Selbstorganisiert gegen die Hydra

Eigentlich war alles ganz anders geplant. Als im März 2014 der spanisch-mexikanische Philosoph Luis Villoro starb, kündigte die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) ein Gedenktreffen für den Intellektuellen sowie das einwöchige Seminar „Die Ethik angesichts des Raubs“ für Juni desselben Jahres an. Dann jedoch wurde der zapatistische Lehrer Galeano am 2. Mai 2014 von Mitgliedern der paramilitärischen Bauernorganisation CIOAC-Histórica in seinem Dorf La Realidad in einen Hinterhalt gelockt und umgebracht. Die EZLN sagte daraufhin das Gedenken an Villoro ab und lud zu einer Ehrung Galeanos in das Caracol von La Realidad, eines der fünf zapatistischen autonomen Verwaltungszentren. Dort gab Subcomandante Insurgente Marcos sein eigenes Verschwinden bekannt, um als Subcomandante Insurgente Galeano wiederzukehren (siehe LN 480).
Am 2. Mai dieses Jahres, dem Jahrestag der Ermordung Galeanos, fand nun das Gedenken an Luis Villoro und an den Getöteten im Caracol von Oventik statt. Über eintausend Sympathisant*innen der EZLN sowie tausende Zapatistas aus den fünf autonomen Regionen nahmen daran teil. Als Gäste waren Familienangehörige der Geehrten, zwei Eltern der 43 gewaltsam verschwunden gelassenen Studenten von Ayotzinapa sowie der EZLN nahestehende Intellektuelle geladen. Zunächst sprachen der Sohn von Luis Villoro, Juan Villoro, und seine Witwe Fernanda Navarro. Juan Villoro zeichnete ein sehr menschliches Bild seines Vaters und hob hervor, dass jener Wert darauf gelegt habe, dass kritisches Denken nicht zur Doktrin oder zum Dogma verkommen dürfe. Fernanda Navarro beschrieb die Wertschätzung, die ihr verstorbener Mann der zapatistischen Bewegung entgegengebracht habe, und die gemeinsamen Erlebnisse in Chiapas seit dem Aufstand der EZLN im Jahr 1994. Lisbeth und Mariano, zwei der Kinder Galeanos, erzählten ihrerseits von den Lehren, die ihnen ihr Vater über den Kampf der Zapatistas mitgegeben hatte, sowie über ihre eigenen Erfahrungen im Widerstand.
Einen Großteil der Zeit aber sprach Subcomandante Insurgente Galeano über die Toten. Er machte der Familie Villoros das „Geschenk“, von „Don Luis, dem Zapatisten“ zu erzählen. Der Text, noch von Subcomandante Marcos geschrieben, berichtet von einer Begegnung zwischen Marcos und Villoro, als letzterer um Aufnahme in die Reihen der EZLN bat. Marcos habe ihm daraufhin all die Schwierigkeiten erklärt, die mit dem Leben in den Bergen und im Widerstand verbunden wären, doch Villoro habe am Ende nur gesagt: „Ich bin bereit“. Seit jenem Treffen sei Villoro Teil der EZLN gewesen, ohne Tarnnamen und Vermummung.

 

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Die Pfeife ist geblieben. Subcomandante Galeano (früher Marcos) Foto: Thomas Zapf

Im Gedenken an den „Maestro Galeano“ sprach der Subcomandante gleichen Namens von der Grausamkeit, mit der ersterer ermordet worden war. Erneut verurteilte er die Berichterstattung durch einige kommerzielle Medien, die die Ermordung als Zusammenstoß zwischen Zapatisten und Mitgliedern der paramilitärischen CIOAC-Histórica dargestellt hatten (siehe LN 491). Dann las er aus den Notizen des Lehrers, die einen beeindruckenden Einblick in dessen Erlebnisse und Erfahrungen vor und nach dem Aufstand gaben. Zum Abschluss des Gedenkens sprach Subcomandante Insurgente Moisés, der die Wichtigkeit der Selbstorganisation betonte, um gegen das System kämpfen zu können.
Damit nahm er bereits den Grundtenor vorweg, der die nächsten sieben Tage prägen sollte. Diese standen im Zeichen des Seminars „Kritisches Denken angesichts der kapitalistischen Hydra“ – einer treffenden Analogie des bestehenden ökonomischen Systems zu jenem Ungeheuer der griechischen Mythologie, dem immer neue Köpfe nachgewachsen waren, wenn ihm einer abgeschlagen wurde. Eröffnet wurde das Seminar am Vormittag des 3. Mai noch im Caracol von Oventik, am Nachmittag desselben Tages und für die anschließenden Tage war die alternative Universität CIDECI-Unitierra am Rande von San Cristóbal de Las Casas Gastgeberin der Vortragenden und Teilnehmer*innen. Je eine drei- bis vierstündige Sitzung am Vor- und Nachmittag, unterbrochen von einer dreistündigen Mittagspause, brachten insgesamt über 2.500 Interessierte zusammen, um die verschiedenen Beiträge zu hören. Der Sechsten Kommission der EZLN, also den Subcomandantes Moisés und Galeano, war es vorbehalten, abwechselnd mit ihren Beiträgen die Sitzungen zu schließen.
In einem seiner ersten Beiträge wies Galeano die Zuhörenden darauf hin, dass sie der Anwesenheit einer „unterirdischen Drohne“ in Gestalt von Moisés beiwohnten, der „von unten“ über die Entwicklung des Zapatismus berichten würde. Eingeteilt in die Themen „Politische Ökonomie in den Gemeinden“ und „Widerstand und Rebellion“, gab Moisés sehr anschaulich und ausführlich Zeugnis vom zapatistischen Alltag, den Schwierigkeiten und Erfolgen der Bewegung. Immer wieder betonte er die Wichtigkeit, sich zu organisieren: „Wir Männer und Frauen mussten uns organisieren, um uns [das Land] zurückzuholen“, erinnerte er an den bewaffneten Aufstand der Zapatisitas 1994. Auch hob Moisés den Anteil der zapatistischen Frauen am Aufstand hervor, die sich nicht länger mit den Almosen der Regierung zufrieden geben wollten. Ebenso wehrte er sich gegen Kritik von außen, die den Zapatistas Inkonsequenz im Alltag – zum Beispiel das Trinken von Coca-Cola – vorwirft: „Ihr idealisiert uns. Ihr denkt, alles, was wir sagen, ist bereits so. Nein, compañeras und compañeros, Brüder und Schwestern. Aber wir sind organisiert.“
Galeano seinerseits sprach von der politischen Krise, in der Mexiko zurzeit steckt, mit dem Verschwinden der 43 Lehramtsstudenten von Ayotzinapa als deren deutlichstem Ausdruck. Wie schon in früheren Kommuniqués sparte er auch diesmal nicht mit Kritik und Spott über die politische Klasse und die „Bezahl-Medien“, wie die Zapatistas die kommerziellen Medien nennen.

 

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Stärke zeigen. Die militärische Basis der Zapatistas (Foto: Thomas Zapf)

Galeano erinnerte daran, dass alle Vortragenden zum auch semillero (Brutstätte) genannten Seminar eingeladen wurden, weil die EZLN sich von ihnen „Provokationen zum Nachdenken“ erwarte. In einem seiner letzten Beiträge ging Galeano auf die zapatistische Perspektive der globalen Krise ein: „Der Kapitalismus, laut dem Zapatismus, ist Krieg. […] Der einzige Gegner des Kapitalismus ist die Menschheit.“ Mehrfach bezog er sich auf Marx, als er über die Krise der Wertschöpfungskette und die (fast) alles dominierende Rolle des Finanzsystems in der aktuellen Phase des Kapitalismus referierte.
Insgesamt kamen neben den Zapatistas mehr als 60 Aktivist*innen, Akademiker*innen und Vertreter*innen indigener Gruppen zu Wort. Dazu gehörten unter anderen so unterschiedliche Beiträge wie der von Havin Güneser von der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) über die Situation der Kurd*innen im Widerstand oder der der mexikanischen Soziologie-Koryphäe Pablo González Casanova über die aktuellen internationalen Krisen. Zapatismus-Theoretiker John Holloway erklärte, dass „wir die Krise des Kapitalismus“ seien, indem sich die Zapatistas dessen Logik verweigern würden. Der mexikanische Sozialwissenschaftler Daniel Inclán sprach von der „Pädagogik des Achtgebens“, der kolumbianische Mediziner Manuel Rozental wies auf die Ähnlichkeiten der Entwicklung seines Landes mit der von Mexiko in Bezug auf Gewalt und Vertreibung der ländlichen Bevölkerung zugunsten wirtschaftlicher Großprojekte hin. Carlos González vom Nationalen Indigenen Kongress (CNI) wiederum las zwei der „30 Spiegel“ vor. In diesem Dokument hat der CNI verschiedene Situationen von Vertreibung, Landraub und Repression seiner Mitglieder festgehalten hat.
Kurz vor Schluss einer der Sitzungen, in der verschiedene Feminist*innen sprachen, ergriffen fünf Zapatistinnen das Wort. Die Comandantas Miriam, Rosalinda und Dalia, Teil der politisch-militärischen Führung der EZLN, sowie Lizbeth und Selena wussten von unterschiedlichen Erfahrungen innerhalb des zapatistischen Kampfes zu berichten, repräsentierten sie doch drei Generationen zapatistischer Frauen. Miriam etwa sprach von der Zeit vor dem Aufstand auf den Fincas, als „der verdammte patrón uns behandelte, als ob wir sein Eigentum wären“. Anschließend berichteten Rosalinda und Dalia von der Phase, als die Frauen sich zu organisieren begannen und sich dem militärischen Teil der Bewegung anschlossen. Als Teil der dritten Generationen erklärten Lizbeth und Selena, wie ihre Beteiligung an den Aufgaben innerhalb der zivilen zapatistischen autonomen Strukturen aussieht, die sie „schon als Teil unserer Kultur“ sehen.

 

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Gedenken an den Vater. Der Sohn des ermordeten Galeano (Foto: Thomas Zapf)

Die Sechste Kommission der EZLN betonte auf dem Seminar mehrfach, dass Theorie und Praxis zusammengehören. Zwar gab es seit 1994 immer Aggressionen, doch in der letzten Zeit ist in einigen zapatistischen Regionen eine deutliche Zunahme der Einschüchterungen und Übergriffe durch regierungstreue Gruppierungen erkennbar. Das in Chiapas ansässige Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de Las Casas (Frayba) veröffentlichte kurz nach dem Seminar einen zehnseitigen Bericht über die Situation in der Region des Caracols La Realidad. Unter dem doppeldeutigen Titel „La Realidad, Kontext des Krieges“ listet das Menschenrechtszentrum darin Bedrohungen, Übergriffe und Einschüchterungen im Rahmen der Aufstandsbekämpfung von Anfang 2014 bis heute auf. Erkennbar wird ein Handlungsmuster, bei dem Vetternwirtschaft, territoriale Kontrolle sowie eine Zermürbungstaktik gegen Zapatistas sowie mit ihnen sympathisierende Kleinbäuerinnen- und bauern eine zentrale Rolle spielen. Im Fall des Mordes am „Maestro Galeano“ gab es zwar zwei Verhaftungen, weitere Täter wurden jedoch nicht festgenommen, was den Schluss nahelegt, dass auch hier die Straflosigkeit über die Gerechtigkeit siegen wird.
Da sich an dieser Situation vermutlich auf absehbare Zeit nicht viel ändern wird, liegt vor den Aufständischen in Chiapas weiterhin ein beschwerlicher Weg in einem Umfeld, das ihnen alles andere als freundlich gesinnt ist. Worauf sie allerdings bauen können, sind 30 Jahre Selbstorganisation und mehr als 20 Jahre Erfahrung im offenen Widerstand.

