Guyana | Nummer 493/494 - Juli/August 2015

Der Multiethnische Faktor

Bei den Parlamentswahlen in Guyana löst ein gemischtes Bündnis nach 23 Jahren die indisch geprägte Regierungspartei ab

Der Wahlsieg des multiethnischen Bündnisses um David Granger in Guyana deutet an, dass die Ethnisierung politischer Fragen in dem Karibikstaat von einem größeren Teil der Bevölkerung inzwischen infrage gestellt wird.

Sinah Theres Kloß

Es ist ein Zeichen: Obgleich der Wahlkampf in Guyana erneut durch den langjährig gewachsenen ethnischen Konflikt zwischen afrikanisch- und indischstämmigen Bevölkerungsgruppen geprägt war, deutet das Wahlergebnis auf einen Gesinnungswandel hin. Die sozialdemokratische Koalition aus A Partnership for National Unity (APNU) und der Alliance for Change (AFC), die sich bei den Nationalwahlen am 11. Mai durchsetzte, steht für einen Wandel. Zuvor hatte 23 Jahre die People’s Progressive Party/Civic (PPP/C) regiert, die sich hauptsächlich auf die indischstämmige Bevölkerung bezieht.
Im Gegensatz zur PPP/C, die als Partei der indischstämmigen Guyaner*innen gilt, umfasst das Bündnis von Wahlsieger David Granger neben der größten afro-guyanischen Partei auch kleinere Parteien anderer Bevölkerungsgruppen. Insbesondere junge Guyaner*innen haben für das Bündnis votiert und damit ihrem Wunsch nach Veränderung Ausdruck verliehen. Nach 23 Jahren, in denen die einst marxistische PPP/C ununterbrochen die Regierung stellte, haben sich die Wähler*innen nun für das multiethnische Bündnis Grangers entschieden.
Am 20. Mai zog sich ein grün-gelbes Fahnenmeer durch Georgetown, der Hauptstadt Guyanas. Anhänger*innen der sozialdemokratischen Koalition aus APNU und der AFC feierten den Sieg der beiden Parteien bei den Parlamentswahlen. Im Rahmen einer feierlichen Zeremonie wurde Oppositionsführer David Granger als neuer Präsident Guyanas vereidigt, neuer Premierminister ist Moses Nagamootoo. Laut der Guyana Elections Commission (GECOM) stimmten 72,9 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung ab. Die APNU-AFC setzte sich mit 207.201 Stimmen gegenüber der PPP/C durch, die 202.656 Stimmen erzielte.
Guyana wird häufig als ‚Land of Six Peoples‘ bezeichnet, ein Titel, der auf die multi-ethnische Bevölkerung des Landes verweist. Die unterschiedlichen Gruppen definieren sich als afrikanisch, indisch, indigen, chinesisch, portugiesisch oder europäisch/weiß. Diese Gruppen spiegeln die Kolonial- und Einwanderungsgeschichte des Landes wider, die maßgeblich von der britischen Plantagenwirtschaft beeinflusst war. Von 1814 bis 1966 war Guyana britische Kolonie, zuvor bereits Kolonie der Niederlande. Bis ins 19. Jahrhundert wurden Sklav*innen aus afrikanischen Ländern ins ehemalige British Guiana verschleppt. Um die Lücke von Arbeitskräften zu füllen, die durch die Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1834 entstanden war, wurden zwischen 1838 und 1917 überwiegend indische, jedoch auch portugiesische und chinesische Arbeiter*innen auf die Zuckerplantagen gebracht. Die britische Regierung legitimierte das Gastarbeitersystem durch die vertraglich geregelte Entlohnung der Arbeiter*innen. Die Rahmenbedingungen der Verträge, die schlechten Lebensbedingungen sowie die Ausgangslage der indischen Arbeiter*innen, die häufig aus den ärmsten Regionen Britisch Indiens stammten, stellen deren ‚Freiwilligkeit‘ jedoch infrage. Gegenwärtig wird das System häufig als ‚neue Form von Sklaverei‘ bezeichnet. Unterschiedliche Herkunftsorte und Handlungspraktiken der Einwander*innen finden noch heute in unterschiedlichen ethnischen Identitäten Ausdruck.
