebt Chérizier vor und selbstverständlich eine Amnestie und die Aufhebung der Haftbefehle gegen ihn und seine Kompagnons. Das ist so wenig in Sicht wie ein seit Jahren von Nichtregierungsorganisationen geforderter gesellschaftlicher Pakt zur Modernisierung zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Damit soll allen Haitianer*innen der Zugang zu öffentlichen Gütern, freien Wahlen, und Sicherheit gewährleistet werden. Es bleibt bis auf Weiteres eine Utopie, die indes der sogenannten Core Group, in der unter anderem die Vereinten Nationen, die USA, Kanada, Frankreich und auch Deutschland vertreten sind, als Richtschnur dienen könnte – weit sinnvoller als Militärinterventionen, die in Haiti nichts zum Besseren bewegt haben. „Wir hatten bereits 1915, 1994 und 2004 ausländische Interventionen, und heute sind wir wieder in der gleichen Situation. Jedes Mal, wenn es eine Intervention gibt, bleibt das gleiche System bestehen“, sagte Louis-Henri Mars, Direktor der Nichtregierungorganisation Lakou Lapè (Hof des Friedens), gegenüber dem Guardian rund um die Diskussion im Sicherheitsrat. Was Haiti braucht, ist ein Systemwechsel, bei der die Zivilgesellschaft stärker beteiligt und mit mehr Einflussmöglichkeiten und Macht ausgestattet werden muss. Derzeit teilen sich die haitianische Politikelite und das organisierte Verbrechen, mit dem ein Teil der Elite eng verzahnt ist, die Macht zu Lasten der Bevölkerung. Auf tatkräftige Unterstützung für ihre Forderungen durch die Core Group wartet die haitianische Zivilgesellschaft seit Jahren vergeblich und fragt sich mit zunehmender Verzweiflung warum. Flaggen der russischen Föderation und Chinas bei Protestdemonstrationen sollten der Core Group zu denken geben.

ARGENTINIEN KOMMT AUS DEN TURBULEZEN NICHT HERAUS

Mächtige Strippenzieherin Die Vizepräsidentin Cristina Kirchner polarisiert in Argentinien (Foto: Vitalis Hirschmann via Flickr, CC BY-NC 2.0)

Lange stellte sich in Argentinien die Frage, welcher nicht-peronistische Präsident als erster das Ende seiner Amtszeit erreicht. Erst dem neoliberalen Mauricio Macri gelang das, als er am 10. Dezember 2019 an Alberto Fernández übergab, der ihn an den Wahlurnen geschlagen hatte. Was Macri schaffte, war keinem Nicht-Peronisten seit Juan Peróns Wahlsieg 1946 vergönnt. Dessen Erbe wird von rechts bis links bis heute rund um die peronistische Gerechtigkeitspartei PJ reklamiert.

Nun stellt sich erstmals die Frage ob eine peronistische Regierung das Ende ihrer Amtszeit erlebt, die turnusmäßig bis zum 10. Dezember 2023 währt. Die Mitte-links-Regierung von Alberto Fernández ist in schweren Gewässern. Der argentinische Winter zeigte das mehr denn je und ob der angebrochene Frühling Besserung bringt, ist äußerst ungewiss.

Die Regierung von Alberto Fernández war von Anfang an ein breiter Kompromiss. Auf Initiative der Ex-Präsidentin Cristina Kirchner wurde ein Dreierbündnis von links bis rechts geschmiedet. Die linke Cristina ließ dem Zentristen Alberto Fernández den Vortritt und kandidierte „nur“ als Vize, Fernández konnte den Rechtsperonisten Sergio Massa ins Wahlkampfboot holen und stellte ihm den Vorsitz des Abgeordnetenhauses in Aussicht. Massa war 2015 maßgeblich mitverantwortlich für die Spaltung des peronistischen Lagers in zwei Blöcke und verhalf damit Macri indirekt zum Sieg.

Der Kompromiss wurde mit dem Wahlsieg belohnt. Doch den Burgfrieden über die gesamte Wahlperiode zu halten, gestaltete sich in der durch die Corona-Pandemie verschärften Wirtschaftskrise zunehmend als schwierig. Stein des Anstoßes aus Sicht von Cristina Kirchner war vor allem der von außen geholte Wirtschaftsminister Martín Guzmán, dem der peronistische Stallgeruch abging. Das Abkommen, das der Ökonom, der früher unter anderem an der New Yorker Columbia University tätig war, mit dem verhassten Internationalen Währungsfonds (IWF) im Januar 2022 schloss, mit dem die neuerliche Zahlungsunfähigkeit Argentiniens vorerst abgewendet werden konnte, stieß bei Cristina Kircher und ihren Anhänger*innen auf keine Gegenliebe. Argentinien ist mit 44 Milliarden Dollar (derzeit etwa 44 Milliarden Euro) beim IWF verschuldet – aufgenommen hatte diesen Kredit 2018 Expräsident Mauricio Macri. Ohne die Zustimmung der Opposition um Macri Mitte März 2022 hätte das Abkommen mit dem IWF den Senat nicht passiert, da der linke Kirchner-Flügel der Regierungspartei Frente para todos dagegen stimmte und damit die Regierungskrise verschärfte.

Alberto Fernández hatte einst als viel beachteten Coup den wissenschaftlich renommierten Guzmán als Wirtschaftsminister geholt. Politische Ränkespiele waren dessen Sache nicht. Guzmán warf schließlich entnervt von wiederkehrenden Angriffen der Anhänger*innen der Vizepräsidentin Anfang Juli die Brocken hin. Seine Kritiker*innen vom linken Flügel der peronistischen Partei warfen ihm Übereifer bei den Plänen zur Reduktion des Haushaltsdefizits vor. Eine Regierungsquelle, die anonym bleiben wollte, erklärte der Nachrichtenagentur Reuters, Guzmáns Rücktritt sei darauf zurückzuführen, dass er keine politische Unterstützung für seine Agenda erhalten habe. Guzmán selbst schwieg sich über den Grund für seinen Rücktritt aus, doch sein anschließender Appell sprach Bände: Präsident Fernández solle die Konflikte innerhalb der regierenden Mitte-links-Koalition beheben, damit der nächste Minister nicht mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen habe wie er selbst. Der nächste Minister war eine Ministerin: Silvia Batakis, eine Vertraute von Cristina Kirchner. Sie war von 2011 bis 2015 Wirtschaftsministerin der bevölkerungsreichsten Provinz Buenos Aires und steht der kirchnernahen Organisation La Cámpora nahe, die von Cristinas Sohn Máximo 2006 gegründet wurde.

„Das ist das Schlimmste, was seit der Wiederherstellung unserer Demokratie passiert ist“

Was nach einem Durchmarsch der wirtschaftspolitischen Positionen von Cristina Kirchner aussah, entpuppte sich als kurze Episode im innerperonistischen Machtkampf. Batakis hielt sich nur 24 Tage im Amt. Einen Tag nach ihrem Antrittsbesuch beim IWF in Washington wurde ihre Absetzung beschlossen. Der Streit um die Ausrichtung der Finanz- und Wirtschaftspolitik war auch nach Guzmáns Rückzug munter weitergegangen. Schließlich wurde es den mächtigen Provinzgouverneuren zu bunt. Mit Nachdruck verlangten sie eine Einigung und eine Kabinettsumbildung. Und sie bekamen ihren Willen: Neuer Wirtschaftsminister mit zusätzlichen Kompetenzen, wie sie Guzmán gefordert hatte, wurde Sergio Massa, der Dritte aus dem Dreierbündnis von 2019. Neben Wirtschaft umfasst sein Super-Ministerium die zuvor eigenständigen Ressorts Produktion und Landwirtschaft. Dass der Minister für Produktion Matías Kulfas Anfang Juni entlassen wurde, nachdem er Cristina Kirchner öffentlich dafür kritisiert hatte, eine Anpassung der Gas- und Strompreise zu blockieren, kam ihm beim neuen Ressortzuschnitt zupass.

Massa machte bei der Vorstellung seiner Leitlinien dann klar, dass er beim Sparen auf den Pfaden Guzmáns wandeln wolle. Seine erste Priorität gilt der Reduzierung des primären Haushaltsdefizits – jenes ohne Berücksichtigung des Schuldendienstes aus Zins und Tilgungszahlungen. Es soll wie Guzmán es mit dem IWF vereinbart hat, auf 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gesenkt werden. Derzeit liegt es bei drei Prozent – und würde damit den EU-Maastricht-Regeln genügen, nicht aber dem IWF.

Massa will die Einsparungen vor allem über eine zielgerichtetere Subventionierung der Energiepreise erreichen, die durch die infolge des Ukraine-Krieges gestiegenen globalen Energiepreise den Staatshaushalt stärker belasten denn je. Ab August hat die Regierung unter Massas Anleitung eine „Tarifsegmentierung” eingeführt, so dass die kaufkräftigere Bevölkerung nicht mehr in den Genuss von Subventionen kommt, die bis dahin seit der Krise 2001 von allen in Anspruch genommen werden konnten und wurden.

Massa will auch eine Obergrenze für den subventionierten Energieverbrauch pro Haushalt einführen und kündigte an, dass ab September auch der Wasserverbrauch segmentiert werden soll. Nur noch Grundkontingente werden subventioniert, Vielverbraucher müssen teuer ihren Mehrverbrauch selbst finanzieren. Laut Massa wird der Staat mit diesen Maßnahmen „500 Milliarden Pesos pro Jahr einsparen”. Das entspricht etwa den 0,5 Prozent des BIPs, um die das Haushaltsdefizit gesenkt werden muss.

Die Kirchner-Vertraute Silvia Batakis hielt sich nur 24 Tage im Amt

Ob die Rechnung aufgeht, bleibt offen. Massas Ankündigungen stießen nicht auf ungeteilte Zustimmung. Am 17. August zogen Hunderttausende Demonstrant*innen in Buenos Aires zum Parlament. Aufgerufen hatten Gewerkschaftsverbände und verschiedene politische und soziale Organisationen. Sie fordern die Anpassung von Löhnen, Renten und Sozialhilfen an die Inflation. Die Demonstration richtete sich nicht explizit gegen die Regierung, forderte von ihr jedoch eine „entschiedene Politik zugunsten der schwächeren Teile der Gesellschaft und gegen die konzentrierten Wirtschaftsgruppen“.

Überlagert wurden die Proteste nur wenige Tage später durch die Korruptionsanklage gegen Cristina Kirchner. Am 22. August forderte die Staatsanwaltschaft zwölf Jahre Haft wegen angeblicher Korruption. Kirchner genießt Immunität und ob das Bundesgericht der Staatsanwaltschaft folgt, ist auch noch nicht ausgemacht, aber in Argentinien kochen seitdem die Emotionen hoch. Direkt nach dem Verdikt der Staatsanwaltschaft zogen Gegner*innen von Kirchner vor ihr Haus im gehobenen Stadtvierel Recoleta, wo auch die Grabstätte der Ikone Evita Perón liegt, um sie zu beschimpfen. Ihre zahlreichen Anhänger*innen reagierten prompt, strömten ihrerseits zu ihrem Haus und halten seitdem ununterbrochen eine Mahnwache ab. Ihr Motto: „Wenn sie Cristina anfassen, werden sie Aufruhr ernten.“

Aus dieser Menge heraus hat am 1. September der Attentäter, der von der Bundespolizei als Fernando Andre Sabag Montiel, ein 35-jähriger Brasilianer, identifiziert wurde, agiert. Nach Angaben der Polizei war er bereits wegen Waffenbesitzes vorbestraft. Er gilt als bekennender Rechtsradikaler. Und es war denkbar knapp: Nur die Ladehemmung der Pistole rettete Cristina Kirchner das Leben. Ein Kopfschuss aus nächster Nähe, wie ihn der Attentäter – von Fernsehkameras dokumentiert – versuchte, ist in der Regel tödlich. Zur Befriedung der Lage wird das missglückte Attentat kaum beitragen.

Friedlich blieb der Tag darauf, den die Regierung zum freien Tag erklärte, um der Bevölkerung die Teilnahme an den Kundgebungen zu ermöglichen. Auf der Plaza de Mayo versammelten sich viele Tausend Menschen, um Cristina Kirchner ihre Solidarität zu bekunden und ein Ende der politischen Gewalt einzufordern. Das tat noch am Tag des Attentats auch Präsident Alberto Fernández. „Das ist das Schlimmste, was seit der Wiederherstellung unserer Demokratie passiert ist“, sagte das Staatsoberhaupt in einer aufgezeichneten Botschaft, die gegen Mitternacht gesendet wurde. „Cristina bleibt am Leben, weil die Waffe, die fünf Kugeln enthielt, aus einem technisch noch nicht bestätigten Grund nicht abgefeuert wurde, obwohl sie ausgelöst worden war“, sagte er. Er rief dazu auf, keine weitere Minute zu verschwenden, um „Gewalt und Hass aus dem politischen und medialen Diskurs zu verbannen.“ Wenigstens die zerstrittenen Peronisten könnte dieses Attentat wieder zusammenrücken lassen. Für ganz Argentinien ist das kaum zu erwarten.

„WIR BEGINNEN NICHT BEI NULL“

Basisdemokratisch Wahl des Kommunalen Rats im Barrio Las Casitas im Juli 2022 (Foto: Tobias Lambert)

Kommunale Räte, in denen Nachbar*innen basisdemokratisch über die Verwendung von Geldern entscheiden, galten einst als Kernstück des linken Projektes unter dem 2013 verstorbenen Präsidenten Hugo Chávez. In den vergangenen Jahren wurden sie häufig von der Regierung vereinnahmt. Widerspricht dies nicht komplett der Grundidee?
Die Idee der Kommunalen Räte war, dass die Menschen Zugang zu Ressourcen brauchen, um wirkliche Macht ausüben zu können. 2005 kontrollierte der regierende Chavismus die große Mehrheit der Ämter, inklusive des Parlaments. Aber im Territorium, bei den Menschen vor Ort, kann kein gewählter Amtsträger, schon gar nicht der Präsident, permanent präsent sein. Dies kann nur die organisierte Bevölkerung als Selbstregierung von unten. Die Zentralregierung muss solche Prozesse eigentlich unterstützten und darf sie nicht vereinnahmen. Das war der strategische, theoretische Ansatz von Chávez. Es ging darum, eine andere Gesellschaft zu schaffen. Die Wirklichkeit sieht freilich anders aus.