Die Wut der Straße

„1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17… ”. Die nicht enden wollende Zahlenreihe schallt über den abendlichen Zócalo in Mexiko-Stadt, mit jeder Nummer stimmen mehr Menschen in den Sprechchor ein. Zehntausende drängen sich auf dem riesigen Platz zwischen der Kathedrale, dem Nationalpalast und dem Rathaus, Hunderttausende in den umliegenden Straßen. „18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28. 29, 30, 31…“. Papierne Himmelslaternen steigen auf und erhellen für kurze Zeit die Umstehenden, vor dem Nationalpalast explodieren Böller und Raketen, zwischen improvisierten Konzerten, Theaterperformances, und spontanen Sit-ins ergießt der schier endlose Demonstrationszug sich weiter über den Platz. „32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43… ¡Justicia! ¡Justicia! ¡Justicia!“
Jede dieser Zahlen steht für einen der 43 von mexikanischen Polizisten und Mafiamitgliedern entführten Studenten der pädagogischen Fachhochschule Ayotzinapa, für den die Menge Gerechtigkeit fordert. Am 26. September wurde eine Gruppe von Lehramtsstudenten in der im Bundesstaat Guerrero gelegenen Stadt Iguala brutal attackiert. Bei dem Angriff und darauf folgenden Tötungsaktionen starben sechs Menschen, dem 22-jährigen Studenten und Familienvater Julio César Mondragón wurde vor seiner Hinrichtung die Gesichtshaut abgezogen (LN 485 und 486). Die Überlebenden wurden verschleppt, ihr Schicksal hat seitdem Woche für Woche mehr Menschen dazu bewegt, auf die Straße zu gehen. In den ersten Wochen waren diese Proteste zumindest in Mexiko-Stadt und anderen großen Städten noch stark studentisch geprägt. Den Eltern und Mitschülern der Verschwundenen sowie den Studierenden der großen Universitäten ist es zu verdanken, dass der mexikanische Staat dieses Verbrechen nicht, wie andere zuvor, hat vertuschen können. Auf den bisher größten Demonstrationen am 20. November, bei denen allein in der Hauptstadt etwa eine halbe Millionen Teilnehmer*innen marschierten, trat jedoch offen zu Tage, dass die Proteste mittlerweile von ganz verschiedenen Sektoren getragen werden.
Gewerkschafter*innen und LGBT-Aktivist*innen, progressive Katholik*innen neben Künstlerkollektiven und Studierenden, Unterstützungsgruppen der Zapatistas und eine nicht eben kleine Vereinigung von weißgekleideten Kundalini-Yoga-Anhänger*innen, dazwischen Tausende, die alleine, mit ihrer Familie oder anderen Menschen aus ihrem engsten Umfeld gekommen sind: Insbesondere in Mexiko, wo politische Mobilisierung traditionell zumeist über bestehende zivilgesellschaftliche oder parteipolitische Strukturen funktioniert, ist diese Zusammensetzung der Proteste ein Novum. Zum einen zeugt sie davon, dass sich eine häufig als sehr persönlich wahrgenommene Betroffenheit und Unzufriedenheit ihren Weg in den kollektiven öffentlichen Raum gebahnt hat: die Angst, die Wut, aber auch etwaige Lösungsansätze, die bislang systematisch individualisiert wurden, werden von mehr und mehr Menschen als gesellschaftliche, politische Probleme verstanden. Zum anderen stellt die Heterogenität der Bewegung, die bisher kein Akteur für sich in Beschlag nehmen konnte, sowohl ihre große Stärke dar, als auch eine ihrer größten Schwierigkeiten.
Jahrzehnte neoliberaler Umstrukturierung und polizeilich-militärischer Repression haben die mexikanische Gesellschaft in vieler Hinsicht fragmentiert. Es ist kein Zufall, dass die Antworten auf die andauernde, vom mexikanischen Staat und den Kartellen ausgehende Gewalt stets lokaler oder regionaler Natur waren – von der „Bewegung für den Frieden mit Gerechtigkeit und Würde“ um den Dichter Javier Sicilia einmal abgesehen. Die Forderung „Wir wollen sie lebend zurück!“ hat nun über Monate hinweg eine Art kleinsten gemeinsamen Nenner hergestellt. Über diesen konnten sich sehr verschiedene politische Projekte zumindest punktuell artikulieren. An der Frage, wie es weiter gehen soll, entzweien sich jedoch schnell die Geister – und das nicht zuletzt, weil es im Allgemeinen ein klares Bekenntnis zur Pluralität der Bewegung und zur Notwendigkeit des Dialogs zwischen Verschiedenen gibt. Selten hat der zapatistische Traum einer „Welt, in die viele Welten passen“ einen so konkreten Ausdruck bis in die gesellschaftliche Mitte hinein gefunden.
Auch in anderer Hinsicht fühlt man sich an die Hochzeiten der zapatistischen Bewegung erinnert: die Institutionen und Repräsentant*innen des Staates nämlich werden von diesem Dialog bisher radikal ausgeschlossen. Das ist nicht nur eine Lehre aus dem Scheitern der Bewegung von Javier Sicilia, der sich völlig überstürzt auf Verhandlungen mit den Vertreter*innen des Staates einließ und so rasch seine Legitimität verspielte. Vielmehr leben die derzeitigen Mobilisierungen von der kollektiv erstellten Diagnose, dass Mexikos politisches System als solches von Grund auf verfault ist, weswegen Appelle an die Herrschenden oder Verhandlungen mit ihnen keine politische Option sind. Diese Einsicht kommt in den zentralen Slogans wie „Fue el Estado“ („Es war der Staat“, bezogen auf das Verbrechen an den Studenten) oder „Que se vayan todos“ („Sie – die Politiker*innen – sollen sich alle zum Teufel scheren“) überdeutlich zum Ausdruck.
Das Verbrechen an den Studenten aus Ayotzinapa wird nunmehr als ein weiterer, wenn auch besonders abscheulicher Moment in einer langen Serie von Staatsverbrechen, staatlichem Versagen und Korruption wahrgenommen. Immer wieder wird auf den Demonstrationen an die vom Staat oder parastaatlichen Akteuren verübten Massaker erinnert: am 2. Oktober 1968 erschoss das mexikanische Militär Hunderte Student*innen; im Juni 1995 ermordeten Polizisten in Guerrero 17 Bauern; 1997, zwei Tage vor Weihnachten, eröffneten Paramilitärs in Acteal das Feuer auf Mitglieder der indigenen Organisation Las Abejas und töteten 45 Menschen; und gerade einmal zweieinhalb Monate vor den Vorkommnissen in Iguala massakrierte das Militär 22 junge Menschen im Bundesstaat Mexiko, ohne dass dieses Ereignis nennenswerte Aufmerksamkeit erhalten hätte.
Auch die parallel zu den großen, zentralen Demonstrationen stattfindenden Kämpfe im Bundesstaat Guerrero stellen eine Antwort auf die Gewalt und die hermetische Abgeschlossenheit des mexikanischen Staates gegenüber der Bevölkerungsmehrheit dar. Die politische Analystin Raquel Gutiérrez erklärt, dass die dortigen, vor allem von Lehrergewerkschaften vorangetriebenen Mobilisierungen „gewisse Charakteristika der historischen Bauernkämpfe Mexikos aufweisen: In etwa 20 Munizipien rund um Ayotzinapa, im Bergland Guerreros, und bis zur Region der Costa Chica, die am Pazifik endet, wurden die politischen Autoritäten entmachtet und damit begonnen, andere Regierungsstrukturen aufzubauen. Es geht dabei darum, autonome politische Entscheidungen treffen zu können. Also um den Aufbau von politischen Mechanismen, die nicht der perversen Logik des Neoliberalismus mexikanischer Prägung unterworfen sind“. Für Aufsehen auf nationaler Ebene sorgten bisher aber vor allem die zentralen Proteste in Acapulco oder Chilpancingo, während derer die Demonstrant*innen unter anderem den Kongress von Guerrero, die Büros der Staatsanwaltschaft sowie diverser politischen Parteien attackierten und niederbrannten.
Im Zentrum der derzeitigen Krise stehen allerdings fraglos die Repräsentanten der Bundesregierung. Nachdem die Pressekonferenz, auf der der Bundesstaatsanwalt Murillo Karam die Ergebnisse seiner bisherigen Ermittlungsarbeit vorstellte, zu massiven Protesten geführt hatte (siehe LN 486), gewann seine Version in den letzten Tagen an Aufwind. Karam hatte behauptet, die Studenten seien von Polizisten an die Mafiagruppe „Guerreros Unidos“ übergeben worden, welche sie dann ermordet, verbrannt und ihre Asche schließlich in einen Fluss geschüttet hätte. Die mit der Untersuchung der im Fluss gefundenen Reste beauftragte Medizinische Universität Innsbruck hat nun bekannt gegeben, dass sie Knochenteile sowie einen Backenzahn eines der verschwundenen Studenten, Alexander Mora, identifizieren konnte. Allerdings stellten die argentinischen Forensiker*innen, welche das Vertrauen der Familien der Verschwundenen genießen, klar, dass sie beim Fund der Reste nicht anwesend waren. Die Familien unterstreichen außerdem, dass die Identifizierung von Alexander Mora nicht bedeutet, dass Murillos Version der Wahrheit entspricht.
Die Reaktionen auf die Verlautbarungen der Regierungsmitglieder sind, ebenso wie die Attacken auf öffentliche Gebäude, Anzeichen einer allgemeinen Diskreditierung der politischen Klasse die, zumindest unter den Protestierenden, total ist: Als sich Cuahtémoc Cárdenas, Gründervater, dreimaliger Präsidentschaftskandidat und „moralische Autorität“ der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) auf einer der ersten Demonstrationen blicken ließ wurde er von einer aufgebrachten Menge unsanft davon gejagt. Noch bis 2006, als sie erstmals mit Andrés Manuel López Obrador als Präsidentschaftskandidaten antrat, galt die als linksliberal gehandelte Partei vielen als Hoffnungsträger. Nach Jahren des Verfalls scheint die PRD, der sowohl der mittlerweile abgetretene Gouverneur von Guerrero als auch der als Hauptverantwortliche für das Verbrechen an den Studenten geltende Bürgermeister von Iguala und seine Ehefrau angehören, endgültig am Ende zu sein. Auf nationaler Ebene verspielte sie ihre Glaubwürdigkeit unter anderem damit, Teil des parteiübergreifenden „Paktes für Mexiko“ zu werden. Mit dessen Hilfe verwirklichte der Präsident Enrique Peña Nieto sein heftig kritisiertes Reformpaket, das auch die Teilprivatisierung der Erdölindustrie umfasst. Die Rolle der PRD in Guerrero zeigt zudem in aller Deutlichkeit, dass die Partei, genau so wie ihre Konkurrentinnen, auf lokaler und bundesstaatlicher Ebene vor allem ein Instrument in der Hand von antidemokratischen Akteuren darstellt, mit dem diese Positionen im Staatsapparat besetzen – je näher sie den Drogenkartellen dabei stehen, desto besser. In den letzten Novembertagen zog Cárdenas die persönliche Notbremse und gab seinen Austritt aus der Partei bekannt. Selbst hochrangige PRD-Mitglieder erklärten die Partei daraufhin für moribund und dachten laut darüber nach, es ihm gleich zu tun.
Auf parteipolitischer Ebene könnte damit einzig die vom aus der PRD geschassten López Obrador gegründete Bewegung der Nationalen Erneuerung (MORENA) Kapital aus den Protesten schlagen. Doch entgegen den abenteuerlichen Beteuerungen aus dem Dunstkreis der regierenden Revolutionären Institutionellen Partei (PRI), dass ihr Erzfeind López Obrador für die Demonstrationen verantwortlich sei, hält MORENA sich auf den großen Demonstrationen auffällig im Hintergrund – wohl nicht zuletzt, weil mit dem ehemaligen Gesundheitsminister von Guerrero auch einer der ihren aufgrund der Kontakte zu den Hauptverdächtigen zurücktreten musste. Eine Kanalisierung des kollektiven Unmuts in bestehenden Parteistrukturen ist zu diesem Zeitpunkt also nicht absehbar. Vielmehr scheint das Gegenteil der Fall zu sein: bemüht, die Schuld an der allgemeinen Misere auf ihre jeweiligen politischen Gegner abzuwälzen, scheint es oft so, als ob Mexikos Politiker*innenkaste sich ihr eigenes Grab schaufele. Denn die andauernde Diskreditierung der anderen Parteien, die parteipolitisch betrachtet eventuell Sinn ergibt, höhlt gleichzeitig die Legitimität des Parteiensystems als solches zunehmend aus.
Präsident Enrique Peña Nieto sah sich ob der nicht abreißenden Proteste und Rücktrittsforderungen schließlich genötigt, eine politische Antwort auf den öffentlichen Druck zu geben. Mit einem Ende November vorgestellten 10-Punkte-Plan versucht die Regierung der PRI nun, wieder die Oberhand über die politische Agenda zu gewinnen. Der Plan sieht unter anderem vor, die lokalen und häufig von kriminellen Gruppen kontrollierten Polizeieinheiten aufzulösen und sie durch zentrale bundesstaatliche Einheiten zu ersetzen. Außerdem sollen die Autoritäten in vom Zentralstaat als korrumpiert geltende Munizipien entmachtet und die Institutionen der direkten Kontrolle des Staates unterstellt werden können. Hinzu kommt eine Klärung der häufig widersprüchlichen Kompetenzen der verschiedenen staatlichen Ebenen in Fragen der öffentlichen Sicherheit, sowie die Schaffung von speziellen Entwicklungszonen in den Bundesstaaten Oaxaca, Guerrero und Chiapas. Schließlich kündigte der Präsident zudem die Entsendung von 10.000 Bundespolizisten in die als Tierra Caliente („Heißes Land“) bekannten Regionen in Michoacán und Guerrero an.
Wie so oft in den letzten Monaten reagierte die Öffentlichkeit, bis hinein ins rechtsliberale Spektrum, auch auf diese Regierungsinitiative ablehnend. Dem Präsidenten wird nicht nur vorgeworfen, an seiner bisherigen Politik festzuhalten und keine konkreten Schritte zur Verbesserung der Situation anzubieten; die Kritiker*innen bemängeln am Programm Peña Nietos vor allem, dass es nicht der Tatsache Rechnung trägt, dass die Verstrickungen mit der organisierten Kriminalität bis weit in die bundes- und zentralstaatlichen Institutionen hinein reichen. Ein weiterer Vorstoß der PRI stieß jedoch auf noch stärkere Ablehnung: um wieder Herr der Lage auf den Straßen des Landes zu werden zauberten Abgeordnete der Regierungspartei gemeinsam mit ihren Kolleg*innen der Partei der Nationalen Aktion (PAN) ein Projekt zur Reformierung des Mobilitätsgesetzes aus der Schublade. Die Gesetzesvorlage, welche eine staatliche Durchsetzung des Rechts auf „freie Beweglichkeit“ vorsieht, stammt vom April 2014, und wurde schon damals für seine etwaigen Auswirkungen auf das Demonstrationsrecht gerügt (siehe Infokasten S. 12). Dass das Projekt nun inmitten der größten Proteste, die Mexiko seit Jahrzehnten erlebt hat, wieder aufgelegt wird, ist ein weiteres Anzeichen für die Fortsetzung der autoritären Politik des mexikanischen Staates.
Trotz der Versuche der staatlichen Akteure, die Proteste irgendwie in den bestehenden Strukturen zu kanalisieren: derzeit sind es die Protestierenden, welche die Zeiten und die Agenda der mexikanischen Politik bestimmen. Ob es ihnen gelingen wird, das derzeitige Aufbäumen in stabilere zivilgesellschaftliche Mechanismen und Organisationszusammenhänge zu übersetzen und so Mexikos kriminellem Staat das Wasser abzugraben, entscheidet sich aber höchstwahrscheinlich nicht in einem heroischen Moment gesellschaftlicher Katharsis, sondern in mühsamer politischer Arbeit an vielen verschiedenen Stellen. Die derzeitigen Proteste stellen damit eher einen Moment des Sich-Gewahr-Werdens der von staatlicher und parastaatlicher Gewalt durchzogenen mexikanischen Gesellschaft dar – und das ist, fraglos, die notwendige Basis für die tiefgreifenden Transformationen, die Mexiko nötig hat.

Kaffeekrise in Chiapas

Vier Kaffeekooperativen aus Griechenland (Syn Allois), Italien (Tatawelo), Frankreich (Échange Solidaire) und Deutschland (Kaffeekollektiv Aroma Zapatista), die zapatistischen Kaffee importieren, waren kürzlich in Mexiko und haben mit Kaffeekooperationen vor Ort und den zapatistischen Räten der Guten Regierung (Juntas del Buen Gobierno) gesprochen. Anfang Oktober kam die vierköpfige Delegation aus Mexiko zurück und berichtete über ihren Besuch. Leider gibt es keine guten Nachrichten: In Chiapas hat sich die Kaffeekrankheit La Roya (auch als Kaffeerost bekannt) sehr stark ausgebreitet. Die zapatistischen Kaffeekooperativen rechnen mit Ernteeinbußen bis zu 75 Prozent.
Der Pilz La Roya, der schon vor einigen Jahren in Mittelamerika große Teile der Kaffee-Ernten zerstört hatte, führt dazu, dass die Kaffeepflanzen ihre Blätter verlieren und die Kaffeekirschen vor der Reife abfallen. Die befallenen Pflanzen gehen ein. Die Bekämpfung des Pilzbefalls wiederum ist schwierig. Viel Zeit und Geld ist nötig, um die Pflanzen zu pflegen und von der Krankheit zu befreien. Wichtig sind gute Düngung, vermehrter Anbau von Schattenbäumen, das Einsammeln der kranken Blätter sowie das Behandeln der Pflanzen mit Mikroorganismen und Pilzen, die wiederum den Roya-Pilz bekämpfen und Pflanzen und Boden stärken. Zudem ist der Aufbau von zusätzlichen Baumschulen wichtig, um die abgestorbenen Pflanzen zu ersetzen.
Diese Maßnahmen sind kostspielig. Für die Zapatistas ist es eine fatale Situation: Auch wenn die Gemeinden vor allem Nahrungsmittel zur Selbstversorgung anbauen, sind die Kaffee-Kooperativen ein relevanter Faktor im zapatistischen Widerstand. Für viele sind die Einnahmen aus dem Kaffeeverkauf die einzigen Einkommen. Die ohnehin schwierige Lage verkompliziert sich aber noch zusätzlich: Durch eine Dürreperiode fiel die Mais-Ernte in diesem Jahr sehr gering aus. Viele sind somit gleich doppelt betroffen.
Die Einnahmen aus dem Kaffeeverkauf würden also gerade jetzt dringend gebraucht, um Mais dazuzukaufen. Durch die Kaffeekrise bahnt sich aber – vor allem in finanzieller Hinsicht – eine kritische Versorgungssituation in den Gemeinden an.
Um die zapatistischen compañer@s bei ihrem fortlaufenden Aufbau von Selbstverwaltungsstrukturen zu unterstützen – darunter fallen auch die Kaffeekooperativen – hat Aroma Zapatista eine Spendenkampagne ins Leben gerufen. Die Spenden werden für die notwendigen Maßnahmen zur Erhaltung der Kaffeepflanzen, sowie für die Unterstützung der von der Dürre betroffenen Gemeinden zur Verfügung gestellt.

Rückenwind für indigenen Widerstand

Es war ein Mammuttreffen, das vom 4. bis 9. August in dem zapatistischen autonomen Caracol (Verwaltungszentrum) La Realidad stattfand. Der Nationale Indigene Kongress (CNI), in dem sich indigene Organisationen aus ganz Mexiko organisiert haben, hatte 312 Delegierte von 32 indigenen Gruppen in den Ort am Rande der Selva Lacandona im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas entsandt. Auf Seite der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) nahmen jeweils 50 Austauschende und 50 Berichterstatter_innen teil, sowie 1.200 Hörer_innen, die die Aufgabe hatten, die gefassten Beschlüsse und geteilten Erfahrungen in ihren Gemeinden kundzutun und zu informieren.
Es ist bereits das zweite Mal, dass innerhalb weniger Monate ein derart großes Ereignis in La Realidad stattfand. Das erste datiert auf das letzte Maiwochenende diesen Jahres, als eine symbolträchtig inszenierte Trauerfeier für den ermordeten Zapatista Galeano abgehalten wurde. Ebenso entfiel auf jenes Wochenende der symbolische Tod der Medienfigur Subcomandante Insurgente Marcos, verbunden mit seinem Rücktritt als Sprecher und Militärchef der EZLN, sowie dessen Wiedergeburt als Subcomandante Insurgente Galeano (siehe LN 480).
Das Augusttreffen hatte historische Dimensionen, denn erstmals waren es die zapatistischen Basisgemeinden, welche an dem Austausch und Annäherungsprozess aktiv teilnahmen. Von weiten Teilen des Treffens blieb die Öffentlichkeit ausgeschlossen, erst für die abschließende Pressekonferenz öffneten sich die Türen für freie Medienschaffende sowie Anhänger_innen der Sechsten Deklaration aus dem Lakandonischen Urwald (la Sexta) wieder.
Als Resultat hervorzuheben ist das gemeinsame Bekenntnis von CNI und EZLN zum Widerstand gegen neokoloniale Extraktivismus- oder neoliberale Infrastrukturprojekte. Unter den Konsequenzen dieser Projekte leiden hauptsächlich indigene ländliche Gemeinden in Mexiko. Und so ist auch die einleitenden Ansprache von EZLN-Comandante Tacho zu verstehen: „Auch 500 Jahre nach dem Versuch der Auslöschung […] leisten die indigenen Gruppen Widerstand. Sie haben ihr Ziel nicht erreicht, Beweis dafür ist, dass wir hier und heute präsent sind. Wir sind gewachsen, unter dem Mantel des Vergessens der Mächtigen, und so sind 500 Jahre vergangen, überall in unserem mexikanischen Vaterland.“ Es ist diese Mischung aus dem Anprangern gesellschaftlicher Verhältnisse und der Ankündigung eigener Prozesse und Aktivitäten, die die zapatistische Bewegung seit 1994 in der Welt so bekannt werden ließ. „Die Hoffnung, die wir haben, sind wir selbst. Niemand wird kommen, uns zu retten, niemand, wirklich niemand wird für uns kämpfen. Daher, Compañeras und Compañeros, beginnt heute der Weg und die Suche wie wir uns gemeinsam verteidigen werden, wir haben nicht mehr viel Zeit“, schließt Tacho seinen Diskurs.
Dass vor allem die zapatistischen Gemeinden in letzter Zeit Übergriffen ausgesetzt sind, zeigt der erneute Angriff auf zapatistisches Land kurz vor Beginn des Kongresses. Bewaffnete Mitglieder der kleinbäuerlichen Organisation ORCAO besetzten ein Landstück, das bis dahin als kollektives Land des Autonomen Landkreises San Manuel von den Zapatistas gemeinschaftlich bewirtschaftet wurde.
Dieser Vorfall reiht sich ein in eine ganze Reihe antizapatistischer Aggressionen in den letzten Monaten, auf die das lokale Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de Las Casas (Frayba) in einer kürzlichen Stellungnahme hinwies. Geprägt seien die Aggressionen durch „das Handeln einiger regionaler sozialer Organisationen im Dienste des Staates, welche ihnen (den Zapatistas, Anm. d. Red.) seit einigen Jahren das besetzte Land streitig machen“. Ziel sei es, „Ermüdung bei dem Teil der Bevölkerung hervorzurufen, der sich im Widerstand befindet und kämpft, der seine Lebensumstände auf Basis seiner Kultur und seiner Rechte verändert“.
So stand auch die erste der zwei gemeinsamen Abschlusserklärungen ganz im Zeichen der Repression. Sie widmet sich den neuesten Ermordeten, „Verschwundenen“ und Inhaftierten, die sich über viele Bundesstaaten des Landes verteilen. Die zweite Erklärung hingegen liest sich wie eine detaillierte geographische Karte kapitalistischer Vertreibungsprozesse und des Widerstands dagegen. Als „Spiegel“ betitelt werden 29 aktuelle Szenarien und Fälle in ganz Mexiko beschrieben. Die Struktur ist stets die gleiche, das heißt eine Mischung aus Enteignung und Vertreibung zugunsten der Durchsetzung von Energie- oder Bergbauprojekten, der damit zusammenhängende Ökozid und schließlich die unterschiedlichen Formen des Protestes der Betroffenen.
Auch wenn dies in der Erklärung nicht explizit hervorgehoben wird, so führen solche Prozesse zu einer Neustrukturierung des ländlichen Raumes. Ziel ist, jenen effektiver mit dem sogenannten globalen Markt zu verknüpfen und besagte Regionen auf Marktbedürfnisse hin zu organisieren und auszurichten. Diese zweite Erklärung besitzt eine weitere bedeutende Gewichtung: Es sind die betroffenen indigenen Akteur_innen selbst, welche in einem kollektiven Prozess die Geschichte und die Realität über ihr eigenes Leben – und letztlich den Kontext in vielen Teilen Mexikos – schreiben, benennen, kundtun und in sie gestaltend eingreifen. Und eben nicht, wie so oft, Wissenschaftler_innen oder sogenannte Expert_innen, angereist aus den Städten, die Feldforschungsarbeiten betreiben und eher in einem instrumentellen Verhältnis zu den Gemeinden stehen.
Mit Hinblick auf die 29 „Spiegel“ in der Erklärung wurde zudem das „Erste Weltweite Festival der Widerstände und der Rebellionen gegen den Kapitalismus“ angekündigt, das vom 22. Dezember diesen Jahres bis zum 3. Januar 2015 stattfinden wird. Austragungsorte werden Mexiko-Stadt sowie die Bundesstaaten Chiapas, Oaxaca, Estado de México, Morelos und Yucatán sein.
Heiß ist es in La Realidad. Brennend, drückend heiß. Unter dem aufgespannten Zelt im Caracol schiebt sich von Zeit zu Zeit ein leichter Windhauch hindurch und lässt die Luft nach tagelangem Schweiß schmecken. Die Delegierten des CNI haben sich bereits verabschiedet, als sich die freien Medien auf die Pressekonferenz der EZLN vorbereiten. Sie versammeln sich allesamt vor der großen Bühne am Basketballplatz, montieren Kameras und versuchen sich in irgendeiner chaotischen Weise untereinander zu koordinieren. Auch vier Monate nach dem Mord ist die militärische Struktur der EZLN im Caracol präsent. Nun positionieren sich die Milizionäre in einer Diagonale über den Basketballplatz, während die Medienaktivist_innen bereits seit einer knappen Stunde unter der unerbittlichen Sonne ausharren. Und wie bei der Trauerfeier für den ermordeten Galeano ertönt aus den Lautsprecherboxen plötzlich das Lied „Latinoamérica“ von Calle 13, gefolgt von „La cigarra“ der Sängerin Merecedes Sosa. Teile der Generalkommandantur kommen auf Pferden angeritten, reiten Richtung Bühne und verschwinden dahinter; zeitgleich erfolgt ein aufgeregtes Hin und Her zwischen den freien Medien, Fotos werden geschossen und sich schließlich wieder vor der Bühne versammelt. Von ihren Blicken unbemerkt tauchen 40 Meter auf der gegenüberliegenden Seite einige Sekunden darauf Subcomandante Insurgente Galeano (Ex-Marcos), Subcomandante Insurgente Moisés sowie Comandante Tacho auf, nehmen an einem Tisch Platz und schauen dem Treiben belustigt zu. Galeano ergreift das Wort, doch es dauert noch zwei, drei Minuten bis die Medienschaffenden bemerken, dass sie den Zapatistas auf den Leim gegangen sind.
In seinem folgenden Diskurs bedankt sich der neue alte Subcomandante für die überraschend große nationale und internationale Unterstützungskampagne der Anhänger_innen der Sexta im Zuge des paramilitärischen Angriffes im Mai, bei dem auch die autonome Schule und Klinik der Bewegung gänzlich zerstört wurden. Nie zuvor in diesen 20 Jahren, so Galeano, habe die EZLN eine solche Hilfe erreicht. Statt der anfangs erbetenen 200.209,00 Mexikanischen Pesos (ca. 11.200 Euro) erreichten die Bewegung umgerechnet 53.2560 Euro – also letztlich fast fünfmal so viel. Überraschend sei es für die EZLN auch deswegen gewesen, da sie wüssten, dass die Anhänger_innen der Sexta „nicht das gaben, was sie übrig hatten, sondern das, was ihnen fehlte“. Dank dieser Hilfe konnte bereits mit den Arbeiten an der neuen autonomen Schule und Klinik begonnen werden, welche voraussichtlich Ende Oktober bis Anfang November abgeschlossen sein sollen.
Ebenso gibt die EZLN-Führung bekannt, dass fortan sowohl Moisés, Galeano als auch der neue Comandante Tacho als Sprecher nach außen fungieren. Galeano verkündet darüber hinaus, dass die EZLN in Zukunft keinen Austausch mehr mit den kommerziellen Medien führen wird: „Wir wollen mit denen von oben nicht reden“. Stattdessen wollen die Zapatisten sich ausschließlich den „freien, autonomen, alternativen oder wie sie auch heißen mögen Medien“ zuwenden. Dies ist ein Resultat ihrer Analyse der kommerziellen Medien als integraler Teil des kapitalistischen Systems, welches zunehmend dafür sorgt, dass „die Medien dafür kassieren, nicht zu produzieren, das heißt, nicht zu informieren“. Folge sei, dass sich jene schließlich Schritt für Schritt in Unterhaltungsmedien konvertierten und ihrer eigentlichen Aufgabe, zu informieren, zu hinterfragen, aufzudecken und dergleichen, gar nicht mehr nachkämen. Dies führe zu einem Vakuum in der Gesellschaft, das jedoch, aus Sicht der Zapatistas, durch die freien Medien gefüllt werden könne. „Wir haben keine Hoffnung in euch, wir haben Vertrauen in euch“, wendet sich Galeano den anwesenden Medienschaffenden zu, „denn ja, es gibt viele Leute, die mehr von euch erwarten, als ihr euch vorstellt“. Und er fügt an: „Das, was uns interessiert, ist, mit euch zu sprechen und euch zuzuhören, und damit meine ich die Menschen, die durch euch uns zuhören und die durch euch mit uns sprechen“. Der Unterschied zwischen den kommerziellen und den freien Medien sei daher auch nicht zwangsläufig derjenige, dass die einen Geld hätten oder kassierten und die anderen nicht, sondern liege im Verhältnis zueinander: „Für einige sind wir eine Ware, sei es, dass sie über uns sprechen oder nicht; und für andere sind wir ein Raum des Kampfes wie derjenige, den auch sie haben und den es zu tausenden in allen Ecken der Welt gibt.“