Gegenwärtig dominieren zwei Gruppen die soziale und politische Lage des 800.000-Einwohner*innen-Landes: Laut Zensus des Jahres 2002 stellen ‚Indians‘ mit 43,5 Prozent und ‚Africans‘ mit 30,2 Prozent die größten Bevölkerungsgruppen dar. Obwohl das alltägliche Zusammenleben dieser Gruppen überwiegend freundschaftlich und friedlich verläuft, entstehen immer wieder Konflikte, die insbesondere während nationaler Wahlen aufkeimen. Hieran maßgeblich beteiligt ist der Prozess der ‚Ethnopolitisierung‘ – der Ethnisierung der politischen Parteien und des Wählens. Bereits seit den 1950er Jahren werden politische Parteien entweder als „afrikanisch“ oder als „indisch“ eingeordnet. Zurückzuführen ist dies auf die Spaltung der People’s Progressive Party (PPP). Diese teilte sich 1957 in die kommunistische PPP einerseits und den sozialistischen People’s National Congress (PNC) andererseits auf. Obwohl diese Teilung auf ideologischen Kriterien basierte, wurde sie zunehmend ethnisiert – die PPP wurde im Laufe der Jahre immer stärker als „indische“, die PNC als „afrikanische“ Partei verstanden. Als Guyana 1966 die Unabhängigkeit von Großbritannien erlangte, wurde es zunächst von Forbes Burnham und der „afrikanischen“ PNC regiert. Seine Regierung etablierte bis Mitte der 1980er ein autoritäres Regime. Das Leitbild einer autarken Nation vor Augen verbot er den Import bestimmter Lebensmittel und Güter. Erst unter Burnhams Nachfolger Desmond Hoyte fanden 1992 erneut freie Wahlen statt, die die „indische“ Partei gewann. Sie positionierte sich fortan als sozialdemokratische PPP/C. Die wirtschaftliche Öffnung des Landes sorgte zugleich für einen Aufschwung der Volkswirtschaft. Teile der indischen Bevölkerung sehen in ihm die Bestätigung für „indischen“ Fleiß und eine vermeintliche Befähigung zum Regieren. Die Ethnisierung des politischen Systems und die Tatsache, dass die indische Bevölkerung die größte Bevölkerungsgruppe des Landes darstellt, führten dazu, dass sich in nationalen Wahlen fast automatisch die PPP/C durchsetzte. Andere ethnische Gruppen fühlten sich von der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes und politischen Entscheidungen ausgeschlossen.
Die Parteien setzen sich in der Aktualität nicht homogen aus einer bestimmten Bevölkerungsgruppe zusammen. Nicht alle ihre Mitglieder ordnen sich ausschließlich als indisch oder afrikanisch ein. Dennoch werden die Parteien pauschal einer ethnischen Gruppe zugeordnet. Ein Großteil der Guyaner*innen wählt auf Grundlage dieser Zuordnung, eine Praxis, die als „ethnisches Wählen“ bezeichnet wird. Beide Parteien verwenden häufig negative Stereotype über die jeweils andere Gruppe, um Angst vor der politischen Dominanz der „Anderen“ zu schüren. Solche Stereotype verweisen beispielsweise darauf, dass guyanische „Inder*innen“ geizig und auf Vetternwirtschaft ausseien, weswegen unter ihrer Regierung niemals soziale Gerechtigkeit erreicht werden könne. Guyanische „Afrikaner*innen“ werden demgegenüber als faul und verschwenderisch beschrieben – ihre politische Führung stehe dem Fortschritt entgegen.
Mit der Alliance for Change (AFC) gründete sich 2005 eine Partei, die sich um einen Neuanfang bemühte und das „ethnische Wählen“ gezielt kritisierte. Sie definierte sich als multi-ethnisch und sozialdemokratisch, und setzte sich aus ehemaligen Mitgliedern der „alten“ Parteien zusammen. Auch wenn sie sich als drittstärkste Partei in den nationalen Wahlen 2011 etablieren konnte, war dieser Erfolg zahlenmäßig gering. Hohe Stimmenanteile erzielte sie insbesondere in der Hauptstadt Georgetown.