Und zwar wie?
Von Anfang an gab es viele Konflikte mit der Regierungspartei PSUV (Vereinte Sozialistischen Partei Venezuelas) und immer Versuche der Vereinnahmung. Chávez wusste, dass seine politische Basis Parteien und Bürokratie gegenüber skeptisch war. Aber ab 2007 begann er parallel zu den Kommunalen Räten damit, die PSUV aufzubauen. Diese beiden Konzeptionen des Chavismus entwickelten sich also mehr oder weniger zeitgleich. Mit Blick auf die Partei war Chávez aber durchaus auch kritisch und sich über deren Grenzen bewusst. In seiner letzten programmatischen Rede 2012 hat er sich klar für die Comuna (Zusammenschluss mehrerer Räte, Anm. d. Red.) als Organisationsprinzip ausgesprochen.

Heißt das, von den beiden parallel verlaufenden Organisationsprozessen hat sich letztlich die Partei gegenüber basisdemokratischen Ansätzen durchgesetzt?
Die Parteiführung, und bis zu einem gewissen Punkt auch Chávez selbst, versuchten, die Bewegung einzufangen. Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sahen die Kommunalen Räte als Konkurrenz, die ihre eigenen Ämter bedroht. Die eigentliche Bedeutung des Ansatzes hat der regierende Chavismus nie verstanden. Es gab einzelne Kommunale Räte und Comunas, die viel Unterstützung erhielten und andere, in denen die Institutionen permanent ausbremsten. Schon während meiner Zeit als Minister gab es Stimmen, die sagten, in den Räten konzentriere sich die Opposition. Als könnten die Regierungsgegner in einem Territorium, in dem der Chavismus insgesamt eine deutliche Mehrheit hat, den Kommunalen Rat kontrollieren! Mit diesem Argument unterband die Regierung während der schweren Wirtschaftskrise ab 2016/2017 dann die Neuwahl der Sprecher*innen und Sprecher der Kommunalen Räte, um die Kontrolle über diese Räume nicht zu verlieren. Nun ändert sich das, seit Ende Juni finden wieder Wahlen statt.

Was steckt dahinter?
Es ist nicht klar, wie es zu dem Richtungswechsel in der Frage kam. Aber innerhalb der Institutionen nehmen einzelne Personen das Thema noch immer ernst. Die Wahlen der Sprecherinnen und Sprecher auszusetzen war nicht nur ungeschickt, sondern stellte das Eingeständnis dar, dass die Regierung nicht in der Lage ist, über demokratische Abstimmungen das Territorien zu kontrollieren. Einige Comunas haben sich widersetzt, zum Beispiel El Maizal im Bundesstaat Lara. Doch derartige Erfahrungen haben jeweils mit der spezifischen politischen Situation vor Ort zu tun, die von der Partei nicht gutgeheißen wird. Das sind aber genau die Erfahrungen, die auch außerhalb Venezuelas wahrgenommen werden. Dort, wo die Selbstregierung schwächer ausgeprägt war, haben sie von oben ihre Strukturen übergestülpt. Häufig waren diese aber nur deshalb so schwach, weil der Staat in den Jahren zuvor wenig Unterstützung geleistet hat.

Schon unter Chávez hieß es aufgrund der ständigen Bedrohung durch die Opposition oder die US-Regierung häufig, fundierte Kritik spiele der Rechten in die Hände. Kann sich ein revolutionärer Prozess ohne interne Kritik weiterentwickeln?
Bei dem Thema gab es immer Spannungen. Einerseits hatten wir die rechte Opposition, die den Chavismus als brutal, irrational und gewalttätig darstellte. Aber auch die Regierung hielt den Chavismus von unten als nicht gut genug vorbereitet, um sich selbst zu regieren. Einigen Regierungsmitgliedern galt die chavistische Basis eher als Mobilisierungsmasse für Kundgebungen. Sie sahen sie als Kunden, als Nutznießer des Staates. Dieser Ansicht nach fungierst du also nicht als Bürger, der Rechte hat, sondern als Hilfeempfänger. Wenn du Kritik übst, Dinge anzweifelst oder dich auf der Straße für deine Rechte einsetzt, bist du also undankbar und trägst zur Spaltung bei. Und Chávez selbst spielte eine ambivalente Rolle. Er forderte stets Kritik ein, nahm sie dann aber manchmal nicht gut auf.

Wie hat sich die Kritikfähigkeit unter der Regierung Maduro verändert?
Als Chávez starb, verfolgte Nicolás Maduro zunächst eine Politik, die er „Regierung der Straße” nannte und die ich immer verteidigt habe. Ein Jahr lang nahmen alle Minister und Ministerinnen landesweit an vielen Aktivitäten wie Versammlungen teil. Doch danach sind sehr viele Dinge passiert. Es ist unmöglich, die Entwicklung auf einzelne Ursachen zurückzuführen. Die strukturellen Grenzen der venezolanischen Ökonomie und der Verlust der historischen Führungsfigur setzte uns großen strategischen Gefahren aus. Hinzu kam ab 2014 der Verfall der Erdölpreise, dann die US-Sanktionen gegen staatliche Unternehmen und Banken, wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen und ein tiefes Misstrauen in die Selbstorganisierung der Bevölkerung wie Kommunale Räte, Comunas oder selbstverwaltete Betriebe. Und die Verschlimmerung der Krise diente als Rechtfertigung dafür, all dies hinter sich zu lassen, da man nun realistisch, pragmatisch sein müsse.

Was heißt das konkret?
Ab 2015 erlebten wir etwas, das unter Chávez verschwunden war. Wir mussten wieder für Dinge des täglichen Gebrauchs Schlange stehen. Erst ein paar Stunden, dann einen ganzen Tag, zwei Tage oder sogar noch länger. Wir standen nicht nur bei privaten Läden an, sondern auch bei staatlichen Einrichtungen. Und wir sahen, wie Staatsangestellte diese Dinge des täglichen Gebrauchs raubten. Das war erniedrigend. In einer Phase, in der es kaum mehr staatliche Mittel gab und Knappheit herrschte, sagte die Regierung dann: Das wenige Geld geht jetzt nicht mehr an die organisierte Bevölkerung, sondern wir gehen Allianzen mit dem Privatsektor ein. Wir produzieren nicht mehr mit Arbeitern im Kollektiv oder Kommunalen Räten, die nicht mit Geld umgehen können, wie einige von Anfang an behaupteten. Egal, ob es sich um Antichavisten handelt, Hauptsache, sie produzieren. Einige Regierungsvertreter sprachen zu dieser Zeit ernsthaft von einer „revolutionären Bourgeoisie“. Trotz allem gab es Gründe, weiterhin die Regierung zu verteidigen.

Inwiefern?
In dieser Phase gab es auch oppositionelle Gewalt gegen öffentliche Einrichtungen, Angriffe auf Chavisten und einen Attentatsversuch auf Maduro. In dem Kontext fühlst du dich beinahe dazu verpflichtet, die Regierung zu verteidigen. Gleichzeitig siehst du, wie sie neben dir klauen. Man muss die Regierung kritisieren, aber heute ist das schwierig geworden. Wenn verhaltene Kritik an einzelnen wirtschaftspolitischen Entscheidungen geübt wird, sind die offiziellen Reaktionen heftig. Es ist dann schnell von Verrätern, CIA-Infiltrierten oder Konterrevolutionären die Rede. Und das für Kritik an einer Wirtschaftspolitik, die sich eindeutig gegen die Unterschichten richtet. Es gibt Arbeiter, die in Haft sind, weil sie Korruptionsfälle angezeigt haben, etwa bei PDVSA [dem staatlichen Erdölunternehmen, Anm. d. Red.] oder der Flugsicherung. Ich glaube nicht, dass die Befehle für solche Repression von Maduro kommen, dass es eine Politik des Staates ist. Aber es sind staatliche Handlungsmuster. Entweder gibt es Repression oder du wirst ignoriert oder sie versuchen, dich zu kooptieren.

Außerhalb Venezuelas halten es viele Menschen für völlig unverständlich, dass der Großteil des Basischavismus angesichts dieser deutlichen Kritik nicht mit der Regierung bricht. Wie ist das zu erklären?
Das ist nicht so kompliziert. Politik findet nicht im luftleeren Raum statt. Vielleicht haben wir einen schlechten Weg eingeschlagen, aber eine Sache ist es, einen schlechten Weg einzuschlagen und eine andere, ins Leere zu springen. So brutal pragmatisch wie die Regierung im Ökonomischen ist, so brutal pragmatisch sind wir im Politischen. Trotz all der Fehler, die die Regierung haben kann, wären die Dinge noch viel schlimmer, wenn die Rechte an der Macht wäre. Alles was in Venezuela unter der Präsidentschaft von Chávez entstanden ist, basierte auf sehr viel Unterstützung des Staates. Die Comunas zum Beispiel hätten nach einem Wahlsieg der Rechten, wenn sie dann Verfassung und Gesetze ändern würde, keinen Platz mehr, keine Existenzberechtigung.

Aber was ist das alles Wert, wenn die eigene, die vermeintlich linke Regierung die demokratischen Räume ebenfalls einengt?
Gut, man kann sagen, dass es keinen Sinn macht, wenn sich eine Regierung als chavistisch bezeichnet, die Comunas jedoch nicht unterstützt. Darüber können wir diskutieren. Doch der Kampf geht darum, dass Kommunale Räte und Comunas wieder Teil der staatlichen Politik werden und die nötige Unterstützung erhalten. Viele Leute aus unserer Klasse, Freunde, Familienangehörige, sie glauben nicht mehr an dieses Projekt. Sie haben alles Recht dazu und Argumente auf ihrer Seite. Die Verantwortung dafür trägt nicht die US-Regierung, auch wenn sie eine kriminelle Politik verfolgt. Die Verantwortung trägt vor allem unsere politische Führung. Es ist aber kein Widerspruch, sich als Chavist zu verstehen und der Regierung gegenüber enorm kritisch zu sein. Sich hingegen in eine unkritische Person zu verwandeln, die nichts gegen die Regierungspolitik sagt, das ist keine Option.

Ich denke aber, das wichtigste Phänomen im heutigen Venezuela ist nicht das, worüber wir hier reden. Das ist eher eine Diskussion der Bewegungen. Der Großteil der Menschen ist heute demobilisiert und hat sich politisch zurückgezogen.

Welche Effekte hat dies?
Es sind schätzungsweise 70 Prozent der Bevölkerung, die mit der Rechten nichts anfangen können. Aber ich kann nicht abschätzen, wie viele von diesen bei zukünftigen Wahlen einen moderaten Mitte-Rechts-Kandidaten vorziehen könnten, weil sie so unzufrieden sind. Es ist gefährlich, wenn sich die chavistische Führung darauf verlässt, dass die Opposition niemals ihre Probleme überwinden oder sich von der beschämenden Rolle der USA lösen wird. Du kannst nicht ewig darauf setzen, dass der Gegner Fehler macht. Stattdessen musst du aus deinen eigenen Fehlern lernen. Diese Reflexion müsste die politische Klasse machen, aber dafür sehe ich keine Anzeichen.

Welche Perspektiven hat der Chavismus von unten?
Nicht nur der regierende Chavismus hat gerade seinen schlechtesten Moment. Das gleiche gilt für die Opposition. Und letztlich auch für den Chavismus von unten. Zumindest aber gibt es einen fruchtbaren Boden für chavistische Politik. Unsere Aufgabe ist es, Kräfte zu bündeln, eine zersplitterte und geschwächte Bewegung zu stärken. Wir müssen neu beginnen. Aber wir beginnen nicht bei Null. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre sind geschwächt, aber immer noch vorhanden.

WAHLEN IM KRISENMODUS

Könnte wieder Präsident werden Wirtschaftskreise und Medien werben für José María Figueres als Krisenmanager (Foto: Larry Luxner, The Washington Diplomat via Flickr (CC BY 2.0))

Am Ende der vierjährigen Amtszeit des sozialliberalen Präsidenten Carlos Alvarado befindet sich Costa Rica in einer schweren Mehrfachkrise. Harsche neoliberale Reformen, die Corona-Pandemie, die schwerste Wirtschaftskrise seit 40 Jahren, gesellschaftspolitische Polarisierung und zwei große Massenproteste (siehe LN 534 & 557) haben das Land erschüttert.

In dieser Krisensituation verstärkt sich der seit einigen Jahren zu beobachtende Vertrauensverlust in die Politik. In einer von der Universität von Costa Rica durchgeführten Umfrage gaben 25 Tage vor der Wahl 43 Prozent der Befragten an, noch nicht zu wissen, für wen sie stimmen werden. Das ist ein Rekordwert und bedeutet eine beinahe Verdopplung im Vergleich zu den letzten Wahlen 2018.

Seit vielen Jahren stagniert das Wirtschaftswachstum in Costa Rica, während die Staatsverschuldung ungebremst steigt. In dieser Situation traf die Corona-Rezession das Land hart und hat die schwerste Wirtschaftskrise seit den 1980er-Jahren verursacht. Der Abbruch der internationalen Lieferketten und das Ausbleiben internationaler Tourist*innen haben Costa Rica schwer getroffen. Die Wirtschaftsleistung schrumpfte 2020 um 5,6 Prozent. Die Staatsverschuldung zog dramatisch an und erreichte laut Internationalem Währungsfonds (IWF) im vergangenen Jahr 75 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – der dritthöchste Wert in Lateinamerika. Bis Ende 2020 verdoppelte sich die Arbeitslosenquote im Vergleich zum Vorjahr auf einen Rekordwert von 20 Prozent. Mittlerweile ist sie offiziell auf 14 Prozent gefallen, wobei es einen großen Anteil prekärer und informeller Arbeit im Land gibt.

So wundert es nicht, dass Wirtschaftspolitik und Arbeitslosigkeit die dominierenden Themen des Wahlkampfes gewesen sind. Mag der Ausgang der Wahlen noch kaum absehbar sein, so ermöglicht der Wahlkampf doch eine Prognose der zukünftigen Regierungspolitik. Fast unisono verkünden die Präsidentschaftskandidat*innen ihre Vorschläge zur Lösung der Krise: Bürokratieabbau, keine Steuererhöhungen, Kürzungen im Staatssektor und Stimulierung der Privatwirtschaft.

Insgesamt 25 Kandidat*innen treten zur Präsidentschaftswahl an. Realistische Chancen werden nur drei und mögliche Chancen zwei weiteren Kandidat*innen zugesprochen. Da Umfragen den Spitzenkandidat*innen maximal 20 Prozent voraussagen, gilt eine Stichwahl am 3. April als sicher. Diese sieht die Verfassung vor, wenn in der ersten Runde niemand 40 Prozent der Stimmen auf sich vereinen kann.