Abkehr vom Neoliberalismus

Lateinamerika war die erste Region, in der neoliberale Ökonom_innen ihre Patentrezepte vom Rückzug des Staates aus der Wirtschaft durchsetzten. Nach dem Putsch gegen die sozialistische Regierung unter Salvador Allende in Chile 1973 breitete sich die neoliberale Politik bis in die 1980er Jahre in fast allen Ländern des Subkontinents aus. Bekanntlich brachte dieses Experiment nur vergleichsweise wenigen Menschen Reichtum und Wohlstand. Seit der Jahrtausendwende wählten die Bevölkerungen in den meisten lateinamerikanischen Ländern neoliberale Regierungen wieder ab. Dabei wurden sie häufig von sozialen Bewegungen unterstützt. Einen neoliberalen Rollback gab es bisher nur in vereinzelten Fällen, zum Beispiel in Honduras nach dem Putsch 2009.
Dieter Boris ist hierzulande einer der profiliertesten Lateinamerikaexperten. Er sieht im Aufschwung linker Regierungen „eine einmalige historische Konstellation, die es in Lateinamerika seit der politischen Unabhängigkeit vor circa 200 Jahren noch nicht gegeben hat“. Erstaunlich genug, dass sich Publikationen im deutschsprachigen Raum zwar häufig mit einzelnen Ländern, jedoch kaum mit übergreifenden Fragestellungen beschäftigen.
Mit Bolívars Erben legt der emeritierte Marburger Soziologie-Professor nun einen Überblick über Linksregierungen in Lateinamerika vor. Dabei geht es ihm nicht darum, die politische Situation der einzelnen Länder, denen trotz gehöriger Unterschiede jeweils das Label „Linksregierung“ anhaftet, nacheinander zu diskutieren. Vielmehr widmet er sich den größeren Zusammenhängen und bezieht die südliche Region Cono Sur sowie die am weitesten links stehenden Länder Bolivien, Ecuador und Venezuela verstärkt in die Analyse mit ein. Boris beschreibt in mehreren Aufsätzen die Bedingungen und den politischen Kontext für die Abwahl neoliberaler Regierungen, die neue Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Veränderungen der Sozialstrukturen und den Kampf um Hegemonie am Beispiel der Medienpolitik. Grundlegende theoretische Fragestellungen diskutiert er in einem Kapitel über die Rolle des Staates in Transformationsprozessen.
Wie erfolgreich die von den neuen Regierungen propagierte Abkehr vom Neoliberalismus ist und wie sinnvoll die Ansätze in der Wirtschafts- und Sozialpolitik sind, darüber herrscht auch innerhalb der linken Debatte Uneinigkeit. Man muss nicht im Einzelnen mit Boris´Positionen einverstanden sein, etwa wie er staatskritische Ansätze wie jene der mexikanischen Zapatistas als einigermaßen naiv abtut. Auch wendet sich Boris gegen linke Regierungskritiker_innen, die die anhaltende Fokussierung auf Rohstoffexporte in den Mittelpunkt ihrer Analysen stellen.
Aber der Autor argumentiert von einigen Spitzen abgesehen klug und legt die Errungenschaften und Grenzen der linken Projekte seriös dar. Ihm unterläuft nicht der verbreitete Fehler, die progressiven Diskurse mancher Regierungen von deren konkreter Politik losgelöst zu betrachten und hochzujubeln. Ebenso wenig erklärt er deren Politiken für gescheitert, nur weil sie bisher kein grundlegend anderes Wirtschaftsmodell etabliert haben. Mit seinem Buch leistet Dieter Boris einen wichtigen Beitrag zu der Frage, wie linke Politik in der Praxis aussehen kann und welchen Herausforderungen sie gegenübersteht. Für die weitere Debatte ist das ein großer Gewinn.

Dieter Boris // Bolívars Erben. Linksregierungen in Lateinamerika // PappyRossa Verlag // Köln 2014 // 204 Seiten // 14,90 Euro // www.papyrossa.de

„Die Nischen ausfindig machen!“

Ihre Tour hat Sie auch nach Berlin geführt. Waren Sie mit dem Konzert zufrieden?
Ja, auf jeden Fall. Von Anfang an waren viele Leute da, die die Gruppe seit vielen Jahren begleiten. Es ist sehr schön, zu merken, dass die Leute weiterhin kommen. Wir haben viele Freunde, die wir aus anderen Zusammenhängen kennen, wieder getroffen. Außerdem war der Veranstaltungsort angenehm – und die Stimmung beim Konzert hat uns eine wunderbare Nacht beschert.

Vom Publikum gab es also positive Reaktionen?
Ja, das Publikum war sehr lebhaft, hat viel mit uns interagiert. So eine Reaktion ist immer die schönste Rückmeldung für uns.

Wie würden Sie Ihr neues Album Mariachi Beat beschreiben?
Es ist eine Annäherung an und eine tiefgründige Kombination von traditioneller mexikanischer Musik. Mit dem vorherigen Album haben wir ein ähnliches Ziel verfolgt. Aber ich denke, dass Mariachi Beat vielschichtiger geworden ist und die Ursprünge mexikanischer Musik zeigt, wie wir sie sehen.

Elemente entnehmen Sie dabei dem Son Jarocho und der Música Oaxaqueña…
Auf dem Album ist Música Oaxaqueña vertreten, ebenso wie Son de Guerrero. Es gibt auch ein Stück, das ein richtiger Mariachi ist und mit „Mujer guerrera“ einen Merengue… das Wichtige an Mariachi Beat ist, dass es ein sehr spontanes Album ist. Es ging alles sehr schnell, wir haben nicht viel Zeit für die Aufnahme gebraucht und das macht das Album so frisch.
Wie ist das Album bislang angekommen?
Es war interessant, mit den Leuten hier in Europa zu reden, die die Band schon vorher kannten. Sie sagten mir, dass unsere vorherigen Alben sehr schnell, geradezu explosiv waren. Ein Kommentar zum neuen Album, der mir besonders in Erinnerung geblieben ist, ist der, dass sich das neue Album musikalischer anhöre, weil es nicht wie sonst so punkig, rockig, laut, sondern sogar das genaue Gegenteil davon sei. Das gefällt den Leuten. Außerdem ist dieses Album das Ergebnis einer kollektiven Arbeit und auch das macht das Album so frisch und spontan.

Sie definieren sich über die politischen Inhalte Ihrer Lieder. Warum stehen die Texte dieses Mal nicht im Booklet des Albums?
Das war eine Frage der künstlerischen Gestaltung. Im Oktober wird unser Video auf Viva erscheinen. Dabei werden wir mit deutschen Musikern zusammenarbeiten – wir sind im Gespräch mit Peter Fox, Miss Platnum und Moop Mama. Die Texte sollen ebenfalls im Oktober auf der Webseite veröffentlicht und auch ins Deutsche übersetzt werden. Das ist interessant, denn die Texte sind teils sehr direkt, sehr heftig. Ich denke, dass das neue Album das bisher politischste der Band ist. Wir haben Angst davor, was mit den Songs in Mexiko passieren könnte.

Das ist interessant. Beim Hören des Albums hatten wir den Eindruck, dass die neuen Texte im Gegensatz zu den früheren Alben kaum politische Aussagen enthalten.
Es gibt verschiedene politische Liedtexte. Zum Beispiel einen mit Namen „Turn Off“. Der Text ist eine direkte Systemkritik. Denn die Zeile „Du brauchst Medizin“ spielt darauf an, dass den Menschen Glauben gemacht wird, sie seien krank. Und dann kann ihnen Medizin verkauft werden. Das Stück „Down Town“ ist eine direkte Kritik an der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI). In das Lied sind Reden der ehemaligen Präsidenten López Portillo, Vicente Fox sowie des amtierenden Präsidenten Peña Nieto eingebunden. Dann ist da „Mujer guerrera“, das letzte Stück auf der CD. Darin erhebt die Frau Anspruch auf ihre Rechte. Geschrieben hat es unsere Sängerin Tania. Eigentlich gibt es auf dem Album nicht viele Liebeslieder. Nur „Ya me voy“, das als Son Jarocho konzipiert ist. Meiner Meinung nach ist das politische Gefühl des Albums eindeutig. Wir haben es Leuten in Mexiko vorgespielt und die Reaktion war: „Donnerwetter, ich denke, dass sie es zensieren werden!“

Haben Sie damit in Mexiko schon einmal Probleme gehabt?
Auf jeden Fall. Los de Abajo werden im Fernsehen zensiert. Gerade beobachten wir eine kleine Öffnung, aber im Unterschied zu Panteón Rococo werden wir zensiert. Wir können nicht einfach im Fernsehen gezeigt werden, das ist verboten.

Sie haben eine starke Verbindung mit der zapatistischen Bewegung. Wie beurteilen Sie das Ableben der Figur Subcomandante Marcos? Und wie geht es mit dem Zapatismus nach 20 Jahren weiter?
Ich denke, dass das Verschwinden von Marcos richtig war, weil Marcos allein nicht der Zapatismus ist. Außerdem denke ich, dass sich momentan ein Generationenwechsel in der zapatistischen Bewegung vollzieht. Die Neuen, die Jungen, sind diejenigen, die die Bewegung gerade vorantreiben und sich im Kern der Organisation befinden.

Momentan sind sie andauernden Angriffen ausgesetzt…
Ja, natürlich. Die Zapatisten sind vor kurzem stark angegriffen worden. Peña Nieto versucht, in alle Richtungen zu schlagen.
Es ist zu bedenken, dass der Zapatismus eine alternative Lebensart ist. Wenn wir gefragt werden, wie es in der Welt weitergehen wird, lautet unsere Antwort, dass der Zapatismus der Weg sein wird. Was ist die nächste Stufe von Kapitalismus, Sozialismus und Kommunismus? Zapatismus ist wirklich ein gutes Beispiel dafür, wie eine Selbstverwaltung funktionieren kann.

Und welche Verbindung haben Sie noch zum Zapatismus?
Die Verbindung zur zapatistischen Bewegung besteht weiterhin. Wir arbeiten eng mit Jóvenes en resistencia alternativa („Junge Menschen im alternativen Widerstand“) zusammen, einem zapatistischen Kollektiv in Mexiko-Stadt. Mit ihnen stehen wir im Austausch und organisieren gemeinsam Partys und Konzerte. Ihre Arbeit unterstützen wir vor allem durch große, gut organisierte Veranstaltungen. Wir arbeiten also kontinuierlich in verschiedenen Bereichen, nicht notwendigerweise nur im Musikbereich. Und ich denke, diese Zusammenarbeit wird noch lange so fortbestehen, denn die zapatistische Bewegung bietet eine unterstützenswerte Alternative.

Arbeiten Sie im Moment mit anderen Organisationen zusammen?
Wir arbeiten sehr eng mit den Leuten von Atenco zusammen (Aktivist_innen, die sich für die Aufklärung der gravierenden Menschenrechtsverletzungen bei einem Polizeieinsatz in Atenco 2006 einsetzen; Anm. d. Red.). Außerdem haben wir viel mit der Gruppe Sin maíz no hay país („Ohne Mais kein Land“) gemacht. Dabei geht es um die Frage der Ernährungssouveränität. Das sind Themen, die uns interessieren und die wir öffentlich machen möchten. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Dinge anzugehen und sich zu engagieren. Wenn es schon nicht möglich ist, die ganze Welt zu verändern, möchten wir doch die Nischen ausfindig machen, die zu Veränderungen beitragen können.