Mit der Ernennung der neuen Regierung im Mai fand ein spannungsgeladener Wahlprozess seinen Abschluss. Die Wahlen fanden bereits vor Ende der fünfjährigen Legislaturperiode statt. Grund dafür war, dass der damals amtierende Präsident Donald Ramotar im November 2014 das guyanische Parlament für sechs Monate vertagte. Daraufhin stieg die Anspannung in Teilen der Bevölkerung, die nicht weniger als eine Diktatur befürchtete. Ramotars Handlung, als „Prorogation“ juristisch legitimiert, war eine Reaktion auf das drohende Misstrauensvotum der Nationalversammlung gegenüber der Regierung. Die Regierung spürte den wachsenden Druck von Zivilgesellschaft und Opposition, die ihr Vetternwirtschaft, Korruption und Misswirtschaft vorwarfen. Die undurchsichtige Vergabe von Aufträgen, zum Beispiel bei der Verlegung des neuen Internet-Kabels von Brasilien nach Guyana, sowie die Veruntreuung von Geldern in nationalen Institutionen wie dem Nationalen Museum steigerten den Unmut der Bevölkerung. Auch der Einfluss Chinas auf die guyanische Wirtschaft sowie die wachsende Nähe der Regierung zur konservativen indischen Regierung waren Gegenstand von Kritik. Mitglieder aller ethnischen Gruppen äußerten ihre Unzufriedenheit in Protestmärschen sowie kritischen Kommentaren in sozialen Medien.
Anfang Januar, zwei Monate nach Vertagung des Parlaments, wurden Stimmen lauter, die bekundeten, dass Ramotar und die PPP/C nicht die Absicht hätten, Neuwahlen durchzuführen. Auch der Druck der internationalen Gemeinschaft wuchs, insbesondere durch den britischen High Commissioner Andrew Ayre, der in der lokalen Tageszeitung Stabroek News mitteilte: „Angesichts der Tatsache, dass der angegebene Grund für die Prorogation konstruktive Gespräche mit der Opposition waren, und angesichts der Tatsache, dass diese Gespräche nicht stattfinden, ist das Vereinigte Königreich zunehmend besorgt darüber, was die Grundlage für die Aussetzung des Parlaments ist und wie lange sie andauern wird.” Als letztlich der 11. Mai als Tag der Wahl feststand, begann augenblicklich ein unerbittlicher Wahlkampf der drei stärksten Parteien. Um ein größtmögliches Wählerpotenzial anzusprechen, schloss sich die AFC mit der APNU zusammen, einer als ‚afrikanisch‘ geltenden Partei und Nachfolger der PNC.
Bald zeichnete sich Optimismus auf Seiten der APNU-AFC Koalition ab, welcher durch gut besuchte Kundgebungen und populäre Online-Kampagnen entfacht und unterstützt wurde. Wissenschaftler*innen der lokalen Universität äußerten vorsichtig, dass ein politischer Wandel tatsächlich denkbar sei. Als Hauptargument führten sie an, dass der indische Bevölkerungsanteil durch Auswanderung und eine sinkende Geburtenrate nicht mehr bei 43,5 Prozent liegen könne und die Regierung wahrscheinlich aus diesem Grunde den Zensus des Jahres 2012 nicht veröffentlichte. Mehr und mehr zeichnete sich ab, dass sich die PPP/C nicht länger auf ihren demographischen Vorteil verlassen konnte, der maßgeblich zu den vorherigen Wahlerfolgen beigetragen hatte. Innerhalb der ländlichen „indischen“ Bevölkerung sorgten diese Entwicklungen für Bedenken, die durch Aussagen wie „Die Koalition wird erneut Lebensmittel verbannen“ oder „Wir Inder sind in Schwierigkeiten, wenn die Afrikaner gewinnen“ geäußert wurden.
Obwohl internationale Beobachter*innen den Wahlvorgang im Mai für rechtmäßig und fair erklärten, erkannte die PPP/C das Ergebnis nicht an. Unterstützer*innen der Partei verweisen auf Manipulationen im Wahlablauf und bekunden, dass ausländische Beobachter*innen das Wahlergebnis lediglich anerkennen, da sie auf das kürzlich entdeckte Ölvorkommen im guyanischen Hinterland spekulieren. Auch wenn die kurzlebigen Proteste zugunsten der PPP/C inzwischen nachgelassen haben, bleibt Guyana immer noch ein ethnisch und sozial gespaltenes Land, in dem 4.500 Stimmen eine nationale Wahl entscheiden. Das Wahlergebnis zeigt aber auch, dass sich junge Guyaner*innen damit immer weniger abfinden.

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