Bei den meisten Umfragen führt José María Figueres von der einst sozialdemokratischen, mittlerweile aber in fast allen Fragen rechts der Mitte stehenden Partido Liberación Nacional (PLN). Selbst Sohn des republikprägenden Präsidenten José Figueres Ferrer, war er bereits von 1994 bis 1998 Präsident Costa Ricas. Seine Regierung führte rigide neoliberale „Strukturanpassungsmaßnahmen“ nach der Aufnahme eines Kredits bei der Weltbank durch. In der Vergangenheit sind Korruptionsvorwürfe gegen Figueres erhoben worden.

In den letzten Umfragen hat Lineth Saborío von der sozialchristlichen Partido Unidad Social Cristiana (PUSC) stark aufgeholt. Die einzige Frau unter den Spitzenkandidat*innen war von 2002 bis 2006 Vizepräsidentin. Hohe Umfragewerte genießt auch der evangelikale erzkonservative Prediger Fabricio Alvarado. Bei den Präsidentschaftswahlen 2018 zog er überraschend mit den meisten Stimmen in die Stichwahl ein, unterlag dann dem sozialliberalen Gegenkandidaten und heutigen Präsidenten Carlos Alvarado aber deutlich. Kurz nach der Wahl trat er wegen Korruptionsvorwürfen aus der evangelikalen Sammlungspartei aus und gründete die rechtskonservative Partido Nueva República (PNR).

Weniger aussichtsreich sind die Kandidaturen des Sozialisten José María Villalta und des sozialliberalen ehemaligen Finanzministers Rodrigo Chaves. Keine Umfrage hat ihnen bislang einen Einzug in die Stichwahl prognostiziert – ein Überraschungserfolg scheint jedoch nicht ausgeschlossen.

Sicher ist schon jetzt der Niedergang der progressiven Partido Acción Ciudadana (PAC) des amtierenden Präsidenten. Da die costa-ricanische Verfassung eine unmittelbare Wiederwahl verbietet, kann Alvarado im Februar nicht zur Wahl antreten. Mit historisch schlechten Zustimmungs- werten von zuletzt 15 Prozent hätte er ohnehin keine Chance. Welmer Ramos, der blasse Kandidat der PAC, wurde aufgrund miserabler Umfragewerte zuletzt nur noch unter „Sonstige“ geführt. Beobachter*innen halten es für möglich, dass die PAC im zukünftigen Parlament nur noch mit einem von 57 Abgeordneten vertreten sein könnte – statt wie bisher mit zehn.

Die PAC wurde 2000 von Politiker*innen des linken Flügels der PLN gegründet, die den neoliberalen Kurs der Partei nicht mehr mittragen wollten. Ihr Kandidat Luis Guillermo Solís gewann die Wahlen 2014 mit einem Erdrutschsieg, wodurch die PAC erstmalig den Präsidenten stellte und das tradierte Zweiparteiensystem beendete. Über Jahrzehnte hatten sich zuvor stets die PLN und die PUSC in der Regierung abgewechselt.

Schon die Amtszeit von Solís enttäuschte jedoch die hohen Erwartungen an die PAC. Statt durch einen Aufbruch war die Amtszeit von weitgehender Kontinuität geprägt. Gleichzeitig wurde während seiner Amtszeit mit dem cementazo der größte Korruptionsskandal der jungen Vergangenheit Costa Ricas aufgedeckt, in den auch Politiker*innen der PAC involviert waren. Für die Wahl 2018 sah es so aus, als würde der Präsidentschaftskandidat der PAC, Carlos Alvarado, nicht einmal in die Stichwahl einziehen.

Doch dann stellte im Januar 2018 ein Urteil des Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (CIDH) den Wahlkampf auf den Kopf. Das Gericht urteilte, dass Costa Rica die gleichgeschlechtliche Ehe legalisieren müsse. Unerwartet zogen daraufhin Carlos Alvarado als dezidiertester Befürworter des Urteils und der homofeindliche Evangelikale Fabricio Alvarado in die Stichwahl ein. Mit 60 Prozent der Stimmen gewann Carlos Alvarado deutlich (siehe LN 526).

Die Präsidentschaft Alvarados stand von Beginn an unter schlechten Vorzeichen. Die PAC stellte nur die drittgrößte Fraktion im Parlament, die Stimmung war polarisiert und die wirtschaftliche Situation immer angespannter. In dieser Lage verschärfte Alvarado den progressiv-neoliberalen Kurs seines Vorgängers. 2018 beschloss die Regierung Kürzungen im öffentlichen Dienst und Steuererhöhungen. Darauf reagierten die Gewerkschaften mit dem längsten Streik der jüngeren Geschichte Costa Ricas, was die Regierung mit Einschränkungen des Streikrechts beantwortete.

2020 brach dann die Pandemie über das Land herein. Die Regierung wurde für ihr schnelles und dezidiertes Handeln zunächst international gelobt. Durch den Einbruch der Wirtschaftsleistung sah sie sich jedoch genötigt, die Maßnahmen früh zu lockern. Anfang 2021 stimmte die Regierung dann der Aufnahme eines IWF-Kredites in Höhe von knapp 1,8 Milliarden US-Dollar zu. Mit dem Geld sollte der Staatshaushalt stabilisiert und die Wirtschaft stimuliert werden. Mit der Aufnahme des Kredits verpflichtete sich die Regierung dazu, bis 2023 einen Haushaltsüberschuss zu erwirtschaften, der vor allem über Einsparungen im öffentlichen Sektor, Steuererhöhungen und Verwaltungsreformen erzielt werden soll. Gegen dieses Vorhaben brachen im ganzen Land Massenproteste aus, die monatelang anhielten.

Selbst konservative Katholik*innen halten Fabricio Alvarado für einen Extremisten

Gleichzeitig hat die Regierung Alvarado einige wichtige gesellschaftspolitische Reformen beschlossen, etwa die Gleichstellung der gleichgeschlechtlichen Ehe und die Erneuerung der Abtreibungsgesetzgebung. Diese Reformen hatten jedoch keine Mehrheit in der Bevölkerung hinter sich. Praktisch hat die PAC unter Alvarado gesellschaftspolitisch gegen die Mehrheit der Bevölkerung und wirtschaftspolitisch gegen die Mehrheit ihrer früheren Anhänger*innen regiert.

In dieser Gemengelage wird der Ausgang der jetzigen Wahlen mit großer Spannung erwartet. Die Ergebnisse der Parlamentswahlen sind hierbei noch schwerer vorherzusagen als die der Präsidentschaftswahlen. Bei Letzteren werden sich am Ende möglicherweise nicht diejenigen durchsetzen, die am meisten Zustimmung genießen, sondern jene, die am wenigsten Ablehnung erfahren.

Wie schon 2018 könnte der rechtskonservative Kandidat Fabricio Alvarado in die Stichwahl einziehen. Dass im April aber mehr Menschen für ihn stimmen werden als in der polarisierten Situation 2018, ist unwahrscheinlich. Zwar machen die Evangelikalen in Costa Rica mittlerweile um die 20 Prozent der Bevölkerung aus – mit steigender Tendenz. Aber selbst konservative Katholik*innen halten ihn für einen Extremisten.

Teile des medialen und wirtschaftlichen Establis­h­­­ments machen bereits Stimmung für José María Figueres und werben für ihn als Krisenmanager. Und wie bei allen Wahlen seit 2006 dürfte die PLN wohl als stärkste Kraft ins Parlament einziehen. Sie hat nach wie vor eine große Stammwähler*innenschaft und verfügt über einen funktionsfähigen Parteiapparat. Keine Partei ist jedoch so unbeliebt wie die PLN. Und unter den Kandidat*innen steht niemand mehr für das Establishment und das alte Zweiparteiensystem als der ehemalige Präsident Figueres.

Sollte Lineth Saborío die Stichwahl erreichen, könnte die öffentliche Ablehnung von Figueres und Alvarado für sie sprechen. Zwar gilt auch die PUSC als korrupte Repräsentantin der Vergangenheit, sie ist jedoch bei Weitem nicht so verhasst wie die PLN.

Wer auch immer die Präsidentschaftswahl gewinnen mag, das Regieren dürfte in der kommenden Legislaturperiode noch schwieriger werden. Zu erwarten ist, dass noch mehr Parteien ins Parlament einziehen als bisher, was es noch schwieriger machen wird, parlamentarische Mehrheiten zu finden.

Die Wirtschaftsprobleme und die soziale Ungleichheit im Land werden kaum innerhalb von vier Jahren behoben werden. Die Weltbank zählt Costa Rica mittlerweile zu den 20 Ländern mit der größten Ungleichheit der Einkommensverteilung. Die drohenden neoliberalen Reformen dürften diesen Zustand noch verschärfen und könnten in der fragilen Situation weiteren Sprengstoff bedeuten. Iván Molina, Professor für Geschichte an der Universität von Costa Rica, vergleicht die momentane Situation im Land mit der Chiles vor den Protesten im Jahr 2019. Er schreibt gar von einer „Demokratie am Abgrund“. Eine beunruhigende Diagnose für die älteste durchgängige Demokratie Lateinamerikas.

VOM MUSTERLAND ZUM IWF-KREDITNEHMER

Spaltpilz? Die “Bewegung Nationale Rettung” nutzt nationalistsiche Symbolik, Foto: Facebook: Movimiento Rescate Nacional

Bis Juni hatte sich die Lage so gut entwickelt, dass viele Beobachter*innen gar von einem Musterland sprachen. Kurz nach der ersten Covid19-Infektion verhängte die Regierung ab Mitte März schrittweise einen Lockdown: Schulen wurden geschlossen, Versammlungen verboten, die Ladenöffnungszeiten stark eingeschränkt und öffentliche Institutionen weitgehend geschlossen. Auch die Grenzen des stark vom Tourismus abhängigen Landes wurden geschlossen. Um die Auswirkungen der Maßnahmen auf die Wirtschaft zu dämpfen, beschloss die Regierung des sozialdemokratischen Präsidenten Alvarado, zahlreiche Konsumsteuern auszusetzen und Bürger*innen Sofortkredite zu gewähren.

Nach dem ersten Todesfall durch Covid-19 Mitte März explodierten die Fallzahlen nicht, sondern stagnierten auf niedrigem Niveau, mit im Schnitt unter 20 neuen bestätigten Fällen täglich. Vor allem die Todesrate konnte sehr niedrig gehalten werden: Nach drei Monaten der Pandemie hatte Costa Rica erst den elften Todesfall zu verzeichnen. Neben den schnellen Maßnahmen der Regierung wurde vor allem die gute öffentliche Gesundheitsversorgung für das Abfedern der Pandemie verantwortlich gemacht. Costa Rica investiert fast zehn Prozent seines Bruttoinlandsproduktes in das Gesundheitssystem, womit es laut OECD weltweit zu den zwölf Staaten mit den höchsten Anteilen der Staatsausgaben für Gesundheit zählt.

Aufgrund der unbedenklichen Lage und um die inzwischen schwächelnde Wirtschaft des Landes wieder anzukurbeln, lockerte die Regierung den Lockdown ab Juni schrittweise. Dies machen viele Beobachter*innen für die seitdem kontinuierlich steigenden Fallzahlen verantwortlich. 360 Intensivbetten für Corona-Infizierte gibt es im Land. Anfang September mahnte Gesundheitsminister Daniel Salas öffentlichkeitswirksam: „Es scheint, als stünden wir kurz vor dem Kollaps. 65 Prozent der Corona-Intensivbetten sind belegt.“ Mit den Fallzahlen und der Überlastung des Gesundheitssystems sind auch die Todeszahlen in die Höhe geschossen. Zum 1. Oktober wurden offiziell 904 verstorbene Coronapatient*innen gemeldet.

Der Gesundheitsexperte Luis Rosero nennt die Situation „paradox“: Costa Rica weise eine der höchsten Infektionsraten und zugleich eine der niedrigsten Sterblichkeitsraten in Lateinamerika auf. Paradox ist auch, dass die Regierung seit September weiter lockert. Unter dem Slogan „Costa Rica arbeitet und passt auf sich auf“ wird eine Strategie der „kontrollierten Öffnung“ verfolgt: Massenveranstaltungen bleiben untersagt und Orte, an denen Menschen gedrungen aufeinandertreffen, geschlossen. Ansonsten kann in nahezu allen Bereichen gewöhnlicher Betrieb unter Wahrung der Hygieneregeln stattfinden.

Vor allem die marginalisierten Bevölkerungsteile sind gefährdet

Im Kampf gegen das Virus setzt die Regierung vor allem auf Aufklärungskampagnen und das Einhalten der grundlegenden Hygieneregeln. Bereits im Juli machten der Leiter der renommierten Sozialkasse CCSS, Román Macaya, und Gesundheitsminister Salas eine zunehmende Nichteinhaltung der Hygieneregeln durch die Bevölkerung hauptverantwortlich für das Infektionsgeschehen. Selbstkritik an den Maßnahmen der „kontrollierten Öffnung“ ist aus Regierungskreisen kaum zu vernehmen. Während Salas und Macaya Feiern und Gruppenaktivitäten im Juli als Hauptinfektionsherde ausmachten, wurden diese mit begrenzter Teilnehmendenzahl nun wieder erlaubt.

Die Hotspots des regionalen Infektionsgeschehens zeigen deutlich, dass vor allem die marginalisierten Bevölkerungsteile gefährdet sind. Mittlerweile weist das Valle Central die mit Abstand höchsten Infektionszahlen im Land auf. In der Hochebene, in der auch die Metropolregion der Hauptstadt San José liegt, wohnen etwa zwei Drittel der Bevölkerung des Landes. Vor allem in den dicht besiedelten Armenvierteln mit schlechter sanitärer Infrastruktur grassiert das Virus.

Anfänglicher Hotspot waren jedoch die nördlichen Agrarregionen an der Grenze zu Nicaragua. Hier erstreckt sich mit einem Großteil der Ananasplantagen ein entscheidender Teil der Landwirtschaft des Landes. Das Virus breitete sich zunächst unter den Landarbeiter*innen aus. Ein großer Teil der Arbeit wird hier von Nicaraguaner*innen geleistet. Laut einer Zählung des nationalen Statistikinstituts INCE lebten im Jahr 2011 fast 300.000 Nicaraguaner*innen in Costa Rica . Viele von ihnen arbeiten im Niedriglohnsektor oder informell als Landarbeiter*innen oder Haushaltskräfte. Dazu kommen noch einmal knapp 100.000 Nicaraguaner*innen, die als Saisonkräfte zwischen den Ländern pendeln. Nationalistische Kräfte beschuldigten sie, das Virus über die angeblich unbewachte Grenze nach Costa Rica getragen zu haben.