„Building bridges“

Felicia (Fe) Montes zupft ihr rot-blau-grün geblümtes Kleid zurecht und bindet sich das dazu passende Band um den Kopf: „Das ist ein traditionelles Kleid meiner Tarahumara- oder Rarámuri-Vorfahren. Meine Familie stammt aus Chihuahua, Mexiko.“ Es ist der 1. Mai 2011, Felicia befindet sich an der Ecke der beiden Straßen Broadway und Olympic, im Latino-Viertel der Stadt, East Los Angeles, und erklärt die Kunstfigur, die sie kreiert hat: „Das ist Raramujer, das leite ich von der Selbstbezeichnung meiner Vorfahren, den Rarámuri, ab. Außerdem ist das ein Wortspiel: Rara bedeutet auf Spanisch komisch oder eigenartig und mujer bedeutet Frau. In meiner Figur verbinde ich indigene Elemente mit modernen urbanen Lebensweisen. Ich erfinde eine selbstbewusste indigen-urbane Frau.“
Freunde helfen Felicias Fahrrad aus ihrem Pickup zu heben – ein „getunter“ schwarzer Cruiser. Am Fahrradkorb ist ein Schild mit dem Spruch „Stoppt die Polizeikontrollen!“ angebracht. Ein hilfsbereiter, Spanisch sprechender Anrainer pumpt noch etwas Luft in die dicken Weißrandreifen. Ein paar Straßen weiter hört man Trommelklänge und Trompeten, Menschen in Trachten und Uniformen eilen vorbei: ein paar Leute in weißer bestickter Huicholes-Kleidung, eine Gruppe von Männern in dunklen Zapatist_innen-Uniformen, eine Tanzgruppe mit aztekischen Gewändern und prächtigem Federschmuck. Felicia steckt ihren iPod an die mobile Musikanlage im Fahrradkorb an und macht einen kurzen Soundcheck – es kann los gehen! Mehrere tausend Menschen demonstrieren jedes Jahr bei der Mayday Parade in Los Angeles für die Rechte von Immigrant_innen und (illegalisierten migrantischen) Arbeiter_innen mit Sprüchen wie: „Lieber Geld für Arbeitsplätze und Bildung als für rassistische Abschiebungen!“
Raramujer begleitet den Demonstrationszug auf ihrem Fahrrad, sie verteilt Menschenrechtskarten und performt ihre Floetry (gerappte Gedichte) und Hip-Hop-Songs: „In meinen Texten geht es um politische Angelegenheiten, meistens um Dinge die uns Chicana-Frauen betreffen, zum Beispiel das kapitalistische System, das Freihandelsabkommen NAFTA, die Immigrationsgesetze hier in den USA, oder die Zapatist_innen-Bewegung in Mexiko. Ich denke, es ist sehr wichtig, dass das persönliche Wachstum und die Veränderung Hand in Hand mit dem Engagement in politischen Bewegungen gehen.“
Felicia ist Mitbegründerin der Mujeres de Maiz (Maisfrauen), einer Künstlerinnen- und Aktivistinnenvereinigung aus Los Angeles. Die Mitglieder der Gruppe bezeichnen sich selbst als „Chicanas“ und als „Women of Color“. „Chicana-Sein bedeutet in den USA zu leben und ein mexikanisches oder mesoamerikanisches Erbe zu haben. Wir versuchen hier eine Verbindung zu unseren indigenen oder präkolumbianischen Wurzeln aufrechtzuerhalten“, sagt Felicia.
Der Begriff „Chicana“ oder seine männliche Form „Chicano“ war früher eine abwertende Bezeichnung für mexikanische oder allgemein lateinamerikanische Immigrant_innen und Gastarbeiter_innen in den USA. Im Zuge der Bürgerrechtsbewegung der Chican@s der 1960er und 70er Jahre, erfuhr der Terminus eine positive Neubewertung. Der Begriff gewann eine politische Konnotation und galt von da an als Zeichen der Selbstbestimmung und des kulturellen Stolzes. In der Chican@-Bewegung, die sich aus der Landarbeiter_innenbewegung in Kalifornien herausentwickelte, ging es um die Ausweitung der Rechte und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Mexiko-Amerikaner_innen und ihres politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Status. Von Anfang an wurden die Bewegungen, ihre Streiks und Aktionen von Künstler_innen, Wandmaler_innen und Theatergruppen begleitet.
Die Einheit der Bewegung wurde damals vor allem durch eine relativ homogene Identität, ein gemeinsames Bild der Vergangenheit und nationalistische Vorstellungen verstärkt. Die Interessen und Bedürfnisse der weiblichen, homosexuellen und queeren Mitglieder wurden ignoriert. Diese Personengruppe wurde innerhalb der Bewegung nicht als gleichwertig anerkannt. Eine feministische Chicana-Bewegung spaltete sich aufgrund von patriarchalen, machistischen und homophoben Wertvorstellungen, die in der frühen Chican@-Bewegung vorherrschten, davon ab.
Für die Mujeres de Maiz bedeutet der Begriff „Chican@“ vor allem ein gemeinsames Bewusstsein beziehungsweise eine Reihe von geteilten Erfahrungen, die sich durch ähnliche soziokulturelle und historische Kontexte ergeben haben. Damit sind Diskriminierungserfahrungen gemeint, die sie zum Beispiel aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft oder ihres Frau-Seins gemacht haben. Kolonialismus-, Imperialismus-, Kriegs-, und Migrationserfahrungen spielen auch eine Rolle. „Wir sind ein sehr offenes Kollektiv; eine kreative Women-of-Color-Vereinigung. Unsere Zielgruppen sind migrantische Communities, Lesben, Schwule und Transgender“, verdeutlicht Felicia Montes.
Ihren Namen Mujeres de Maiz, haben die Künstlerinnen gewählt, weil sie sich mit der Maispflanze verbunden fühlen. In Mesoamerika gilt der Mais als Lebensgrundlage, in der Mythenwelt ist er allgegenwärtig. „Wir wollen eine Austauschplattform für Women of Color schaffen. Die verschiedenen Maissorten – gelb, rot, blau, schwarz, mit spitzen, langen oder runden Körnern – stehen für die Diversität unserer Gruppe“, erklärt die Künstlerin Margaret Alarcón, ebenfalls Mitbegründerin der Aktivistinnenorganisation. Felicia Montes veranschaulicht die Situation vieler ihrer Mitstreiter_innen: „Die meisten Immigrant_innen und vor allem die Frauen unter uns, erleben sexuelle, physische oder verbale Gewalt. Gerade Frauen werden oft nicht ernst genommen, zum Schweigen gebracht, oder in bestimmte Rollenbilder gedrängt. Da kann kein gesundes Selbstbewusstsein entwickelt werden.“
Laut dem U.S. Census Bureau leben zirka 53 Millionen Menschen hispanischer Herkunft in den USA. Sie bilden somit die größte ethnische Minderheit; die Mehrheit davon machen die Bürger_innen mexikanischer Abstammung aus. Die mexiko-amerikanischen Frauen wiederum stellen die größte und am schnellsten wachsende Gruppe unter den aus Lateinamerika stammenden Menschen in den USA dar. Ihr Bildungsgrad ist meist gering, demzufolge gehören sie zum ärmsten Segment der Bevölkerung.
Ende der 1990er lernten sich die Gründungsmitglieder der Mujeres de Maiz über ihr universitäres Umfeld kennen. „Wir mussten einfach einen Raum für junge Frauen schaffen, einen Raum für Bildung, Selbstbestimmung und Kunst. Sie waren unsichtbar und gerade im Kunstbereich vollkommen unterrepräsentiert“, erklärt Margaret Alarcón, und Felicia Montes führt fort: „Wir sahen nie eine Frau auf der Bühne! Wir wollten einen sicheren Zufluchtsort für Women of Color aufbauen, in dem sie sich selbst und ihre Kunst neu erschaffen können.“
Kunst sehen die Mujeres de Maiz als Mittel zur Überwindung von Diskriminierung und zur Aufarbeitung von negativen Erfahrungen. Sie nutzen die Kunst außerdem zur Vermittlung von Wissen: „Durch unsere Kunst lehren wir Aspekte der Chicana- und der feministischen Theorie, wir sprechen auf verständliche Weise über Sexismus, Rassismus und Homophobie. Wir vermitteln auch Informationen über die eigene Herkunft, Geschichte und Traditionen, sowie über die Gesetze hier in den USA. Das soll dazu beitragen, dass sich die Zielgruppe selbst kennenlernt, ein Selbstbewusstsein und einen Selbstwert entwickelt“, schildert Felicia.
Die renommierte Chicana-Schriftstellerin, Aktivistin und Philosophin Gloria Anzaldúa beschreibt die Position von Chicanas im Zwischenraum zweier oder mehrerer Länder, Kulturen und Weltanschauungen als Leben in borderlands. Das Leben an Grenzen löst einen inneren Konflikt aus und lässt ein Gefühl der Machtlosigkeit und des Andersseins entstehen. Chicanas identifizieren sich mit ihrem (mestizischen) mexikanischen Erbe, sehen sich aber auch als amerikanische Bürgerinnen; sie fühlen sich nirgends, weder in Mexiko noch in den USA, richtig zugehörig. Anzaldúa beschreibt Chicanas als multiple Persönlichkeiten, die die Fähigkeit haben, auf pluralistische Weise zu agieren. Sie entwickeln Strategien, um sich in unterschiedlichen, teilweise konträren Kontexten zurechtzufinden. In Zwischenräumen erfinden sie sich und ihre Identität(en) ständig neu. Chicanas sind flexibel und entwickeln in den borderlands mehrere Perspektiven, wodurch sie als Vermittlerinnen und Übersetzerinnen agieren können.
Die Künstlerinnen und Aktivistinnen der Mujeres de Maiz jonglieren mit kulturellen und spirituellen Elementen und integrieren aztekische, indigene mexikanische, nordamerikanische sowie afrokaribische Praktiken in ihre Arbeit. Alejandra Sanchez erklärt: „In meiner Arbeit versuche ich Brücken zu bauen, zwischen privaten und Community-Räumen, zwischen Wissenschafts- und Kunstwelten, zwischen Spiritualität und Aktivismus, zwischen modernen und antiken Lebenswelten, unterschiedlichen Weltanschauungen, Ländern und Sprachen.“ Im Frühjahr 2013 veranstaltete sie eine kreative Schreibwerkstatt für Frauen: Weaving Words, Creating Worlds: Healing & Empowerment as Women Storytellers („Worte weben, Welten schaffen: Heilen und Selbstbestimmung als weibliche Geschichtenerzähler“). „Ziel dieses Workshops ist es, Menschen, die keinen Zugang zu kreativen Aktivitäten haben, in ihrer Selbstbestimmung zu unterstützen. Kunst kann eine positive Veränderung für viele Menschen bedeuten. Die Frauen haben die Möglichkeit hier im East Side Café, einem autonomen Community-Raum in ihrer Umgebung, gratis an den Workshops teilzunehmen. Sie können in einem sicheren Umfeld schreiben, ihre Texte publizieren und vor einem kleinen Publikum präsentieren. Hier können sie ihre Fähigkeiten und Talente austesten. Sie können sich austauschen und negative Erfahrungen durchs Schreiben aufarbeiten”, beschreibt Alejandra die Ziele ihrer Schreibwerkstatt.
Gleich zu Beginn des Workshops schreibt Alejandra ein Yoruba-Sprichwort an die Tafel, um den Schreibprozess zu initiieren. Im weiteren Verlauf werden Geschmack-, Geruch-, und Tastsinn stimuliert und afro-kubanische und aztekische Tänze getanzt, um locker zu werden und den gesamten Körper und die Kreativität anzuspornen. „Wir arbeiten viel mit persönlichen Geschichten, mit den Erzählungen unserer Ahnen und den Erfahrungen der Community. Es geht bei diesen Workshops um persönliche Genesung, um soziale Gerechtigkeit und die Zurückerlangung von indigenen Lebensweisen“, erklärt die Workshopleiterin.
Margaret „Quica“ Alarcón versucht in ihrer bildnerischen Arbeit ebenfalls die Geschichte ihrer Ahnen visuell zu übersetzen, zu dokumentieren und neu zu interpretieren. „Ich bringe meinen Körper ins Bild und übertrage die Geschichte in einen persönlichen und zeitgenössischen Kontext.“ In ihrem Gemälde Bear Dance (Selbstporträt) bildet sie einen Bären ab, der mit seiner rechten Tatze eine weibliche Silhouette umarmt. Der Bär repräsentiert eine von nordamerikanischen Ute-Gesellschaften veranstaltete Bärentanz-Zeremonie, der sie in Kalifornien beigewohnt hat. In ihrem Werk befasst sich die Künstlerin mit der Heilung von Körper und Seele mit Hilfe antiker spiritueller Praktiken, wie dem präkolumbianischen Temazcal. Das zeremonielle Dampfbad oder die traditionelle Schwitzhütte hat therapeutische und spirituelle Funktionen und wird zur Reinigung und Heilung angewendet. Gleichzeitig stellt Margaret eine Verbindung zwischen verschiedenen traditionellen Praktiken her: „Die Form des Bären stellt das mesoamerikanische Bildzeichen Tepetl dar, das ‚Hügel‘ oder ‚heiliger Ort‘ bedeutet. Andererseits repräsentiert die Form auch ein Temazcal und ein Inipi, eine Lakota-Schwitzhütten-Zeremonie.“
„In Temazcal-Zeremonien kommt es oft zu Momenten der Selbsterkenntnis, und es können starke Emotionen hervorgerufen werden“, führt Margaret fort. Die aztekische Figur rechts unten repräsentiere Vergangenes und damit zusammenhängende Schmerzen und Traumata. „Als Überlebende menschlicher Grausamkeiten teilen wir die Traurigkeit mehrerer Generationen. Die weinende Steinfigur repräsentiert diese geteilte Traurigkeit“, so Margaret. In diesem Jahr bauen die Mujeres de Maiz unter dem Motto „Gute Kunst ist gute Medizin“ mit multimedialen Events, Ausstellungen, Workshops, (politischen) Aktionen und ihrer Publikation Flor y Canto („Blume und Gesang“) weiter an ihrer Lebenswelt im Zwischenraum – um sie anderen zu öffnen.

Die Realität aus der Sicht der Zapatistas

„Es wird Gerechtigkeit geben“, kündigt Comandante Tacho am frühen Samstagnachmittag des 24. Mai an. Während die Hitze in diesem Teil des lakandonischen Dschungels, unweit der mexikanischen Grenze zu Guatemala, weiterhin unerbittlich brütet, spricht Tacho im zapatistischen autonomen Caracol (Verwaltungszentrum) La Realidad vor knapp 3500 Basisaktivist_innen. Weitere 1000 Sympathisant_innen, freie Medienaktivist_innen und Anhänger_innen der Sechsten Deklaration aus dem Lakandonischen Urwald (la Sexta) sind in einer Solidaritätskarawane angereist. Zu diesen hingewandt fügt er hinzu: „Wir wollen nicht, dass ihr provoziert!“
Tacho ist Teil des Geheimen Revolutionären Indigenen Komitees – Generalkommandatur (CCRI-CG) der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN), das in diesen Tagen beauftragt wurde, einen zuvor erfolgten paramilitärischen Angriff zu untersuchen. Dass die militärische Befehlsebene der zapatistischen Bewegung auf zivilem Boden agiert, erfolgt auf ausdrückliche Bitte seitens der zivilen Autoritäten. Das ist ungewöhnlich – genau wie die aus vielen Bundesstaaten angereiste Karawane. Alles andere als ungewöhnlich sind hingegen die Einschüchterungen, Aggressionen sowie Attacken bis hin zu Mord an zapatistischen Aktivist_innen. Zusammen mit Sozialprogrammen und sogenannten Armutsbekämpfungsplänen bilden sie die Eckpfeiler der seit dem 1. Januar 1994 allgegenwärtigen staatlichen Aufstandsbekämpfungsstrategie.
Der 2. Mai, ein Freitag, ist anders. Anders ist die Organisierung, anders die Durchführung. Anders ist auch, dass die Wahrheit über die erfolgten Geschehnisse nicht irgendwo zwischen den unterschiedlichen Aussagen der beteiligten und betroffenen Parteien liegt. Noch weniger liegt sie in den publizierten Nachrichten der renommierten kommerziellen Massenmedien – darunter auch vermeintlich kritische Medien wie die Tageszeitung La Jornada oder das Recherchemagazin Proceso – die als Erste von den Ereignisse berichteten. Zwischen diesen Darstellungen und der erst Tage später erfolgten Pressenachricht des in Chiapas tätigen und breit anerkannten Menschenrechtszentrums Fray Bartolomé de las Casas (Frayba) liegen Welten. Es ist das Frayba, das in diesen Tagen aufgrund der Spannungen in La Realidad als neutrale Vermittlungspartei ständig anwesend ist. Erst nach der Pressenachricht kommt es zu einer Stellungnahme seitens der Junta der Guten Regierung von La Realidad; aus Respekt vor der Unparteilichkeit des Menschenrechtszentrums, heißt es.
Während die Massenmedien erneut das Szenario eines internen Gemeindekonfliktes hervorrufen, in dem Zapatistas und Mitglieder der ebenso in La Realidad präsenten indigenen bäuerlichen Organisation CIOAC-Histórica bewaffnet aufeinander losgehen, zeichnen die Darstellungen vom Frayba ein ganz anderes Bild.
Demnach erfolgten im Caracol Konfliktverhandlungen zwischen der Junta der Guten Regierung und Repräsentanten der CIOAC-H – die Tageszeitung La Jornada spricht hierbei von einer Entführung des Delegierten – als außerhalb des Caracols anwesende Mitglieder der CIOAC-H, der Grünen Ökologischen Partei Mexikos (PVEM) sowie der Partei der Nationalen Aktion (PAN) die 150 Meter entfernte autonome Schule und Klinik der Zapatistas zerstören. Kurze Zeit darauf werden am Dorfeingang 68 angereiste zapatistische Basisaktivist_innen aus dem Hinterhalt mit Waffen, Macheten und Steinen von CIOAC-H Mitgliedern angegriffen. Als daraufhin der Zapatist José Luis Solís López, unbewaffnet und in der Bewegung besser bekannt unter dem Namen Galeano, aus dem Caracol eilt, um Hilfe zu leisten, gerät er in einen weiteren Hinterhalt der Angreifer. Er wird von 15 bis 20 Personen umzingelt. Eine Kugel trifft ihn in den rechten Fuß, eine weitere dringt in seine linke Brust ein. Mit Macheten schlagen sie auf ihn ein, auf den Rücken, über den Mund. Schließlich gibt ihm jemand den Gnadenschuss. Der tote Körper wird danach 80 Meter durch das Dorf geschleift. Galeano war in der Region von La Realidad zuständiger Lehrer in dem vor weniger als einem Jahr gestarteten Projekt der „kleinen zapatistischen Schule“ (Escuelita Zapatista), zu der bisher mehrere tausend interessierte Menschen aus aller Welt angereist sind, um den Autonomieprozess aus nächster Nähe kennen zu lernen. Es war kein Zufall, dass sich die Angreifenden auf ihn stürzten.
„Wir weisen ausdrücklich alle Anschuldigungen zurück, die behaupten, dass wir bewaffnet waren. Wenn dem so gewesen wäre, dann wäre das Ergebnis ein anderes“ heißt es in der Stellungnahme der Junta der Guten Regierung. Es ist keine Überraschung, dass deren Aussagen mit der Pressenachricht des Frayba wie die Faust aufs Auge zusammenpassen. Die Medien stehen keineswegs außerhalb des Szenarios. Sie reproduzieren nämlich das Bild, welches der Staat versucht zu verbreiten: Auf der einen Seite der neutrale, nach Aussöhnung suchende Staat, auf der anderen die sich bekriegenden Gemeindemitglieder.
Vor den stechenden Sonnenstrahlen durch einen großen Pavillon geschützt und auf weitere Ankündigungen seitens der Kommandantur der EZLN wartend, erklärt Pedro Faro Navarro vom Menschenrechtszentrum, dass der Mord an Galeano nur die „Spitze des Eisberges“ der Aufstandsbekämpfungsstrategie gegen das zapatistische Autonomieprojekt sei. Er berichtet, dass die Vereinnahmungsversuche der letzten Jahrzehnte seitens der mexikanischen und der chiapanekischen Regierung allmählich Früchte zeigten. Vermehrt wurden Anführer_innen bäuerlicher und indigener Organisationen erfolgreich gekauft. So wurde langsam aber stetig eine „staatliche Kontrolle der sozialen Bewegungen und ihrer Aktionsmodi“ erreicht.
Wenngleich Faro Navarro die CIOAC-H nicht als paramilitärische Organisation im eigentlichen Sinne bezeichnet, seien für ihn die gelegten Hinterhalte sowie die gezielte Ermordung Galeanos Zeichen einer paramilitärischen Organisierung. Zudem stechen deren engste Verflechtungen mit Politiker_innen und politischen Parteien auf lokaler, regionaler und bundesstaatlicher Ebene hervor.
Nach dem Mord wurde eilig innerhalb von einer Woche eine Karawane geplant; nach der expliziten Einladung der EZLN. Für viele fing die Reise in Mexiko-Stadt oder noch weiter nördlich an. Die knapp 1000 Kilometer lange Strecke aus der Hauptstadt nach Chiapas wurde in gut 44 Stunden zurückgelegt. Bereits vor der Ankunft in La Realidad sind am Straßenrand der zapatistischen Territorien Schilder zu erkennen, auf denen „Galeano lebt. Wir wollen Gerechtigkeit, keine Vergeltung!“ zu lesen ist. Im Caracol zeigt sich den Angereisten Unerwartetes: Rund um den Basketballplatz haben sich die Milizen der EZLN formiert. Es ist das erste Mal seit 1996, dass sich die Bewegung derartig präsentiert – ein Warnsignal, dass, obwohl das zapatistische Autonomieprojekt auf Gewaltverzicht, Dialog und den Ausbau ziviler Prozesse setzt, die militärischen Strukturen nach wie vor vorhanden und aktiv sind. Angesichts der sich häufenden Aggressionen und Attacken könne nicht tatenlos zugeschaut werden.
Mittlerweile füllt sich der Platz mit tausenden vermummten Zapatistas. Aus jedem der fünf Caracoles ist eine Delegation angereist, aus allen fünf Regionen werden Gedenkkränze für Galeano überreicht. Die Milizen bilden die äußerste Reihe. Tausende Augen haben ihren Blick auf die Angereisten gerichtet, die auf Bänken unter dem Pavillon Platz gefunden haben. Befehle werden gerufen und die Milizionär_innen schließen ihre Reihen, ziehen sich Klappen über ihre rechten Auge, haken sich ein und marschieren langsamen Schrittes in Richtung Pavillon. Plötzlich ist das Lied ‚Latinoamérica‘ der Band Calle 13 zu hören und Subcomandante Insurgente Marcos kommt auf einem Pferd angeritten. Er salutiert, reckt die linke Faust in die Höhe und streckt den Mittelfinger aus. Es erscheinen weitere Befehlsträger auf Pferden, unter ihnen Comandante Tacho sowie Subcomandante Insurgente Moisés. Sie salutieren ebenfalls, gehen ab und die beeindruckende, symbolhaft aufgeladene Inszenierung ist zu Ende.
Als Subcomandante Insurgente Moisés ein Kommuniqué verliest und sich die freien Medien vor der großen Bühne tummeln, auf der Marcos steht, erfolgt eine symbolische Verbindung zwischen den Anhänger_innen der Sexta und den Zapatistas. Während erstere auf dem Basketballplatz sieben Reihen bilden, werden sie von den tausenden anwesenden zivilen Zapatistas umringt – dies erfolgt weitaus disziplinierter als die Bildung der sieben Reihen der Angereisten. Schließlich passieren alle, sowohl Zapatistas als auch die Angereisten, das Grab von Galeano. Es befindet sich nicht auf dem Friedhof des Dorfes, sondern hinter dem Haus seiner Familie. Auf dem Grab türmen sich Blumen und unzählige kleine Steine.
Das Zusammentreffen in La Realidad ist nicht nur eine kollektive Trauerfeier oder die Präsentation von Stärke der Bewegung. Es ist vielmehr auch die symbolische Aufhebung des Todes von Galeano: „Und zum Schluss werden jene, die verstehen, wissen, dass nicht geht, wer niemals da war und dass nicht stirbt, wer nicht gelebt hat.“ Dies sind die letzten Worte von Subcomandante Insurgente Marcos in dieser Nacht – eine mediale Figur, geschaffen für die Kommunikation nach außen, die als nicht mehr notwendig erachtet wird. Damit Galeano weiter lebt, wird der Tod der Figur von Marcos nun als Subcomandante Insurgente Galeano vollzogen. Wiederbelebt durch tausende Stimmen, die in der Nacht zum Sonntag, ausrufen: „Wir sind Galeano.“ Gerechtigkeit wurde gesprochen; Gerechtigkeit, wie sie die Zapatistas verstehen: „Und der Tod wird sich betrügen lassen von einem Indigenen mit dem Kampfnamen Galeano und in diesen Steinen, die sie auf sein Grab legten, wird er wieder schreiten und wird jene, die das zulassen wieder das Basiswissen über Zapatismus lehren, das da heißt, sich nicht verkaufen, nicht aufgeben, nicht wanken.“

Nachtrag

Auf der Rückreise von La Realidad kam es zu einem Unfall, bei dem zwei mitgereiste Anhänger_innen der Sexta verletzt wurden. Einer von ihnen, David Ruiz García, erlag vier Tage später seinen Verletzungen. Der 25-jährige lebte und kämpfte in San Francisco Xochicuautla, Estado de México, gegen ein geplantes infrastrukturelles Großprojekt, welches die Abholzung der Wälder vorsieht. David war darüber hinaus im Nationalen Indigenen Kongress (CNI) aktiv gwesen. Eine Woche nach der Trauerfeier im lakandonischen Dschungel wurde viele hundert Kilometer nördlich davon in den Bergen die Totenfeier für David abgehalten.

