Lateinamerika | Nummer 442 - April 2011

Abgeschaltet wird nicht

Angesichts der Atomkatastrophe in Japan gibt es erste Reaktionen über die Nutzung der Atomenergie in Lateinamerika

Während Brasilien und Argentinien am Ausbau ihrer Atomkraft grundsätzlich festhalten wollen und Chile den Einstieg plant, erteilen Venezuela und Peru der Atomenergie eine Absage. Angesichts der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima entsteht in Lateinamerika langsam eine Debatte um die Nutzung der Atomkraft.

Christian Russau

„50 Atomkraftwerke bis zum Jahre 2050 können wir in Brasilien bauen“, hatte Brasiliens Minister für Bergbau und Energie, Edison Lobão, noch im Jahre 2008 bekräftigt. Auch nach der Atomkatastrophe in Fukushima sieht der Minister in Brasília keinen Anlaß, seine Vorstellungen grundsätzlich zu überdenken. Doch angesichts vermehrter kritischer Berichterstattung in der brasilianischen Tagespresse ordnete Lobão weitere Sicherheitsüberprüfungen an, um die beiden in der Nähe von Rio de Janeiro befindlichen Atomkraftwerke, Angra 1 und Angra 2, zu überprüfen. Nachdem die Zeitung Correio Braziliense Mitte März aufgedeckt hatte, dass Angra 2 seit Inbetriebnahme vor zehn Jahren ohne Betriebsgenehmigung durch Umweltbehörde und die Nuklearbehörde CNEN läuft, wachte auch der brasilianische Kongress auf und ordnete weitere Untersuchungen an.
In Brasilien laufen bisher zwei Meiler, mit Angra 3 wird seit Ende 2008 ein weiterer gebaut. Es ist vor allem die küstennahe Lage, die den Atomkomplex der drei Meiler, Almirante Álvaro Alberto in Angra dos Reis im Bundestaat Rio de Janeiro so gefährlich machen. Die Atomanlagen liegen am Strand, der „Itaorna“, also „fauler Stein“, heißt. Hinzu kommen die konservativen Berechnungen des Weltklimarates IPCC, wonach der Meeresspiegel bis zum Jahr 2100 um 18 bis 59 cm ansteigen soll. Die Bedrohung für den Zwischenlagerstandort und das Atomkraftwerk am Strand des „faulen Steins“ ist somit leicht nachzuvollziehen. Die Region ist erdbebengefährdet. Auch wenn eine Tsunamigefahr dort weniger gegeben ist, besteht die Gefahr von schweren Überschwemmungen durch Stürme oder Schlammlawinen von den Hängen bei schweren Gewittern. Die Schlammkatastrophe in der Bergregion von Rio de Janeiro im Januar dieses Jahres gab davon beredtes Zeugnis.
Nun will die Regierung nachbessern: Die bei einem GAU einzige mögliche Fluchtstraße, die BR 101, wird ausgebessert und soll gegen die wiederkehrenden Erdrutsche besser gesichert werden. Im Falle eines Atomunfalls würde allerdings bei ungünstiger Windrichtung dieser einzige Fluchtweg genau im Windschatten des Fall-outs liegen. Zudem sollen nun zwei neue Piers neben der Anlage entstehen, welche die Evakuierung per Schiff gewährleisten sollen.
Grundsätzlich reagiert die Regierung Dilma Rousseff auf die langsam aufkommenden Atomfragen der Presse mit den üblichen Argumenten: Die Erdbeben- und Tsunamigefährdung in Brasilien sei geringer als in Japan, heißt es. Die seismische Aktivität der Region um die Reaktoren hätte im April 2008 bei dem Erdbeben mit einer Stärke von 5,2 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht. Zudem seien die Reaktoren anderer Bauart als in Japan, durch einen Stahlmantel geschützt und gegen Flugzeugabstürze gesichert. Die Sicherheitsbestimmungen seien viel schärfer, als sie für das größtannehmbare Vorkommnis notwendig wären. So wird für Brasiliens Politikerkaste an dem Ausbau der Atomenergie nicht gerüttelt.
Auch andernorts in Lateinamerika sieht die Regierung strahlend der Zukunft entgegen. Mitte März unterzeichneten Chile und die USA in Santiago ein Abkommen zur Nuklearkooperation. Erst vor Kurzem hatte das südamerikanische Land ein ähnliches Abkommen mit Frankreich geschlossen. Chiles Außenminister, Alfredo Moreno, erklärte angesichts der Unterzeichnung der Vereinbarung mit den USA, das Abkommen ziele auf „wissenschaftliche Kooperation“ und Ausbildung chilenischer TechnikerInnen, weniger auf den Bau von Atomanlagen. Mit Blick auf die extreme Erdbebengefährdung Chiles verwies selbst Ex-Präsident Ricardo Lagos auf die „schwierigen Bedingungen“ im Land, die Atomkraftwerke „unmöglich“ machten. Umweltgruppen verurteilten das Abkommen scharf und bezeichneten es als „dumm“. Dies vor allem vor dem Hintergrund des letztjährigen Erdbebens der Stärke 8,8 auf der Richterskala. RegierungsvertreterInnen verwiesen dennoch gleichsam unisono auf die „Energielücke“ und die Abhängigkeiten bei der Energieversorgung von fossilen Brennstoffen aus Argentinien oder Bolivien.
Argentiniens Regierung unter Cristina Fernández de Kirchner hält ebenso unbeirrt an der Fertigstellung des dritten Atomkraftwerks in Argentinien, Atucha 2, fest und sprach gar schon von Atucha 3. Die Atucha-Werke gehen ebenso wie Angra 2 und 3 in Brasilien jeweils auf Kooperationsabkommen mit der Bundesrepublik Deutschland aus den 1970er Jahren zurück, auf dessen Basis die damalige Siemens/KWU die Meiler konstruierte und bauen ließ.
Auch Mexiko will an der Atomenergie festhalten. Dazu werden in Regierungskreisen laut der Zeitung El Universal drei Szenarien diskutiert: zwei, sechs oder gar zehn neue Atomkraftwerke sollen bis zum Jahre 2028 gebaut werden.
Hingegen hat sich der peruanische Präsident Alan García angesichts der Atomkatastrophe von Fukushima deutlich gegen die Nutzung von Atomenergie in seinem Land ausgesprochen. Aufgrund der vorhandenen Ressourcen Wasser, Gas und Öl könne Peru „für hundert Jahre oder mehr frei von dieser Bedrohung“ bleiben, sagte García. Dies gelte umso mehr, weil Peru ein erdbebengefährdetes Land sei. In Venezuela erklärte Präsident Hugo Chávez die Atomkraftwerkspläne seines Landes für beendet. Als Grund für die Entscheidung gab er die Nuklearkatastrophe in Japan an. „Es gibt keinen Zweifel, dass diese Geschehnisse die Pläne zur Entwicklung der Atomkraft weltweit stark beeinflussen“, zitierte die staatliche venezolanische Nachrichtenagentur AVN den Präsidenten. Erst im vergangenen Jahr hatten die Präsidenten von Venezuela und Russland, Hugo Chávez und Dmitri Medwedew, einen Vertrag über den Bau eines Atomkraftwerks in Venezuela unterzeichnet.

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