Die globale Rezession hat das Land, das sich ohnehin in einer sehr unsicheren wirtschaftlichen Situation befindet, hart getroffen. Seit Jahren kämpft Costa Rica mit langsamem Wirtschaftswachstum und konstant steigender Staatsverschuldung. Erst Ende 2018 hatte das Parlament Sparmaßnahmen der Regierung zugestimmt, um das wachsende Haushaltsdefizit auszugleichen (siehe LN 534). Mit Steuererhöhungen, Rentenkürzungen und Einsparungen im öffentlichen Dienst setzte die regierende sozialdemokratische PAC genau die neoliberale Politik um, die sie seit ihrer Gründung im Jahr 2000 scharf kritisiert hat.

Im zweiten Quartal 2020 ist die Wirtschaftsleistung laut der Zentralbank Costa Ricas um 8,6 Prozent eingebrochen. Die Arbeitslosenquote ist von etwas über zehn Prozent im vergangenen Jahr auf ein historisches Hoch von 24 Prozent gestiegen. 2019 hat das Haushaltsdefizit und die Staatsverschuldung die höchsten Werte seit den 1980er Jahren erreicht.

Von zentraler Bedeutung für die Wirtschaft ist der Tourismussektor, der für etwa acht Prozent des Bruttoinlandsproduktes und rund 200.000 Arbeitsplätze sorgt. Tourismusminister Gustavo Segura hatte schon früh darauf gedrängt, die Grenzen für ausländische Tourist*innen wieder zu öffnen. Anfang September landete dann der erste Urlaubsflieger aus den USA in San José. Segura kündigte an, dass ab November – vor Beginn der Hochsaison – auch Kreuzfahrtschiffe wieder Halt in Costa Rica machen würden. Während das Land immer mehr Regionen von der Sperrliste nimmt, steht es selbst noch auf den Risikolisten der meisten Länder der Welt.

„Es scheint, als stünden wir kurz vor dem Kollaps“

Um die Wirtschaft wieder zu stimulieren, pocht die Regierung auf finanzielle Hilfe durch den IWF. Bereits im April wurde Costa Rica eine halbe Milliarde US-Dollar Notfallhilfe gewährt. In den nun angelaufenen Gesprächen geht es um einen Kredit in Höhe von 1,75 Milliarden US-Dollar – es sind die ersten Kreditverhandlungen mit dem IWF seit den 1980er Jahren. Das Angebot der Regierung sieht vor allem die Erhöhungen der Einkommens- und Unternehmenssteuer, die Einführung einer Finanztransaktionssteuer und Veräußerungen von Staatseigentum vor. Ziel sei es, die sozialen Sicherungssysteme wie die CCSS zu erhalten, hieß es aus dem Präsidentensitz.

Die Zurückweisung der Regierungspläne in der Bevölkerung könnte kaum stärker sein: Gewerkschaften, zivilgesellschaftliche Organisationen, Unternehmensverbände und Kirchen stellen sich nun gegen die Regierung. Im Parlament ist einzig die PAC für die Pläne und stellt lediglich zehn der 57 Abgeordneten. Die mit 17 Parlamentarier*innen größte Fraktion der neoliberalen, einst sozialdemokratischen PLN, hat den Plänen in einer Pressemitteilung bereits ihre klare Absage erteilt. 80 Prozent der Vorschläge bestünden aus Steuererhöhungen und nur 20 Prozent aus Sparmaßnahmen. „Das offensichtliche Ungleichgewicht der geplanten Maßnahmen wird durch das Fehlen von Vorschlägen zur Reaktivierung der Wirtschaft noch schlimmer“, heißt es dort. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlament äußerte der evangelikale Parlamentspräsident Eduardo Cruickshank: „Ich sehe in der Legislativversammlung keine Stimmung, die Steuererhöhungen unterstützen würde.“

Die Ex-Präsident*innen Óscar Arias, Laura Chinchilla und Luis Guillermo Solís haben nun die Oppositionsparteien zum Dialog aufgerufen. Unterdessen kam es am 30. September zu landesweiten Demonstrationen, Streiks und Blockaden der „Bewegung Nationale Rettung“ unter dem Slogan „Keine weiteren Steuern!“. Die Bewegung wird unter anderem von Célimo Guido Cruz angeführt, der früher Abgeordneter linker Parteien war, jedoch 2019 zur rechtspopulistischen PIN übergetreten ist. Linke Kritiker*innen der Verhandlungen mit dem IWF blicken deshalb mit einiger Skepsis auf die Bewegung, die sich auch nationalistischer Rhetorik und Symbolik bedient. Zugleich hatten einige Gewerkschaften zur Teilnahme an den Protesten aufgerufen, bei denen es zu teils gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei kam.

Die Bewegung konnte einen ersten Erfolg verzeichnen. Am 4. Oktober verkündete Präsident Alvarado, dass die Regierung „die Stimmung im Land verstehe und den anfänglichen Plan nicht weiterverfolgen wird.“ Außerdem rief Alvarado alle demokratischen Kräfte zum Dialog auf. Die Situation lässt für Alvarado und die PAC für die im Februar 2022 anstehenden Wahlen nichts Gutes ahnen. Seit Jahren ist die stagnierende Wirtschaft und der defizitäre Staatshaushalt für die Costa-Ricaner*innen das wichtigste Thema. Die PAC wurde als Regierungspartei durch ihre Verwicklung in den größten Korruptionsskandal der Geschichte des Landes bereits bei den Wahlen 2018 abgestraft. Ihr weiterer Niedergang ist daher wahrscheinlich. Die politische Linke wurde damals de facto pulverisiert. Die großen Profiteur*innen waren stattdessen ultrakonservative Evangelikale und die rechtspopulistische PIN. Bei der momentanen Stimmung im Land könnten diese Kräfte weiter gestärkt werden.

DIE KRISE SELBST VERWALTEN

Eingang zur „Bienenwabe“ 2021 Das Tor zur „Sozialistischen Kommune Panal 2021“  (Foto: Tobias Lambert)

Vor der Metrostation Agua Salud im Westen von Caracas schlängelt sich die Straße einen der Hügel des Stadtviertels 23 de Enero hinauf. An der Seite ragen breite, 15-stöckige Hochhausblocks empor. Dazwischen erstrecken sich die für Venezuela typischen, als barrios bekannten Armenviertel aus roten Backsteinhäuschen, von ihren Bewohner*innen einst in Eigenregie erbaut. In den 1950er Jahren hatte der Militärherrscher Marcos Pérez Jiménez den modernistischen Architekten Carlos Villanueva damit beauftragt, 38 große und 57 kleinere Hochhäuser als Sozialbauprojekt zu errichten. Noch vor dem Bezug stürzte der Diktator am 23. Januar 1958, die Gebäude wurden besetzt und nach diesem Tag benannt. Vor Block 26 kündigt ein geschwungener Torbogen die „Sozialistische Kommune Panal 2021“ an. Panal bedeutet Bienenwabe. „Die Biene steht für uns als Symbol für die arbeitende Bevölkerung“, erklärt Ana Marín. „Die Königin ist für uns die Versammlung der Community. Und was wir uns aufbauen, verteidigen wir mit unserem Leben, denn die Biene stirbt, wenn sie sticht.“
Das 23 de Enero ist bis heute eine Bastion der Chavistas, der Anhänger*innen des 2013 verstorbenen Präsidenten Hugo Chávez. Früher hieß es scherzhaft, jeder der Hochhausblocks habe seine eigene marxistische Partei. Maríns Augen glänzen, wenn sie davon erzählt, wie Chávez vor 20 Jahren die zahlreichen linken Organisationen in dem politischen Projekt vereint hat, das unter dem Namen Bolivarianische Revolution bekannt wurde. Sie ist Aktivistin des Colectivo „Fuerza Alexis Vive“, der treibenden Kraft hinter Panal 21. Entstanden ist das Kollektiv während des kurzzeitigen Staatsstreichs gegen Chávez im April 2002, der Namensgeber Alexis González Revette wurde damals von putschenden Polizeieinheiten erschossen.
Seitens der rechten Opposition wird der Begriff Colectivo meist als Synonym für bewaffnete motorisierte Stoßtrupps der Regierung verwendet. Tatsächlich gibt es derartige Gruppen, auch das Kollektiv „Alexis Vive“ ist früher durchaus martialisch aufgetreten. Doch verbergen sich hinter den Colectivos ebenso zahlreiche linke Organisationen, die radikaldemokratische Basisarbeit betreiben. „Das ist an sich nichts Neues“, sagt Ana Marín. Auch früher schon seien linke Bewegungen als Guerillas oder Kommunist*innen diffamiert worden. Bei Gruppen, die das Spiel mitmachten und sich den Medien mit Waffen präsentierten, handele es sich jedoch häufig schlicht um Kriminelle.

„Sozialismus heißt für uns unabhängiger zu werden und uns selbst zu verwalten“

Nachdem Chávez das Projekt einer partizipativen und protagonistischen Demokratie anfangs eher mit sozialdemokratischen Ideen verfolgt hatte, erhob er ab 2005 den Aufbau eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts zum Ziel. Die Keimzelle des neuen „Kommunalen Staates“ sollten die kommunalen Räte werden, in denen sich jeweils bis zu 400 Haushalte in einem selbst definierten geografischen Gebiet zusammenschließen, um basisdemokratisch über die Belange in der Nachbarschaft zu entscheiden. Auf einer höheren politischen Ebene können diese Räte sogenannte comunas (Kommunen) bilden. Nach einer Anfangsphase in reiner Selbstverwaltung erhielt Panal 21 umfassende Fördermittel seitens der Regierung Chávez. „Das was war eine sehr wichtige Hilfe, doch in der dritten Phase zeigt sich nun, ob wir als comuna funktionieren oder nicht.“ Mit den staatlichen Institutionen kooperiert Panal 21 noch immer. Im Gegensatz zu anderen sieht sich die Kommune aus dem 23 de Enero jedoch nicht als Anhängsel des Staates, sondern baut in mehreren Regionen Venezuelas ein Netzwerk produzierender comunas auf. „Sozialismus heißt für uns, dass wir unabhängiger von der staatlichen Finanzierung werden und uns selbst verwalten.“
Auf dem Gebiet von Panal 21 leben heute etwa 14.000 Menschen, die in sieben kommunalen Räten mit zahlreichen sozialen und kulturellen Gruppen organisiert sind. Die comuna betreibt eine Bäckerei, einen Textilbetrieb sowie eine Zuckerverpackungsanlage und baut Gemüse auf einer urbanen Ackerfläche an. Sogar eine eigene kommunale Währung gibt es. „Wir tragen mit dazu bei, die Effekte der Krise abzumildern, anstatt mit verschränkten Armen abzuwarten“, sagt Marín.
Seit Jahren leidet Venezuela unter der schwersten Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Versuche der Regierung unter Nicolás Maduro, die Wirtschaft mittels einer Währungsreform und Ausgabenkürzungen zu stabilisieren, schlugen fehl. Die öffentlichen Dienstleistungen stehen kurz vor dem Kollaps und die Hyperinflation hat sämtliche Ersparnisse und Löhne in der Landeswährung Bolívar entwertet. Der monatliche Mindestlohn beträgt zurzeit umgerechnet etwa 7,5 Dollar. Zusätzlich gibt es Lebensmittelgutscheine in gleicher Höhe. Im Privatsektor wird etwas mehr gezahlt, doch ohne die beinahe kostenlosen Lebensmittelkisten der Regierung und Rücküberweisungen migrierter Familienangehöriger könnten die meisten Venezolaner*innen zurzeit nicht überleben.

„Wir tragen mit dazu bei, die Effekte der Krise abzumildern, anstatt mit verschränkten Armen abzuwarten“

Zwischen Oktober 2018 und März dieses Jahres legalisierte die Regierung den Tausch von US-Dollar und schaffte die Preiskontrollen de facto ab. In der Folge stehen die meisten Produkte mittlerweile wieder in den Supermarktregalen, aber zu horrenden Preisen. Bargeld in der Landeswährung ist kaum zu bekommen, dafür wird der Dollar nun fast überall als gängiges Zahlungsmittel akzeptiert. Lange Zeit machte die Regierung einen „Wirtschaftskrieg“ seitens der Opposition und der USA für die Krise verantwortlich, also die gezielte Sabotage und Hortung von Waren. Heute sieht sie das Hauptproblem in den US-Sanktionen.
Der linke Ökonom Manuel Sutherland erinnert hingegen an die Rolle der Regierung selbst. „Auch wenn es die Linke schmerzt: Den derzeitigen Zustand der Ökonomie haben Strukturen verursacht, die der Chavismus seit 2003/2004 geschaffen hat“. Durch den niedrig gehaltenen Dollarkurs habe die Regierung ab 2003 die Importe künstlich verbilligt, gleichzeitig jedoch der heimischen Produktion geschadet und dafür gesorgt, dass sehr viel Geld ins Ausland abgeflossen sei. „Dies hat die enorme Korruption und Plünderung der Erdölrente ermöglicht“, sagt Sutherland. Die Sanktionen, die sich erst seit August 2017 gezielt gegen die Wirtschaft richten, hätten die Krise nicht ausgelöst, verschlimmerten die Situation vor allem der ärmeren Bevölkerung aber drastisch. Derzeit beobachtet Sutherland einen offiziell niemals erklärten Privatisierungskurs. „Die Regierung hat mit ihnen nahe stehenden Wirtschaftsakteuren und Militärs unter der Hand eine Öffnung der Ökonomie ausgehandelt“, sagt er. Durch die US-Sanktionen sei es kaum mehr möglich, Kapital außer Landes zu schaffen. Daher investiere eine kleine aufstrebende Elite ihr Geld in plötzlich entstehende private Immobilienprojekte oder importiere Luxusgüter.