Ende einer Ära

Die Überraschung war groß am 24. Mai in der Regenwaldgemeinde La Realidad im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas: Am Ende der großen Trauerfeier für José Luis Solís López, genannt Galeano, einen Aktivisten der zapatistischen Bewegung, der am 2. Mai von regierungsnahen Paramilitärs erschossen wurde (siehe Artikel ab S. 30), ergriff Subcomandante Marcos das Wort. Der bekannte Sprecher und Militärchef der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) kündigte nach über 20 Jahren im Amt nicht weniger als seine sofortige Ablösung und sein „Verschwinden“ an.
Seit dem 1. Januar 1994, als die EZLN ihre Rebellion gegen die Einparteienherrschaft, das neoliberale Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA, die Ausbeutung, den alltäglichen Rassismus, die tief verwurzelte Benachteiligung der Frauen und die Plünderung der indigenen Ländereien begann, stürzten sich die Medien regelrecht auf den wortgewandten Sprecher.
In seinem aktuellen Abschiedsbrief erinnert Marcos, einer der wenigen Mestizen der Bewegung, an die rassistische Arroganz der politischen Klasse und der Mainstream-Medien, die nicht in der Lage seien, die indigenen Menschen als Akteur_innen zu begreifen: „Sie waren es gewohnt, die Indigenen von oben herab zu betrachten, sie waren gewohnt, uns erniedrigt zu sehen, ihr Herz hat unsere würdevolle Rebellion nicht verstanden“. Daraufhin sei nach einer kollektiven Entscheidung der mehrheitlich indigenen Führung der EZLN die Kunstfigur Marcos geschaffen worden, um die Anliegen der Bewegung für die Dominanzgesellschaft zu übersetzen.
Eine taktisch geschickte Auseinandersetzung mit den Medien gelang Subcomandante Marcos und anderen Persönlichkeiten der EZLN immer wieder. Seine humorvollen, analytisch-poetischen Kommuniqués und Briefe sowie seine bildreichen Erzählungen vom weisen indigenen „Alten Antonio“ sowie vom rebellischen antikapitalistischen Käfer „Don Durito“ wurden weltberühmt.
Unvergessen ist das „Intergalaktische Treffen gegen den Neoliberalismus und für die Menschheit“ von 1996, als über 3000 Aktivist_innen aus mehr als 40 Ländern in La Realidad im Aufstandsgebiet der EZLN zusammenkamen, um eine „Internationale der Hoffnung“, eine horizontale Bewegung von unten gegen die Verwerfungen des globalisierten Kapitalismus aufzubauen. Das Treffen gilt bis heute als einer der Grundpfeiler der globalisierungskritischen Bewegungen.
Große Aufmerksamkeit zog 2001 auch der „Marsch von der Farbe der Erde“ von Subcomandante Marcos und der EZLN-Kommandantur nach Mexiko-Stadt auf sich, der mit dem Auftritt von Comandanta Ester im mexikanischen Parlament endete, bei dem sie für eine Verfassungsänderung zugunsten der Rechte der indigenen Bevölkerungsgruppen warb. Vor dem Parlament demonstrierten damals 250.000 Menschen für die Forderungen der EZLN.
Doch die Fixierung auf Marcos war nie unproblematisch: Teile der Linken verstiegen sich in einen übertriebenen Personenkult, sahen in Marcos eine Art postmodernen Che Guevara und verloren dadurch die soziale Basis und die emanzipatorische Programmatik der Bewegung aus dem Blick. Die etablierte Politik und die Rechte freilich hassten den „Sub“, da die zapatistische Bewegung nicht ins System integriert werden konnte und unabhängig blieb. Die kommerziellen Medien degradierten Marcos zum Pop-Star und gewöhnlichen Politiker, der die Indigenen verführe, und liefern bis heute ein schiefes Bild von der Bewegung der Zapatistas: Gab es keine Auftritte, Briefe oder Kommuniqués von Marcos, wurde davon ausgegangen, dass die Bewegung geschwächt sei oder nicht mehr existiere und dass Marcos längst den Regenwald verlassen habe oder krank oder tot sei. Marcos selbst stellte mehrfach klar, dass seine Rolle zu groß geworden war und zog sich in den vergangenen Jahren zunehmend zurück.
Im Verlauf des Jahres 2013 wurden die bisherigen Aufgaben von Subcomandante Marcos an Subcomandante Moisés weitergereicht. Der Tzeltal-Indigene, der seit den 1980er Jahren in der EZLN aktiv ist, sieht die politisch-militärische Organisation in der Pflicht der zapatistischen Basis und betonte bei der Trauerfeier für Galeano einmal mehr, dass die EZLN ihren Gemeinden gehorche und sich nur einbringe, wenn sie dazu aufgefordert werde.
In seinem Abschiedsbrief betonte Marcos, dass es heute eine neue Generation von Zapatistas gebe, die bereit stehe, die Geschicke der Bewegung souverän in die Hand zu nehmen: „Es ist unsere Überzeugung und unsere Praxis, dass man für Rebellion und Kampf keine charismatischen Anführer oder Chefs braucht, keinen Messias und keinen Erlöser. Um zu kämpfen, braucht man nur ein wenig Anstand, etwas Würde und viel Organisation. Alles Weitere nutzt dem Kollektiv oder eben nicht“. Nach der Verlesung des Briefes verschwand Marcos in der Dunkelheit. Seine Figur wurde damit offenbar endgültig dekonstruiert.
Kurz darauf meldete sich eine Stimme aus dem Off: „Guten Tagesanbruch, wünsche ich Euch Compañeras und Compañeros. Mein Name ist Galeano, Subcomandante Insurgente Galeano. Heißt hier noch jemand Galeano?“ Daraufhin riefen viele Stimmen: »Wir alle sind Galeano!« Darauf „Galeano“ weiter: „Ah, deshalb haben sie mir gesagt, wenn ich nochmals geboren würde, dann würde ich es im Kollektiv tun. So soll es sein. Gute Reise. Passt gut auf Euch auf. Passt auf uns auf. Aus den Bergen des Südostens von Mexiko. Subcomandante Insurgente Galeano.“

Links:
Homepage der EZLN: enlacezapatista.ezln.org.mx (spanisch)
Chiapas98 (Infos rund um die zapatistische Bewegung): www.chiapas.eu (deutsch)

Lesetipp:
Marcos, Subcomandante: Die anderen Geschichten / Los Otros Cuentos, Unrast-Verlag Münster 2010

„Solange die Täter an der Macht sind, gibt es keine Gerechtigkeit“

Aus der Zeit des Schmutzigen Krieges in den 1960er und 1970er sind sehr viele Fälle von Verschwindenlassen bekannt. Wie sieht die Situation in Mexiko heute aus?
Verschwindenlassen ist eine Form politischer Gewalt, die im Kontext autoritärer Regime auftritt. Die Regierungen wenden diese Form der Repression gegen Aktivist_innen und Menschenrechtsverteidiger_innen an. Die Praktik hat seit dem Schmutzigen Krieg nicht aufgehört zu existieren. Sie trat in unterschiedlichen Phasen des sozialen Widerstands auf. Beispielsweise 1994 und 1996, als die EZLN (Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung, Anm. d. Red.) und die EPR (Revolutionäre Volksarmee, Anm. d. Red.) mobilisierten. Aber in der jüngeren Vergangenheit gibt es eine Veränderung dahingehend, dass Verschwinden nicht mehr unbedingt politische Hintergründe hat.

Was sind die Gründe dafür?
Der Drogenkrieg, den die Regierung unter Felipe Calderón 2006 begonnen hat, hat einen drastischen Anstieg von verschwundenen Personen ausgelöst. Insbesondere die Militarisierung der Sicherheitspolitik und Militäreinsätze zur Bekämpfung der Drogenkriminalität haben dazu beigetragen. Heute sind alle Bevölkerungsgruppen vom Verschwinden betroffen. Menschen werden Opfer, weil sie sich in Gebieten von Militäreinsätze befinden. Oder, weil sich dort Banden der Organisierten Kriminalität bekämpfen.

Von wie vielen Fällen kann man ausgehen?
Bislang gibt es kein offizielles Register, das es erlaubt, die Fälle von Verschwindenlassen von den anderen Fällen des Verschwindens abzugrenzen. Verschwindenlassen liegt vor, wenn staatliche Akteure beteiligt sind. Anfangs sprach die Regierung nicht von Verschwundenen, sondern von Entführten, um eine Verbindung zur Kriminalität anstatt zu Menschenrechtsverletzungen vorzugeben. In Mexiko weiß man in der Mehrheit der Fälle nicht, wer die Täter sind. Die Regierung hat 2013 einen Bericht vorgelegt, in dem sie von 26.121 verschwundenen Personen im Zeitraum 2006 bis 2012 spricht. Bei den Zahlen handelt es sich nur um angezeigte Fälle. Man kann davon ausgehen, dass es tatsächlich mehr sind. Der Bericht ist Teil einer Legitimationsstrategie. Die staatliche Medienstrategie ist derzeit eine der größten Schwierigkeiten für die Betroffenen.

Wie sieht diese Strategie genau aus?
Mit der offiziellen Version soll vermieden werden, dass darüber gesprochen wird, wie schwerwiegend die Situation ist. Aus dem gleichen Grund gibt es auch keine verlässlichen Zahlen und Informationen. Außerdem besteht eine Strategie darin, die Verantwortung auf die Gesamtgesellschaft abzuwälzen. Dieser Diskurs setzt sich fest. Als wir mit Eltern in Ciudad Juárez sprachen, fühlten sie sich zunächst schuldig, weil ihre Kinder verschwunden waren. Es wird dann ausgeblendet, dass es Drogenkartelle und korrupte Behörden gibt. In der gemeinsamen Analyse haben sie die tatsächliche Situation erkannt. Die erste Reaktion besteht dann immer in großer Angst, weil sie sich klar werden, welche Dimensionen mit dem Fall verwoben sind. Aber es ist auch die Grundlage dafür, Rechte einzufordern.

Gibt es ein Muster des Verschwindenlassens?
In den Regionen, wo Militäreinsätze durchgeführt werden, ist die Zahl besonders hoch. Zunächst waren das die nördlichen Bundesstaaten, aber jetzt sind auch Michoacán und Veracruz stark betroffen. Im Norden sind vor allem Frauen betroffen, im Rest des Landes junge Frauen und Männer, fast immer aus der Mittel- oder Unterschicht. Unter den Menschenrechtsaktivist_innen, die ohnehin einer besonders hohen Gefahr ausgesetzt sind, verschwinden diejenigen am häufigsten, die ein bestimmtes Territorium verteidigen, also Widerstand gegen Großprojekte wie Minen, Staudämme oder Straßen leisten.
Sowohl die Organisierte Kriminalität als auch die Polizei wenden viele Praktiken an, um in der Bevölkerung Schrecken zu verbreiten, Territorien zu kontrollieren und sich aneignen zu können. Anschließend wird die wirtschaftliche und soziale Kontrolle dieser Regionen angestrebt.

Und diese Verbreitung eines Klimas der Angst funktioniert?
Ich glaube schon. Seit Beginn des Drogenkriegs hat sich die Anzahl der Kartelle vervielfacht und sie haben an Stärke gewonnen. Sowohl ihre Wirtschaftskraft als auch ihre territoriale Ausdehnung sind sehr hoch. Das ist einer der Faktoren, der die hohen Raten der Straflosigkeit erklärt. Denn die Grausamkeiten, die begangen werden, sind nur möglich, weil die Gesellschaft verunsichert ist. Weil sie verängstigt und damit beschäftigt ist, sich um Notfälle zu kümmern. Für etwas anderes gibt es derzeit kaum Möglichkeit.

Wie gehen die Behörden mit Anzeigen um?
Es gibt eine sehr hohe Nachlässigkeit der Behörden, die Situation anzuerkennen. Außerdem sind die lokalen Behörden sehr stark mit dem Drogenhandel verwoben. Aus den uns bekannten Fällen wissen wir, was das „Wagnis“ einer Anzeige nach sich zieht. Oft verharmlosen die Behörden den Vorfall, raten von einer Anzeige ab oder schüchtern die Angehörigen ein. Wenn die Anzeige akzeptiert wird, bedeutet das eine Vielzahl bürokratischer Prozesse – und keinerlei Ergebnisse. Die Angehörigen sehen sich normalerweise in der Notwendigkeit, selbst zu suchen. Weil sie wissen möchten, wo die Verschwundenen sind, setzen sie sich sehr gefährlichen Situationen aus. Sie begeben sich an Orte und stellen dort Fragen, wo es die Polizei nicht wagen würde.

Womit müssen sie auf ihrer Suche rechnen?
Angehörige, die die ermittelnden Behörden wegen Unterlassung anzeigen, verschwinden oft selbst oder werden umgebracht. Der offensichtlichste Fall ist wahrscheinlich der Marisela Escobedos (Aktivistin, die sich für die Aufklärung des Mordes an ihrer Tochter einsetzte und auf offener Straße erschossen wurde, Anm. d. Red.). Wenn in diesem Fall, der öffentlich sichtbar war, nichts passiert, kann man sich vorstellen, wie hoch die Zahl ähnlicher Fälle ist.
Im Sozialleben geschieht etwas Schreckliches: Inmitten von Angst und Gewalt verändert sich die Perspektive der Menschen. Alles ist polarisiert, die Realität wird in Gut und Böse eingeteilt. Wenn der Sohn der Nachbarin verschwindet, heißt es: „Ob er in etwas verwickelt war?“ Obgleich er nichts Unrechtes getan hat, lastet auf den Familien ein Stigma. Wenn sie nicht mit Anschuldigungen konfrontiert werden, bekommen sie Mitleid.

Zusätzlich zur Ungewissheit über den Verbleib eines geliebten Menschen haben die Angehörigen also noch mit vielen anderen Schwierigkeiten zu kämpfen…
Das, was sich auf der alltäglichen Ebene abspielt, wiederholt sich auf allen Ebenen des Justizsystems. Die Angehörigen werden als Opfer stigmatisiert und aus einer paternalistischen und klientelistischen Sichtweise heraus behandelt. Beispielsweise müssen sie eine sogenannte Todesvermutung unterschreiben, wenn sie auf Leistungen wie einen Bankkredit oder eine Pension Zugriff haben möchten. Dann lastet ein unglaublicher Druck auf ihnen. Diese Regelung hängt damit zusammen, dass Verschwindenlassen in Mexiko nicht als eigene Straftat klassifiziert und es kein spezielles Gesetz dafür gibt. Oft verschwindet die Person mit dem Haupteinkommen. Ebenso geben Angehörige für die Suche ihre Arbeit auf. Die ökonomischen Implikationen sind enorm. Viele Familien fallen auseinander, weil einige Anzeige erstatten möchten und andere nicht; einige die Suche einstellen, andere, meistens die Mütter, weitersuchen wollen. Hinzu kommen die psychologischen Folgen. Der Trauerprozess und Schmerz ist ganz anders als bei einem Todesfall; er hört nie auf. Es gibt eine fortdauernde Ungewissheit und Sorge.

Wie können unter diesen Bedingungen Veränderungen erreicht werden?
Die Angehörigen können sich am besten untereinander helfen und verstehen. Wenn ihnen Menschen aus anderen Kontexten darin zustimmen, dass der Staat verantwortlich ist, gibt es ihnen aber auch Gewicht und Legitimität. Denn sie kämpfen dafür, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Wenn jemand für sie Position ergreift, gibt ihnen das unglaublich viel Kraft. Ich denke, auf diese Weise kann die Situation verändert werden. Auch wenn es pessimistisch klingt, glaube ich, dass diese Veränderung jetzt noch nicht möglich ist. Es ist nahezu unmöglich, dass es Gerichtsverfahren und Gerechtigkeit gibt, solange die Täter an der Macht sind. Zur Zeit sind sie es; und sie setzen ihre Strategie fort, wie man am Umgang mit den Verbrechen des Schmutzigen Krieges sehen kann. Dennoch gelingt es, nach und nach Dinge aufzubauen. Die Familien erkennen, dass ihre Arbeit anderen nützen wird.

Welche rechtlichen Mittel gibt es, um das Verschwindenlassen sanktionieren zu können?
Es gibt keine nationale Gesetzgebung für diese Menschenrechtsverletzung, nur einige Bundesstaaten haben Gesetze erlassen. Die existierenden Gesetze sind weder untereinander noch auf internationale Standards abgestimmt. Ein solches Allgemeines Gesetz, das mit der Konvention der Vereinten Nationen abgestimmt ist, wäre notwendig. Es gibt einige Vorschläge für das Gesetz. Im Grunde wäre es sehr einfach, sich an die Interamerikanische Konvention anzulehnen. Auf internationaler Ebene hat Mexiko die Zuständigkeit des Komitees gegen Verschwindenlassen der Vereinten Nationen nicht anerkannt, nur die obligatorische Konvention unterzeichnet. Das Komitee kann deswegen nur Eilaktionen durchführen, aber keine Klage einreichen.