„Die Regierung hat unter der Hand eine Öffnung der Ökonomie ausgehandelt“

Tatsächlich wächst in Caracas in jüngster Zeit eine Infrastruktur, die ausschließlich vermögende Leute anspricht. In Einkaufszentren und Luxushotels werden teure Importwaren von französischem Champagner über spanische Weine und Chorizo bis hin zu Handtaschen internationaler Modefirmen angeboten. Im historischen Stadtzentrum, das zahlreiche Regierungsgebäude beherbergt, ansonsten aber eine ärmere Wohngegend ist, sind hippe Cafés mit europäisch anmutendem Interieur entstanden. Die staatliche Supermarktkette Abastos Bicentenario, die seit 2010 stark subventionierte Lebensmittel verkauft hatte, ist bereits im vergangenen Jahr den privaten Tiendas CLAP gewichen. An den Eingängen prangt das identische Logo der ebenfalls als CLAP bezeichneten „Lokalen Produktions- und Versorgungskomitees“, die seit 2016 Lebensmittelkisten zu symbolischen Preisen an offiziell sechs Millionen Haushalte verteilen. Doch die Tiendas CLAP haben nichts mit den Kisten zu tun, sondern verkaufen überteuerte Waren. Im noch immer sozialistischen Regierungsdiskurs werden solch obskure Privatisierungen nicht an die große Glocke gehängt. „Von Anfang an hat Maduro versprochen, Chávez’ Erbe fortzuführen“, sagt Sutherland. „Mit dem sozialistischen Diskurs richtet sich die Regierung an ihre eigene Basis, denn sie muss zeigen, dass sie anders ist als die Opposition.“
Ana Marín von Panal 21 hingegen sieht es positiv, dass etwa die Kommunen im Regierungsdiskurs noch immer präsent sind. „Doch es gibt große Defizite“, meint sie. „Denn die Regierung blickt vor allem auf Statistiken. Es geht aber nicht um die Anzahl der Kommunen, sondern um einen politischen Sprung.“ Die derzeitige Situation hinterlasse jedoch ihre Spuren. „Jetzt während der Krise ziehen sich viele Leute zurück und entpolitisieren sich.“ Sutherland traut der Regierung nicht mehr zu, aus eigener Kraft die Krise zu überwinden. „Sie hat dafür keine Instrumente“, sagt er. Die Erholung der Wirtschaft könne nur in einem Dialog zwischen den moderaten Sektoren beider politischer Lager ausgehandelt werden.
Nachdem Gespräche zwischen rechter Opposition und Regierung unter der Vermittlung Norwegens im September gescheitert waren, verkündete Maduro überraschend einen neuen Dialog mit einem kleineren Teil der Regierungsgegner*innen. Damit ist die Spaltung der rechten Opposition, die bereits bei den umstrittenen Präsidentschaftswahlen im Mai 2018 zu einem Teilboykott geführt hatte, erneut aufgebrochen. „Auch wenn Maduro es nicht verdient hat, muss ihm ein gesichtswahrender Abgang ermöglicht werden“, meint Sutherland. „Wenn, dann wird die Regierung die Macht an eine ihnen näher stehende Opposition abgeben, die anschließend weitere Wirtschaftsreformen durchführt, den Verteidigungsminister aber im Amt belässt.“
Ana Marín will trotz aller Kritik nichts von einem Regierungswechsel wissen. „Wir glauben nicht an die Opposition, die während des Putsches 2002 unseren Compañero Alexis erschossen hat.“ Was die Regierung mit ihren Gegner*innen zu verhandeln habe, weiß die Aktivistin nicht. „Als comuna führen wir einen Dialog mit der Bevölkerung“, betont sie. „Das hier muss ein transparenter, ethischer Raum sein, der angesichts der Zersetzung der Gesellschaft als Vorbild gilt.“

 

MACRI IM FREIEN FALL

Tägliches Rätselraten Wie viel ist der Dollar wert? (Schild vor einem Kiosk in Buenos aires am 20. August) // Foto: lavaca.org

„Was auch immer passiert, wer auch immer die Wahl gewinnt, die Herausforderung besteht darin, das Boot am 10. Dezember ins Dock zu bringen, nicht vorher oder nachher.“ Der Satz stammt von Argentiniens neuem Finanzminister Hernán Lacunza und die Frage ist, ob das Boot bis dahin nicht schon untergegangen ist. Erst seit dem 17. August ist Lacunza im Amt und sein Job hat es in sich: Er soll den neunten staatlichen Offenbarungseid in der Landesgeschichte seit der Unabhängigkeit 1816 abwenden. Ob dies gelingt, liegt in den Händen der Gläubiger*innen. Stimmen sie der von Lacunza Ende August vorgeschlagenen Stundung und Schuldenstreckung nicht zu, ist Argentinien pleite, wiewohl es mangels staatlichem Insolvenzrecht nicht pleite gehen kann und somit in die nächste unregulierte Staats- und Wirtschaftskrise abgleiten würde. Die Krise zur Jahreswende 2001/2002 ist vielen noch in Erinnerung, als mehr als die Hälfte der argentinischen Bevölkerung in die Armut abrutschte und auf den Straßen der politischen Klasse die Parole „Qué se vayan todos“ (Sie sollen alle abhauen) ertönte. Binnen weniger Monate gaben sich damals fünf Präsidenten und Interimspräsidenten die Klinke des Präsidentenpalastes Casa Rosada in die Hand. Erst ab der Regierungsübernahme von Néstor Kirchner im Frühjahr 2003 beruhigte sich die Lage wieder.
Die aktuelle Krise verschärfte sich Ende August, weil es Finanzminister Lacunza nicht gelang, auslaufende Staatsanleihen mit kurzer Laufzeit neu zu finanzieren und er deswegen längere Laufzeiten ins Spiel brachte. Das hoch verschuldete Land will sich damit finanziell Luft verschaffen. Es geht um Staatsanleihen bei privaten Investor*innen sowie um Kredite des Internationalen Währungsfonds (IWF) in der Höhe von insgesamt rund 100 Milliarden US-Dollar.

Bei der Krise 2001/2002 rutschte mehr als die Hälfte der Bevölkerung in die Armut ab


Der IWF lässt seinen Liebling, Argentiniens Präsidenten Mauricio Macri, jedoch nicht fallen. „Wir verstehen, dass die Regierung diesen Schritt gemacht hat, um für Liquidität zu sorgen und die Reserven zu schützen. Wir stehen in diesen herausfordernden Zeiten an der Seite von Argentinien“, kommentierte IWF-Sprecher Gerry Rice. Das Verständnis hat einen handfesten Grund: Der IWF hatte Argentinien 2018 einen Bereitschaftskredit in Rekordhöhe von 57 Milliarden Dollar gewährt, als die Landeswährung Peso stark an Wert verlor. Der Kurs war seinerzeit von etwa 20 Peso für einen Dollar auf mehr als 40 Peso gefallen. Die Regierung Macri setzte unter dem damaligen Finanzminister Nicolás Dujovne große Teile des IWF-Kredits für Stützungskäufe des Peso ein, konnte damit die Abwertung aber nur verlangsamen. Nach der klaren Niederlage von Macri bei den unverbindlichen Vorwahlen am 11. August, die aber ein wichtiger Stimmungsbarometer für die Präsidentschaftswahlen sind, geriet der Peso abermals unter Druck und wertete von 45 bis in der Spitze auf 60 Peso für den Dollar ab. Wie desaströs die wirtschaftliche Lage ist, illustrieren Inflationsrate und Zinssatz der Zentralbank. Die Geldentwertung liegt bei über 50 Prozent und Banken, die sich bei der Zentralbank frisches Geld beschaffen wollen, müssen dafür mehr als 70 Prozent Zinsen berappen.
Argentiniens Krise kommt mit Ansage. Wie schon die Schergen der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 wollte der neoliberale Präsident Macri nach Amtsantritt im Dezember 2015 mittels Deregulierung und Auslandsverschuldung Wachstum generieren – erfolglos. Die Freigabe des Wechselkurses, die Aufhebung der Agrarexportbesteuerung, beziehungsweise die Senkung dieser beim Soja-Export, die Abschaffung der Steuern auf den Bergbau: Die von Macri versprochene Flut an Neuinvestitionen blieb aus. Und zu allem Überfluss hielt sich Macri nicht einmal an die Vorgabe der Defizitreduzierung, die mit der Deregulierung und der Privatisierung den Dreiklang der neoliberalen Entwicklungsblaupause des sogenannten Konsens von Washington bildet.

Alberto Fernández strahlender Sieger der Vorwahlen // Foto: Santiago Sito via flickr.com CC BY-NC-ND 2.0

Stattdessen schlug das sogenannte Zwillingsdefizit ins Kontor: 2018 überstiegen Argentiniens Haushalts- und Leistungsbilanzdefizit jeweils 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). In der darauf folgenden Wirtschafts- und Finanzkrise stieg die Staatsverschuldung steil auf fast 90 Prozent des BIP an. Das sind 334 Milliarden US-Dollar. Drei Viertel der Ausstände sind in ausländischen Währungen denominiert, rund 100 Milliarden US-Dollar hat allein die Regierung Macri an neuen Auslandsschulden aufgenommen. Die Zinsen und Tilgungsraten müssen dafür über Überschüsse im Außenhandel erwirtschaftet werden. Gelingt das wie derzeit nicht, muss das Loch durch neue Kredite gestopft werden, womit wieder der Verschuldungsgrad steigt. Ein Ausdruck davon ist der Wertverfall des Pesos. Er brach im Sommer 2018 infolge der sich beschleunigenden Kapitalflucht ein, und die Inflation schoss in die Höhe. Es war Macris Geschäftsfreund Donald Trump, der den IWF zum Eingreifen aufforderte und bei IWF-Chefin Christine Lagarde auf aktive Unterstützung traf. Von den 57 Milliarden Dollar sind schon 80 Prozent ausbezahlt worden.
Dennoch gehen Argentiniens Regierung die Devisen aus. Deswegen hat die Regierung Macri am 1. September, einem Sonntag, ein Dekret veröffentlicht, wonach große Exporteure künftig eine Erlaubnis der Notenbank für den Kauf von Fremdwährungen und zur Überweisung von Devisen ins Ausland einholen müssen. Für Privatpersonen, die die US-Währung erwerben wollen, gilt künftig eine monatliche Obergrenze von 10.000 Dollar (rund 9.100 Euro). Damit hat Macri einen drastischen Kurswechsel vollzogen. 2015 hatte er versprochen, die „von der Vorgängerregierung bevorzugten Kontrollen aufzugeben.“ Jetzt heißt es in dem Dekret, die Maßnahmen seien nötig, um „den Devisenhandel intensiver zu regulieren und das normale Funktionieren der Wirtschaft zu stärken“.

Rette seine Einlagen, wer kann, lautet mal wieder das Motto


Kurz vor dem Dekret hatten alle drei großen Ratingagenturen die Bonitätsnote Argentiniens auf ein Niveau gesenkt, das nur noch knapp über Zahlungsausfall, also der schlechtesten Einschätzung liegt. Vor dem Wochenende stufte die US-amerikanische Kreditratingagentur Standard&Poor’s das Land auf „selektiven Zahlungsausfall“ zurück. Auch Moody’s und Fitch senkten ihre Bewertungen auf ein vergleichbares Niveau.
Das Dekret ist der zweite Kurswechsel seit den verlorenen Vorwahlen am 11. August. Da hatten die Wähler*innen Präsident Macri durch ihr Votum mit fast 16 Prozentpunkten Vorsprung für das oppositionelle Mitte-links-Bündnis von Alberto Fernández und Cristina Kirchner klargemacht, wie wenig sie von den Ergebnissen seiner Wirtschaftspolitik halten: Unternehmen gehen reihenweise Konkurs, es gibt Massenentlassungen, der Peso hat im Vergleich zum Dollar in nur einem Jahr die Hälfte an Wert verloren, und ein Drittel der Argentinier*innen lebt unter der Armutsgrenze.
Nur wenige Tage nach der Vorwahlschlappe verkündete Macri eine Reihe finanzieller Maßnahmen, die er Präsidentin Kirchner immer vorgeworfen hatte. Er versprach unter anderem eine Erhöhung des Mindestlohns, setzte die Mehrwertsteuer für Lebensmittel aus, kündigte günstigere Kredite für kleine Unternehmen an und setzte die Kraftstoffpreise für 90 Tage fest.
Macris Maßnahmen kommen für eine Wiederwahl am 27. Oktober oder einen Erfolg bei einer möglichen Stichwahl mit ziemlicher Sicherheit zu spät. Zumal sie nicht verfangen. Am Montag nach der Verkündung der Kapitalverkehrskontrollen standen in der Hauptstadt Buenos Aires viele Menschen vor den Banken an, um ihre Einlagen abzuheben. Rette seine Einlagen, wer kann, lautet mal wieder das Motto in Argentinien. Allein seit dem 11. August haben die Argentinier*innen Dollaranlagen in Höhe von rund vier Milliarden Dollar von den Banken abgezogen. Auf 75 Milliarden Dollar wird die Kapitalflucht unter Macri beziffert.
Der Oppositionskandidat Alberto Fernández gilt nun als klarer Favorit, um Macri ab dem 10. Dezember im Präsidentenamt zu beerben. Hinterlassen wird Macri ihm auch die Rückzahlung des IWF-Kredits. Die erste Tranche wird erst 2020 fällig. Nicht weniger als 34 Milliarden Dollar muss das Land dann zurückzahlen. Fernández hat mehrfach erklärt, dass die Schulden neu verhandelt werden müssen. Denn sonst werden erneut die Armen und die Mittelschicht die Zeche zahlen. Dass sie darauf nicht untätig warten, zeichnet sich ab. Am 4. September gingen Zehntausende Argentinier*innen in der Hauptstadt Buenos Aires auf die Straße. Die Demonstrant*innen forderten höhere Mindestlöhne sowie Lebensmittelhilfen für Arme. Und einige davon sind gekommen, um zu bleiben. Sie haben auf der Prachtstraße 9 de Julio im Stadtzentrum vor dem Ministerium für soziale Angelegenheiten ihre Zelte aufgestellt, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Sie fordern mehr Sozialprogramme und niedrigere Preise für Grundnahrungsmittel. Sie wollen bleiben bis ihre Forderungen erfüllt werden – von welcher Regierung auch immer.

 

„DAS SCHLIMMSTE DIESER REGIERUNG HABEN WIR NOCH NICHT GESEHEN“


GASTÓN CHILLIER ist seit 2006 Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation CELS, wo er zuvor als Anwalt zu Themen institutioneller Gewalt gearbeitet hat. Das CELS (Zentrum für legale und soziale Studien) wurde vor 40 Jahren während der Militärdiktatur von einer Gruppe von Anwält*innen gegründet, um die Fälle der Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo und Folteropfer der Militärdiktatur in ihrem Prozess für Wahrheit, Erinnerung und Gerechtigkeit zu unterstützen. Seither kämpft das CELS gegen Straflosigkeit und institutionelle Gewalt und war an allen großen Menschenrechtsprozessen Argentiniens beteiligt. Neben diesen traditionellen Themenfeldern ist das CELS ein wichtiger und renommierter Akteur für aktuelle soziale Organisationen und Bewegungen. Das CELS gibt eine jährliche Studie zur Menschenrechtssituation in Argentinien heraus. (Foto: Caroline Kim)


Herr Chillier, wie steht es im Wahljahr um die argentinische Regierung?
Diese Regierung hat alle Befürchtungen übertroffen. Statt einer demokratischen modernen Rechten kam eine klassisch neoliberale Rechte, wie sie schlimmer nicht sein konnte. Die Macri-Regierung ist eine orthodoxe, neoliberale Regierung, die nach politischer Öffnung strebt, aber mit einer US-Regierung zu tun hat, die protektionistisch ist. Macri hatte das Pech, seine Politikstrategie, sich der Welt zu öffnen, umzusetzen, als die Welt gerade dabei war, sich zu schließen. Er war zu spät. Jetzt sind wir mitten in einer Wirtschaftskrise, im letzten Jahr hat die Regierung wieder Geld beim IWF geliehen. Das ist für Argentinien eine sehr sensible und negative Sache, die noch bis vor kurzem undenkbar war. Argentinien hat gute Gründe für die Ablehnung des IWF aus den Erfahrungen der großen Krise von 2001.