Welche Maßnahmen sind zusätzlich notwendig, um Verschwindenlassen zu bekämpfen?
Es müssten Ergebnisse erzielt werden. Es gibt viele Fälle, in denen die Beteiligung der Marine, Armee oder Bundespolizei dokumentiert sind. Nicht nur Menschenrechtsverteidiger, sondern auch die staatlichen Menschenrechtskommissionen führen ein Verzeichnis solcher Fälle. Jedoch ist weder der Verbleib der Opfer noch der Täter bekannt. Die Straflosigkeit beträgt in diesem Bereich 99 Prozent. Darüber hinaus wäre die Schaffung einer landesweiten Datenbank wichtig, an der nicht nur die Regierung, sondern auch Aktivisten und Akademiker mitwirken. Angeblich wird daran gearbeitet. Präsident Enrique Peña Nieto hat angekündigt, eine Sondereinheit der Staatsanwaltschaft einzurichten. Mehr bürokratische Apparate zu schaffen, wird jedoch nichts ändern, wenn keine integrale Menschenrechtspolitik umgesetzt wird.

Infokasten

David Bermúdez ist Pädagoge und auf die psychosoziale Begleitung von Opfern politischer Gewalt spezialisiert. Der Menschenrechtsaktivist ist seit vier Jahren in einer Arbeitsgruppe zum Thema Verschwindenlassen aktiv, die Familienangehörige von Verschwundenen begleitet. Die Familien werden juristisch, ökonomisch und psychologisch unterstützt. Er arbeitet eng mit den Nichtregierungsorganisationen Servicios y asesoría para la paz (SERAPAZ) und LUNA zusammen. Bis 2013 war er Direktor von SERAPAZ.

Zapatistas vs. Internacionalistas

Ich bin nicht der Mörder.
Ein Streichholz flammt auf und erleuchtet die Zigarette und das Gesicht, das dadurch Gestalt annimmt: ein Haarschnitt wie ein Skinhead, ein Gesicht mit glänzenden Augen, silberne Ringe, unrasierte Wangen.
Ich stelle das lieber von vorneherein klar, um keine Verwirrung zu stiften.
Ich bin auch nicht der Hausmeister. Ich sage das bloß zur Sicherheit vorneweg, weil ihr wisst ja, dass in Krimis der Hausmeister immer der Mörder ist … oder andersrum. Ich dagegen bin so was Ähnliches wie Pförtner gewesen. Allerdings habe ich keine Türen bewacht, sondern Tore. Ich war einige Male Torwart bei den Fußballspielen im Caracol La Garrucha. Die ersten paar Mal hab ich nicht verstanden, worum es ging, aber jeden Sonntag gab es nach dem Gebet in der Kirche einen Auflauf unter den Kindern, und die Erwachsenen begannen ganz aufgeregt auf Tzeltal zu palavern. Ich verstand bloß den Teil, in dem von campamenteros und zapatistas die Rede war, und dann liefen alle zum Fußballplatz. Also, der Fußballplatz ist gar nicht wirklich ein Fußballplatz. Von Montag bis Samstag ist es eine Weide, aber an den Sonntagen verwandelt sie sich in einen Fußballplatz. Die Kühe verlassen die Weide, als würden sie genau Bescheid wissen, dass Sonntag ist, und hinterlassen ein Minenfeld von Kuhfladen. Dann tragen ein paar Leute aus dem Dorf die Kirchenbänke und die Schulbänke herbei und improvisieren eine Art Zuschauertribüne. Das Stück Land, das als Fußballplatz genutzt wird, liegt am Fuß eines Berges, sodass ein Tor höher steht als das andere, was dem Team, das »oben« spielt, eindeutig Vorteile verschafft. Aber der Wechsel nach der Halbzeit sorgt für Ausgleich. Oder zumindest wird davon ausgegangen. Als nächstes werden dann die Mannschaften zusammengestellt, und ein Dorfbewohner macht den Schiedsrichter – es ist immer einer, der im Dorf ein Amt bekleidet. Wie ich schon sagte, war ich manchmal der Torwart für die Mannschaft der campamenteros, wie sie hier im Dorf sagen, oder der campamentistas, wie wir campamenteros uns selbst nennen. Das heißt, wir Männer und Frauen aus aller Herren Länder, die wir gerade im Friedenscamp sind, tun uns zu einer Fußballmannschaft zusammen und treten gegen die Teams der zapatistischen Dörfer an.
Wenn ich mitgespielt habe, haben wir meistens verloren. Aber glaubt bloß nicht, dass das daran liegt, dass sich die Zapatisten beim Spielen geschickter anstellen, nein, nein. Es lag eher an einem Kommunikationsproblem. Wir – unser Team war stets gemischt, es bestand aus Männern und Frauen – riefen uns gegenseitig Anweisungen auf Französisch, Euskerra, Italienisch, Englisch, Deutsch, Türkisch, Dänisch, Schwedisch und Aymara zu. Niemand verstand auch nur ein Wort, und es war, wie die Leute hier sagen, eine Mordsschau, aber der Ball flog eben immer dahin, wo er gerade nicht hin sollte.
Durch die Fußballspiele habe ich ein bisschen von dem verstanden, was diese Zapatisten „den Widerstand“ nennen. Zumindest bilde ich mir das ein. An einem dieser Sonntage spielten nämlich auf unserer Seite zwei beeindruckende Däninnen, etwa zwei Meter groß und mit einem erstaunlichen Talent fürs Kicken. Ihre Körpergröße, ihre Sprünge und die Länge ihrer Schritte ließen die Zapatisten ziemlich schlecht aussehen, die – das muss wohl kaum betont werden – recht klein sind und kurze Schritte machen. Bereits die ersten Ballwechsel ließen erkennen, dass es nicht lange dauern würde, bis unsere Überlegenheit sich auch im Ergebnis niederschlagen würde. Und tatsächlich lagen wir nach den ersten zehn Minuten schon zwei zu null in Führung. Und dann ist es ganz einfach passiert. Ich habe es mitbekommen, weil ich im Tor stand, aber auch, weil ich hier gelernt habe, aufmerksam zu beobachten und Dinge zu sehen, die nicht offensichtlich sind. Es gab keinerlei konkrete Anweisung, keine Versammlung, keinen Wortwechsel, keinen Austausch von Zeichen oder Blicken bei den Zapatisten. Dennoch glaube ich, dass sie ihre eigene Art zu kommunizieren haben, weil sich nämlich nach unserem zweiten Tor alle Zapatisten auf den hinteren Teil des Platzes zurückzogen, um ihr Tor zu verteidigen. Sie überließen unseren glänzenden Däninnen das gesamte Spielfeld, die selig von einer Seite zur anderen rannten. Natürlich verwandelte der zapatistische Teil des Spielfeldes sich in einen Schlammpfuhl, bei so vielen Leuten, die sich dort aufhielten. Der Ball blieb stecken, als wäre er festzementiert, und es bedurfte jeweils mehrerer internationalistischer Tritte, um ihn wieder ins Rollen zu bringen.
»Sie fügen sich«, dachte ich, »und sie spielen nur noch darum, nicht völlig eingemacht zu werden.« Ich begann also, mir das Spiel wie ein einfacher Zuschauer anzusehen, da der Ball ohnehin in der anderen Hälfte des Spielfelds blieb. Es verstrichen einige Minuten, und dann geschah es. Unsere Mannschaft, die andauernd von einer Seite zur anderen rannte, begann Ermüdungserscheinungen zu zeigen. Es wurde klar, dass wir für die zweite Halbzeit so gut wie lahm gelegt sein würden. Unsere dänischen Stars japsten verzweifelt nach Luft und mussten alle zwei, drei Schritte stehen bleiben. Und siehe da, tzosch! – auch diesmal, ohne dass es irgendein erkennbares Zeichen gegeben hätte – fällt doch plötzlich die gesamte zapatistische Mannschaft über mich her. Sie schossen in zwanzig Minuten sieben Tore, zum großen Vergnügen des Publikums, das natürlich voll und ganz auf der Seite des einheimischen Teams stand. Das Spiel endete mit einem sieben zu zwei, und die Hälfte unserer Mannschaft brauchte eine gute Stunde, um sich zu erholen, und drei Wochen, um wieder normal gehen zu können.
Ich war also Torwart, aber ich bin weder der Hausmeister noch der Mörder. Wie ihr bestimmt längst erraten habt, bin ich ein campamentista, ein Menschenrechtsbeobachter, und komme aus einem anderen Land. Ich war bereits in Friedenscamps in allen fünf Caracoles, schon bevor sie in Caracoles umgetauft wurden, und noch in ein paar anderen Gemeinden, die Probleme mit dem Militär oder den Paramilitärs hatten. Ihr fragt euch sicherlich, was ein ausländischer campamentista in diesem Kriminalroman zu suchen hat. Tja, ich stelle mir dieselbe Frage, weshalb ich euch hiermit keine große Hilfe sein kann. Während wir abwarten, wohin die Geschichte sich entwickelt, werde ich euch ein wenig über mich erzählen. Vielleicht entdecken wir ja auf diese Weise gemeinsam, was zum Teufel ich in diesem Roman treibe.

// Subcomandante Insurgente Marcos
Mexiko, Dezember 2004
Aus den Bergen des mexikanischen Südostens.
Ausschnitt aus dem vierhändigen Kriminalroman Unbequeme Tote von Subcomandante Marcos und Paco Ignacio Taibo Berlin/Hamburg 2005, Assoziation A, S. 36–38.

Todsichere Geschäfte

Hätte er doch auf sie gehört. „Pass auf, mit denen ist nicht zu scherzen“, hatte María Amadea de Jesús ihren Sohn gewarnt. Aber Gabriel ließ sich nicht aufhalten. Nun bleiben seiner Mutter nur noch die Bilder an der Wohnzimmerwand: Gabriel als Kind mit einem Fohlen, Gabriel mit dem ersten Flaum im jugendlichen Gesicht. Und es bleibt ihr dieses Foto, das ein Nachrichtenmagazin auf der Titelseite veröffentlichte. Es zeigt einen jungen Mann, der leblos auf der Straße liegt. Das Gesicht auf dem Asphalt, den Kopf in einer Blutlache. „Er war unschuldig“, sagt die 58-jährige verzweifelt und blättert von einer Heftseite zur nächsten. Bis sie zwei Abbildungen von Polizisten findet, die mit Gewehren auf Demonstrierende zielen. Dann bricht sie in Tränen aus. „Die haben ihn umgebracht.“ Noch immer fällt es Amadea de Jesús schwer, über diesen Tag zu sprechen.
Der 12. Dezember 2011: Aus der mexikanischen Kleinstadt Tixtla machen sich mehrere hundert Studierende auf den Weg zu einer Protestaktion, unter ihnen auch Gabriel Echeverría de Jesús. Die jungen Männer studieren an der Pädagogischen Hochschule Ayotzinapa, viele von ihnen stammen aus armen Familien. Später sollen sie einmal den Kindern der Region lesen, schreiben und rechnen beibringen. Schon lange gilt das Internat als rebellisch, von den Hauswänden prangen Marx, Lenin und Subcomandante Marcos, der Sprecher der indigenen Zapatist_innen. Immer wieder legen sich die Studierenden mit den Mächtigen an, unterstützen indigene Gemeinden hier im Bundesstaat Guerrero in ihrem Kampf um Selbstbestimmung oder kritisieren Angriffe der Polizei auf Kleinbäuerinnen und -bauern.
An diesem Tag mobilisieren sie für ihre eigenen Rechte: Seit Monaten fällt in Ayotzinapa der Unterricht aus, es scheint, als wolle man die Universität langsam abwickeln. Deshalb fordern die angehenden Lehrer_innen schon lange ein Gespräch mit dem Gouverneur, doch der vertröstet sie nur. Also fahren die Studierenden in die nahe gelegene Landeshauptstadt Chilpancingo. Dort wollen sie die Autobahn blockieren, die von Mexiko-Stadt an die pazifischen Strände um Acapulco führt. Kaum angekommen, rücken aber auch schon Polizist_innen an. Geschützt mit Helmen und Kampfanzügen springen sie von den Transportern. Eine Tankstelle geht in Flammen auf. Steine fliegen. Tränengas vernebelt die Luft. Schüsse fallen. Plötzlich liegen Gabriel Echeverría de Jesús und Jorge Alexis Herrera tot auf der Straße. „Das war kein Unfall“, ist sich deren Kommilitone Ali Pérez Bravo sicher. „Sie wollten jemanden von uns töten, sonst hätten sie nicht auf den Kopf gezielt.“
Auch der Fotojournalist Eric Chavelas hat den Polizeieinsatz miterlebt. Jetzt sitzt er vor seinem Bildschirm und scrollt von einer Aufnahme zur nächsten. „Hier“, sagt er, „das sind die deutschen Waffen.“ Gleich mehrere seiner Fotos beweisen: Polizeibeamt_innen verschiedener Einheiten trugen an diesem Tag Gewehre vom Typ G36 der deutschen Rüstungsschmiede Heckler & Koch – Waffen, die nie in diese Region hätten gelangen dürfen. Denn als die Firma eine Genehmigung für den Export nach Mexiko beantragt hatte, stellten die Ausfuhrbehörden eine Bedingung: Die Gewehre dürfen nicht in die Bundesstaaten Guerrero, Jalisco, Chihuahua und Chiapas geliefert werden. Dass die G36 dennoch gegen die Studierenden zum Einsatz gekommen sind, belegen auch Polizeiakten. Dort sei von zwölf dieser Sturmgewehre die Rede, bestätigt Anwalt Vidulfo Rosales, der María Amadea de Jesús vertritt. Zudem wurden in der Nähe von Echeverrías Leiche Patronenhülsen des Kalibers 5,56 x 45 Millimeter gefunden – das passende Kaliber für das G36.
In Guerrero gibt sich niemand Mühe zu vertuschen, dass die Sturmgewehre im Umlauf sind. „Diese Waffen sieht man in Chilpancingo an jeder Ecke“, sagt Verteidiger Rosales. Selbst die autonome, indigen geprägte Gemeindepolizei in Tixtla besitzt sie. Allerdings eher unfreiwillig, wie deren Anführer Gonzalo Molina erklärt. Bürger_innen haben die Miliz vor eineinhalb Jahren gegründet, um sich angesichts einer tatenlosen Regierung selbst vor der zunehmenden Kriminalität zu schützen. Weil einige Mitstreiter_innen verhaftet wurden, besetzten die Milizen für ein paar Stunden das Rathaus der Kleinstadt. Plötzlich zielten die offiziellen Polizeibeamt_innen mit den Gewehren auf sie. „Da mussten wir ihnen doch ihre Waffen abnehmen“, meint Molina. Allerdings werde man sie nicht benutzen. „Wenn unsere Gefangenen freigelassen werden, geben wir sie zurück.“ Der örtliche Sicherheitsbeauftragte Ruben Reyes Cepeda erklärt der Presse freimütig: „Wir besitzen elf G36-Gewehre in verschiedenen Ausführungen.“ Polizist_innen, die später in Tixtla patrouillieren, tragen ebenfalls die Waffen aus dem schwäbischen Oberndorf, Firmensitz von Heckler & Koch.
Abel Barrera vom regionalen Menschenrechtszentrum Tlachinollan bereitet das große Sorgen. „Besonders beunruhigend ist es, dass lokale Polizist_innen diese gefährlichen Gewehre tragen“, sagt er. Die Beamt_innen hätten keine Ausbildung und vor allem keinen Respekt vor den Menschenrechten. „Sie gehen zügellos gegen eine verarmte Bevölkerung vor, die, wie die Studenten von Ayotzinapa, meist nur ihr Recht einfordert.“ Den Behörden traut hier niemand. Häufig stecken korrupte Beamt_innen, lokale Politik, wirtschaftliche Eliten und Kriminelle unter einer Decke. „Die meisten Bürgermeister und Polizisten in Guerrero arbeiten mit der Mafia zusammen,“ erklärt ein hoher Vertreter der Landesregierung, der seinen Namen aus Sicherheitsgründen nicht nennen will. Fühlen sich diese Kreise in ihrer Macht bedroht, gehen sie mit äußerster Gewalt gegen ihre Gegner_innen vor. Die Opfer sind oft Indigene, Bäuerinnen und Bauern, die sich gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen wehren.
Wie aber gelangten die Sturmgewehre nach Guerrero? Heckler & Koch habe sich immer an Recht und Gesetz gehalten, lautete die Standardantwort aus Oberndorf. Für mehr Aufklärung könnte deren ehemaliger Mitarbeiter Markus Bantle sorgen. Seit 25 Jahren lebt er in Mexiko. Bald könnte ihn seine Vergangenheit einholen. Nachdem Heckler & Koch nicht mehr leugnen konnte, dass der Waffendeal illegal verlaufen war, machte die Firmenleitung zwei Mitarbeiter für die Lieferung verantwortlich und kündigte ihnen. Die aber klagten gegen ihre Entlassung und bekamen Recht.
Bei der Verhandlung vor dem Amtsgericht Villingen/Schwenningen im Dezember wurde deutlich, dass die Geschäftsführung genau über die Ausfuhr Bescheid wusste. Zudem brachte der Prozess ans Licht, dass ein Handelsvertreter, also Markus Bantle, offenbar Papiere geschönt hatte, um die Lieferung in die „verbotenen Bundesstaaten“ zu verschleiern. Nun sei es nur noch eine Frage der Zeit, so vermuten Rüstungsgegner_innen, dass sich die Schwarzwälder Rüstungsschmiede aufgrund der widerrechtlichen Exporte und wegen des Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontroll- und das Außenwirtschaftsgesetz vor Gericht verantworten muss.
Wer Gabriel Echeverría getötet hat, wird dagegen wahrscheinlich nie juristisch geklärt. Und auch die Frage, ob der Student durch die deutschen Gewehre starb, wird nicht beantwortet. Seit über zwei Jahren setzt sich Amadea de Jesús für die Aufklärung des Todes ihres Sohnes ein. Doch verdächtige Polizisten, die nach dem Einsatz festgenommen wurden, sind längst wieder auf freiem Fuß.

Infokasten

Heckler & Koch muss sich vor Gericht verantworten
Der Freiburger Friedensaktivist Jürgen Grässlin machte den Anfang: Er zeigte Heckler & Koch 2010 an. H&K soll zwischen 2003 und 2007 illegal Sturmgewehre nach Mexiko geliefert haben. Zwar hatten deutsche Behörden die Ausfuhr der Waffen vom Typ G36 genehmigt, allerdings unter einem Vorbehalt: Die Gewehre dürfen nicht in die Bundesstaaten Guerrero, Jalisco, Chihuahua und Chiapas gelangen. Eine Liste des mexikanischen Verteidigungsministeriums bestätigt jedoch, dass etwa die Hälfte der Gewehre genau in diese Regionen geliefert wurde. Recherchen werfen nun neue Fragen auf: Hat das schwäbische Unternehmen weitaus mehr G36 geliefert, als vom Bundesausfuhramt genehmigt wurden? Politikwissenschaftler Carlos Pérez Ricart von der Berliner Gruppe México via Berlín hat die Zahlen verglichen. Demnach hat das Verteidigungsministerium, der offizielle Käufer, zunächst angegeben, 10.082 der Waffen erhalten zu haben, um die Ziffer dann auf 9.652 zu reduzieren. Laut Rüstungsexportberichten der Bundesregierung wurde lediglich die Ausfuhr von 8.769 G36 genehmigt, in der Antwort auf eine Anfrage der Linken ist sogar nur von 8.065 die Rede. Wie sind diese Diskrepanzen zu erklären? Um das zu klären, hat Grässlin eine erweiterte Strafanzeige an die Staatsanwaltschaft gestellt. Zudem verdichtet sich der Verdacht, dass in Mexiko widerrechtlich G36-Kopien hergestellt werden. In der Stadt Querétaro wird ein auffällig ähnliches Gewehr produziert: das FX05. Nur: H&K will von einer Lizenzproduktion nichts wissen und im Rüstungsexportbericht taucht keine Genehmigung auf. Die mexikanische Regierung habe aber in den Jahren 2003 und 2004 mit H&K über einen solchen Lizenzvertrag verhandelt, erklärt Pérez Ricart. Laut Finanzministerium seien dafür über vier Jahre lang insgesamt 22,8 Millionen Pesos (1,2 Millionen Euro) an H&K überwiesen worden. Das G36 wurde dann zwar nie gebaut, jetzt aber produziert eine Fabrik das FX05. Werden die Waffen ohne Lizenz, aber mit Beteiligung von H&K hergestellt? Grässlin schließt das nicht aus: „Eine Hightechwaffe vom Typ G36 kann nicht von irgendeiner Firma weltweit nachgebaut werden, dazu brauchen sie das Know-how von hoch qualifizierten Technikern von H&K.“

„Ich bin sehr optimistisch!”