Was ist die Bilanz von vier Jahren Macri-Regierung hinsichtlich der Menschenrechte?
Es gibt zwei große Linien, die miteinander verbunden sind. Die soziale Situation im Kontext der Strukturanpassungen der Wirtschaftspolitik geht mit einer immer repressiveren Politik einher. Hinzu kommen Rückschritte in verschiedenen Politikbereichen wie der Migrations- oder Sicherheitspolitik: Militarisierung und Sicherheit stehen wieder ganz oben auf der Agenda in Argentinien. Wenn man die Statistiken betrachtet, ist zwar keine Zunahme von Polizeigewalt zu verzeichnen, die Rückschritte gab es jedoch vor allem im Diskurs, der den tödlichen Einsatz von Schusswaffen durch staatliche Sicherheitskräfte legitimiert. Ein viel beachteter Fall war der von Chocobar, einem Polizisten, der eine Person, die einen Touristen bestohlen hatte, mit einem Schuss in den Rücken tötete, ohne jegliche legitime Notwehr. Der Präsident hat ihn zusammen mit der Sicherheitsministerin Patricia Bullrich empfangen und gesagt: „Solche Polizisten brauchen wir.“ Das ist ein sehr harter Diskurs, auch ohne Bolsonaro zu sein. Chocobar ist heute wegen Mordes verurteilt.
Dann gab es natürlich den Fall des verschwundenen Aktivisten Maldonado und die Erschießung von Rafael Nahuel (Mapuche-Aktivist, 2017 durch einem Schuss in den Rücken ermordet, Anm. d. Red.). In allen Fällen reagierte die Regierung mit der Unterstützung der Sicherheitskräfte, die die Morde begangen haben.

Als die Massenproteste für Gerechtigkeit für Santiago Maldonado das ganze Land auf die Straße geholt haben, verschärften sich auch Repressionen gegen Demonstrant*innen und Journalist*innen. Ist die zunehmende Kriminalisierung der sozialen Proteste charakterisierend für Macris Regierungszeit?
Eine der ersten Amtshandlung nach der Amtsübernahme der Regierung war die Verhaftung der indigenen Führungsfigur Milagro Salas im Januar 2016. Das war ein Wendepunkt in der Kriminalisierung von sozialen Protesten. Die Einschüchterung von sozialen und politischen Aktivisten hat seither noch zugenommen, vor allem auch gegenüber Journalisten, die über soziale Proteste berichten. Die Regierung hat alles versucht, den Terrorismus als Bedrohung aufzubauen und somit auf die Agenda zu setzen, auch in der Vorbereitung auf den G20-Gipfel. Am besten sieht man das an der Kriminalisierung der Mapuche-Gemeinden. Die argentinische Regierung macht gemeinsame Sache mit der chilenischen Regierung und den Geheimdiensten, dazu gehört auch die illegale Überwachung von Mapuche-Aktivisten und Unterstützern. Auf chilenischer Seite gibt es Beweise für die Fälschung von Beweismitteln, um bekannte Mapuche-Autoritäten zu kriminalisieren und sie aufgrund von Terrorismus anzuklagen. Der neue Rahmen für Argentinien ist das Sicherheitsprogramm der USA, wo der Krieg gegen Terrorismus und Drogen im Zentrum steht. Auch in Argentinien ist das wieder zu einer starken politischen Strategie geworden. Die Regierung und die Sicherheitsministerin haben viel ihrer Zeit darein investiert, das Bild eines „inneren Feindes“ zu etablieren. Von da aus verwandelt sich jede Art der Demonstration, der öffentlichen Äußerung von sozialer Kritik, von Protest oder social leadership in eine Bedrohung. Das ist gefährlich für ein demokratisches System.

Wie spielt die wirtschaftliche Situation in dieses Klima mit hinein?
Das Merkmal dieser Zeit und dieser Regierung ist der bedeutende Anstieg der Ungleichheit aufgrund der Auswirkungen der Wirtschaftspolitik. Das heißt nicht, dass es in den vorherigen zwölf Jahren Kirchnerismus keine Probleme gab, aber die Fortschritte, die durch die Vorgängerregierungen hinsichtlich der Verteilung des Reichtums erzielt wurden, sind wieder rückgängig gemacht worden. Alle sozialen und wirtschaftlichen Indikatoren zu Armut und Arbeitslosigkeit zeigen, wie ernst die wirtschaftliche Situation ist. Argentinien kehrt nun zu diesem fatalen Schema zurück, in dem die jährliche Inflationsrate mindestens 40 Prozent beträgt, mit einer systematischen Abwertung des Peso. Im letzten Jahr wurde der Peso um 100 Prozent abgewertet, was eine enorme Auswirkung auf die Inflation und die soziale Situation hat.
Das Modell dieser Regierung ist vergleichbar mit dem chilenischen. Ein Modell, in dem es einen sehr viel konzentrierteren Reichtum gibt und viele Teile der Gesellschaft außen vor bleiben. Das ist die Realität. Als die Regierung angetreten ist, kursierten unter den Staatsbeamten Äußerungen über die Vorgängerregierung wie: „Die haben doch tatsächlich die Armen glauben machen, dass sie in Urlaub fahren könnten. Oder dass sie ein Recht darauf hätten, wenig für Strom und Gas zu bezahlen…“ Das ist eine Message, die gegen die Substanz der argentinischen Gesellschaft geht. Obwohl es seit vielen Jahren bergab geht, hat die Idee von Gleichheit einen hohen Stellenwert in der Gesellschaft. Auf eine bestimmte Art und Weise schätzt sie, dass sie eine egalitäre mit einer großen Mittelklasse ist – im Gegensatz zu Chile, Brasilien oder Paraguay.

Derart umgeben von rechten Regierungen wird auch Argentinien mehr nach rechts rücken?
Wenn Macri gewinnt, wird er sich weiter nach rechts ausrichten. Nicht bis in die Extreme, die wir in Brasilien sehen, aber seine Politik wird noch mehr eine der Strukturanpassungen sein. Teil der Kritik, den die Hardliner an der Regierung haben, ist, dass sie nicht genug Sparmaßnahmen durchgesetzt hat. Sie nennen das Gradualismus, weil die Regierung nicht von Anfang an eine Schock- und Sparpolitik gefahren ist. Die Sozialausgaben sind vergleichsweise sogar höher als die der Vorgängerregierung, weil ihr nichts anderes übrigblieb. Es gab keinen Spielraum dafür, dass diese Regierung so neoliberal wie die von Präsident Menem in den 90ern sein konnte.

Aber es gab doch starke Kürzungen bei den Renten, Bildung, Gesundheit und Kultur?
Es gab Kürzungen, die tatsächlichen Ausgaben sind allerdings nicht weniger geworden, die Sozialpolitiken wurden nicht beendet. Aber nicht, weil die Regierung glaubt, dass es ein Recht auf Sozialpolitik gäbe, sondern weil sie nicht anders konnte. Das war der Weg, um die Regierungsfähigkeit zu erhalten. Wenn Macri jetzt gewinnt, sehen wir das hässlichste Gesicht einer Regierung, die noch neoliberaler und autoritärer werden wird. Die nächsten Jahre werden sehr hart werden durch zusätzliche Sparmaßnahmen in einem sozialen Gefüge mit vielen Konflikten. Und die argentinische Gesellschaft charakterisiert sich darüber, auf die Straße zu gehen und zu protestieren. Es waren die ständigen sozialen Proteste seit der Übernahme der Regierung, die verhindert haben, dass es noch mehr Repressionen gegeben hat. Ich glaube, wir haben das Schlimmste dieser Regierung noch gar nicht gesehen.

Und was denken Sie: Wird Macri gewinnen?
Das wäre politikwissenschaftlich eine sehr seltsame Sache, denn normalerweise werden Regierungen nicht wiedergewählt, wenn die Wirtschaft am Boden und die Regierung sehr schlecht ist. Wenn er trotz allem wieder gewinnt, kann das nur durch die hohe Polarisierung erklärt werden. Alles deutet darauf hin, dass die Leute eher danach wählen, was sie nicht wollen, als danach was sie wollen. Es gibt eine sehr starke Ablehnung der Politik der Regierung, sie wird nicht wegen ihrer Stärken gewählt. Aber trotzdem ist es nicht sicher, ob die Regierung bzw. der Präsident nicht doch wiedergewählt werden kann.

Das liegt auch an der noch zu bestimmenden Gegenkandidatur…
Wenn der Peronismus es schafft, sich zu einigen, wird er sicherlich in der ersten oder zweiten Wahlrunde gegen die aktuelle Regierung gewinnen. Wenn das nicht passiert, bleibt alles unklar. Die größte Figur, die der Peronismus heute hat, ist die Ex-Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner mit einer Unterstützung von 30 bis 35 Prozent der Wähler. Wer auch immer die Wahlen gewinnt, die nächsten Jahren werden sehr konfliktreich werden. Wenn die aktuelle Regierung gewinnt, wird es sehr viel härter, weil die Antwort brutaler sein wird. Wenn eine andere Partei gewinnt, wird es wahrscheinlich mehr Absichten geben, den sozialen Konflikt anders zu regeln.

Zuletzt: Ihr Ausblick in die Zukunft?
Ich glaube, trotz allem bleibt Lateinamerika im globalen Vergleich ein wichtiger Ort, um etwas aufzubauen, das sich an demokratischen Prinzipien und Menschenrechten orientiert, besonders Argentinien, aufgrund des Stellenwertes, den Menschenrechte bis jetzt in der Gesellschaft haben. Heute ist Macri das Rechteste, wohin wir gelangen können. Bisher sehe ich keine Möglichkeit, dass es politischen Raum für einen Antisystem-Kandidaten wie Bolsonaro gibt. Wenn es bei diesen Wahlen schlecht für die Regierung läuft, ist das eine gute Möglichkeit, aus den Erfahrungen mit einer neoliberalen Partei zu lernen. Es war das erste Mal, dass die Rechte und die Elite durch demokratische Wahlen an die Regierung gekommen sind. Davor waren es immer Putsche gewesen.
In heutigen Zeiten ist es wichtig, eine neue Form von Übereinkünften mit der Gesellschaft zu schaffen. Wenn wir nicht anfangen, die Herzen und Köpfe der Menschen zu erobern, werden diese letztlich autoritäre Optionen wählen. Wir brauchen eine Verteidigungsstrategie und gleichzeitig eine positivere, die nach vorne geht. Es existiert die Forderung nach alternativen Modellen. Ich hoffe, dass es eine überzeugende soziale Antwort gibt, die sich in der Ablehnung der neoliberalen Politik der aktuellen Regierung in den Wahlen ausdrückt.

 

VON DEM DER GING, OHNE DARAN GEDACHT ZU HABEN


Martín Sued // Foto: Gentileza Antonella Casanova

Martín, wo leben Sie jetzt?
Vor vier Monaten bin ich zum ersten Mal aus Argentinien weggezogen. Jetzt wohne ich in Paris.

Mit welchem Status sind Sie nach Paris gekommen? Mit einem Arbeitsvisum, mit einer Aufenthaltserlaubnis für Künstler*innen…?
Ich habe ein Visum, welches ich über ein Musikkonservatorium in Frankreich erhielt. Es gilt bis Ende des Jahres und ist erneuerbar.

Wie steht es in Argentinien um die Erteilung von Zuschüssen für Künstler*innen? Sind Sie darüber auf dem Laufenden? Hatten Sie dazu Zugang?
In den letzten Jahren, vor allem während der Kirchner-Regierung und der Entstehung des Kulturministeriums (Anm. d. Red.: 2018 stufte Macri das von Cristina Kirchner 2014 gegründete Kulturministerium als Geschäftsbereich des Bildungsministeriums ein), gab es einen Moment, in dem sehr viel verrückte Dinge geschahen. Es gab das Projekt Ibermúsicas (Anm. d. Red.: Ein Fonds zur Förderung iberoamerikanischer Musik), den Nationalen Kunstfonds, Mobilitätsstipendien. Unterstützt vom Staat konnte ich mit Projekten nach Europa, in andere lateinamerikanische Länder und ins Landesinnere reisen. Danach nahm die Unterstützung ab. Ein bisschen gibt es noch, aber es hat sich alles verschlechtert.

Denken Sie, dass dieses „fern von zu Hause sein“ auch einen Einfluss auf Ihre Kompositionen hat?
Ja, offen gestanden, ich komponiere nicht viel, seitdem ich fortging, denn ich muss mich noch in meinem neuen Leben in Paris zurechtzufinden. Ich bin dabei, das Netz der musikalischen Familie in Europa zu vergrößern. Darum bin ich mehr damit beschäftigt, zu spielen und an den Dingen zu arbeiten, die ich schon habe, als zu komponieren. Auf jeden Fall hat das, was man erlebt einen großen Einfluss auf das, was man schreibt. Darum kommt man nicht herum… Ich habe sehr viel Lust, im Juni mit dem Schreiben anzufangen. Dann habe ich ein bisschen mehr Zeit, mich hinzusetzten und zu arbeiten. Das fehlt mir sehr, seit vier Monaten toure ich herum und spiele, aber schreibe nicht.

Sie haben einmal in einem Interview zugegeben, dass Sie versuchen, sich vom Tango zu entfernen, zumindest in seiner traditionellen Form. Aber während Ihrer momentanen Tour geben Sie einige Konzerte mit einem Tango Repertoire. Woher kommt das?
Sieh mal, einerseits hat es was mit dem Lebensunterhalt zu tun. Ich bin vor kurzem in Paris angekommen und habe dort schon ein Arbeitsumfeld rund um den Tango. Anderseits ist es auch etwas, was ich sehr gerne tue. Dieses Gefühl, mich davon distanzieren zu müssen, liegt schon ein paar Jahre zurück. Damals ging es mir darum, Wiederholungen zu vermeiden. Rückblickend kommt es mir wie eine ein bisschen infantile Einstellung vor. Wenn mir nun Ideen kommen, die mit dem Tango oder der Folklore zusammenhängen, nehme ich sie auf. Alles andere hieße, etwas zu verleugnen, was mir eigen ist. Ich genieße es, das zu tun, und da ich weit weg bin, hat es auch etwas mit der nostalgia porteña zu tun, der für die Einwohner*innen von Buenos Aires so typischen Nostalgie. Ich mag es wirklich sehr, traditionelles Repertoire zu spielen. Aber darauf liegt momentan nicht mein Fokus. Es ist eine Möglichkeit zu arbeiten und dabei unsere Musik nie vollkommen aus den Augen zu verlieren. Was ich jedoch niemals getan habe, denn parallel zu meinen Projekten, auch mit meiner eigenen Musik, ist sie immer präsent. In Buenos Aires hatte ich ein Duo mit dem Gitarristen Leandro Nikitoff, mit dem ich Tango spielte. Also, ich habe damit nie wirklich aufgehört.