Bei Demonstrationen in der Hauptstadt gab es nun auch vermehrt Gewalt gegen Journalist_innen…
Das ist neu. Bis jetzt gab es nur in problematischen Zonen Konflikte mit den Medien, und das hing mit dem Drogenhandel zusammen. Aber plötzlich gibt es eine starke Veränderung im Verhalten der Regierung von Mexiko-Stadt. Einer Regierung, die mehrheitlich mit linken Stimmen gewählt wurde und seit Dezember 2012 einen starken Wechsel nach rechts begonnen hat – mit dem Ziel, die massive Präsenz von sozialen Bewegungen in den Straßen zu verhindern. Es geht nicht unbedingt darum, kleine Gruppierungen zu verprügeln, sondern ein Ambiente der Angst zu schaffen, welches die massive Beteiligung von Bürgern einschränkt. Schon bei mindestens vier Demonstrationen gab es Repressionen, bei der die Polizei Medienvertreter direkt angegriffen hat. Denn seit den medialen Kampagnen von Präsident Peña Nieto sind die angeblich „alternativen“ Medien extrem wichtig geworden.

Welche Verantwortung hat der Bürgermeister Mexiko-Stadts, Miguel Mancera von der sozialdemokratischen PRD, für diese Politik?
Die Regierung von Mancera ist ein Desaster. Es ist eine Regierung, die durch ein sehr breites Bündnis an die Macht kam. Tausende haben mitgewirkt. Auch ich habe in seiner Kampagne mitgearbeitet – mit einer sehr kritischen Sicht. Ich dachte, es wäre das kleinste Übel, das uns passieren könne. Auf jeden Fall sollte der PRI (Revolutionäre Institutionelle Partei, Anm. d. Red.) der Einzug in Mexiko-Stadt verwehrt werden und ein Kontrapunkt zu deren Bundesregierung geschaffen werden. Denn diese Regierung sah extrem gefährlich aus und ist es auch. Aber Mancera hat eine Regierung gebildet, ohne die politischen Kräfte in Mexiko-Stadt dabei zu repräsentieren. Und er hat systematisch die Zustimmung der Bundesregierung gesucht. Der ehemalige Chef der Polizei von Mexiko-Stadt, Manuel Mondragón y Kalb, ist im Dezember in die Bundesregierung gewechselt. Aber er behält seine Beziehungen zur Polizeivertretung und -leitung in Mexiko-Stadt, also der Politik der öffentlichen Sicherheit. Durch diesen Zug hat Mancera von vornherein die öffentliche Sicherheit der Stadt in die Hände der Bundesregierung gelegt.

Wie hat sich das Verhältnis von Journalist_innen und Politiker_innen seitdem verändert?
In letzter Zeit tritt verstärkt eine Taktik auf, die in Mexiko-Stadt eigentlich verschwunden war: Journalisten zu „kultivieren“. Es ist wie eine Pflanze zu pflegen – man gibt ihr Wasser, stellt sie ins Licht, lächelt ihr am Morgen zu. Vor einem Monat erhielt ich die Information, dass ein hoher Funktionär Mexiko-Stadts ein Sylvester-Dinner mit 20 Journalisten veranstaltet hat. Bei diesem Dinner wurden zwei Reisen nach New York verlost, jeder erhielt ein Silbertablett und es gab französischen Wein in rauen Mengen. So etwas war typisch für die Beziehungen zwischen Presse und PRI in den alten Zeiten, aber ist so lange nicht mehr vorgekommen. So wird die Presse korrumpiert und man erschafft eine Beziehung gegenseitiger Gefälligkeiten. Du willst nicht unbedingt, dass der Journalist deine direkte Stimme wird. Aber im gegebenen Moment übernimmt er deine Sichtweise und recherchiert nicht weiter.

Hat die Bundesregierung denn solche Angst vor alternativer Berichterstattung?
Nicht so sehr vor den Informationen, vielmehr vor den Massenmobilisierungen. Die Bundesregierung setzt ein großes Reformprojekt durch und will die Reaktion in der Bevölkerung bestmöglich minimieren. Ein Teil davon ist es, alternativen Medien Angst einzujagen. Aber sie hat es nicht geschafft. Die alternative Information wächst sogar. Wenn ein Monument für die compañeros von den alternativen Medien gebaut werden könnte, würde ich die Steine spendieren! Sie haben eine wunderbare Arbeit geleistet, um die Dinge aus den Schatten zu holen – oft unter Gefahr. Aber sie sind immer in der ersten Reihe und dokumentieren jeden Moment, folgen den Geschichten und verbreiten die Informationen.

Können ländliche Regionen ohne großflächige Internetanbindung überhaupt erreicht werden?
Es ist sehr seltsam. Man denkt, die Informationen würden nicht ankommen und wird dann überrascht. Auf einmal bist du in einem Dorf wie Pochutla im Bundesstaat Oaxaca und triffst einen Jungen, der die letzten sechs Videos kennt, die du für Fernsehprogramme gemacht hast. Wie hat er sie gesehen? Naja, die waren auf irgendeiner Plattform und er hat sie in irgendeinem Café runtergeladen – in Pochutla. Das ist wie ein Virus. Die Kombination von alternativen Medien, neuen Technologien und klassischen Medien potenziert die Chancen von alternativer Information um ein Vielfaches. Klar erschafft das auch künstliche Paradiese der immer gut Informierten. Es fehlt durchaus die Multiplikation, die klassische Medien erreichen. Aber man kann auch nicht erwarten, dass hier gezaubert wird – das ist ein langwieriges Problem. Und ich bin in dieser Hinsicht optimistisch. Sehr optimistisch!

Warum?
Wir haben in diesen letzten zwei Jahren Spektakuläres erlebt – Verbreitung und Mobilisierung durch nicht traditionelle Medien. Die Gegeninformation ist kein in sich geschlossenes Phänomen. Soll heißen, die Gegeninformation interagiert mit den Räumen, die es in klassischen Medien gibt. Ein Journalist der Jornada schreibt eine Meldung in seiner wöchentlichen Kolumne, diese Meldung ist am nächsten Tag von 150.000 Menschen getwittert worden. Aber irgendjemand findet einen anderen Aspekt dieser Meldung und gibt sie an Leute weiter, die irgendwo am Samstagnachmittag eine Radiosendung moderieren. Das ist ein großes Wachstum. Für die Politik ist es sehr schwierig geworden, unbemerkt zu lügen.

Welche Erfolge gab es durch die Gegeninformation?
Es gibt eine ganz konkrete Form, den Erfolg zu messen: Die Bundesregierung entwarf die Ener-giereform (siehe LN 476) und gleichzeitig eine millionenschwere Medienkampagne, um sie zu verteidigen. Das war eine spektakuläre Bombardierung im Fernsehen und im Radio. Zum Beispiel mit „Die ganze Welt modernisiert sich: Kuba modernisiert sich. Norwegen modernisiert sich. Warum sollte Mexiko seine Ölindustrie nicht auch modernisieren?“ oder „Cárdenas hätte gesagt, dass es interessant wäre, diesen Weg zu gehen, blablabla“. Es war brutal. In diesen Zeiten konntest du dir keine Cola im Laden um die Ecke holen, ohne die Werbung zu hören.
Aber am Ende, als die Reform verabschiedet wurde, waren 55 Prozent der Bevölkerung dagegen und nur 17 Prozent dafür. Trotz der ganzen Kampagne war die Regierung auf dem tiefsten Akzeptanzniveau seit Jahren. Und wer hat die Gegenkampagne produziert? Die alternativen Medien und die Aktionen auf der Straße haben den Menschen beigebracht, dass diese Reform pures Gift ist. Ich meine 55 zu 17… nie hatte die Regierung so ekelhafte Werte bekommen!

Allerdings hat die Medienkampagne Enrique Peña Nietos im Wahlkampf funktioniert: Er ist Präsident geworden…
Nein, sie hat nicht funktioniert. Kurz vor den Wahlen, im Mai 2012, gab es eine Versammlung der Gouverneure der PRI in Querétaro, in der sie genau das gesagt haben. Trotz der Medienkampagne standen sie in den Umfragen nicht gut da. Zu diesem Zeitpunkt waren sie sogar hinter Manuel López Obrador. Es war diese Versammlung, auf der entschieden wurde, Milliarden von Pesos in den Stimmenkauf zu investieren. Das wiederum hat funktioniert – fünf Millionen gekaufte Stimmen in den letzten zwei Monaten vor der Wahl (siehe LN 457/458, 459/460).

Du betonst immer wieder die Wichtigkeit der Gegeninformation. Jetzt bist du Funktionär für Kunst und Kultur in der neuen Linkspartei von Manuel López Obrador, Morena. Welche Möglichkeiten siehst du hier für die Schaffung einer kritischen Öffentlichkeit?
Wir haben auf diesem Gebiet eine lange und sehr wertvolle Erfahrung, vor allem mit der Brigade Para leer en Libertad (Um in Freiheit zu lesen). Diesen Februar werden wir vier Jahre alt. Wir sind ein Dutzend Menschen mit einer Vision: Wenn wir mehr Leute zum Lesen bringen, werden wir das demokratische Denken in Mexiko weiter verbreiten. Der Mexikaner, der liest, ist kritischer, schlauer und weniger anfällig für die Manipulationen der Macht. Deswegen haben wir angefangen, im Großraum von Mexiko-Stadt ein Literaturnetzwerk mit verschiedenen Aufgaben zu gründen. Zuerst organisierten wir Buchmessen in problematischen Zonen, wie der Peripherie der Stadt, wo es keine Buchhandlungen gibt. Jeden Tag gab es Konferenzen, Debatten und Präsentationen und immer wieder auch Musik oder Theater. Das Programm haben wir stark politisiert. Es ging vor allem um Bücher zur organisierten Kriminalität, der Kampagne von Peña Nieto, den Zapatistas und zur Lehrerbewegung. Außerdem haben wir Gäste eingeladen und alle bekannten Schriftsteller Mexikos haben mitgemacht: Montemayor vor seinem Tod, Monsiváis, Elena Poniatowska…
Parallel organisierten wir einen Kurs zur Geschichte Mexikos für Bürger im Widerstand. Die Erfahrung, die ich in den letzten Jahren auf über 300 Konferenzen in den Slums sammeln konnte, hat mir eines klar gezeigt: Die Kulturpolitik ist eines der effektivsten Mittel linker Organisationen, um kritisches Denken zu fördern und um eine in der Linken lange vernachlässigte Arbeit wieder aufzunehmen: die politische Bildung.

Du bist Funktionär bei Morena. Die Partei hat sich dir noch nicht in den Weg gestellt?
Sie hilft mir nicht, aber sie behindert mich auch nicht. Niemand hat mich jemals aufgehalten und in der mexikanischen Linken gibt es niemanden, der mir gesagt hätte: „Du darfst nicht kommen, weil du bei Morena bist.“ Weil es bekannt ist, dass ich hingehe, selbst wenn Morena nicht hingeht.
Das Problem bei Morena ist ein anderes. Es gibt einen internen Konflikt zwischen zwei Parteimodellen. Eine Seite möchte die Partei zu einem Instrument für die nächsten Präsidentschaftswahlen machen und für die andere Seite ist die Partei eine soziale Bewegung, also weniger an Wahlen als an sozialen Kämpfen interessiert. Der Konflikt ist nicht gelöst und derzeit ist die Partei eine Ko-existenz der beiden Strömungen.

Das heißt, für dich ist Morena kein Mittel, um sich bei Wahlen aufzustellen?
Nein, überhaupt nicht. Die Wahlen sind großer Mist und wir werden die PRI nicht über Wahlen besiegen. Für mich ist Morena die Möglichkeit, eine wirkliche Volkspartei zu gründen. Ich spreche hier von drei bis vier Millionen Mitgliedern und 300.000 Aktivisten – mit der Stärke, im gegebenen Moment den zivilen Ungehorsam auszurufen, ein Moratorium beim Zahlen der Steuern einzuleiten oder einen Generalstreik zu organisieren. Und dann, in diesem Prozess, mit Erfolg bei den Wahlen zu intervenieren. Derzeit müssen Wahlen genutzt werden, um auf der kommunalen Ebene, vielleicht auf Landesebene, neue Formen der Verwaltung zu schaffen. Andere denken nicht so. Sie sehen in Morena das Mittel, um eine große Partei für die Wahlen zur Abgeordnetenkammer 2015 aufzubauen. Das sehe ich nicht. Es ist die Gesellschaft, die sich bewegt. Die Partei hilft, Dinge zu artikulieren – mehr nicht.

Infokasten

Paco Ignacio Taibo II ist mexikanischer Schriftsteller und Aktivist. Neben seinen Kriminalromanen hat er sich als Historiker und Che-Guevara-Biograph einen Namen gemacht. Er gründete das Leseprojekt Para Leer en Libertad („Um in Freiheit zu lesen”) zur Verbreitung von Literatur und mexikanischer Geschichte. Seit 2012 gehört er als Kulturbeauftragter dem Vorstand der neuen Linkspartei Morena an. Auf Deutsch erschien zuletzt Die Rückkehr der Tiger von Malaysia (Assoziation A).