Jetzt wo Sie von Arbeit reden…neben Ihrem Schaffen als Musiker, was haben Sie für andere Dinge gemacht?
Ich gab Unterricht, in dem Projekt Orquestas del Bicentenario, dass, wie wir alle wissen, vor die Hunde ging. Dies war nur eines der vielen Projekte, welches sie zerstörten und ich verlor damit eine feste Arbeit. Außerdem nahm auch die Zahl meiner Schüler*innen ab…Darüber hinaus war ich in Brasilien sehr aktiv und gab dort jährlich viele Konzerte. Aber die Lage in Brasilien ist grauenhaft und somit fiel auch diese Möglichkeit weg. Das ging alles sehr schnell, es war sehr hart. Ich hätte also wieder versuchen müssen, mir eine Arbeitsstruktur an einem Ort aufzubauen, an dem alles den Bach runter geht.

Neben Ihrer Suche nach Kontakten und Ihrer beruflichen Entwicklung, hatte es etwas mit der politischen Situation zu tun, die Argentinien in diesem Moment durchläuft?
Ja, auf jeden Fall. Wegzugehen war etwas, was ich nie zu tun gedacht hätte. Ich war schon oft in Europa und bin in die USA gereist, aber ich hatte nie den Wunsch, dort länger zu leben. Aber die letzte Zeit in Argentinien wurde aus ökonomischer Sicht unerträglich, sehr hart. Und nicht nur ökonomisch, auch was sich dort sozial erleben lässt, ist sehr traurig. Davon ausgehend sah ich die Möglichkeit, das Land zu verlassen und andere Erfahrungen zu machen. Ich habe vor, zurückzugehen, aber möchte versuchen, in dieser Zeit eine bessere Lebensqualität zu haben, etwas, was mir dort schwer fiel. Ich arbeitete dort sehr viel, ohne zufriedenstellende Ergebnisse zu erlangen. Alles hat sich sehr zum Schlechten verändert. In Europa ist die Lage auch nicht ideal, bietet mir aber die Perspektive, auf persönlicher und professioneller Ebene zu wachsen. Neben anderen Dingen, natürlich. Meine Liebe zum Jazz gehört auch dazu. Anders gesagt: die Situation in meinem Land war nicht der einzige Grund wegen dem ich gegangen bin, aber hatte damit viel zu tun.

 

SPÄTE MAßNAHMEN

Seit dem 20. August gibt es in Venezuela mit dem „Souveränen Bolívar“ eine neue Währung, gleichzeitig wird der Mindestlohn deutlich erhöht. Kann das funktionieren?

Nein. Zwar hat die Regierung gesagt, dass sie für kleinere Unternehmen drei Monate lang die Lohnerhöhung zahlen will, damit die Preise nicht steigen. Aber das wird nicht klappen und zudem ein enormes Korruptionspotenzial schaffen. Natürlich ist der bisherige monatliche Mindestlohn ein Skandal, denn er betrug laut Schwarzmarkt-Kurs zuletzt gerade einmal etwas mehr als einen US-Dollar. Aber woher sollen kleine Unternehmen nach drei Monaten das Geld nehmen, um das 60-fache an Lohn zu zahlen? Sie werden Arbeiter entlassen und die Preise erhöhen.

Der neue Bolívar soll an die Kryptowährung Petro gekoppelt sein, die wiederum an den Erdölpreis gebunden ist. Wird Venezuela dadurch eine stabilere Währung haben?

Davon ist nicht auszugehen. Erdölreserven, die noch nicht gefördert, also noch nicht in Wert gesetzt sind, können nicht eine Währung decken wie Gold oder Währungsreserven einer Zentralbank. Das schafft kein Vertrauen. Als simple Rechnungseinheit hat der Petro wenig Relevanz.

Im Rahmen des sogenannten Plans zur wirtschaftlichen Erholung sind noch eine Reihe weiterer Maßnahmen vorgesehen.

Die monetären Reformen sind tatsächlich unumgänglich. Dazu zählt die Liberalisierung der Devisenpolitik, der früher oder später eine kontrol­lierte Freigabe des Wechselkurses folgen muss. Auch die Anhebung des Benzinpreises von praktisch Nulltarif auf internationales Niveau ist prinzipiell richtig, auch wenn der Zeitpunkt schlecht ist. Gleichzeitig handelt die Regierung sehr widersprüchlich. Einerseits spricht sie davon, das Haushaltsdefizit auf Null zu reduzieren, andererseits erzeugt sie eine Reihe neuer Ausgaben. Zudem kommen all diese Maßnahmen sehr spät und werden auf eine seltsame Art umgesetzt.

Inwiefern seltsam?

Niemand weiß, worin genau der Plan zur wirtschaftlichen Erholung besteht, es gibt kein schriftliches Konzept. Das Gleiche gilt für die wirtschaftlichen Indikatoren, die schon seit Jahren nicht mehr veröffentlicht werden. Ich sehe bei der Regierung zwar den Willen, etwas zu tun, was an sich eine positive Veränderung ist. Sie versucht, einige der Fehler zu korrigieren, die in der Wirtschaftspolitik der vergangenen 15 Jahre gemacht wurden. Aber dies führt nicht dazu, dass eine breite Diskussion über die Krise und mögliche Auswege geführt würde. Alle Entscheidungen trifft ein kleiner Kreis innerhalb der Regierungspartei auf völlig intransparente Art und Weise.

Seit 2006 führt die venezolanische Regierung offiziell einen sozialistischen Diskurs, auch Maduro hält am Ziel des Sozialismus fest. Wie lässt sich die Wirtschaftspolitik der Regierung charakterisieren?

Es gab keine tief greifenden sozialistischen Maßnahmen. Die Regierung hat Unternehmen verstaatlicht, aber – so wie viele Regierungspolitiken – dienten diese dazu, große Geschäfte zu machen. Auch die gesamte Wechselkurspolitik ist mitnichten sozialistisch. Statt eine produktive Industrie und Landwirtschaft aufzubauen, hat man auf Importe gesetzt, die Kapitalflucht beschleunigt und der Bourgeoisie enorme Möglichkeiten geboten, sich schnell zu bereichern. Die Umverteilung der Erdölrente zugunsten der ärmeren Bevölkerungsschichten war anfangs positiv, doch seit der Wirtschaftskrise ist diese immer geringer geworden und heute nur noch marginal. US-Investitionen gegen Investitionen aus Russland und China auszutauschen, ist an sich weder revolutionär noch sozialistisch.

Aber gleichzeitig gab es unter Chávez doch die Förderung alternativer Unternehmensformen wie Kooperativen oder Prozesse von Mit- und Selbstverwaltung in verstaatlichten Betrieben. Was ist daraus geworden?

Das ökonomische Problem mit den Verstaatlichungen war, dass die Unternehmen die Preise nicht erhöhen durften, was bei steigender Inflation logischerweise zu Verlusten führte. Zudem hat die Regierung die Leitung der meisten verstaatlichten Unternehmen nach und nach dem Militär übertragen, das die Unternehmen völlig offen, unkontrolliert und straflos ausplündern konnte. Kooperativen und selbstverwaltete Betriebe haben gesamtwirtschaftlich nie eine große Rolle gespielt, auch wenn in absoluten Beträgen hohe Summen in diese Projekte gepumpt wurden. Aufgrund des von der Regierung selbst niedrig gehaltenen Wechselkurses war es stets billiger zu importieren, als etwas im Land zu produzieren.

Einige Ökonom*innen schlagen vor, die Landeswährung an den US-Dollar zu binden oder ihn gleich als alleiniges Zahlungsmittel einzuführen. Was halten Sie davon?

Die venezolanische Wirtschaft offiziell zu dollarisieren, wäre ein großer Fehler, selbst wenn es besser wäre als das bisherige System mehrerer Wechselkurse und einem ausufernden Schwarz­markt. Zwar könnte die Hyperinflation so innerhalb kurzer Zeit gestoppt werden, aber Venezuela wäre nicht mehr in der Lage, eine souveräne Wirtschaftspolitik zu gestalten, da sie in monetären Fragen von der US-Notenbank abhinge.

Was wäre nötig, um die Hyperinflation in den Griff zu bekommen?

Die Zentralbank muss umgehend aufhören, ständig neues Geld zu drucken, ohne dass die Produktivität gesteigert wird. Wir müssen eigene Industrien und den Agrarsektor aufbauen, in Verbindung mit einem breiten Plan für mehr Arbeit, vor allem im Inneren des Landes. Der Wechselkurs müsste freigegeben und die Preiskontrollen abgeschafft werden, weil sie nicht funktionieren und viele der regulierten Produkte auf dem Schwarzmarkt landen oder außer Landes geschmuggelt werden. Zusätzlich sollte die Regierung den Einfluss des Militärs auf die Wirtschaft einschränken und die exorbitant hohen Militärausgaben kürzen. Das Gleiche gilt für die Bürokratisierung, es gibt mehr als drei Millionen Staatsangestellte, von denen viele überhaupt keine sinnvolle Funktion ausüben.

Was erwarten Sie von den Maßnahmen?

Die Öffnung der venezolanischen Wirtschaft könnte zu einer leichten Verbesserung der Lage führen und Maduros politische Herrschaft stabilisieren. Ein großes Problem sind die öffentlichen Dienstleistungen, die sich in sehr schlechtem Zustand befinden. Es gibt Gebiete, in denen tagelang der Strom oder wochenlang das Wasser ausfällt. Diese Situation kann zu größeren Protesten führen, die der Regierung durchaus gefährlich werden können. Es fehlt nicht nur das nötige Geld für Investitionen, sondern auch Fachpersonal, denn mehrere Millionen Venezolaner haben das Land vermutlich verlassen. Zurück bleiben vor allem Kinder und Alte, was eine mögliche wirtschaftliche Erholung zusätzlich erschwert.

KRYPTISCHER SCHULDENPOKER

Die Aussagen sind kryptisch: In seiner fünfstündigen Fernsehsendung sagte Venezuelas Präsident Nicolás Maduro am 3. Dezember, das digitale Geld mit dem Namen Petro werde das Land ins 21. Jahrhundert führen: “Damit werden wir unsere Währungshoheit zurückerlangen. Der Petro wird uns gegen die US-Finanzsanktionen helfen. Wir können neue Formen der internationalen Finanzierung schaffen, die der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung unseres Landes dienen. Gestützt wird der Petro durch unsere Reserven an Gold, Erdöl, Gas und Diamanten.” Dabei ließ Maduro offen, wie mit dem Petro Finanzsanktionen umgangen werden sollen. Die USA haben im Sommer Sanktionen gegen Venezuela verhängt. Unter anderem ist der Handel mit venezolanischen Staatsanleihen untersagt.

Was aus dem Petro wird, bleibt vorerst ein Rätsel, die Schuldenproblematik Venezuelas ist indes akut. Die Bedienung der drückenden Schuldenlast verschlingt durch Zins- und Tilgungszahlungen zig Milliarden Dollar, die dann nicht für Importe zur Verbesserung der teils desaströsen Versorgungslage zur Verfügung stehen. Venezuela ist mit geschätzten 155 Milliarden Dollar (133 Milliarden Euro) bei ausländischen Gläubiger*innen verschuldet und derzeit müssen mindestens zehn Milliarden Dollar pro Jahr für den Schuldendienst aufgebracht werden.

Anfang November kündigte Maduro an, zu den laufenden Konditionen keine Schuldenzahlungen mehr leisten zu wollen, und forderte die Anleihegläubiger*innen auf, über eine Refinan­zierung oder eine Restrukturierung der Schulden zu verhandeln. Dabei geht es nicht um die gesamten Schulden, sondern ausschließlich um die Auslandsschulden Venezuelas und die internationalen Schulden der staatlichen Erdölfirma PDVSA: rund 66 Milliarden Dollar.

Einen ersten Erfolg kann Maduro vorweisen: Mit Russland gab es Mitte November eine Einigung. Caracas bekommt demnach mehr Zeit, um einen Kredit aus dem Jahr 2011 zurückzuzahlen. Gemäß der neuen Vereinbarung können die 3,15 Milliarden Dollar in den kommenden zehn Jahren getilgt werden. Zwar ist China mit 21 Milliarden Dollar Forderungen ein größerer Gläubiger als Moskau, doch Russland ist stärker direkt verflochten: Russlands Ölkonzern Rosneft gewährte seinem Pendant PDVSA von 2015 bis 2017 Vorauszahlungen für Rohöllieferungen über fast 6 Milliarden Dollar. Die sollen bis Ende 2019 durch Öllieferungen beglichen werden. Zudem hat Rosneft sich in Venezuela in fünf Förder- und Explorationsprojekte von PDVSA eingekauft.

Die Sicherheitsleistungen von PDVSA entbehren nicht einer gewissen Pikanterie: PDVSA hinterlegte bei Rosneft unter anderem einen Anteil von 49,9 Prozent an Citgo, einem großen Raffinerie- und Tankstellenbetreiber in den USA, den PDVSA seit 1990 mehrheitlich kontrolliert. Die USA haben deswegen ein Eigeninteresse, dass PDVSA nicht zahlungsunfähig wird: Denn dann könnte sich Rosneft bevorzugt aus der Konkursmasse bedienen und durch die Hintertür in den US-Markt einsteigen.

Die USA sind der wichtigste Abnehmer venezolanischer Ölexporte. Von den täglich zwei Millionen Barrel, die in Venezuela noch gefördert werden, gehen rund 700 000 in die USA. Dafür fließen derzeit täglich rund 30 Millionen US-Dollar nach Caracas, was die schwindsüchtige Staatskasse gut gebrauchen kann. 96 Prozent der Exporterlöse und 60 Prozent der Staatseinnahmen Venezuelas kommen aus der Ölindustrie. Der Ölpreisverfall seit 2014 belastet die Zahlungsfähigkeit schwer und der Poker ist noch nicht zu Ende.