Wandlungsfähiger Widerstand

Die Verwunderung im In- und Ausland war groß als an Neujahr 1994 maskierte Frauen und Männer sieben Bezirkshauptstädte im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas besetzten und sich mehrere Tage Gefechte mit der mexikanischen Armee lieferten. Seitdem hat die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) einen langen Weg hinter sich gebracht. Dieser begann bereits ein Jahrzehnt früher, als am 17. November 1983 eine sechsköpfige Gruppe – hervorgegangen aus einer der zahlreichen mexikanischen Guerillas der 1970er Jahre – im lakandonischen Regenwald die EZLN gründete. Anfangs handelte es sich um eine dogmatische Gruppe, die sich an anderen Guerilla-Organisationen Lateinamerikas orientierte, zum Teil Kontakte zur Studierendenbewegung von 1968 hatte und mit einem avantgardistisch-kommunistischen Konzept die indigene Bevölkerung „befreien“ wollte.
Es folgte eine mehrjährige Etappe, in der die Kerngruppe der EZLN relativ isoliert blieb, da dieser paternalistische Ansatz, der zudem von mangelnder Kenntnis der Region begleitet war, auf großes Misstrauen bei der ortsansässigen indigenen Bevölkerung stieß. Nach einiger Zeit kam es jedoch zu einer offeneren Annäherung beider Seiten, die – neben anderen Faktoren wie dem Kampf der Frauen innerhalb der Bewegung und dem Einfluss der Befreiungstheologie – die undogmatischen Charakteristika der heutigen zapatistischen Bewegung ermöglichte. Die noch immer kleine Organisation trat daraufhin in einen wechselseitigen Lernprozess ein. Ihr Sprecher Subcomandante Marcos, einer der wenigen Mestizen der Gruppe, beschreibt diese Phase so: „Zusätzlich zu ihrer Kondition, die die indigene Bevölkerung für ein Leben in den Bergen befähigte, brachten sie uns ihre Weltsicht sowie ihre Sicht des Kampfes und ihre Kultur bei. Das heißt, in dieser Aufbauphase bewegten wir uns in einer Schule, wo es nicht klar war, wer Lehrer und wer Schüler war.“ Insgesamt zehn Jahre lang bereitete sich die politisch-militärische Organisation mit Unterstützung der zivilen Basis unter großen Anstrengungen und Gefahren im Untergrund auf Tag X vor.
Mit ihrem bewaffneten Aufstand vom 1. Januar 1994, der als ein wichtiger Ausgangspunkt der neuen antikapitalistischen Bewegungen gilt, katapultierte sich die EZLN auf die Titelseiten der mexikanischen und globalen Presse. In einer Zeit, in der von den westlichen Eliten ein endgültiger Sieg des Kapitalismus gefeiert wurde, manifestierten die vermeintlich Schwächsten der Schwachen im Südosten Mexiko ihr „¡Ya Basta!“ („Es reicht!“) und verdeutlichten so, dass das damals vielzitierte „Ende der Geschichte“ keineswegs erreicht war. Nicht zufällig fiel die Erhebung auf den Tag, an dem der nordamerikanische Freihandelsvertrag NAFTA in Kraft trat, mit dem die kapitalistische Entwicklung auf eine neue Stufe gehoben werden sollte.
Es folgten große Wellen der Solidarität mit der EZLN in und außerhalb Mexikos. Angehörige der solidarischen Zivilgesellschaft – im Verständnis der Zapatistas die unabhängig organisierten Menschen, die nicht von den Privilegien der Herrschenden profitieren – erklärten sich einverstanden mit den zentralen Forderungen nach Arbeit, Land, Unterkunft, Nahrung, Gesundheit, Bildung, Unabhängigkeit, Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Frieden. Sie schlugen der EZLN jedoch mehrheitlich einen nicht-bewaffneten Weg zu ihrer Durchsetzung vor. Die EZLN äußerte später, sie habe in diesem Moment auf die Zivilgesellschaft gehört; seit dem 12. Januar 1994 kämpft sie zivil für ihre Ziele, auch wenn es auf Gemeindeebene im Verlauf der Jahre durchaus zu einigen wenigen militanten Auseinandersetzungen zur Selbstverteidigung kam. Andererseits sah sich durch die enormen Sympathiebekundungen für die Zapatistas auch die mexikanische Regierung nach zwölf Tagen Bürgerkrieg gezwungen, einen Waffenstillstand zu proklamieren. Dessen ungeachtet sind bis heute zehntausende Soldaten in Chiapas stationiert. Ein wichtiger Grund dafür ist die Kontrolle des Einflussgebiets der EZLN.
Im Schwung des Aufstands besetzten die Zapatistas in Chiapas weit über 100.000 Hektar Land und verteilten es an tausende Familien. Auch viele Nicht-Zapatistas nutzten die damalige Dynamik zur Umverteilung dieses Produktionsmittels. Die EZLN bezeichnet diesen Prozess als Wiederaneignung, da ihrer indigenen Basis die Böden über Jahrhunderte von weißen oder mestizischen Oligarchen geraubt worden waren. Im Verständnis der indigenen Bevölkerung sind die Ländereien von integraler Bedeutung, wie Comandanta Kelly betont: „Das Land und die Territorien sind mehr als nur Quellen von Arbeit und Nahrung, sie sind auch Kultur, Gemeinde, Geschichte, Vorfahren, Träume, Zukunft, Leben und Mutter.“
Knapp zehn Jahre nach der Erhebung sah sich die EZLN zu einer weiteren strategischen Umorientierung gezwungen. Nachdem das mexikanische Parlament die Verträge von San Andrés scheitern ließ, für deren Zustandekommen die Zapatistas über Jahre mit der Regierung über indigene Rechte, Demokratisierung, die Abkehr von der neoliberalen Wirtschaftspolitik und die Verbesserung der Situation der Frauen verhandelt hatte, wählte die EZLN den Weg der „Autonomie ohne Erlaubnis“. Am 8. August 2003 gründete sie in den fünf autonomen Zonen der Zapatistas zivile Verwaltungszentren, sogenannte caracoles (Schneckenhäuser). Diese werden von fünf, nach dem Rotationsprinzip arbeitenden „Räten der guten Regierung“ koordiniert, deren Aufgabe es ist, die Entscheidungen der Basis umzusetzen – getreu dem zapatistischen Motto des „gehorchenden Befehlens“. Funktionsträger_innen, mit denen die Basis nicht zufrieden ist, können jederzeit abgesetzt werden.
Zuvor hatte die Bewegung intensiv reflektiert, um ihre eigenen Strukturen zu verbessern. Aus den Unzulänglichkeiten der eigenen Praxis, die die Zapatistas wie nur Wenige öffentlich machen, entstand dieser neue Schritt gesellschaftlicher Selbst­organisation. Die EZLN gab auf diese Art viele Kompetenzen an ihre zivile Basis ab. Mit Selbstbewusstsein berichtete Subcomandante Marcos 2013 von den Verbesserungen in den autonomen Gemeinden: „In diesen Jahren haben wir uns gestärkt und haben unsere Lebensbedingungen bedeutend verbessert. Unser Lebensstandard ist höher als in den regierungshörigen indigenen Gemeinden, die Almosen erhalten und mit Alkohol und nutzlosen Artikeln überschüttet werden. (…) Hier, bei nicht wenigen Fehlern und vielen Schwierigkeiten, ist eine andere Art des Politikmachens bereits eine Realität.“ Seit ihrem Schritt in die Öffentlichkeit war die EZLN um Allianzen bemüht. So unternahm sie vier Versuche, landesweite Bündnisse zu schmieden, um Mexiko zu demokratisieren und mehr soziale Gerechtigkeit zu erkämpfen. Die ersten drei Versuche wurden anfangs begeistert aufgenommen und es kam zu Treffen mit tausenden Aktivist_innen, die Initiativen schliefen jedoch schließlich ein. Der vierte Anlauf wurde durch die „VI. Deklaration aus dem Lakandonischen Urwald“ 2005 lanciert. Hier schlug die EZLN vor, in einem mehrjährigen, friedlichen und außerparlamentarischen Prozess namens „Die Andere Kampagne“, eine neue linke, antikapitalistische Verfassung für Mexiko unter Beteiligung aller marginalisierten Bevölkerungsgruppen durchzusetzen. Die Beurteilung dieses noch nicht abgeschlossenen Prozesses fällt ambivalent aus – Ende offen. Fest steht, dass sich die Ausrichtung der verschiedenen Initiativen im Laufe der Zeit immer weiter von den etablierten Parteien entfernte und sich den radikal basisdemokratischen Prinzipien annäherte, die die Zapatistas auch in ihren Gebieten anstreben. Die Bewegung um die EZLN ist somit mit wenigen anderen weltweit als anti-systemisch zu verstehen.
Auch die globale Vernetzung war für die EZLN von Anfang an wichtig. Zudem labte sich die desorientierte globale Linke regelrecht an der Radikalität und den konstruktiven Ideen dieser Rebell_innen, die entgegen altbackener Organisationen nicht selten poetisch die Sehnsucht nach „Einer Welt, in der viele Welten Platz haben“ formulierten. Vielfach lud die EZLN zu globalen Treffen nach Chiapas ein und animierte zur Nachahmung – was nicht häufig gelang. Die Zapatistas und viele emanzipatorische Aktivst_innen weltweit wollen sich auf Augenhöhe vernetzen, um gegen die sozialen und ökologischen Verwerfungen auf unserem Planeten vorzugehen. In zeitlich unterschiedlich starker Rezeption hatten Wort und vor allem Praxis der EZLN teils großen Einfluss. Slogans wie „Eine andere Welt ist möglich!“ oder die ersten freien Medienplattformen wie indymedia sind ohne die Mobilisierungen der EZLN wohl kaum denkbar. Ihr Aufruf, dass die größte Solidarität mit den Zapatistas die Organisierung kontinuierlicher emanzipatorischer Prozesse von unten links in der eigenen Lebensrealität wo-auch-immer sei, steht weiter im Raum und lädt uns alle ein.
Ihr strategisches Gespür für symbolträchtige und überraschende Aktionen hat die EZLN bis zur Gegenwart nicht verloren. Nachdem die großen Medien über Jahre kaum noch über ihren Kampf berichtet hatten, besetzten am 21. Dezember 2012 – dem Tag, der von den Mainstream-Medien fälschlicherweise als von den Maya prophezeiter „Weltuntergang“ kommerziell ausgeschlachtet worden war – rund 40.000 Zapatistas friedlich für einige Stunden die zentralen Plätze von fünf Städten in Chiapas – schweigend (siehe LN 464). Luis Hernández Navarro von der Tageszeitung La Jornada brachte die Symbolik der Mobilisierung auf den Punkt: „So wie sie sich das Gesicht bedecken mussten, um gesehen zu werden, hielten sie jetzt im Reden inne, um gehört zu werden“.
Für eine neue Initiative – „Die kleine zapatistische Schule“ – öffnete die EZLN im Sommer 2013 Hunderte ihrer Gemeinden. Über 1.200 ausgesuchte Gäste aus dem In- und Ausland waren eingeladen, den rebellischen Alltag im Aufstandsgebiet kennenzulernen. Die Offenheit, im Rahmen der Escuelita Zapatista am Leben der Zapatistas teilzuhaben, stellt ein Novum dar: Die eingeladenen Personen konnten die Tätigkeiten auf den Mais- und Bohnenfeldern miterleben, Fragen stellen und die Realität der Gemeinden kennenlernen. Das paternalistische Konzept von traditioneller „Entwicklungshilfe“ wurde radikal negiert: Hier unterrichteten Aktivist_innen aus den Reihen der EZLN die Gäste aus aller Welt, wie sie ihre Autonomie in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Justiz, Produktion und Medien verwirklichen. Die „kleine Schule“ wurde enthusiastisch aufgenommen und soll ob der großen Nachfrage mehrmals wiederholt werden.
Auch heute noch werden die Zapatistas immer wieder von staatlichen und paramilitärischen Kräften angegriffen. Darüber hinaus wird weiterhin versucht, sie durch neoliberale „Entwicklungsprojekte“, darunter Ölpalmen-Monokulturen oder Tourismusvorhaben, aus dem Widerstand herauszukaufen und durch Medienkampagnen als Kriminelle und rassistisch als „rückständige“ Indigene zu diffamieren. Die Position der EZLN dazu formulierte Comandanta Miriam noch im August 2013 deutlich: „Wir als originäre Bevölkerungsgruppen müssen die natürlichen Ressourcen (…) so gut wie möglich verteidigen, da es um unsere Mutter Erde geht, durch sie leben wir, durch sie atmen wir. Compañeros und Compañeras, um die Pläne des Todes abzuwehren, die uns die Neoliberalen aufzwingen, ist es notwendig, uns zu organisieren, unsere Kräfte, unseren Schmerz und unsere Rebellion zu vereinen und für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen.“
Selbstverständlich verlaufen die Initiativen der EZLN nicht idealtypisch und widerspruchsfrei, was auch von ihnen selbst immer wieder eingeräumt wird. Ein Beispiel ist hier die Situation der Frauen, die sich durch die Revolutionären Frauengesetze zwar deutlich verbessert hat; dennoch betonen die Zapatistinnen, dass noch viel fehle, bis von echter Gleichberechtigung in allen Gemeinden der EZLN gesprochen werden könne.
Bei allen Problemen und Bedrohungen, es gilt zu feiern: 30 Jahre Gründung der EZLN, 20 Jahre Rebellion und 10 Jahre Arbeit der caracoles. Der Kampf der Zapatistas gegen Ausbeutung und Unterdrückung wird – auch abseits akademischer, politischer oder subkultureller Moden – unter ihrem Motto „fragend schreiten wir voran“ und ihrer Parole „Alles für Alle!“ ohne Zweifel weitergehen. ¡Feliz cumpleaños, compas!

Infos und Literaturempfehlungen: www.chiapas.eu

„Es ist die Ungerechtigkeit selbst, die uns antreibt“

Seit 20 Minuten stehe ich mit meinen ­­­­­Begleiter_innen vor dem verschlossenen Gittertor in der prallen Mittagssonne. Endlich winkt uns ein bewaffneter Wachmann herein, nachdem er einen anderen Besucher wegen seiner „zu dunklen Hose“ abgewiesen hat. Der Mann versucht noch zu argumentieren, wird aber bald vom Wachmann ignoriert. Wir müssen unsere Personalien angeben, werden durchsucht, bekommen einen Stempel auf den Unterarm und passieren die letzte Schleuse. Das schwere Gittertor fällt mit einem Knall hinter uns in die Verriegelung. Vor mir erstreckt sich der ­Innenhof des Gefängnisses CERSS No. 5 in Chiapas nahe San Cristóbal de las Casas.
Hier sitzen rund 500 Männer und Frauen ihre bis zu lebenslangen Haftstrafen ab, etwa 80 Prozent von ihnen sind Indigene. Ebenso wie alle zehn Mitglieder der Gefangenenorganisation La Voz del Amate, Die Stimme aus Amate. Amate ist ein Hochsicherheitsgefängnis in Chiapas, wo die Oganisation gegründet wurde. Seit 2006 setzt sich La Voz del Amate für die Rechte der Inhaftierten ein. Ihr Sprecher ist der politische Gefangene Alberto Patishtán.
Mit einem breiten Grinsen kommt uns Alberto entgegen, umgeben von anderen Besucher_innen und seinen gut gelaunten Compañeras von La Voz. Alberto ist ein charismatischer Mann Anfang 40. Seit über zwölf Jahren ist er in Haft – „Weil ich für die armen, indigenen Compañeros gekämpft habe. Und weil ich die Wahrheit gesagt und die Justiz kritisiert habe“, erklärt er mir. Offiziell wurde er verhaftet, weil er an einem Hinterhalt beteiligt gewesen sein soll, bei dem sieben Polizisten zu Tode gekommen sind. Doch das glauben nur mehr die wenigsten. Viel wahrscheinlicher ist, dass ­Alberto durch sein jahrelanges Engagement für die Autonomie der Indigenen und gegen ­Korruption in seiner Gemeinde ein leichtes Ziel lokaler Autoritäten war. Keine Seltenheit in Chiapas.
Sonntag ist Besuchstag im CERSS No. 5. Der durch Zäune geteilte Innenhof gleicht einem Jahrmarkt: Laute Musik, Bierbänke sind unter Sonnenschutz aufgestellt und einige Männer bieten selbst hergestellte Hängematten, Gürtel oder Geldbörsen zum Kauf an. Auch die Mitglieder von La Voz del Amate fertigen Hängematten an, um für sich und ihre Familien etwas Geld zu verdienen. In einem abgegrenzten Bereich mit Sonnenschutz empfangen sie ihre Besucher_innen, es gibt Kaffee und nebenbei beginnt einer der Häftlinge das Essen zuzubereiten. „Das ist auch etwas, das sie sich erkämpft haben. Sie bekommen die Zutaten und können ihre Gerichte selbst zubereiten“, erklärt mir Patricia, eine Besucherin. „Das Gefängnisessen hier ist wirklich sehr schlecht“, fügt Alberto hinzu und beschreibt damit eine globale Konstante. Eine weitere Konstante scheint die mangelnde medizinische Versorgung in Gefängnissen zu sein, so auch hier in Mexiko, wie Alberto am eigenen Leib erfahren musste: „Heute sehe ich wieder bis zu 70 Prozent“, freut er sich. „Adäquat behandelt wurde ich erst, nachdem dies alle im Gefängnis für mich eingefordert haben. Meine Bitten wurden davor drei Jahre lang ignoriert.“ Zum damaligen Zeitpunkt war Alberto aufgrund der fehlenden ärztlichen Behandlung seines Grauen Stars fast vollständig erblindet. Seine Freund_innen von La Voz haben ihn auch in diesem Kampf unterstützt.
Bekannt geworden ist La Voz del Amate, weil sie Fälle von Folter in ihrem Gefängnis öffentlich machte und sich der „Anderen Kampagne“ der Zapatist_innen angeschlossen hat. Die Andere Kampagne vereinigte indigene und nicht-indigene zivilgesellschaftliche Initiativen zum Widerstand von „links und unten“. 2008 organisierten Angehörige von La Voz einen Hungerstreik, der die Freilassung von 47 Häftlingen erreichte, nachdem er sich auf zwei weitere Gefängnisse ­ausgebreitet hatte. Alberto jedoch wurde nicht freigelassen. Vor zwei Jahren wurde er wegen der Beteiligung an einem weiteren Hungerstreik in ein 2.000 ­Kilometer entferntes Hochsicherheitsgefängnis im Nordwesten Mexikos, nach Sinaloa, verlegt – in Isolationshaft. „Es brannte 24 Stunden das Licht und ich war 22 Stunden am Tag in meiner Einzelzelle eingesperrt.“ Nach vehementen Protesten von Unterstützer_innen wurde Alberto acht Monate später wieder zurück nach Chiapas verlegt.
Wie viele andere wurde auch er nach seiner Festnahme gefoltert: „Sie haben gesagt, sie erschießen meine ganze Familie. Das ist psychische Folter.“ Die meisten anderen Mitglieder der Gruppe haben Ähnliches erlebt. „Wasser mit Chili wurde ihnen unter die Fingernägel oder in die Nase gespritzt oder sie wurden mit Stromstößen misshandelt. Das ist hier normal“, erklärt der ehemalige Lehrer.
Alberto zählt sich zu den Tzotzil, einer der größten indigenen Sprachgruppen des Bundesstaates. Durch die Tatsache, dass viele Indigene ausschließlich Tzotzil, Tzeltal, Cho‘l oder andere indigene Sprachen sprechen, sind sie am Arbeitsmarkt benachteiligt, haben Probleme bei Behördengängen. Schätzungen zufolge sind 30 Prozent der Indigenen zudem nicht alphabetisiert. „Gegen Indigene gab es bis 1994 viel Rassismus. Danach ist es viel besser geworden“, so Alberto. Damals sind Chiapas‘ Indigene erstmals organisiert an die Weltöffentlichkeit getreten. Unter dem Motto „Ya Basta!“ (Es reicht!) wurden in der Silvesternacht 1994 fünf Städte in Chiapas für mehrere Tage von den bewaffneten Männern und Frauen der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) besetzt, hunderte politische Gefangene befreit und Großgrundbesitzer_innen vertrieben. Bis heute wurden zirka 100.000 Hektar Land besetzt, die nach wie vor von Kleinbauern und -bäuerinnen bewirtschaftet werden.
Die jüngste Initiative der Zapatist_innen, das Netz gegen Repression, setzt sich auch für die Freilassung von Alberto Patishtán ein. Die große Hoffnung auf eine positive Entscheidung durch den Obersten Gerichtshof Mexikos wurde Anfang März enttäuscht. Das Gremium erklärte sich für das Verfahren unzuständig und verwies ihn an ein lokales Gericht. Dort soll Albertos Fall nach fast 13 Jahren Haft erneut verhandelt werden. Doch es ist keine Gerechtigkeit zu erwarten, wie seine Unterstützer_innen befürchten. Auch Amnesty International kritisiert die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs und das in San Cristóbal ansässige Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas ruft dazu auf in den nächsten Wochen den zuständigen Politiker_innen Protestpostkarten zu schicken.
La Voz del Amate vertraut in jeder Hinsicht auf die gegenseitige Solidarität: „Unsere Organisation unterstützt nicht nur ihre Mitglieder, sondern sieht auch eine wichtige Aufgabe darin, ihre Stimme den anderen zu leihen, für andere zu kämpfen, die inhaftierten Compañeros zu verteidigen“, so Alberto. „Unsere grundsätzliche Einstellung ist, immer die Freiheit zu fordern und gegen die alltäglichen Ungerechtigkeiten Widerstand zu leisten.“
Doch woher nehmen die Gefängnisaktivist_innen ihre Kraft? „Einerseits aus dem Glauben, den wir in die Kirche, in Gott, haben. Und das andere, das uns antreibt und bei Kräften hält, ist die Ungerechtigkeit selbst. Diese nährt unseren Widerstand, unseren Mut inmitten dieses Systems mit all seinen Ungerechtigkeiten gegen unsere Familien.“ Unterstützt wird La Voz del Amate von Freund_innen und solidarischen Menschen außerhalb des Gefängnisses, auch durch wöchentliche Besuche, wie mir Cecilia, eine langjährige Freundin Albertos erzählt: „Das Gefängnis existiert einerseits, um zu bestrafen und andererseits, um einen Teil der Gesellschaft zu isolieren. Sobald wir von ihnen sprechen, für sie da sind und sie besuchen, brechen wir damit eine Intention der Haft auf. Auch weil ich Psychologin bin, weiß ich, dass Langzeitgefangene viele psychische Schäden durch die Haft erleiden. Daher ist es einerseits ein Kampf gegen die Ungerechtigkeit und andererseits für die Erhaltung der mentalen Gesundheit der Gefangenen.“
Spätestens als mir Benjamín und Juan, zwei Aktivisten von La Voz, ihre Zelle zeigen, kann ich mir gut vorstellen, was Cecilia meint: Täglich ab 17 Uhr werden die 500 Gefangenen in einer großen Halle eingesperrt, wo sich auch die Zellen befinden. Ohrenbetäubender Lärm begleitet uns, während wir uns durch die Gänge an unzähligen Häftlingen vorbei drängen, ein Gespräch ist kaum möglich. Die Zelle selbst, eigentlich zwölf dicht aneinander gedrängte Schlafstellen, lässt den Inhaftierten keinerlei Privatsphäre. Vier von ihnen können in ihrem Bett nicht einmal aufrecht sitzen. Albertos Platz ist zwar am geräumigsten, doch auch nicht größer als ein Einzelbett. „Señor Patishtán hat den Chef-Platz, weil er schon am längsten hier ist,“ grinst Pedro und rollt sich demonstrativ in seine winzige Schlafstelle in das unterste Bett.
Es ist bald 17 Uhr, immer mehr Besucher_innen machen sich auf den Heimweg, der Gefängnishof leert sich langsam. Auch wir machen uns bereit für die Rückfahrt. Letzte Vereinbarungen werden getroffen, viele Umarmungen ausgetauscht. Die anfangs noch so ausgelassene Laune weicht einer bedrückten Stimmung. Für die Häftlinge im CERSS No. 5 kehrt der Alltag wieder ein, verschlossene Türen und entwürdigende Behandlung durch die Wächter.
Ich blicke ein letztes Mal zurück während ein bewaffneter Wächter meinen Stempel kontrolliert, der Besucher_innen von den Inhaftierten unterscheidet. Hinter mir fällt das schwere Metalltor ins Schloss, das mich jetzt von meinen neuen Compañer@s trennt. Der vor Stunden abgewiesene Besucher steht noch immer vor dem Eingangstor. Anscheinend konnte er durchsetzen, dass er Essen für seinen inhaftierten Verwandten abgeben darf. Er ist also nicht vollkommen umsonst angereist.

Weitere Infos: http://albertopatishtan.blogspot.com

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