 

“VENEZUELA IST EIN AUSWANDERUNGSLAND”

Die Situation in Venezuela scheint prekär und bedrückend. Wie haben Sie die vergangenen Monate erlebt?
Wenn Sie in so einem Land länger leben, dann verändern sich auch die Maßstäbe. Das, was nach deutschem Maßstab ganz fürchterlich erscheint, das wird irgendwo ein Stück Normalität.

Zum Beispiel?
Wir waren häufig sehr kurzfristigen Entscheidungen der Regierung ausgesetzt. Über einen sehr langen Zeitraum hinweg ist, angeblich um Strom zu sparen, der Freitag als Schultag gecancelt worden, sodass wir nur vier Tage Schule machen konnten. Wir haben Notstundenpläne gemacht und versucht, das abzuarbeiten, was man normalerweise an fünf Tagen abarbeiten kann. Wir haben parallel eigentlich mit mehreren Stundenplänen gearbeitet und Woche für Woche entschieden.

Hat das funktioniert?
Im Nachhinein kann ich sagen: Ja. In Caracas hat es dieses Jahr wieder ein Abitur gegeben. Alle, die in die Prüfung gegangen sind, haben diese Prüfung bestanden. Die Schule hat mit 15 bis 30 Schülern immer noch relativ viele, die jedes Jahr das Abitur bestehen. Wer es im bilingualen Zweig bis zur zwölften Klasse geschafft hat, der macht meist auch den Abschluss.

Wie ist es aus Ihrer Sicht zur Schieflage im Land gekommen?
Venezuela hat mal sehr viel Geld eingenommen, als der Ölpreis bei 100 US-Dollar pro Barrel lag. Man hat dieses Geld verteilt, auch in Sozialprojekte. Aber nicht in eine nachhaltige Entwicklung investiert. Man hat so ein Alimentationssystem aufgebaut und den Menschen die Verantwortung für ihr eigenes Leben genommen. Jetzt liegt der Ölpreis bei 40 bis 50 US-Dollar. Der Staat finanziert seinen Haushalt zu 90 Prozent aus den Öleinnahmen. Er hat die gesamte industrielle und landwirtschaftliche Infrastruktur vergammeln lassen. Sie finden große Latifundien, wo keine müde Kuh rumläuft, weil es keine Anreize mehr gibt. Staatliche Lenkungsmechanismen haben überhaupt nicht funktioniert.

In einem Zeitungsbeitrag haben Sie beschrieben, dass der Weg zur Schule zum Teil sehr gefährlich ist. Wenn Sicherheit für junge Menschen so eine besondere Bedeutung bekommt, was macht das mit den Kindern?
Wir haben eine ähnliche Situation wie jetzt schon 2014 gehabt. Da gab es auch über mehrere Wochen Demonstrationen, auch die sogenannten guarimbas, die Straßensperren. Im Prinzip ist das, was sich jetzt abspielt, ganz ähnlich. Aber dieses Mal hält der Protest an. Damals ist er wieder eingeschlafen. Natürlich macht das etwas mit den Jugendlichen, weil sie mitbekommen, was passiert.

Wie hoch sind die Schulgebühren?
Das ist kaum aussagekräftig. Wir haben in Venezuela mehrere Wechselkurse. Als ich gegangen bin, mussten die Gebühren alle zwei, drei Monate angepasst werden, weil die Inflation sich zwischen 500 und 1.000 Prozent bewegt. Zuletzt lagen sie bei 130.000 Bolívares. Nach dem offiziellen Kurs sind das 13.000 Euro, das bezahlt kein Mensch. Zum Schwarzmarktkurs bekommen sie die Schule fast geschenkt. Am Geld kann man es schlecht festmachen. Ob jemand gut oder schlecht lebt, liegt daran, ob er über Devisen verfügt. Man muss sagen, dass die Kinder, die die deutsche Schule besuchen, immer noch Kinder aus privilegierten Schichten sind. Obwohl die Eltern nicht unbedingt aus der Oberschicht stammen, sondern sich auch stark aus dem Mittelstand rekrutieren.

Welche Konflikte gab es unter den Schüler*innen?
Die Mehrheit der Eltern ist sicher nicht der Regierungsseite zuzuordnen. Aber wir haben auch Kinder gehabt von Eltern aus der PSUV (der sozialistischen Regierungspartei; Anm. der Red.), aus der chavistischen Bewegung oder von hochrangigen Regierungsmitgliedern und Funktionären. Wir hatten auch Kinder von Leuten, die politisch verfolgt waren. Das hat sich in der Schule aber nicht gezeigt.

Politisieren sich die Kinder früher als anderswo?
Die Kinder setzen sich schon mit der politischen Lage auseinander. Sie haben auch eine Meinung zu diesen Dingen. Sie blenden es aber in der Schule weitgehend aus. Das ist vielleicht so ein Verdrängungsmechanismus.

Was machen sie sonst?
Sie bewegen sich in Teilgesellschaften: Sie gehen in die Schule, sind am Wochenende in ihren Klubs, bei ihren Familien und Freunden. In Südamerika generell stellen wir fest, dass die Kinder der Mittel- und Oberschicht wenig über die gesellschaftliche Realitäten in den Ländern wissen und viel weniger Erfahrung damit haben, weil sie sich in Parallelwelten bewegen. Hier gibt es 18-, 19-, 20-Jährige, die noch nie mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren sind und bestimmte Stadtteile noch nie gesehen haben.

Wie lassen sich an der Schule – ohne von der Regierung gemaßregelt zu werden – demokratische Maßstäbe vermitteln?
Die Schule ist eine Privatschule und passt damit nicht in die Bildungsideologie der Regierung. Nach deren Vorstellung sollte man mit Bildung kein Geld verdienen. Das bedeutet, dass die Regierung die Privatschule sehr genau beobachtet. Da wird Druck ausgeübt. Einerseits passt man nicht in die bildungspolitischen Vorstellungen, andererseits schicken aber auch hochrangige Regierungsmitglieder ihre Kinder gerne in solche Schulen. Also Wasser predigen, Wein trinken.

Mit welchen Einschränkungen muss die Schule zurechtkommen?
Jahrelang war die Erhöhung der Schulgelder gedeckelt. Als die Inflation „nur“ 30 bis 100 Prozent betrug, durfte die Schule die Gebühr nur um zehn Prozent erhöhen. Die Gehälter inflationsausgleichend anzuheben, kriege ich dann irgendwann nicht mehr hin. Da entsteht ein erheblicher wirtschaftlicher Druck. Auch werden Supervisoren geschickt, wenn Eltern Anzeigen erheben.. Oder wenn denunziert wird, hat man ganz schnell einen Supervisor im Haus, der sämtliche Bücher kontrolliert und ganz bestimmte Anweisungen gibt.
Denunziert, gegen die Schule oder auch persönlich?
Primär gegen die Einrichtung. Das sind Dinge, die aber auch indirekt gegen Personen gehen. Beispielsweise könnte die venezolanische Schulleiterin durch einen Staatskommissar ersetzt werden. Das wäre die Spitze der Repression. Generell können solche Maßnahmen diese Leute sehr hart treffen, weil sie im öffentlichen Bereich keine Arbeit finden.

Hat es das schon gegeben?
Das hat es in anderen Schulen gegeben, bei uns nicht. Aber als Drohung hat es im Raum gestanden.

Sie meinen, in anderen Schulen in Venezuela?
Ja. Das gibt es vielleicht in anderen Ländern auch, aber nicht in dieser Form. Die Kollegen in Quito empfinden das auch so, aber das ist viel weniger ausgeprägt als in Venezuela. Man hat den Eindruck, das ist ein Stück Klassenkampf auf einem Nebenkriegsschauplatz.

Wie sehr kann der deutsche Staat Einfluss nehmen? Gibt es da Kommunikationskanäle?
Es gibt ein bilaterales Kulturabkommen zwischen Venezuela und Deutschland, das den Status dieser Schule regelt und internationalem Recht unterliegt. Aber dieses Abkommen hat die Regierung weitgehend ignoriert. Das hat auch damit zu tun, dass es in Venezuela üblich geworden ist, Rechtsnormen so auszulegen, wie man sie gerade braucht. Fakt ist, dass der politische Einfluss Deutschlands gegen Null geht. Da gibt es eine relativ große Indifferenz. Die deutschen Diplomaten müssen sich ziemlich abstrampeln, um Termine zu bekommen.

Wollen die Kinder ins Ausland? Was sind deren Träume?
Viele suchen den Weg ins Ausland. Die Schule hat letzthin in jedem Jahr 100 bis 150 Schüler verloren nur durch Abwanderung von Familien. Das sind mehr als zehn Prozent der Schüler. Venezuela ist ein Auswanderungsland, gerade der Mittelstand emigriert. In der Oberschicht hat sich die private Lebenssituation wirtschaftlich betrachtet nicht fürchterlich verändert. Der Mittelstand hat schon erheblich gelitten.

Was sind die Zielländer der Auswanderer*innen?
Die Familien gehen sehr häufig nach Kolumbien, nach Panama, in die USA, nach Europa in die Länder, aus denen zugewandert wurde. Wir hatten im vergangenen Jahr 25 erfolgreiche Abiturienten und von denen sind 22 zum Studium in Deutschland gelandet. Das machen sie aber nicht nur, weil der Studienstandort inzwischen so attraktiv ist, sondern auch weil sie das Land verlassen wollen. Die Perspektive zurückzukehren, ist gar nicht mehr da.

Sie arbeiten jetzt seit gut einem Monat in São Paulo. Wie nehmen sie das Bildungssystem und Brasilien selbst wahr?
Ich kann zum Bildungssystem noch wenig sagen. Ich nehme Brasilien als ein Land wahr, das funktioniert. Brasilien hat zurzeit die Diskussion über Korruption, die alle politischen Richtungen betrifft. Was Brasilien auszeichnet, ist die Tatsache, dass diese Diskussion geführt wird und es offensichtlich so etwas wie eine Gewaltenteilung gibt, bei der die Judikative weitgehend unabhängig agiert. Die Instanzen in Venezuela funktionieren nicht mehr. Der Oberste Gerichtshof trifft die absurdesten Entscheidungen, die mit der Verfassung des Landes kaum noch etwas zu tun haben.

// ZUM SCHEITERN VERURTEILT

Die Idee an sich klingt gut. Mittels einer Verfassunggebenden Versammlung (VV) will der venezolanische Präsident Nicolás Maduro den politischen Machtkampf in Venezuela beenden. „Heute gebe ich die Macht in die Hände der Bevölkerung“, sagte er bei der Übergabe des entsprechenden Dekretes an den Nationalen Wahlrat (CNE). Dass damit die nach Hugo Chávez’ Amtsantritt als Präsident erarbeitete „beste Verfassung der Welt“ von 1999 abgeschafft werden soll, sehen die Chavist*innen keineswegs als Widerspruch an. Vielmehr solle diese der gesellschaftlichen Realität angepasst werden, indem etwa die vielfältigen Sozialprogramme und Selbstverwaltungsstrukturen Verfassungsrang bekommen.
Doch hinterlässt Maduros Ankündigung jede Menge Fragezeichen. Sie erfolgt mitten in einer tief greifenden politischen und wirtschaftlichen Krise, in der die gesellschaftliche Polarisierung vollends in Gewalt umzuschlagen droht. Gewissheit gibt es nicht, doch spricht einiges dafür, dass die Regierung momentan kaum eine Chance hätte, eine demokratische Wahl zu gewinnen. Die Zusammensetzung einer VV kann in diesem Kontext nur zugunsten der chavistischen Kräfte ausfallen, wenn einzelne Gruppen Sonderrechte erhalten oder die Opposition den Prozess boykottiert. In beiden Fällen würde einer neuen Verfassung bereits vor ihrer Verabschiedung ein Makel anhaften. Denn eine Magna Charta braucht vor allem eines: Legitimität.
Die Krise, in der sich Venezuela befindet, lässt sich auf diese Art und Weise nicht lösen. Die rechte Opposition, für die demokratische Regeln immer schon eine allenfalls taktische Rolle gespielt haben, bezeichnet Maduro mittlerweile offen als Diktator. Sie will nur dann an den Verhandlungstisch treten, wenn sie zuvor die Zusage zu sofortigen Neuwahlen erhalten hat. Die venezolanische Regierung warnt ihrerseits vor Umsturzplänen, agiert immer autoritärer und interpretiert die bestehende Verfassung nach ihrem Gusto. Dass unter diesen Bedingungen ein fruchtbarer gesellschaftlicher Dialog erwächst, ist mehr als fraglich. Eher vertieft der Vorstoß die ohnehin schon kaum mehr zu kontrollierende Polarisierung.
Dass die Regierung derart diskreditiert ist, liegt nicht zuletzt an eigenen Fehlern. Die Schuld an der gravierenden Wirtschafts- und Versorgungskrise lastet Maduro einseitig dem niedrigen Erdölpreis und einer Sabotage seitens der Privatwirtschaft an, ohne jedoch die strukturellen Ursachen anzugehen. Kritik ist auch aus den eigenen Reihen unerwünscht, eine offene Debatte gibt es schon lange nicht mehr. Letztlich hat Maduros Regierungspolitik nur noch wenig mit mit dem unter Chávez begonnenen „bolivarianischen Prozess“ zu tun, in dem es vor allem um politische Teilhabe und soziale Gerechtigkeit ging.
Es scheint kaum mehr möglich, dass die Regierung von innen heraus zu einer progressiven Ausrichtung des Chavismus zurückfindet. Eine Machtübernahme durch die rechte Opposition hätte für die politische Stabilität des Landes und die Situation der ärmeren Bevölkerungsmehrheit indes fatale Konsequenzen. Hoffnung böte alleine das Emporkommen einer linken Alternative, die in Verbindung mit sozialen Bewegungen als dritter politischer Akteur die lähmende Polarisierung aufbricht. Bisher gibt es dafür nur vereinzelte Ansätze wie etwa den so genannten kritischen Chavismus, zu dem sich die PSUV-Abspaltung Marea Socialista („Sozialistische Flut“), einige von Chávez’ Ex-Minister*innen und eine Reihe prominenter Intellektueller zählen. Obwohl sich laut Umfragen mittlerweile die Mehrheit der Bevölkerung keinem der beiden großen Lager mehr zurechnet, werden bisher jegliche Ansätze jenseits der beiden großen Blöcke durch die Polarisierung zerrieben. Kurzfristig scheint ein Bündnis aus kritischen Chavist*innen und konstruktiven Oppositionellen, die es durchaus auch gibt, unrealistisch. Mittelfristig ist dies die einzige Möglichkeit, die positiven Seiten des chavistischen Erbes zu retten.

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